Ein Ja-Mensch werden - Markus Müller - E-Book

Ein Ja-Mensch werden E-Book

Markus Müller

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Beschreibung

Ein Ja zum eigenen Leben finden Wenn uns Krankheiten oder Schicksalsschläge ereilen, ist es immer schwer, damit umzugehen. Doch was hilft uns wirklich im Umgang mit Leid? Dr. Markus Müller beschönigt das Schwere nicht, lenkt aber unseren Blick auf die Chancen, die in unserer Unvollkommenheit und Begrenztheit liegen - denn genau hier kommt Gott uns nahe. Er gibt sein uneingeschränktes Ja zu unserer Gebrochenheit, zu unserer Schwäche und dieser unperfekten Welt. Lass dich von diesem göttlichen Ja leiten. Finde ein Ja zu Gottes Möglichkeiten. Werde ein Ja-Mensch und der Beschenkte wirst du selber sein.

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MARKUS MÜLLER

EIN

JA

MENSCH

werden

Lebensverändernder Aufbruchin einer unperfekten Welt

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7533-3 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6088-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2021 SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

Weiter wurden verwendet:

(NLB) Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006

by SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/ Holzgerlingen.

(SCH) Bibeltext der Schlachter Bibelübersetzung.

Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit der freundlichen Genehmigung.

Alle Rechte vorbehalten.

Heinzpeter Hempelmann, Kennt Gott mein Leid? Fragen an den Gott, der Liebe genannt wird, Brunnen Verlag, Gießen 2020, www.brunnen-verlag.de

Roland Werner, Deine Hand, in: ders., Du legst die Hand mir auf die Schulter. Gedichte – Gedanken – Gebete. © 2017 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, S. 126.

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de

Autorenfoto: © Markus Müller

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Inhalt

Über den Autor

Die Spur finden – Vom Herzensanliegen dieses Buches

Warum Sie das Buch lesen sollten – Voten von Vorableserinnen und -lesern

Was Sie beim Weiterlesen erwartet

TEIL 1: Mut zum Ja gewinnen

1   | Ja-Mensch oder Nein-Mensch sein – Einblicke in den Umgang mit Schwerem

2   | Unser Glück: Gott ist ein Gott des unübertrefflichen Ja

3   | Ja-Menschen sind Lebensliebhaber – Von der Perle des Ja bei uns Menschen

TEIL 2: Vom heilsamen Ja

Kurzer Zwischenstopp

4   | Das Drama des Neins und warum der unablässige Schrei nach Heilung so unselig ist

5   | Vom Glück, verletzlich, schwach und begrenzt sein zu dürfen

6   | Der Ja-Mensch und sein Ja zu Gottes Möglichkeiten – Gott kann

TEIL 3: Hilfen zum Ja

Kurzer Zwischenstopp

7   | Sehen, Vertrauen und Erzählen – Der Nährboden, auf dem das Ja gedeiht

8   | Das Geheimnis des Ja: Die Verankerung im Kommenden

9   | Was dem gesunden Ja Flügel verleiht: Ein Milieu der Hoffnung, der Wahrheit und der Barmherzigkeit

TEIL 4: Das Ja einüben

Kurzer Zwischenstopp

10   | Üben, Üben, Üben: Lernfelder für Ja-Menschen

11   | Kurz vor Schluss: Vom gesunden Nein

12   | Der Traum vom Ja in der Welt von morgen

Nachwort von Vreni Theobald

Abschließende Einladung an Sie und Dank

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über den Autor

MARKUS MÜLLER (Jg. 1955) studierte Erziehungswissenschaft und promovierte in Behindertenpädagogik. Er war Direktor von »Chrischona International« und arbeitet derzeit als Heimpfarrer in einem Alters- und Pflegezentrum in der Nähe von Winterthur/CH. Er ist Autor mehrerer Bücher.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Die Spur finden – Vom Herzensanliegen dieses Buches

Warum? Warum? Warum?

Leid, Scheitern, Schmerz, Schicksalsschläge, Schwäche, Begrenzung, unheilbare Krankheit, Alter, Tod. Kaum jemand, der um diese Dinge nicht aus eigener Erfahrung oder nächster Nähe weiß. Die Welt in uns und um uns ist selten so, wie wir sie uns wünschen, weder unsere persönliche noch unsere kirchliche, gesellschaftliche und politische Welt.

Warum dieses Leid, diese Begrenzung, diese Verletzlichkeit, dieser Schmerz, diese Ohnmacht, dieses erschreckend Bedrohliche? Nur zu oft stehen wir sprachlos, machtlos, anklagend, manchmal wütend, manchmal resigniert daneben – oder mittendrin. Muss das so sein? Ist so etwas Leben? Soll das mein und unser Weg sein?

Im Sommer 2019 durfte ich auf einer von über fünfhundert Menschen besuchten Fachtagung zum Thema »Heilung ist möglich … aber wenn sie ausbleibt?« eines der beiden Hauptreferate halten. Die Spannung war mit Händen zu greifen: Dürfen Schwäche, Verletzlichkeit, Begrenzung, körperliche, seelische und soziale Not überhaupt sein, oder müsste es nicht doch Wege geben, all dies so elegant und so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen? Selten verließ ich eine Tagung mit so vielen offenen Fragen. Was ist bloß ein guter Umgang mit einer Welt, die selten oder nie so ist, wie wir es gerne hätten? Sind wir erst glücklich, wenn alles Irritierende, Schwere und Notvolle beseitigt ist? Oder sind wir etwa dann mindestens halb glücklich, wenn wir zähneknirschend und ganz ergeben in das unentrinnbare persönliche und gesellschaftliche Schicksal eingewilligt haben?

Spätestens seit jenem Referat klopfte die Frage fast täglich bei mir an, worin ein verheißungsvoller Umgang mit Begrenzung bei mir selber und bei andern besteht. Wenn all dieses Unschöne zum Leben und zu dieser Welt gehört: Gibt es eine Alternative einerseits zu dem, was man gelegentlich »Lösungs- und Beseitigungswahn« nennt, und andererseits zum passiv-resignativen Akzeptieren dessen, was man zwar nicht möchte, aber doch irgendwie, eben zähneknirschend, als Last zu tragen hat?

