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„Bis auf die Unterwäsche – Jagdszenen in Kaufhäusern“ titelte der Spiegel im Jahre 1985. Warendiebstähle hatten ungeahnte Höhen erreicht. Eine technische Lösung wurde gesucht. Die Vacuumschmelze lieferte.
Dieses Buch erzählt die Geschichte der deutschen mittelständischen Industrie am Beispiel des Hanauer Unternehmens Vacuumschmelze. Die VAC entwickelte sich in über 100 Jahren von einer Idee und einem Patent zu einem der führenden globalen Akteure der Dekarbonisierungs-Industrie. Das Unternehmen agierte jahrzehntelang als Siemens-Tochter, geriet danach in den Strudel von Hedgefonds, bewahrte trotz mehrfacher Eigentümerwechsel seine Eigenständigkeit und ging gestärkt aus dieser Erfahrung hervor.
Die Chronik enthält Geschichten zur Anwendung der VAC-Produkte, bietet tiefe Einblicke in technologische Entwicklungen und schildert den Einfluss globaler Prozesse auf den Mittelstand.
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Seitenzahl: 522
Eine Industriegeschichte
Erik EschenMatthias GeorgiRobert Kieselbach
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www.dva.de
Dieses Buch wurde vermittelt durch:
Neumann & Kamp Historische Projekte
www.historische-projekte.de
Mitarbeit: Christoph Laugs, Jan-Hendrik Pieper, Christian Schwartz
Redaktion/Lektorat: Katharina Roth
Gestaltung, Umschlag und Satz: Yasmin Karim
ISBN 978-3-641-33479-6V002
Geleitwort der Geschäftsführung
Vorwort
1. Innovation im luftleeren Raum
Die Anfänge des Vakuumschmelzens in Hanau1851–1923
2. Die Uhr tickt
Erste Jahre der Heraeus Vacuumschmelze AG1923–1933
3. Im Hause Siemens
Die Vacuumschmelze mit neuem Eigentümer im Nationalsozialismus1933–1939
4. Rüstung und Zwangsarbeit
Die Vacuumschmelze im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit1939–1948
5. „Wirtschaftswunder“ bei der VAC
Gemeinsam für mehr Komfort im Haushalt 1948–1966
6. Für Mensch und Umwelt
Supraleiter, Sozialbau und Umweltschutz1966–1980
7. Ideen für eine neue Welt
Internationalisierung der VAC1980–1998
8. The Magnetic Group
Eigentümerwechsel, Expansion und Wirtschaftskrise 1999–2015
9. Bereit für die Zukunft
Auseinandersetzung, Neuaufstellung und die Dekarbonisierung der Welt2015–2024von Dr. Erik Eschen
Danksagung
Endnoten
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Ein Jahrhundert Vacuumschmelze – eine faszinierende Reise durch die Zeiten, geprägt von Höhen und Tiefen, von zahlreichen Herausforderungen und vielen Triumphen. Anlässlich unseres 100-jährigen Bestehens blicken wir auf unsere Geschichte zurück, die uns gleichermaßen stolz macht und Verantwortung auferlegt.
Nach über 100 Jahren Unternehmensgeschichte gehören wir mit unserer VAC zum exklusiven Kreis von Firmen in Deutschland, ja in der Welt, die auf eine so lange Erfolgsgeschichte zurückblicken können. Millionen von Firmen wurden durch die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen, durch Innovationen des Wettbewerbs oder schlicht durch schlechtes Management durch den funktionierenden Marktmechanismus ausgelöscht und sind heute längst vergessen oder bestenfalls Experten noch bekannt. Hingegen zelebrieren wir heute mit der VAC unsere Ausdauer und Anpassungsfähigkeit. Dabei basiert der Erfolg unserer VAC darauf, dass sich das Unternehmen immer wieder neu erfunden hat – ein beständiger Zyklus von Innovation und Wandel ist die Grundlage unserer langen Geschichte.
In dieser Chronik möchten wir die Jahrhundertreise unserer VAC nachskizzieren. Gegründet wurde die VAC aus der alten Heraeus, die 1923 bereits auf über 250 Jahre Firmengeschichte zurückblicken konnte. Wilhelm Rohn und ein Team mutiger Pioniere hatten einen Traum und den Willen, diesen zu verwirklichen. Aus bescheidenen Anfängen und mit einem kleinen Schmelzofen begann die Geschichte der VAC, die heute als weltweit führendes Unternehmen für weich- und hartmagnetische Lösungen anerkannt ist. Heute stehen wir auf den Schultern all jener, die vor uns die Herausforderungen durch die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus, den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder der Bundesrepublik Deutschland, die 68er, Ölkrisen, die Wiedervereinigung und die Krisen der letzten Jahrzehnte meisterten und damit die Grundlagen für unser langes Bestehen und unseren Erfolg legten. Durch bahnbrechende Entdeckungen, Patente und die Entwicklung revolutionärer Technologien hat die VAC immer wieder neue Maßstäbe gesetzt und sich immer wieder an veränderte Bedingungen und Situationen angepasst.
Nach 100 Jahren überrascht es auch nicht, dass die VAC nicht nur glanzvolle Zeiten durchlebt hat, sondern auch Teil der dunklen Kapitel der deutschen Geschichte war. Auch dieser Zeit stellen wir uns offen in dieser Chronik und setzen uns mit der Rolle der Vacuumschmelze im Nationalsozialismus auseinander. Dies ist uns ein besonderes Anliegen, da es unsere Verantwortung ist, uns und die künftigen Generationen immer wieder daran zu erinnern, dass solche Verbrechen nie wieder von Deutschland ausgehen dürfen. Ausdrücklich möchten wir uns heute auch bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus bereits in den vergangenen Jahrzehnten auseinandergesetzt haben – im Rahmen der Beteiligung an der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung der Zwangsarbeit (Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“) und auch in der Chronik zum 90. Bestehen der VAC.
Ein weiterer Schwerpunkt dieser Chronik ist die Zeit des Wiederaufbaus und die anschließende Ära der „Gastarbeiter“ in Deutschland. Dieser weniger erforschte Abschnitt der deutschen Industriegeschichte bildet die Grundlage, um das bis heute wichtige Thema der Immigration und Integration besser verstehen zu können und auch hier aus den positiven und negativen Erfahrungen zu lernen – aber auch, um den nachfolgenden Generationen die Möglichkeit zu geben, ihre Wurzeln besser zu verstehen. Die Vacuumschmelze ist bis heute ein Schmelztiegel für Kolleginnen und Kollegen aus aktuell über 30 Herkunftsländern. Viele sind nicht nur in zweiter oder dritter Generation Hanauer, Vogelsberger, Hessen oder Bayern, sondern auch in zweiter, dritter oder gar vierter Generation VACianer. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und mit dem Wiederaufbau der frisch gegründeten Bundesrepublik Deutschland kamen viele Immigranten ohne ihre Familien in ein Land, dessen Sprache sie nicht beherrschten. Missverständnisse, Vorurteile, aber auch gezielte Kränkungen und offener Rassismus waren an der Tagesordnung. In den geführten Interviews mit den Kolleginnen und Kollegen dieser Generation wurden negative Erfahrungen immer wieder marginalisiert und weggeschoben. Die Dankbarkeit und die guten Erfahrungen wurden in den Vordergrund gerückt. Über die negativen Erfahrungen wurde geschwiegen – wir können nur vermuten, ob aus Scham, Dankbarkeit oder weil die Alternative in der Heimat zu bleiben noch dramatischer war. Dieses Kapitel der deutschen Industriegeschichte ist in den nächsten Jahren sicherlich noch weiter aufzuarbeiten, da die erste Generation der „Gastarbeiter“ heute 70 Jahre und älter ist und damit die Zeit drängt, Zeitzeugen aus erster Hand zu befragen.