Meine Ahnung: Es ist das unnachahmliche, unübertreffliche, kostbare Ja Gottes zu dieser verwirrenden, irritierenden und belastenden Welt. Was wäre, wenn wir Menschen uns dieses Ja zum Vorbild nehmen würden? Gottes Ja ist ein Ja, das uns selber und die Welt, in der wir leben, überrascht. Es ist ein Ja, das uns und andere verändert. Es ist ein Ja, das uns in eine ganz andere, neue Normalität führt. Es ist ein Ja, das die Welt des 21. Jahrhunderts mit Hoffnung und Zuversicht erfüllt. Was, frage ich, könnte meiner eigenen Welt, meiner gemeindlichen Welt, unserer gesellschaftlichen Welt besser tun als dieses unnachahmliche, großartige, ungeteilte, ganze Ja Gottes, in das wir einstimmen und uns mit hineinnehmen lassen dürfen?

Gerne nehme ich Sie mit auf eine Entdeckungsreise. Mit dabei ist mein eigenes Patenkind, Trisomie 21. Mit dabei ist der mittlerweile im Alter von 61 Jahren verstorbene Schwager im Rollstuhl. Mit dabei ist das Ehepaar, das sich nach 30 Jahren gemeinsamen Lebens getrennt hat. Mit dabei ist die Familie, die nach dem Suizid ihres siebzehn Jahre alten Sohnes kaum mehr fröhlich wird, auch die Kollegin, die aufgrund eines Burn-outs einen mehrmonatigen Klinikaufenthalt hinter sich hat. Mit dabei ist das Kind, das den Anschluss in der Klassengemeinschaft nicht findet, dann die Frau im Pflegebett, die längst sterben möchte, meine Schwester, die vom Arzt die niederschmetternde Diagnose einer unheilbaren Krankheit erhalten hat, auch der selbstverliebte Mann, dem niemand gerecht werden kann, sowie die mittlerweile 65-jährige Frau, bei der der erfahrene Missbrauch vor ganz vielen Jahren in ihrem Leben nicht weniger, sondern immer mehr Wucht bekommt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Irgendwo und irgendwann würde vermutlich auch Ihr Rucksack, wenn ich Sie so direkt ansprechen darf, vorkommen. Der Rucksack, den Sie im Moment gerade zu tragen haben, der Ihnen grenzenlos Energie raubt und in dem möglicherweise Dinge verstaut sind, die Ihr Leben in eine Richtung drängen, die ganz und gar nicht dem entspricht, was Sie sich vorstellen oder früher mal vorgestellt haben.

Der Schatz, auf dessen Suche wir uns begeben, hat etwas ganz Einfaches, Schönes, fast Kindliches an sich. Es ist das schlichte Ja. Es ist dieses schlichte Ja in all seiner befreienden Macht. Es ist das Ja zu sich selber, das Ja zu eigener und fremder Begrenzung, das Ja zu meiner und meines Nächsten Originalität und Unvollkommenheit, das Ja zu persönlicher und gemeinschaftlicher Vergangenheit und Zukunft, das Ja zu gesellschaftlichen Dynamiken, das Ja zu Gott, dem ich es überlassen darf, das zu tun, was er sich vorgenommen hat, das Ja zu aller lebensmäßigen Unsicherheit und Ungewissheit – und noch so viel mehr.

Alle oft so schwer auf uns lastende Moral, alles Pflicht- und Schicksalsorientierte könnte seine Herrschaft verlieren. Ein erfrischender Morgenwind, ein erwachender Frühling, etwas Erlösendes bricht an. Auf- und Durchatmen wird möglich. Das Geheimnis: Ein Ja-Mensch sein, frei und entspannt, bis zum letzten Atemzug. Illusion? Ich glaube nicht.

Niemals würde ich aus mir selber heraus auf derartige, Aufsehen erregende Gedankenwelten kommen. Ich danke all den inspirierend wirkenden Menschen meines natürlichen und beruflichen Umfeldes. Dazu gehört meine einzigartige Familie in zahllosen Farbtönen. Dazu gehören Freunde – mitdenkende, mitschaffende, widersprechende. Dazu gehören Notleidende – manchmal zermürbte, resignierte, ohnmächtige, um das Leben ringende. Dazu gehören gegenwärtige und vergangene Autoren von Büchern und Schriften. Dazu gehört vor allem Gott und sein einzigartiges, immer neu lebendiges, manchmal querliegendes, aber quellfrisches Wort. Danke!

Markus MüllerFrühjahr 2021

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Warum Sie das Buch lesen sollten – Voten von Vorableserinnen und -lesern

Ein volles Ja zu diesem Buch und seiner Botschaft: Ich habe selten ein Buch gelesen, das so in die Tiefen des Leidens, der Schmerzen und der Zweifel hinuntersteigt – und doch nicht dort versinkt. Es gerät eben nicht in den Sog der tausend Neins, obwohl es sich ihrer Kraft aussetzt. Es hört das Ja Gottes, hält es fest und findet ein Ja zu dieser Welt, zu unserer Zeit und unseren Zeitgenossen: ein volles Ja zum unperfekten Leben.

Ein solcher Aufschwung zum Ja ist vielen zu wünschen: zuerst persönlich, aber auch unseren Gemeinden. In dem Maße, wie sie Orte einer aufrichtigen Ja-Kultur werden, verändern sie die Welt.

Steffen Kern(Ab September 2021 Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes)

Hier wird ein Gott vorgestellt, der Ja sagt. Wir staunen, wie wenig wir Ja-Menschen sind und wie oft ein Nein einfacher ist. Dein Traum berührt sehr, und wir stimmen mit dir in diesen Traum ein. Was wäre, wenn die Welt uns Christen als Ja-Menschen erleben könnte? Das Buch wird den Nerv der Zeit treffen. Es ist herausfordernd und regt sehr zum Nachdenken an.