Heute befinden wir uns in einer Zeit der multiplen Krisen, die dicht aufeinander folgen oder parallel verlaufen: Finanzkrise, Flüchtlingskrise, geopolitische Konflikte, zunehmender Protektionismus, lokale Epidemien und globale Pandemien, verbreiteter Terrorismus, unterbrochene Lieferketten, Kriege, Inflation, politische Instabilität und Extremismus und die zunehmende Klimakrise, um nur die großen Themen anzuführen.
Gerade in solch schwierigen Zeiten wird über den Erfolg und das Fortbestehen von Unternehmen entschieden. Mit ihrer Innovationskraft trägt die VAC in wesentlichen Bereichen der Industrie-, Militär- und Medizintechnik dazu bei, die oben genannten Probleme zu lösen. Vor allem aber bemüht sich die VAC, den großen Erfordernissen wie Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und Aufhalten der Klimakrise aktiv zu begegnen. So sind Produkte der VAC wichtige Bausteine für Lösungen in der Elektromobilität, in der Ladeinfrastruktur, bei alternativen Energien, beim elektrischen Fliegen und vielem mehr. Damit leistet unsere VAC einen entscheidenden Beitrag zur Dekarbonisierung und auch zu einem Stück besserer Welt. Die abschließende Beurteilung, ob und wie uns dies gelingt, ist sicherlich den folgenden Generationen vorbehalten. Heute können wir nur auf das Verständnis dieser Generationen hoffen dafür, dass wir alle unsere Entscheidungen nur auf Basis des heutigen Wissensstands und unserer Erfahrung treffen können.
Mit den genannten Lösungen für diese wichtigen Themen unserer Zeit ist die VAC auch zunehmend in das Interesse der Politik gerückt. Unsere Produkte sind bedeutend im Kampf gegen den Klimawandel und gleichzeitig ist die VAC ein wichtiger Baustein, um die globalen Abhängigkeiten in den Lieferketten zu reduzieren. Mit der Vielfalt der innovativen Lösungen in all diesen wichtigen Zukunftsfeldern sollte unsere VAC eine treibende Kraft für Innovation und Fortschritt in unserer heutigen Welt bleiben und damit für die nächsten Jahrzehnte sehr gut aufgestellt sein.
Anhand der Unternehmensgeschichte können wir nachvollziehen, wie sich die VAC immer wieder neuen Herausforderungen angepasst hat. Nur wenn es uns gelingt, dass jederzeit alle wichtigen Interessensgruppen, also unsere Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten, Eigentümer, Fremdkapitalgeber, Gewerkschaften, Behörden, Verbände und viele mehr, die VAC unterstützen, ist auch unsere Zukunft gesichert. Dabei spielen insbesondere unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine herausragende Rolle. Der technische und wirtschaftliche Erfolg der Vacuumschmelze wäre ohne das Engagement, die Hingabe, Leidenschaft und das Talent unserer Kolleginnen und Kollegen nicht möglich gewesen. Jeder Einzelne spielt eine Schlüsselrolle und trägt mit Fähigkeiten und Fachwissen zur Innovationskraft und Stärke unserer VAC bei.
Wir blicken heute stolz auf 100 Jahre Industriegeschichte zurück. Auf den Lorbeeren unserer Vorgängergenerationen ruhen wir uns nicht aus, sondern stellen uns unserer Verantwortung und blicken in eine Zukunft voller Möglichkeiten und Herausforderungen. Die Geschichte der Vacuumschmelze ist eine Geschichte des Mutes, der Entschlossenheit und des kontinuierlichen Fortschritts, die wir mit Unternehmer- und Innovationsgeist weiterschreiben werden. Wir sind bereit, uns an die Veränderungen anzupassen und neue Chancen zu nutzen und streben nach bahnbrechenden Innovationen und weiterem Wachstum. Dabei sind die Anforderungen unserer Kunden und die Erweiterung des technisch Machbaren unser täglicher Ansporn.
Möge dieses Buch damit nicht nur eine Chronik unserer Vergangenheit sein, sondern auch eine Quelle der Inspiration für uns und zukünftige Generationen!
Ihr
Dr. Erik Eschen
1918 meldete Dr. Wilhelm Rohn sein Verfahren zum Vakuumschmelzen zum Patent an. Damit begann die Geschichte der heutigen Vacuumschmelze in Hanau. Rohn war damals Angestellter bei der W.C. Heraeus GmbH und die Vacuumschmelze eine Abteilung im Unternehmen. 1923 – vor etwas mehr als 100 Jahren – wurde sie dann als eigenständige Firma herausgelöst. Bis 2005 war das schon früh „VAC“ abgekürzte Unternehmen immer Tochter eines großen Konzerns: zu Beginn gehörte sie zu Heraeus, dann übernahm Siemens die Mehrheitsanteile, in den 2000ern straffte Siemens sein Portfolio und verkaufte die Vacuumschmelze an Morgan Crucible. Danach folgten eine Reihe von Investmentunternehmen, mit einem Zwischenspiel bei der OM Group; heute gehört die VAC zu Ara Partners, einer Private-Equity-Gesellschaft, die sich auf Investitionen in die Dekarbonisierung der Industrie spezialisiert hat.
Diese Publikation erzählt zwei Geschichten: Einerseits beleuchtet sie den Werdegang eines deutschen Mittelständlers, der mit konstant hoher Innovationsleistung in einer sehr speziellen Nische zu einem unverzichtbaren Teil der weltweiten High Tech Industrie geworden ist. Andererseits schildert das Buch die Entwicklung der deutschen Industrie. Das Spannungsfeld zwischen mittelständischer Existenz und der Abhängigkeit von einem Großunternehmen, in dem sich die VAC befand, ist in gewisser Weise idealtypisch für sehr viele Industriebetriebe in Deutschland. Die Historie der Vacuumschmelze war von Höhen und Tiefen geprägt – das Unternehmen navigierte durch Krisenzeiten, durchlebte Perioden reduzierter Innovationen, in denen es sich auf früheren Erfolgen ausruhte, und Phasen, in denen die Eigentümer direkt von den Errungenschaften der Vacuumschmelze profitierten. Sie wurden wiederum abgelöst von Zeiträumen, in denen das Unternehmen signifikant von der finanziellen sowie organisatorischen Unterstützung der Eigentümer profitierte.
Demzufolge dokumentiert das Buch auch die Geschichte eines Dualismus, der sich zwischen der unternehmerischen Beständigkeit einerseits und dem Drang nach Innovation – vielleicht sogar dem Zwang zur Innovation – andererseits bewegt.
Die VAC-Unternehmensgeschichte ist chronologisch aufgebaut und beginnt weit vor ihrer Gründung, sogar weit vor der Erfindung des Vakuumschmelzverfahrens: Sie beginnt mit der Gründung einer Hanauer Apotheke im 17. Jahrhundert, dem Ursprung der heutigen Heraeus-Group, und folgt von hier aus der Entwicklung der Vacuumschmelze ab 1913 durch die Jahrzehnte. Die großen Zäsuren, mit besonderem Augenmerk auf der Zeit des Nationalsozialismus, werden intensiv betrachtet und analysiert. Das Unternehmen war repräsentativer Akteur in den jeweiligen Wirtschaftsepochen der Bundesrepublik Deutschland, und mit der Globalisierung ein typischer Vertreter eines deutschen Unternehmens im weltweiten ökonomischen System.
Jede von Historikern verfasste und bis in die Gegenwart reichende Unternehmenschronik sieht sich unweigerlich mit der Herausforderung konfrontiert, dass die Expertise der Historiker und die Qualität der Quellen tendenziell abnehmen, je näher sie der Gegenwart kommen. Im Laufe der Jahrzehnte geht vieles verloren – sowohl Erinnerungen als auch Quellen. Dabei verschwinden nicht nur wichtige, sondern vor allem auch zahlreiche unwichtige Details. In diesem Sinne agiert die Zeit als Filter, der Historikern hilft zu entscheiden, was relevant und was irrelevant ist. Je näher man der Gegenwart kommt, desto schwieriger werden diese Entscheidungen. Deshalb wurde in diesem Buch ein besonderer Ansatz gewählt: Das letzte Kapitel, welches die jüngste Dekade umfasst, wurde nicht von Historikern, sondern von Dr. Erik Eschen, dem CEO der Vacuumschmelze, verfasst. Dr. Eschen hat sich intensiv mit allen Schlüsselfiguren ausgetauscht, die die letzten zehn Jahre der Vacuumschmelze geprägt haben. Aufbauend auf den Erkenntnissen dieser Recherchen, seinen persönlichen Erinnerungen und den historischen Analysen der Historiker führt er in seinem Text die Geschichte der VAC bis in die Gegenwart.
Dieses Buch ist nicht nur die Geschichte der Vacuumschmelze; es repräsentiert auch beispielhaft die Entwicklung eines deutschen Unternehmens, das die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts überstanden und nun in der globalen Wirtschaft eine neue, zukunftsorientierte Rolle gefunden hat.
Die Anfänge des Vakuumschmelzens in Hanau1851–1923
Die Wurzeln der Vacuumschmelze liegen in diesem repräsentativen Eckhaus, das am Hanauer Marktplatz lag. Hier richtete Isaac Heraeus 1668 eine Apotheke ein.
Die Heißluftdusche
Wie alles begann: Heraeus
Wilhelm Carl Heraeus
Platinschmelze
Von der Manufaktur zum Industriebetrieb
Vom Rohstoff zum Werkstück
Die Gründung der W. C. Heraeus GmbH
Wilhelm Rohn bei Heraeus
Biographie Wilhelm Rohn
Thermoelemente aus Edelmetall
Ersatz für Edelmetalle
Das Schmelzen im Vakuum
Heraeus und Rohn im Ersten Weltkrieg
Rohstoffe und Forschungen während des Ersten Weltkriegs
Sachverständiges Probieren – Patentierung des „Verfahrens zum Vakuumschmelzen und Vergüten von Metallen und Legierungen“ 1918
Das Patent, das alles verändert
Kriegsende und Nachkriegszeit in Hanau
Kurz nach der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert staunten die Menschen über ein neues Multifunktionsgerät. Es half, Federboas zu kräuseln, linderte Rheuma, konnte Badwäsche anwärmen und zur Handschuhwäsche eingesetzt werden. Zudem diente es der Schönheitspflege und der Haartrocknung. Die sogenannte Heißluftdusche war eines der ersten elek-trischen Haushaltsgeräte, das neben dem elektrischen Licht nicht nur in Haushalten der Oberschicht, sondern auch in denen der Mittelschicht Verbreitung fand. Das Gerät galt als Allheilmittel.
Die erste Heißluftdusche brachte im Jahr 1900 der deutsche Hersteller AEG auf den Markt. Mit nur rund zwei Kilogramm Gewicht war das Gerät vergleichsweise handlich. Allerdings musste der 90 °C heiße Luftstrom von den Nutzerinnen und Nutzern gut kontrolliert werden. Die AEG blieb nicht lange der einzige Hersteller. Bald schon folgten die Unternehmen Sanitas und Calor, die ebenfalls Heißluftduschen auf dem Markt anboten. Sanitas gab seinem 1908 erschienenen Modell den Namen „Fön“, benannt nach der Bezeichnung für warme Fallwinde in der Meteorologie.
In den 1920er Jahren, dem Gründungsjahrzehnt der Vacuumschmelze, hatte sich das ehemalige Wundergerät etabliert. Jetzt warben die Hersteller hauptsächlich mit den Trocknungseigenschaften in der Schönheitspflege. Der moderne Bubikopf und die perfekte Wasserwelle sollten für Frauen auch in den heimischen vier Wänden frisierbar sein.
Und die Männer? „Mit einem Hemde komm’ ich aus – Seitdem ich einen ‚Fön‘ im Haus.“
Sanitas warb mit der Zeichnung eines jungen Mannes mit Pfeife im Mund, der auf einem Barhocker sitzt. Sein Oberkörper ist nur von einer Decke umhüllt. In einer Hand hält er einen Föhn, mit dem er sein offensichtlich einziges Hemd auf einer Wäscheleine trocknet.
Kern der Föhnentwicklung waren Heizleiter-Legierungen. Sie ermöglichten es, dass Metall mit hohem elektrischen Widerstand durch Strom sehr hoch erhitzt werden konnte, ohne zu schmelzen. Die vorbeiströmende Luft wurde so erwärmt.
Die Suche nach entsprechenden Verbindungen hatte ihren ersten Höhepunkt mit der Weiterentwicklung der elektrischen Glühbirne durch den amerikanischen Elektroingenieur Thomas Edison im Jahre 1879 erreicht. Der vorher eingesetzte Kohlefaden war nicht beständig genug, eine geeignete Metall-Legierung wurde gesucht. Für Glühbirnen konnten bald Legierungen aus Osmium und Iridium bzw. Wolfram eingesetzt werden.
Für die Vacuumschmelze bedeuteten die Heizleiter-Legierungen einen Durchbruch, es war das erste Massenprodukt des Unternehmens. Anwendung fanden die Legierungen nicht nur in Haartrocknern, sondern auch in Industrieglühöfen, Wasserkochern oder (elektrischen) Heizungen.
Werbeblatt der Elektrizitäts-Gesellschaft Sanitas aus den 1920er Jahren.
Die Gründung der Vacuumschmelze AG im Jahr 1923 geht auf ein Patent zurück, das Dr. Wilhelm Rohn als Angestellter der W. C. Heraeus Platinschmelze GmbH anmeldete. Die „Heraeus Vacuumschmelze AG“, wie das Unternehmen bei der offiziellen Eintragung in das Handelsregister hieß, erfolgte aus dem Unternehmen Heraeus heraus – eine klassische Ausgründung einer ursprünglichen Abteilung. Die Geschichte der VAC ist zumindest in den ersten Jahrzehnten untrennbar mit der Geschichte von Heraeus verbunden.