Mirjam und Massimo Mazza(Ehepaar, 44 und 48 Jahre alt und Eltern von zwei Kindern)

So schade! Jetzt habe ich das Buch fertig gelesen! … Ich kann nur sagen, dass ich voll begeistert bin! Wenn man das nicht nur als Bettlektüre nimmt (dazu ist es kaum geeignet …), dann kann man am Ende nur noch eines wollen: Ein Ja-Mensch werden! Das klappt nicht von heute auf morgen, kann aber geübt werden. Und ja – das möchte ich!

Brigitte Hirs (von frühester Kindheit an leiderfahren, Mutter von fünf erwachsenen Kindern, von denen zwei beeinträchtigt sind)

Ja, ich freue mich über dieses Buch. Es ist eine prophetische Stimme, die Gottes Ja wieder vor Augen malt! Ich empfinde es als ein Geschenk, dass dieses Ja-Buch geschrieben wurde. Eine große Gedanken- und Herzensinvestition, die der Autor hier hineingesteckt hat. Eine einmalige Entdeckungsreise ins Ja-Land. Danke!

Vreni Theobald(Ehefrau, Referentin und Buchautorin zusammen mit ihrem Mann)

Menschen sind es gewohnt, ihr Wohlbefinden und ihre Sicht des Lebens von Gelingen, Erfolg, Gesundheit, Schmerzfreiheit, Sicherheit abhängig zu machen. Markus Müller öffnet die Augen für eine neue Perspektive. Er beschreibt das Leben als Ganzes, als versöhnte Einheit. Damit nimmt er Schmerzen, Misserfolg und Versagen die Kraft und öffnet eine Perspektive, die es uns erlaubt, das Leben in seiner Fülle von Freude und Leid zu umarmen. Während des Lesens hüpfte mein Herz, so viele Erfahrungen bekommen ein vollständig anderes Gewicht. Ich will ein Ja-Mensch sein.

Martin Bühlmann(Leiter der Vineyard-Bewegung Deutschland, Österreich und Schweiz)

Ein Buch, das so wohltuend quer zum Zeitgeist liegt. Anstelle von Tristesse Hoffnung pur, anstelle des allgegenwärtigen Nein ein leuchtendes Ja! – Eigentlich habe ich mich für einen Ja-Menschen gehalten, doch die Ausführungen von Markus Müller fordern mich heraus und motivieren gleichzeitig darin, noch zuzulegen. Denn was braucht unsere Welt mehr als Menschen, die einen Lebensstil der Ermutigung leben? Mein stärkster Türöffner ist der Autor selber. Denn bei jeder Begegnung und durch jede Mail, ja, durch sein Leben verkörpert er das, was er schreibt: Zukunftshoffnung!

Johannes Wirth(Leiter GvC-Bewegung, Gründer der Quellenhofstiftung)

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Was Sie beim Weiterlesen erwartet

Konnten Sie aus dem bereits Gelesenen schon etwas erahnen? Es gibt eine erfrischende Schönheit des Ja. Dieses Ja hat etwas Frühlingshaftes. Dieses Ja ist wie ein kühler Ostwind nach einer Hitzeperiode. Die Entdeckung dieses Ja ist das Abenteuer, vom lähmenden Druck befreit zu werden, für alles eine Lösung zu haben und die eigene und fremde Welt täglich optimieren zu müssen. Dieses Ja führt dazu, dass wir kein schlechtes Gewissen mehr haben und nicht mehr die Zähne zusammenbeißen müssen, besonders dann, wenn es nicht gelingt, alles Leid, alles Scheitern, alle Ohnmacht aus der Welt zu schaffen. Es gibt eine Freiheit, die es erlaubt, sich nicht schämen zu müssen, wenn Leid, Notvolles, Verletzendes und Belastendes im eigenen und gemeinschaftlichen Leben bleibt und nicht weicht.

Vorbild und Orientierung sind klar: Es ist das große Ja Gottes zu dieser verworrenen, gefallenen, in der Tat manchmal ermüdenden, aufreibenden und schrecklichen Welt. Schon klar: Natürlich wünscht Gott sich eine andere Welt. Viel hat er unternommen, dass es anders wird. Doch vor alledem steht sein uneingeschränktes, an unzähligen Stellen bezeugtes Ja. »So sehr hat Gott die Welt geliebt …« So sehr hat er zu dieser krankhaften, blutbesudelten, egozentrischen Welt sein Ja ausgesprochen und gelebt. Dieses Ja Gottes mit dem Höhepunkt vor rund 2000 Jahren wird zum Dreh- und Angelpunkt dieser Weltgeschichte. Wieso nicht in dieses kostbare Ja einstimmen? Darin wird – derart verheißungsvoll ist das Ja – auch das Nein seinen Platz finden. Natürlich stimmt es: Gott sagt zu bestimmten Dingen Nein. In diesen Spuren – allerdings bitte nur hier – dürfen auch wir Nein sagen. Der angemessene Parkplatz für dieses Nein ist das große, unübertrefflich kostbare, lebensspendende, ungeteilte und allumfassende Ja. Dieses Ja ist ein Fest wert, besonders, weil das Nein und mit ihm alle Klage, alle Ablehnung, alle Verweigerung, alle Skepsis auf seinen Platz verwiesen wurde!

Vor diesem Hintergrund führt unsere Reise über verschiedene Wegabschnitte, liebliche und weniger liebliche, da und dort an Abgründen entlang, steiler oder weniger steil. Wir versuchen es. Es ist eine Gesprächseinladung. Es soll unserer eigenen Seele guttun. Mehr noch: Es soll zur Wohltat für unser Umfeld, ja, für die ganze Welt werden.

Das Abenteuer, zu dem ich Sie einlade, geht über vier Wegabschnitte.

Wegabschnitt 1 ist die große Einladung, Mut zum Ja zu gewinnen. Wir hören zunächst von Versuchen einer Reihe von Menschen aus Gegenwart und Vergangenheit, mit Unwegsamem, Notvollem, Belastendem umzugehen. Dieser Abschnitt führt uns weiter zur Entdeckung des unübertrefflichen Ja Gottes zu dieser Welt, einer Welt mit all ihren Schattenseiten und Schönheiten, mit all ihrer Abartigkeit und Auflehnung, mit all ihrem Abstrusen und doch Liebenswürdigen. Alles zielt in Richtung unseres ganz persönlichen Entscheides, Ja-Mensch oder Nein-Mensch zu sein, sich mehr vom Ja oder mehr vom Nein faszinieren zu lassen, dem Ja näherkommen zu wollen oder doch im naheliegenden Nein zu verharren.