Die Geschichte der Vacuumschmelze beginnt also viele Jahre vor ihrer eigentlichen Gründung: genauer gesagt 263 Jahre davor. Der Apotheker Isaac Heraeus kam 1660 nach Hanau. Hier heiratete er Anna Margarete Leutens, die Witwe des ein Jahr zuvor verstorbenen Apothekers Noë Faucque.1 Ihm hatte eine Hanauer Apotheke gehört, die durch die Heirat in Isaacs Besitz überging.
Acht Jahre später kaufte Isaac ein Fachwerkhaus am Marktplatz und richtete hier seine Apotheke „Zum weißen Einhorn“ ein.2 Diese Apotheke, die sich in einem „repräsentativen barocken Eckhaus“ am Treffpunkt der Nürnberger mit der Kölnischen Straße direkt am Hanauer Markplatz befand, ist der Ursprung des Unternehmens Heraeus.3
1851 übernahm Wilhelm Carl Heraeus die Apotheke und baute sie zu einem chemischen Betrieb aus.4 Wilhelm Carl Heraeus, dessen Vornamen häufig W. C. abgekürzt wurden, machte wie seine Vorfahren eine Apothekerlehre. Danach studierte er in Göttingen. Einer seiner Professoren war Friedrich Wöhler, Pionier der organischen Chemie und gleichzeitig Entwickler einer Reduktionsmethode zur Herstellung von reinem Aluminium.5 Im Chemiestudium erwarb W. C. Heraeus die wissenschaftlichen Grundlagen für seinen späteren Einstieg in das Metallgeschäft und für seinen unternehmerischen Erfolg.6
Wilhelm Carl Heraeus übernahm 1851 die Apotheke von seinen Vorfahren und erweiterte sie um eine Platinschmelze. Dieses Unternehmen war so erfolgreich, dass es schon bald das Apothekengeschäft ersetzte.
Auch der Standort Hanau spielte eine wichtige Rolle für den Aufbau des Unternehmens. Im 16. Jahrhundert hatten niederländische und wallonische Flüchtlinge die Edelmetallverarbeitung nach Hanau gebracht; diese prägte auch im 19. Jahrhundert noch die Wirtschaft der Stadt.7 Die in Hanau ansässigen Goldschmiede und Schmuckfabrikanten waren auf der Suche nach jemandem, der aus den Platinresten ihrer Schmuckproduktion Barren fertigen konnte. Das Edelmetall war seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa bekannt. Die Schmuckmanufakturen verarbeiteten Platin aufgrund seiner Seltenheit und seines silbrigen Schimmers. Der hohe Schmelzpunkt von 1.768,3 °C erschwerte allerdings die Weiterverarbeitung enorm.8 Physiker und Chemiker waren dagegen weniger an der Eleganz des Edelmetalls interessiert, sie schätzten Platin gerade wegen seiner Widerstandsfähigkeit gegenüber Hitze und Säuren.9 Während die Gold- und Silberreste in Barren gegossen und weiterverarbeitet wurden, konnten Platinreste zunächst lediglich in einer weißglühenden Schmiede zu sogenannten Platinschwämmen verarbeitet werden. Diese konnten in der Schmuckproduktion nicht verwendet werden. Die Schmuckfabrikanten schickten ihre Platinreste damals nach Paris oder London, von hier bezogen sie auch Platinbleche und -drähte.
W. C. Heraeus sah hier ein lohnendes Geschäftsfeld. Sein ehemaliger Professor hatte ihn auf die Arbeiten des französischen Chemikers Henri Étienne Sainte-Claire Deville aufmerksam gemacht.10 Gemeinsam mit Jules Henri Debray gelang Deville 1856 eine Platinschmelze. Die beiden Physiker erhitzten Platin in einem Behältnis aus feuerfestem Kalk mit einem Kohlegas-Sauerstoff-Gemisch und demonstrierten die Einschmelzung einer 600 Gramm schweren Platinprobe.11
Auf Grundlage dieser Arbeit glückte Wilhelm Carl Heraeus im selben Jahr ebenfalls die Platinschmelze.12 Anders als seine französischen Kollegen nutzte er dafür ein von ihm entwickeltes Knallgasgebläse, bei dem Sauerstoff und Wasserstoff über einen Hahn zusammengeführt und entzündet werden. Die Flamme erreichte eine Temperatur von bis zu 3.300 °C – heiß genug für die Platinschmelze.13 Das von Heraeus entwickelte Gebläse ermöglichte es durch eine größere Flammenfront, mehrere Kilogramm an platinhaltigen Materialien auf einmal zu schmelzen. Auf diese Weise machte W. C. Heraeus das Edelmetall industriell verwertbar.14
Heraeus perfektionierte das Verfahren weiter. Da der Platinbedarf während des 19. Jahrhunderts stetig anstieg, wurde die Platinschmelze schnell zum Hauptgeschäftsbereich seines Unternehmens.15 Das Familienunternehmen Heraeus wuchs und der Umsatz stieg. 1857 erhielt die Heraeus Platinschmelze einen ersten Exportauftrag. 30 Kilogramm Platin in Form von Stangen, Blechen und Draht verließen Hanau in Richtung New York.16 In Europa profitierte Heraeus davon, dass in frühen Telefonapparaten nicht-oxidierende Platinkontakte verbaut wurden. Dazu kam die weiterhin hohe Nachfrage nach Platin aus der Schmuckindustrie.17 Verkaufte die Heraeus Platinschmelze 1859 noch 59 Kilogramm Platin pro Jahr, waren es zwanzig Jahre später bereits 400 Kilogramm, und im Jahr 1888 hatten die von dem Unternehmen vertriebenen Platinwaren ein Gewicht von fast einer Tonne. Bis zum Ersten Weltkrieg 1914 war Russland Hauptlieferant von Platin-Nuggets für die Heraeus Platinschmelze. Das Land profitierte von großen Platin-Lagerstätten, die 1823 im Umland der Stadt Jekaterinburg gefunden wurden.18 Bis zu einem Drittel seiner Platinförderung exportierte Russland nach Hanau.19
Links und in der Bildmitte sind die Brüder Heinrich und Dr. Wilhelm Heraeus zu sehen. Sie führten ab 1889 das von ihrem Vater gegründete Unternehmen weiter. Rechts steht Dr. Richard Küch.