Wegabschnitt 2 führt uns an Abgründen entlang zum heilsamen Ja in einer Welt voller Neins. Die Rede ist vom verhängnisvollen, verabsolutierten, unseligen Schrei nach Heilung und heiler Welt sowie vom hoffnungsvollen Glück, verletzlich, schwach und begrenzt sein zu dürfen. Das Beste und Schönste: Ja-Mensch zu sein, heißt in erster Linie immer auch, Ja zu sagen zu Gottes unbegrenzten Möglichkeiten und zu seiner Fähigkeit, heilend in diese oft heillose Welt einzugreifen. Das ist das Ende allen Schicksals und aller Schicksalsgläubigkeit, aber auch das Ende allen Anspruchs und aller überfordernden und ermüdenden Erwartung an Gott, an mich selber und an andere Menschen.

Wegabschnitt 3 fragt nach Hilfen und Schlüsseln, Ja-Mensch in einer unperfekten Welt zu werden. Wir suchen nach dem bestmöglichen Nährboden, in dem das Ja gedeihen und heranreifen kann. Wir fragen nach Heilung des so oft unzufriedenen oder gar verbitterten Nein-Menschen. Es sind sieben Geheimnisse, denen wir im Hinblick auf unser persönliches und gemeinschaftliches Leben auf die Spur kommen. Hier kann sich das Ja entfalten. Hier kann es erstarken. Hier gewinnt es Kraft. Das Ja reift heran. Ein wohlriechender Duft entsteht. Der Mensch des Ja darf werden.

In Wegabschnitt 4 vertiefen wir das Üben und Einüben unseres Lebens als Ja-Mensch. Ja-Mensch zu sein und zu werden ist weder etwas, das man sich täglich hart erarbeiten muss, noch etwas, das einem auf Knopfdruck zufällt. Es gibt eine Schönheit des Lernens und des Üben-Dürfens. Dazu leitet dieser Abschnitt an. Dabei bekommt auch – endlich – das Nein seine gebührende Aufmerksamkeit. Es bekommt seinen Parkplatz. Damit ist der Weg frei, einen Blick in das 21. Jahrhundert zu werfen. Es wird ein Jahrhundert des Ja und der Hoffnung sein, oder aber, unter der Herrschaft von Chaos- und Nein-Mächten, eine schrecklichere Gestalt haben als alles je zuvor Gesehene.

Am Rande drei Dinge:

• Nach jedem Wegabschnitt, bestehend aus je drei Kapiteln, habe ich jemanden gefragt, ob er (oder sie) uns nicht in aller Kürze drei oder vier Fragen beantworten könnte. Die Absicht: Ein Beispiel geben, wie sich mit je eigenem Hintergrund ein oder mehrere Wegabschnitte verarbeiten lassen. Gefragt habe ich Vreni Theobald, Elisabeth Buser und Walter Kriechbaum.

• Wenn Sie möchten, lade ich Sie ein, zuerst ins das Kapitel 12 zu springen. Dort finden Sie einen Traum im Zusammenhang mit dem Ja-Menschen. I have a dream: Diesen Traum hatte ich bei der Niederschrift dieses Buches. Dem einen oder andern unter uns könnte es helfen, diesen Traum von allem Anfang an zu kennen und mitzuträumen und sich erst dann an das Lesen des Ganzen zu machen.

• Falls Sie ohnehin ein Mensch sind, der ganz gerne das Ende kennt: Hier finden Sie auch ein Nachwort von Vreni Theobald. Sie spielt mit den Worten Ja sagen und Ja-Sager. Der Satz, den ich mir über alles merke: Ich sage Ja und entdecke: Es ist das Tor zum Leben.

Sie sind auf gutem Weg. Danke, dass Sie bis hierher durchgehalten haben. Haben Sie Lust auf Entdeckungen? Ich wünsche es Ihnen! Wir springen in Kapitel 1: Ja-Mensch oder Nein-Mensch sein – Einblicke in den Umgang mit Schwerem.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Teil 1 Mut zum Ja gewinnen

Auf den Spuren des Ja – Aus dem Leben ganz normal einzigartiger Menschen

Unser Glück: Gott ist ein Gott des unübertrefflichen Ja

Ja-Menschen sind Lebensliebhaber

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1JA-MENSCH ODER NEIN-MENSCH SEIN – EINBLICKE IN DEN UMGANG MIT SCHWEREM

Begrenzung, Schwäche, Verletzlichkeit, Schmerz, Ohnmacht, Scheitern sind allgegenwärtig. Wir leiden darunter. Gleichzeitig werden wir fast täglich damit umworben, als moderne Menschen diese Welt eines Tages unter Kontrolle zu bekommen, Schweres nur als Durchgangsstadium anzusehen sowie Krankheit, Alter und Tod auf geheimnisvolle Weise abschaffen zu können.1 Bedrückend und kaum auszuhalten wäre diese Spannung, gäbe es nicht zahllose Menschen, die uns eine Art Alternative zu diesem nicht wirklich glaubwürdigen Abschaffungsmodus von Leid und Krankheit vorleben. Auf sehr unterschiedliche Weise nehmen sie uns mit auf einen Weg, wie sich mit Begrenzung oder Schwäche mündig und hoffnungsvoll umgehen lässt. Sie machen nachdenklich. Ihr Beispiel ermutigt. Keine Schicksalsgläubigkeit, aber auch keine Pflege von Illusionen. Zum Glück gibt es solche Menschen.

Im Folgenden hören wir einige Augenblicke auf sie. Dabei spüren wir so etwas wie ein Ja, frei von mürrischer Unzufriedenheit, frei von nicht enden wollender Anklage, frei von Überheblichkeit und frei von lästigem Haschen nach Mitleid. Ob solchen Menschen die Zukunft gehört? Ob sie uns inspirieren und ermutigen? Ob wir Schlüsse für uns aus ihrem Erzählen ziehen können? Ich glaube ja.