Am 1. Januar 1889 übernahmen die Söhne von Wilhelm Carl und Katharina Heraeus die Leitung des Unternehmens. Die Brüder Dr. Wilhelm und Heinrich Heraeus waren die zweite Generation des Familienunternehmens, das zu diesem Zeitpunkt noch eine Manufaktur mit zehn Mitarbeitern war.20 Sie gaben das Apothekengeschäft auf und widmeten sich ganz der Platinschmelze. Hatte für ihren Vater der Platinhandel bereits eine immer größere Rolle gespielt, legten Wilhelm und Heinrich, mit Unterstützung ihres wissenschaftlichen Mitarbeiters Dr. Richard Küch, einen Schwerpunkt ihrer unternehmerischen Tätigkeit auf die mechanische Verarbeitung des erschmolzenen Platins.21
Küch entwickelte zudem ein Verfahren zur Herstellung von blasenfreiem Quarzglas, indem er Bergkristall schmolz. Quarzglas konnte etwa für die Herstellung einer in der Medizin verwendeten künstlichen Höhensonne oder für Thermometer eingesetzt werden. Heute ist es für die Glasfasertechnologie unentbehrlich.22 Innovationsstreben in Kombination mit der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse wurde elementarer Bestandteil des Hanauer Unternehmens. Das Platingeschäft warf Gewinne ab, die wiederum Investitionen in Forschungsabteilungen ermöglichten. So konnte Heraeus sein Angebot weiter ausdifferenzieren. Neben der Platin- und Quarzglasfertigung richtete das Unternehmen bis zum Ersten Weltkrieg etwa eine elektrische und eine keramische Abteilung ein, ebenso wie den neuen Bereich Apparatebau.23
Trotz der Einrichtung neuer Geschäftsfelder blieben Platinverarbeitungen ein bedeutender Teil des Angebots. Platin wurde nun nicht mehr in erster Linie in Drahtform oder als Halbzeug nachgefragt. Die Industrie forderte das Edelmetall verstärkt in weiterverarbeiteter Form, etwa als Kessel und Schalen, aber auch als Elektroden und Kontakte.24 Die Hanauer Platinschmelze passte sich an die veränderten Kundenwünsche an und verbesserte ihre Produkte stetig. So war es abermals Richard Küch, der für die in der chemischen Industrie genutzten Platinkessel einen Schutz erfand. Schwefelsäure, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Grundlagenchemikalie, griff bei ihrer Herstellung die Böden der Platinkessel massiv an, sodass sie häufig ausgebessert werden mussten. Küch entwickelte ein Verfahren, bei dem Gold auf erhitzten Platinplatten zerfließt und anschließend ausgewalzt wird. Die vergoldeten Bleche machten die Platinkessel widerstandfähiger gegen die Schwefelsäure. Das 1891 angemeldete Verfahren war das erste Patent der Heraeus Platinschmelze und förderte ihren ökonomischen Erfolg. Auch diese Gewinne investierten die Heraeus-Brüder in die Ausweitung der Produktionskapazitäten und in die Forschungsabteilungen.25
Als beispielhaft für die Entstehung einer neuen unternehmenseigenen Abteilung kann die um die Jahrhundertwende entstandene Aluminium-Abteilung gelten. 1899 übernahm Heraeus einen Auftrag der Badischen Anilin- und Sodafabrik Ludwigshafen (BASF) zur Herstellung von Aluminiumapparaten. Aluminium galt zu diesem Zeitpunkt als nicht lötfähig oder schweißbar. Unter der Mitarbeit von Wilhelm Heraeus gelang die Entwicklung eines sogenannten Hammerschweißverfahrens, das die Herstellung von Aluminiumkesseln ohne sichtbare Schweißnaht ermöglichte. Besonders für die Fertigung von Geräten, die in der chemischen Industrie benötigt wurden, war dies ein Durchbruch. Die von Heraeus auf der Weltausstellung 1900 präsentierten Aluminiumapparaturen fanden großen Anklang – bei der Chemieindustrie, aber auch bei Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie. Mit der anschließenden Einrichtung einer Aluminium-Abteilung bekam die Bearbeitung des Leichtmetalls einen eigenen Bereich in der Platinschmelze – aus der technischen Innovation entstand ein neuer Geschäftsbereich.26
Seit 1900 fertigte Heraeus auch Elektroden für die Elektrochemie. Die elektrotechnische Industrie profitierte von einer durch die zunehmende Urbanisierung bedingten hohen Nachfrage nach elektrischen Beleuchtungen oder elektrischen Transportsystemen. Zudem wurden die im Kaiserreich hergestellten Elektroartikel zu gefragten Exportprodukten. Besonders die Unternehmen Siemens und AEG prägten diese Entwicklung. 1913, im letzten Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, generierten die beiden Unternehmen mit einem Umsatz von 1,3 Millionen Mark ein Drittel der gesamten Weltproduktion im Bereich des elektrotechnischen Industriesektors.27
An dieser Entwicklung nahm die Heraeus Platinschmelze Anteil mit Thermometallen aus Platin, korrosionsbeständigen Apparateteilen, Leitungen und Kontaktvorrichtungen sowie der Fertigung von Elektroden und Röhren.28
Die Platinschmelze entwickelte sich zusehends zu einem Zuliefer- und Metallverarbeitungsunternehmen. Ein neuer Produktionsstandort symbolisierte den Unternehmenserfolg. Am Rand von Hanau entstand 1896 am Waldseeweg „Im Schwindelfurt“, zwischen Grüner Weg und Friedberger Bahn, ein Werkskomplex. Dort hat die Heraeus Group noch heute ihren Sitz. 1909 wandelten Wilhelm und Heinrich Heraeus das Unternehmen in eine GmbH um. Die „W. C. Heraeus GmbH“ verfügte über ein Stammkapital von fünf Millionen Goldmark, die je zur Hälfte von den Geschäftsführern eingebracht wurden.29
Der wirtschaftliche Erfolg zeigte sich auch in der Entwicklung der Beschäftigungszahl, die sich zwischen 1896 und 1914 verzehnfachte und auf 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anstieg. Die W. C. Heraeus Platinschmelze förderte ihre Belegschaft und war eine Vorreiterin in der Bereitstellung von sozialen Leistungen. In den Jahren um 1900 zahlte das Unternehmen in Pensionsfonds ein, gewährte den Angestellten einen Urlaubsanspruch und errichtete Ein- und Zweifamilienhäuser für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.30
Einer der 400 Mitarbeiter war Wilhelm Rohn. Mit 26 Jahren wurde er im Juli 1913 von der W. C. Heraeus Platinschmelze angestellt. Es war Rohns erste Anstellung in einem Industrieunternehmen.31 Seine Ideen sollten eine neue Bearbeitungsmöglichkeit für Metalle und Legierungen ermöglichen und damit die Grundlagen für das Geschäftsfeld der später gegründeten Heraeus Vacuumschmelze AG schaffen, deren erster Geschäftsführer er wurde. Bis heute hat die Heraeus Group in Hanau einen Zugang an der Wilhelm-Rohn-Straße, die an den Physiker und Erfinder erinnert.
Wilhelm Rohn wurde am 20. Mai 1887 in Dresden geboren. Sein Vater Karl Rohn stammte aus dem hessischen Bensheim, seine Mutter war Maria Anna Rohn, geb. Schopper.32 Die Familie war evangelischen Glaubens.33 Wilhelm Rohn wuchs in einem akademisch geprägten Haushalt auf. Sein Vater hatte an der Technischen Hochschule in Dresden zunächst eine Professur für Darstellende Geometrie inne, ab März 1900 war er dort Rektor. Sein Onkel väterlicherseits und Namensvetter, Dr. Wilhelm Rohn, war Direktor des Chemieunternehmens „Verein Chemischer Fabriken“ in Mannheim.34 Durch seinen Vater und seinen Onkel erhielt Wilhelm Rohn seit frühester Kindheit eine naturwissenschaftliche Prägung.