Aus dem Leben ganz normaler und doch einzigartiger Menschen

Weil ich sie (und vor allem ihre Eltern) ein klein bisschen kennen darf: Anna, »das Mädchen, das mit den Augen spricht« 2. Die Stationen des Lebens dieses Mädchens sind schnell genannt: Geboren in Rumänien unter Nicolae CeauŞescu, Waisenhaus, freigegeben für die Adoption in der Schweiz, Überforderungssituation der ersten (Pflege-)Eltern, die geheimnisvolle Aufnahme und Adoption durch das Ehepaar Aurelia und Hansueli Gujer und – als ob es nicht schon genug Notvolles im Leben von Anna gegeben hätte – ein dramatischer Unfall. Heute: »Genial, diese Anna, ein Juwel«, sagte die Mutter, als wir das erste Mal von Anna hörten. Staunend lauschen meine Frau und ich. Annas Sprache ist bis heute nicht da, die Ehe von Hansueli und Aurelia aufs Äußerste strapaziert worden. Nachdem Anna beinahe ertrunken ist, hofft man, logischerweise, auf eine rasche Genesung. Doch, so steht es auf dem Buchdeckel der Erzählung über Anna, die Hoffnung auf ein Wunder »verblasst zusehends«. Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, Selbstvorwürfe und Anklagen an Gott charakterisierten das Auf und Ab mit Anna, dem Mädchen, das mit den Augen spricht. Das Wunder: Nicht wie erwartet, aber realer, viel andauernder. Absolut erzählenswert. Einige Sätze aus dem Mund der Mutter Aurelia Gujer:

• »Trotz allem merkte ich, dass Anna bereits einen Platz in meinem Herzen hatte.« Doch die Frage nagte: »Würde unsere Liebe ausreichen, dieses Mädchen treu umsorgend durchs Leben zu begleiten?«

• Anna »schaute mir sehr direkt in die Augen«. Sie fragte: »Kann ich jetzt hierbleiben?« Und zweifelnd: »Mami, hast du mich wirklich lieb?«

• »Das Wort Behinderung schlossen wir damals immer noch konsequent aus unserem Vokabular aus.« Und doch: »Völlig ausgepowert schrie ich innerlich zu Gott: Warum lässt du das alles zu, Gott? Manchmal brach die ganze Verzweiflung dermaßen aus mir heraus, dass ich laut rief: Wann hat das Elend endlich ein Ende?«

• Wunder? Auch wir »hielten an der Idee fest, Gott werde Anna heilen«. Es wäre schön gewesen, leben wir doch »in einer Zeit, wo Spektakuläres, Extravagantes und Außergewöhnliches Schlagzeilen macht«.Es kam anders: Die »sensationelle Wende« bestand »in Wachheit, Aufnahmefähigkeit, Lernwille« und »endlich ohne Windeln«.

• Anna hat wunderschöne dunkelbraune Augen. Sie sind es, die sprechen. Ihre Augen sind sozusagen der Zugang zu Annas Sprache. »Man muss Annas Sprache sehen.«

• Aus dem Kapitel »Schönheit«: Es gibt eine äußere Schönheit (»Anna ist wunderschön«) und es gibt eine »innere Schönheit« (u. a. jene »innige Liebe zu diesem Freund Jesus«). Die Eltern: »Wir werden Anna immer, so lange wir können, in ihrem Bemühen um innere und äußere Schönheit unterstützen.«

Völlig anders und doch vergleichbar ist die Geschichte von Raphael Müller. Mit 14 schreibt er mithilfe der Methode des gestützten Schreibens sein Buch mit dem Titel Ich fliege mit zerrissenen Flügeln3. Autist, Epileptiker, Rollstuhlfahrer: Das sagen Menschen, die von außen hinschauen. Auf medizinisch: »Hydrocephalus internus e vacuo« oder »atypischer Autismus«.

Die ersten Jahre beschreibt der 14-jährige Raphael so: »Abgegrenzt und unverstanden«, »Nebelgefühl«, bei Medikamentenvergabe »regelmäßig von mehreren Leuten festgehalten«, Schätzung des IQ »auf null«. Und dann doch alles nochmals ganz anders. Raphael erlebt und beschreibt seine Wirklichkeit so: »Inselhaft leben Autisten, abgeschieden vom Festland der Gesellschaft, aber umspült von den Wassermassen göttlicher Liebe. Allein und doch nicht einsam; unverstanden, aber doch verstehend.« Nüchtern, aber ohne Vorwurf hält er fest: »Geniale Gedanken finden nur selten den schmalen Steg ins stressgeplagte Alltagsdenken, in diese vorgedachten Welten aus tristem Grau in Grau …« Erschütternd und gleichzeitig unendlich Mut machend. Einige weitere Sätze und Zitate dieses »Wortakrobaten«, »Sinnsuchers« und Menschen mit dem Merkmal »ganz, ganz weich auf der Herzhaut«:

• »Ich habe weiß Gott die weltbeste Familie«, und: »Ich habe die weltbesten Eltern abbekommen, da bin ich sicher.«

• Mit fünf: »Ich war so glücklich wie nie zuvor … Endlich gab es Menschen außerhalb meiner Familie, die mir etwas zutrauten, die nicht nur einen Schwerbehinderten, einen dummen Krüppel in mir sahen.«

• 2008 gibt Raphael eine Zeitungsannonce auf. Ihr Wortlaut: »SOS, suche oberdringend verständnisvolle Begleitung in die Schule – Hände, die mich stützen – Eine freundliche Stimme, die für mich einspringt – Jemand, der mir mehr zutraut – Jemand, der keine Angst vorm Lernen hat und mir meine nimmt – Eine Person mit großem Herzen für autistische Wesen wie mich – Jemand, der mir vertraut und dem ich vertrauen kann.«

• Einige Kapitelüberschriften im Buch: »Schweres ist leicht und Leichtes ist schwer«, »Stumm, aber voller Worte«, »Lichtblicke«, »Die Kehrseite der Medaille«. In Letzterem lesen wir: »Die Highlights lindern meinen Schmerz um all die verpassten Chancen im Leben, sie tragen mich über so manchen depressiven Abgrund hinweg, denn auch solche Phasen kenne ich zur Genüge. In solchen Momenten bin ich versucht, im Selbstmitleid zu baden. Mama war geschockt, als ich mit gerade mal sieben von Depression sprach. Kann öde sein, erklärte ich ihr, und brachte sie damit ordentlich ins Nachdenken.«