Karl und Anna Rohn legten Wert auf eine gute Ausbildung ihres Sohnes. Wilhelm besuchte bis zur Quinta, der heutigen sechsten Klasse, die Mochmannsche Lehr- und Erziehungsanstalt, eine Privatschule in Dresden.35 Die Schule kostete in den von Wilhelm Rohn besuchten Elementarklassen vierteljährlich zwischen 30 und 36 Mark und hatte sich die Vermittlung einer wissenschaftlichen Vorbildung zum Ziel gesetzt. Zudem legten die Verantwortlichen Wert auf strenge Disziplin.36
Eine undatierte Aufnahme der Familie Rohn. Vorne sitzt Wilhelm, hinter ihm stehen seine Eltern Dr. Karl und Anna Rohn.
Anschließend besuchte Wilhelm Rohn die Kreuzschule in Dresden. Die im Jahr 1370 erstmalig erwähnte Institution war an die damalige Kaufmanns- und Bürgerkirche St. Nikolaus angeschlossen. 1388 wurde die Kirche als Kreuzkapelle geweiht, da sie einen Splitter vom Kreuz Christi als Reliquie aufbewahrte. 1817 wurde aus der Kreuzschule das neuhumanistische Kreuzgymnasium. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts stützte sich die Schule auf die Ideen ihres Lehrers Hermann Köchly, der eine Zurückdrängung der lateinischen Sprache zugunsten der deutschen Sprache forderte und sich für die Verbesserung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses sowie den Ausbau des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts in Sachsen einsetzte. Auf dem Kreuzgymnasium erhielt Wilhelm Rohn eine Ausbildung mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt.37
Sein Vater Karl war politisch konservativ, kaisertreu und vertrat die um die Jahrhundertwende verbreitete imperialistische Ansicht, dass Völker und Nationen um ihr Überleben kämpfen müssten. In einer Rede mit dem Titel „Die Entwicklung der Raumanschauung im Unterricht“, die er als Rektor der Technischen Hochschule Dresden am 23. April 1900 hielt, vertrat er die These, dass der „Kampf ums Dasein die Völker“ antreibe, mit dem Ziel, ihre „Existenz und ihre Wohlfahrt“ sicherzustellen. Weiter führte er aus: „Der Kampf ums Dasein zwingt auch den Einzelnen, sich daran zu beteiligen. [...] Manche Katastrophe hat dieser Kampf im Leben der Völker herbeigeführt, aber wir verdanken ihm auch die fortschreitende Entwicklung und Gesittung der Menschheit.“38 Karl Rohn präsentierte sich so als Anhänger zeitgenössischer Theorien, die auf Grundlage der biologischen Untersuchungen von Charles Darwin auch auf der sozialen Ebene den Kampf als prägendes gesellschaftliches Element propagierten. Gefördert wurden diese Ansichten durch ein Zusammenspiel mit dem europäischen Kolonialismus, der vor und nach 1900 stark auflebte.39 Seit 1897 äußerte das Deutsche Reich auch öffentlich seinen Anspruch, an der Verteilung der Welt beteiligt zu werden. Man sah sich in einem Konkurrenzkampf und in einem Wettlauf mit anderen europäischen Mächten um die ertragreichsten und globalpolitisch bedeutendsten Kolonien.40 Aus heutiger Sicht mag diese Weltanschauung radikal und auch befremdlich wirken. Um die Jahrhundertwende gehörte diese Form des Nationalismus und der Sicht auf gesellschaftliche Prozesse zum Standardrepertoire großer Teile des konservativen Bürgertums.
Der Imperialismus begründete seine Bestrebungen unter anderem mit dem enormen Gegensatz zwischen dem technischen Fortschritt der europäischen Industriestaaten und der traditionellen Lebensweise der kolonialen Welt. Dieser Gegensatz diente als eindrucksvoller Beweis für die Überlegenheit der Industriestaaten und half, sowohl den Imperialismus als Theorie zu etablieren als auch eine Art imperialistischer Verpflichtung zur Eroberung abzuleiten. Solche Ansichten wurden durch die wirtschaftlichen Krisen zum Ende des 19. Jahrhunderts noch verstärkt. Die Industrie wuchs nicht mehr in dem Tempo, das man noch aus der Zeit der Industriellen Revolution und des Gründerbooms kannte. Die Publizistin Hannah Arendt zeigte nach dem Zweiten Weltkrieg auf, dass die Ideen des Imperialismus Nährboden für rassistische Lehren und Grundlage für den Faschismus im 20. Jahrhundert waren.41
Gleichzeitig wurden die Zeitgenossen der Jahrhundertwende von einem Gefühl der Beschleunigung geprägt. Für viele waren die technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritte faszinierend, Technikausstellungen fanden in den europäischen Metropolen großen Zulauf. Einige Beobachter empfanden das Tempo und die neue Komplexität als einschüchternd. Viele blickten jedoch aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten euphorisch in die Zukunft.42
Diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen prägten auch Wilhelm Rohn während seiner Kindheit und Jugend. Nach dem Abitur 1905 studierte er Physik an der Universität Leipzig. Hierhin war im selben Jahr sein Vater als Direktor des mathematischen Instituts gewechselt. Zwei Jahre später setzte Wilhelm Rohn sein Studium an der damaligen Kaiser-Wilhelm-Universität in Straßburg fort. Er promovierte 1911 mit einer Dissertation unter dem Titel „Anomale Dispersion einiger organischer Farbstoffe“.43 Im Anschluss fand er im Juli 1913 seine Anstellung bei der „W. C. Heraeus GmbH“ in Hanau als Leiter des Physikalischen Versuchslaboratoriums.44
1928 erinnerte sich Wilhelm Rohn in einem Schreiben rückblickend an die Bezahlung bei seinem Arbeitgeber: „Heraeus zahlte vor dem Ersten Weltkrieg einen Wochenlohn zwischen 22 und 32 Mk. Die Arbeitszeit betrug 60 Stunden.“45 Ob diese Arbeitszeit auch für ihn persönlich galt oder nur für die Arbeiterinnen und Arbeiter, ließ Rohn offen.
Als Rohn bei Heraeus begann, war Hanau eine Stadt mittlerer Größe. Hanaus Wirtschaft war immer noch durch das Kunsthandwerk geprägt. Zudem war Hanau Garnisonsstadt. Die Stadt zählte 1914 knapp 40.000 Einwohner, von denen rund zehn Prozent Militärangehörige waren. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hatte die Stadt durch den Bau von Kasernen, aber auch durch Straßen- und Schulbauten sowie durch einen Kanalbau in die Infrastruktur investiert.46 Rohn zog in ein Haus in der Brüder-Grimm-Straße 17, die nur rund einen Kilometer von den Produktionsstätten der Heraeus entfernt lag.47
Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts investierte Heraeus die Gewinne in die Forschung und in den Ausbau ihrer Produktpalette. Diese wurde um elektrische Wärmemessgeräte erweitert. Das 1906 von Heraeus patentierte „Elektrische Widerstandsthermometer aus Platindraht“ bestand aus einem auf Quarzglas gewickelten Platindraht, der durch ein Quarzglasrohr geschützt wurde und so eine „sichere, genaue und schnelle Messung“ der Temperatur ermöglichte.48
Mithilfe sogenannter Thermoelemente konnten auch hohe Temperaturen verlässlich gemessen werden. Besonders in der Industrie war diese Art Temperaturmessung gefragt.49
Der dieser Erfindung zugrunde liegende „thermoelektrische Effekt“ war 1821 durch den Wissenschaftler Thomas Johann Seebeck entdeckt worden. Er fand heraus, dass zwischen zwei Punkten eines elektrischen Leiters, die eine unterschiedliche Temperatur haben, eine elektrische Spannung entsteht. In einem Thermoelement verbindet man nun zwei unterschiedliche elektrische Leiter, in der Regel Metalle, in einem Stromkreis miteinander und legt an die Kontaktpunkte eine Temperaturdifferenz an. Die Metalle unterscheiden sich in ihrer thermischen Leitfähigkeit, sodass eine elektrische Spannung entsteht. Diese Spannung misst das Thermoelement, dies wiederum ermöglicht die Bestimmung der Temperatur an der Kontaktstelle.50 Da die entstehende Thermospannung sehr gering ist, können andere Effekte das Ergebnis leicht überlagern. Aus diesem Grund benötigte man homogene und reine Metalle.51 Die Messungen in den ersten von Heraeus hergestellten Thermoelementen wurden mithilfe zweier Drähte aus Platin und Rhodium durchgeführt.