• Zur Frage nach dem Sinn: »Das bastardartige Gefühl des Ausgestoßenseins … ist häufig kaum auszuhalten, geht mitunter an die Substanz … So mancher findet sich am Abgrund wieder, der Verzweiflung nahe … Birgt das Leiden einen Sinn? Bringt es am Ende doch Gewinn?« Etwas später: »Ich habe mir schon nächtelang den Kopf zerbrochen, worin der Sinn liegen könnte! Weshalb er ein solch verstecktes Dasein fristet! Warum die Schicksalspäckchen solch unterschiedliche Größen aufweisen!«

• Raphael Müller las Bücher wie Ärztliche Seelsorge von Viktor E. Frankl. Von ihm stammt das Bild mit dem Sandkorn in der Muschel. Raphael: »Ich bete, dass aus meinem Sandkorn, meinem Schicksal, eine Perle werden darf.«

• Die Mutter schließlich: »Du hast in der Tat viel zu sagen! Lass uns auch weiterhin teilhaben an Deinen stummlauten Gedanken! Danke, dass Du unser Leben bereicherst!«

Zeitsprung. Wenig Personen haben mich in der Begleitung von Menschen so geprägt wie der soeben erwähnte Viktor Emil Frankl, geboren 1905 in Wien. Viktor E. Frankl steht für seelsorgerliche, beratende und psychotherapeutische Hilfe vor dem Hintergrund, selber während der Zeit des Nationalsozialismus unsägliches Leid in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Dachau und Auschwitz durchgestanden zu haben. Seine ureigene Erfahrung ist im über 12 Millionen Mal verkauften Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen entfaltet. Thema: Das Ringen um Leben angesichts unfassbaren Leidens. Eine seiner fundamentalen Beobachtungen: »Jene Menschen« sind am ehesten fähig, »in das Leben zurückzufinden, die auf die Zukunft hin orientiert sind, auf ein Ziel in der Zukunft hin, auf einen Sinn, den in der Zukunft zu erfüllen es galt«. Den vielleicht entscheidenden Moment seines Lebens beschreibt Frankl so: »In der Stille meiner Zelle ist es geschehen, eines Nachts, und nun habe ich meinen Frieden gemacht mit der Welt und mit mir selbst. Ich habe den wahren Sinn meines Lebens gefunden … die Zeit kann Erfüllung dieses Sinnes nur aufschieben, abhalten kann sie mich von seiner Erfüllung nicht. Wie herrlich ist doch das Leben – ich umarme es, ich kann das Morgen nicht erwarten.« 4

Vor diesem Hintergrund wirft er, bis zu seinem Tod 1997, ein Licht in die Erfahrungswelt von Menschen mit ihren physischen, psychischen, sozialen und geistlichen Leiden. Ärztlicherseits unheilbares Kranksein ist genauso im Blickpunkt wie das Zugehen auf den Tod. Das Geheimnis: Auch dem Tod, analog zu jeder Begrenzung des Lebens, gilt es, einen Sinn abzuringen. Frankl rechnet mit der Möglichkeit der »kopernikanischen Wende« in unserem Leben. Einige weitere Sätze und Zitate:5

• »Findet der Mensch einen Sinn, dann ist er auch bereit zu leiden, wenn es nötig sein sollte. Umgekehrt aber, wenn er um keinen Sinn des Lebens weiß, dann pfeift er aufs Leben, auch wenn es ihm äußerlich noch so gut gehen mag …«

• »Wenn wir eine Situation nicht ändern können, müssen wir uns selbst ändern.«

• »Es gibt etwas, was ihr mir nicht nehmen könnt: Meine Freiheit, wie ich auf das, was ihr mir antut, reagiere.« Auf der grundsätzlichen Ebene: »Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.«

• Im Hinblick auf die Begrenzung des unumgänglichen Älterwerdens: »Für gewöhnlich sieht der Mensch nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit. Was er übersieht, sind die vollen Scheunen der Vergangenheit. Im Vergangensein ist nämlich nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen.«

• »Es ist nicht schlimm, ein Ziel nicht zu erreichen, viel schlimmer ist es, kein Ziel zu haben – in der Tat, der Mensch kann nur überleben, wenn er auf etwas hinlebt. Und wie mir scheint, gilt dies nicht etwa nur vom Überleben des einzelnen Menschen, sondern auch vom Überleben der Menschheit.«

• »Bloßes Überleben kann nicht der höchste Wert sein. Mensch sein heißt, ausgerichtet und hingeordnet sein auf etwas, das … über sich selbst hinausweist. Sobald menschliches Dasein nicht über sich selbst hinausweist, wird Am-Leben-Bleiben sinnlos, ja, unmöglich.«

Es liegt nahe, später nochmals auf einige dieser Gedanken zurückzukommen.

Bleiben wir bei zwei weiteren Personen, die mit unsagbarem Leid konfrontiert waren und je auf ihre Art versucht haben, gangbare Wege zu finden. Sagt Ihnen der Name Louis Zamperini etwas? Wenn nicht, lassen Sie einige seiner Taten und Zitate auf sich wirken. Anders sicher der Name Dietrich Bonhoeffer. Gewiss ist er Ihnen bereits irgendwo begegnet. Beide, Zamperini und Bonhoeffer, haben den 2. Weltkrieg miterlebt.

Ersterer hat ihn überlebt, Letzterer ist kurz vor dem Ende – am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg – hingerichtet worden.

Zu Louis »Lou« Silvie Zamperini, geboren 1917 in Amerika, gestorben 2014: Er war Spitzensportler, nahm als damals jüngster Athlet an den Olympischen Spielen 1936 in Berlin teil, wurde eingezogen, über Japan abgeschossen und für tot gehalten – und kam, nachdem er 47 Tage in einem Rettungsboot sowie ein schreckliches Gefangenenlager überlebt hatte, zurück in die USA.

Hier fällt es ihm unfassbar schwer, sich in das »normale« Leben einzugliedern. Er fühlt sich noch einsamer als in der Gefangenschaft, wo es zumindest Mithäftlinge gab, die dasselbe durchmachten und ihn daher verstanden. Er verschweigt seiner Familie die Albträume von Folter und Überlebenskampf. Er findet keine Worte dafür, wie sehr ihn die Tour durchs Land als Werbegesicht für die Armee belastet. Er fängt an zu trinken. Die Heirat mit Cynthia und die Geburt ihrer Tochter helfen kurzfristig. Die Wende kommt, als seine Frau ihn zu einer Veranstaltung mit Billy Graham mitnimmt. Die 2010 veröffentlichte Biografie sowie der zweiteilige Film Unbroken geben eindrücklich wieder, wie Louis Zamperini mit dem Schrecken des Lebens, dem zugefügten Leid, dem erlittenen Schmerz, dem Zerbruch, den dramatischen Erinnerungen und dem Ringen um Bewältigung umgeht.

Eindrücklich: Es ist die Frau, die zu diesem gebrochen erscheinenden Mann steht. Zudem die heilende Begegnung mit Gott, so geheimnisvoll diese ist. Eine der Wirkungen: die Bereitschaft zu vergeben, sogar seinen schrecklichen Peinigern in Japan. Zwei Zitate des späteren »Ermutigungsmenschen«: »Der, der weiß, wann er kämpfen sollte und wann nicht, wird siegreich sein.« Und: »Ich denke, das Härteste im Leben ist vergeben.«

Zu Dietrich Bonhoeffer, jenem kurz vor Ende des 2. Weltkrieges hingerichteten und vielleicht genialsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Unüberschaubar viel wurde von ihm selber – und noch mehr durch andere Menschen über ihn – geschrieben.6 Was, frage ich mich selber, berührt mich in besonderer Weise, und was macht ihn für mich so eindrücklich und wegweisend? Ich gestehe, keinen Menschen zu kennen, der mit so weitem Herzen und so tiefsinnigem Verstand den ganzen Schrecknissen seiner Zeit begegnet, der derart voller Zuversicht bleibt angesichts von so viel Bestialischem, der sich so sehr allem Billigen und Oberflächlichen entgegensetzt und der im Sterben nicht Begrenzung und Grund zu Resignation sieht, sondern im Tod »Gottes größte Gnade« erkennt. Seine letzten uns überlieferten Worte, als bei einer Andacht in kleinem Kreise »zwei finster aussehende Männer in Zivil reinkamen und befahlen: Gefangener Bonhoeffer, fertig machen und kommen«, sind schlicht, aber ergreifend: »Dies ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.« Einige weitere Zitate vor allem aus seiner letzten Lebensphase:7

• »Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will … Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen … Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind.«

• »Der Schmerz ist dem größten Teil unseres Lebens fremd gewesen. Möglichste Schmerzlosigkeit war einer der unbewussten Leitsätze unseres Lebens.«

• »Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.Es ist ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens.«

• »Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll.«

• »Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!«

• »Christen stehen bei Gott in seinem Leiden, das unterscheidet Christen von Heiden … Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der Welt mitzuleiden … Nicht der religiöse Akt macht den Christen aus, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben.«

• »Wir sollten uns dort finden, wo er ist. Wir können nur dort sein, wo er ist.«

Zwei kurze Auszüge aus der Glaubens- und Gedankenwelt Bonhoeffers runden das Gesagte ab.

Zum einen zum Thema Leiden aus »Stationen auf dem Weg zur Freiheit«, verfasst am 21. Juli 1944, einen Tag nach dem missglückten Attentat auf Hitler:

Wunderbare Verwandlung. Die starken tätigen Hände sind Dir gebunden. Ohnmächtig, einsam siehst Du das Ende Deiner Tat.

Doch atmest Du auf und legst das Rechte still und getrost in stärkere Hände und gibst Dich zufrieden.

Nur einen Augenblick berührtest Du selig die Freiheit, dann übergabst Du sie Gott, damit er sie herrlich vollende.

Und zum andern jene einzigartige Dichtung vom 28. Dezember 1944 im Rahmen eines Briefes an seine Mutter zu deren Geburtstag und zum neuen Jahr 1945. Bonhoeffer schreibt: »Ich wünsche …, dass das neue Jahr uns doch wenigstens hier und da einen Lichtblick bringt.« Dann fügt er die Worte hinzu:

Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr … Noch will das Alte unsre Herzen quälen. Noch drückt uns böser Tage schwere Last. Ach, Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen das Heil, für das du uns bereitet hast … Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.

Sprung ins Heute: Die 21 Kopten und Wanderarbeiter, die in Libyen am 15. Februar 2015 enthauptet worden sind. Es ist Martin Mosebach, der zwei Jahre später eine Reise zu den Familien der Ermordeten macht. Sein Buch: Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Märtyrer.8 Erschütternd und unendlich hoffnungsstiftend werden die Männer, die an diesem frühen Morgen ihr Leben ließen, von deren Angehörigen und Freunden beschrieben. Es waren nicht Männer, denen dummerweise etwas Vermeidbares passiert ist. Vielmehr erfahren wir von 21 schlichten, glaubenden und hingegebenen Persönlichkeiten, für die das Zuhausesein im Himmel von Grund auf selbstverständlich und niemals billige Vertröstung war und ist.

So beschreiben die Familien ihre Söhne, Brüder und Ehemänner:

• Er war bereit zum Verzeihen … (über Magued)

• Er schlief mit der Bibel auf der Brust … (über Malak)

• Er bedachte seine Worte sorgfältig, bevor er den Mund aufmachte … (über Milad)

• Er wandte viel Zeit darauf, den ›Brüdern des Herrn‹ (den Armen) zu helfen … (über Bishoy)

• Er war ein Mann des Gebets und der Liturgie … (über Girgis den Jüngeren)

• Er war ein Mann des Schweigens, auch wenn er angegriffen wurde … (über Mina)

• Sein Herz war einfach und rein, und er war demütig in seinen Worten … (über Gaber)

Der rote Faden, der sich durch diese Beschreibungen zieht, ist, so Mosebach, die Verschwiegenheit. Die jungen Witwen würden nie wieder heiraten, »denn sie waren mit einem Märtyrer verheiratet«. Während der Gefangenschaft der Männer, meist im Alter von 20 bis 30 Jahren, hätte man nicht um Befreiung aus der Gefangenschaft gebetet, »sondern nur dafür, dass sie stark bleiben«. Fast wie ein Höhepunkt lesen wir auf Seite 111, dass Mosebach »nicht ein einziges Mal die Forderung nach Vergeltung oder Rache oder wenigstens nach einer Bestrafung der Mörder gehört« habe. »Es war, als wolle man sich mit den Mördern gar nicht beschäftigen.« Die 21 hatten »den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt«. Das zu wissen, schien genug zu sein.