Das 1906 von Heraeus patentierte „Elektrische Widerstandsthermometer aus Platindraht“.
Das Problem: Die Verwendung von Platin in Thermoelementen war dauerhaft zu teuer. Wilhelm Rohn beschäftigte sich deshalb besonders mit der Verwendung von Ersatzstoffen für das teure und schwer erhältliche Platin. Hierzu arbeitete Rohn bei Heraeus mit einer kleinen Anzahl an Physikern zusammen, die sich dem neuen Forschungsgebiet „chemisch-metallurgische Technik“ widmeten.52
Die Suche nach Ersatz für Edelmetalle fand nicht nur in der Industrie statt. Auch die Zahnmedizin versuchte, teure Dental-Legierungen zu ersetzen. Seit der Einführung der allgemeinen Krankenversicherungspflicht im Jahr 1883 unter dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck stieg die Zahl der Kassenpatienten an. Das hatte um die Jahrhundertwende zur Folge, dass Zahnärzte verstärkt eine rationalisierte Arbeitsweise anboten. Eine an Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit orientierte Behandlung setzte sich durch. Das führte auch dazu, dass bei Verfüllungen das billigste Füllungsmaterial verwendet wurde. Amalgam entsprach den Anforderungen der Zeit, sodass um 1900 rund 75 % aller Zahnfüllungen aus Amalgam bestanden. Allerdings gab es bereits seit 1899 erste Erkenntnisse darüber, dass gesundheitsgefährdendes Quecksilber aus Amalgam austreten kann. Goldfüllungen stellten theoretisch eine Alternative dar, waren aber viel zu teuer. In den 1920er Jahren bemühte man sich daher, Amalgam durch Legierungen mit Edelmetallen zu sogenanntem Edelamalgam zu verbessern.53
Vor einer ähnlichen Herausforderung stand Wilhelm Rohn. In einem Beitrag für eine Jubiläumsschrift der Vacuumschmelze beschrieb er 1933 seine Aufgabe während seiner Anfangszeit bei der Heraeus Platinschmelze: „Als der Platinpreis infolge der zunehmenden technischen Verwendung dieses Metalles bei begrenzter Jahresproduktion um das Jahr 1913 auf RM 6,30 pro Gramm gestiegen war, tauchte der Wunsch auf, für Temperaturen zwischen etwa 500 und 1.100 ° Celsius Thermoelemente aus Unedelmetallen herstellen zu können, für die die gleiche Anforderung an Austauschbarkeit, d. h. chemische und thermoelektrische Identität verschiedener Schmelzen, gestellt werden sollte, wie sie die Platin-Rhodium Thermoelemente leisteten.“54 Die hohen Kosten für Platin verdeutlicht ein Beispiel: 6 Mark 30 Pfennig pro Gramm Platin war, wenn man den Wochenlohn bei Heraeus von 22 bis 32 Mark vergleicht, sehr teuer. Für den Preis eines Kilogramms Platin, 6.300 Mark, hätte das Unternehmen einen Mitarbeiter ungefähr 196 Wochen, also gut dreieinhalb Jahre, beschäftigen können.
Die Aufnahme zeigt Arbeiter der Heraeus Platinschmelze aus dem Bereich Stahlverarbeitung.
Rohns Bestreben war also die Herstellung von Unedelmetall-Legierungen, mit dem Ziel, die in Thermoelementen verwendeten Metalle Platin und Rhodium zu ersetzen und trotzdem Temperaturen bis 1.100 °C verlässlich zu messen.55 Zur Auswahl der passenden Unedelmetalle stellte Rohn zunächst theoretische Überlegungen an. Die zu nutzenden Metalle mussten etwa in Drahtform gezogen werden können. Ein weiteres Auswahlkriterium war ihr Preis. Sie mussten deutlich günstiger sein als das teure Platin. Abschließendes Kriterium war der Schmelzpunkt der Metalle. In der praktischen Anwendung durften sie bis 1.200 °C keinen thermoelektrischen Veränderungen unterliegen. Die von Rohn durchgeführten Versuche zeigten, dass Nickel-Legierungen mit Chrom, Molybdän oder Kupfer vielversprechende Stoffe waren. Da die Chrom-Nickel-Legierung bei Temperaturen zwischen 500 und 1.100 °C fast vollkommen identische Eigenschaften mit dem Platin-Rhodium-Thermoelement aufwies, legten sich die Forscher der Vacuumschmelze schnell auf diese Metallkombination fest. Ein erfolgreicher Wechsel der Platin-Rhodium- zu Chrom-Nickel-Thermoelementen hatte aufgrund ihrer ähnlichen Eigenschaften zudem den Vorteil, dass Messinstrumente, die das Platin-Rhodium-Thermoelement nutzten, nicht neu geeicht werden mussten.56
Ein Gruppenbild der Abteilung „Kesselreinigung“ der Heraeus Platinschmelze, aufgenommen an Pfingsten 1902. Die Vacuumschmelze übernahm nach ihrer Gründung einige der hier abgebildeten Arbeiter.