Sicherlich kennen Sie den Film Ziemlich beste Freunde. Das Buch dazu hat Philippe Pozzo di Borgo verfasst. Aus seiner Feder stammt auch Ziemlich verletzlich, ziemlich stark, wo er seine persönliche Geschichte erzählt. Er war Geschäftsführer des Champagnerunternehmens Pommery und bekam »eines Tages mit voller Wucht einen Schlag ab«. Dieser hat ihn »unvermittelt in eine Welt der Brüche und Erniedrigungen« gestürzt. Früher hatte er behinderte, auch alte Menschen nicht einmal wahrgenommen. Fest auf sein Ziel war sein Blick gerichtet. 1993 verunglückte er im Alter von 42 Jahren schwer. Ergebnis: Querschnittsgelähmt, vom Hals abwärts. »Ich kann«, sagt Di Borgo, »mich weder bewegen noch die Menschen, die ich liebe, berühren.«9

In einem Gespräch mit Elisabeth von Thadden, im genannten Buch abgedruckt, finden sich Sätze und Bekenntnisse von di Borgo wie:

• »Es klafft ein Abgrund zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem, was sich in den Menschen zuträgt … Wir haben eben alle ein Handicap.« All die E-Mails, die di Borgo erreicht hätten, würden »ein massenhaftes Gefühl des Scheiterns« in unserer Gesellschaft widerspiegeln. Fazit: »Wir sind als Gesellschaft in einer Sackgasse gelandet.«

• Doch diese Feststellung allein hilft nicht weiter. Es gilt einzugestehen, dass »die menschliche Existenz zerbrechlich ist … Die Zerbrechlichkeit muss wieder von den Rändern ins Zentrum der Gesellschaft rücken.« In allem gibt es »nichts Elementareres, als ein menschliches Gegenüber zu haben«. Dieses achtet die Zerbrechlichkeit höher als alles Funktionieren. Wer, so lautet die Frage, »hält zu uns, wenn wir verwundbar geworden sind«?

• Behinderungen sind von erschreckender Normalität. Der Film Ziemlich beste Freunde zeigt mehr als deutlich: »Es macht uns stark, uns in der jeweiligen Verletzlichkeit zusammenzuschließen.« 10

Die Grunderfahrungen di Borgos und der Freunde um ihn lassen sich so zusammenfassen: »Die Verletzlichkeit birgt wider Erwarten einen Schatz, den es zu entdecken gilt … Die seelische Not wird gelindert, wenn die Isolierung durchbrochen wird. Die Behinderung an sich macht nicht glücklich, aber sie birgt einen eigenen Reichtum.« Dieser wiederum kann nur in der Beziehung zum anderen zum Vorschein kommen. Solches Leben kommt »einer inneren Revolution« gleich und »bedeutet das Ende des Haderns mit Niederlagen und Schwächen«.

Uns allen ist es bewusst: Hier könnten zahllose weitere Beispiele aufgeführt werden. Wer weiß, ob nicht auch Ihr Erleben an dieser Stelle erzählenswert wäre? Ich bin ziemlich überzeugt davon.

Auch Sie machen, was immer Sie auch an Notvollem in Ihrem Rucksack tragen, nichts anderes als das, was bisher beschriebene Personen auch tun: einen mündigen, guten Weg angesichts schwieriger Umstände und angesichts unzähliger Verletzlichkeiten suchen.

Eigentlich müsste eine Bibliothek eröffnet werden, in der zu finden ist, wie wiralle unseren Lebenskampf führen und mit Notvollem mündig umzugehen versuchen. Es tut mir geradezu leid, hier nur so wenige und nur so subjektiv ausgewählte Beispiele beschrieben und so subjektiv andere weggelassen zu haben.11

An dieser Stelle werfen wir nochmals einen Blick in die Vergangenheit, und zwar in die Musikgeschichte. Auch wer keinen Zugang zu klassischer Musik hat, mag sich durch die folgende Geschichte inspirieren lassen.

Johann Sebastian Bach hat eine Lebensgeschichte, wie wir sie uns wohl kaum vorstellen können. Diese Erfahrung soll deshalb nicht unerwähnt bleiben.

Johann Sebastian Bach: Mit 35 verlor er seine Frau, Maria Barbara. Mit ihr zusammen hatte er sieben Kinder, von denen drei zum Zeitpunkt des Todes ihrer Mutter bereits gestorben waren. Weitere Grenzsituationen folgten: Sehschwäche und daraus folgende Erblindung, Diabetes II und in deren Gefolge ein Schlaganfall. Eine verpfuschte Augenoperation sowie schädliche Medikamente trugen das ihre zur nicht beneidenswerten Gesundheit Bachs bei. Und doch:

Zum einen bat im Mai 1750 ein junger Mann, Johann Gottfried Müthel aus Schwerin, den mittlerweile 65-jährigen Bach, bei ihm studieren zu dürfen. Bach entsprach der Bitte. Es war zwei Monate vor dessen absehbarem Tod. Studieren bei einem todkranken Menschen? Vielleicht naheliegender und lehrreicher als je gedacht.

Zum andern kam es, vergleichbar wie nach dem Verlust seiner Frau, zur Erschaffung eines tief berührenden Chorals mit dem Titel »Vor Deinen Thron tret ich hiermit«. Sechs der zehn Strophen:

1. Vor deinen Thron tret ich hiermit, o Gott, und dich demütig bitt: Wend doch dein gnädig Angesicht von mir, dem armen Sünder nicht.

2.