Nach den theoretischen Überlegungen folgte die praktische Umsetzung. Rohn und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schmolzen die Metalle sowohl bei gleichbleibender Temperatur als auch unter einer Schutzatmosphäre. Dieser Versuch schlug fehl, da Chrom und Nickel einen unterschiedlichen und nicht steuerbaren Abbrand aufwiesen.57 Sie verbanden sich während des Schmelzprozesses mit Sauerstoff und verhielten sich nicht vollkommen identisch. Doch Rohn und sein Team hatten bereits die Idee, die Metalle im luftleeren Raum, also in einem Vakuum, elektrisch zu schmelzen, um die Oxidation zu vermeiden.58
Das Vakuum war für Rohns Forschungen entscheidend. Er profitierte hier von früheren Arbeiten, auf deren Grundlage er weiterforschte. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde eine Reihe von Produktionsprozessen unter Vakuum durchgeführt, etwa Teile der Herstellung von Glühlampen oder von Sende- und Verstärkerröhren. Neben dem amerikanischen Physiker Irving Langmuir war der deutsche Physiker Wolfgang Gaede daran beteiligt, Verfahren zu entwickeln, wie ein Vakuum immer besser erzeugt werden konnte. So verbesserte Gaede zwischen 1905 und 1915 die benötigten Pumpen entscheidend. Auch waren erste Schmelzverfahren im Vakuum schon bekannt. Werner von Bolton gelang im Jahr 1905 ein erster Schmelzversuch in einem Vakuum-Lichtbogenofen. Die Ergebnisse waren insgesamt aber nicht zufriedenstellend, da sich die Wissenschaftler zunächst stärker auf die Entwicklung der Vakuumpumpen als auf die Dichte der Schmelzöfen konzentrierten. Man erkannte nicht, dass undichte Öfen einen Luftstrom auf das Schmelzgut zuließen und so dessen Materialeigenschaften verschlechterten.59
Auch bei der W. C. Heraeus Platinschmelze wurden bereits Vakuumöfen in der Produktion benutzt. 1905 präsentierte das Unternehmen einen elektrischen Tiegelofen für Glühungen im Vakuum. Von Dr. Ernst Haagn, dem damaligen Assistenten von Richard Küch, ist die Aussage überliefert: „Bei welchen Arbeiten die Verwendung des Vakuums besondere Vorteile bringen wird, lässt sich heute wohl noch nicht überblicken, jedenfalls muss es überall da, wo durch die Glühung Gase ausgetrieben werden sollen, ein schnelleres und vielleicht auch zuverlässigeres Arbeiten gestatten.“60
Rohn und sein Team konnten diese Öfen für ihre Versuche nutzen. Doch die Dichtigkeit der Öfen machte Probleme. Auch in den Heraeus-Öfen wurde zu viel Sauerstoff als Luftstrom auf das Schmelzgut gezogen. Die Entwickler erkannten zu Beginn ihrer Versuche das Problem. Die Wissenschaftler in der Physikalischen Versuchsabteilung arbeiteten daran, die Öfen abzudichten. Rohn beschreibt rückblickend, dass nur die Vakuumöfen genutzt wurden, die nach 24 Stunden unter Vakuum eine Druckzunahme von maximal drei Millimetern auf der Anzeige zuließen.61
Die höhere Dichtigkeit der Öfen war letztlich der entscheidende Faktor, der die Herstellung von Legierungen aus Unedelmetallen ermöglichte. Die in den abgedichteten Öfen entstandenen Chrom-Nickel-Legierungen entsprachen jetzt den an sie gestellten Anforderungen. Nach nur gut einem Jahr Unternehmenszugehörigkeit hatte Rohn mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Durchbruch erzielt. Allerdings mussten die Forschungen aufgrund des Ersten Weltkriegs 1914 zunächst unterbrochen werden.62
Porträtaufnahme von Dr. Wilhelm Rohn.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zwischen den europäischen Großmächten vermehrte Spannungen. Der Kampf um die europäische Vorherrschaft und imperialistische Bestrebungen, wie sie etwa Rohns Vater in der 1900 gehaltenen Rede präsentierte, prägten die Beziehungen zwischen den Nationen. Auf dem Balkan schließlich wurde die politische Lage zwischen den europäischen Großmächten immer unsicherer. Die Situation zwischen den in zwei Allianzblöcke getrennten Nationen eskalierte am 28. Juni 1914, als serbische Separatisten den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo erschossen. Das Attentat war Auslöser für einen Dominoeffekt, in dem eine europäische Macht nach der anderen ihren Bündnispartnern in eine kriegerische Auseinandersetzung folgte. So erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, das Deutsche Kaiserreich folgte seinem Bündnispartner und erklärte wiederum Russland als serbischem Bündnispartner den Krieg. Der lokale Konflikt um die Unabhängigkeit Serbiens entwickelte sich zum Weltkrieg.63
Der Erste Weltkrieg war geprägt von bis dahin unvorstellbarer Grausamkeit. Er zeichnete sich auf bedrückende Weise durch die neuen Möglichkeiten des Industriezeitalters aus, durch Materialschlachten und den Einsatz moderner Massenvernichtungswaffen, wie etwa Giftgas.64 Das Wachstum der Stahl-, Metall- und Chemieindustrie war Basis für die Herstellung enormer Mengen an Kriegsmaterial. Der Einsatz chemischer Kampfstoffe, die Entwicklung von Flugzeugen für den Luftkrieg und die Produktion von ersten Panzern stehen „sinnbildlich für die Industrialisierung der Kriegsführung“.65
Bereits vor der deutschen Kriegserklärung gegenüber Russland schrieb der Hanauer Anzeiger von der „Vaterländischen Begeisterung“ und fasste die Kriegseuphorie der Sommertage 1914 zusammen: „Auch bei uns im deutschen Vaterlande entrollt sich ein Bild, wert in der Erinnerung dauernd festgehalten zu werden. Einmütig und offen bekennt das gesamte Bürgertum, daß es auf der Seite des österreichischen Bundesgenossen steht. Einem inneren Impuls folgend, strömen die Scharen in musterhafter Ordnung zu den Stätten vaterländischen Gedenkens, legen mit feierlichem Ernst an den Stufen des Denkmals des großen Einigers Deutschland, des unvergeßlichen Kaisers Wilhelm und vor dem Denkmal Otto von Bismarcks, ein aus vollem Herzen kommendes Gelöbnis der Treue zu Kaiser [und] Reich ab.“66
Nach der am 1. August 1914 erfolgten deutschen Kriegserklärung an das russische Zarenreich beschwor der Hanauer Anzeiger die Einigkeit der Deutschen: „So steht das deutsche Volk Mann für Mann hinter seinem Kaiser, in dem sich unsere nationale Einheit verkörpert. Er hat in langer Friedenszeit das blanke Schwert seiner Ahnen nicht verrosten lassen, sondern es scharf und schneidig erhalten; unsere Flotte, die vielleicht jetzt die Feuerprobe bestehen muß, ist zum guten Teil sein Werk.“67
Zu Kriegsbeginn wurde auch Wilhelm Rohn, gerade 27 Jahre alt, zur Armee eingezogen. Er war einer von 65 Millionen Soldaten, die während des Ersten Weltkriegs kämpften.68 Als Regimentsadjutant im 2. Bataillon, 6. Kompanie, kämpfte er an der Westfront und wurde im September 1914 bei den Kämpfen an der Marne in Frankreich verwundet. Rohn erlitt eine schwere Granatsplitterverletzung am linken Oberarm, die eine Zerstörung seines Oberarmknochens zur Folge hatte.69 Er gehörte zu den 21 Millionen militärischen und zivilen Verwundeten des Kriegs.70 Es folgte ein langer Lazarettaufenthalt, an dessen Ende Rohn zwar nicht mehr fronttauglich, aber arbeitsfähig war. Noch während des Kriegs kehrte er an seine Arbeitsstätte bei Heraeus zurück.71 In dieser Zeit fand Rohn Hilfe bei seiner Lebensgefährtin Hedwig Bennekämper, die am 10. Oktober 1888 geboren wurde. Das Paar heiratete am 26. Mai 1915. Am 3. Februar 1916 kam mit Karl der erste Sohn zur Welt, sechs Jahre später folgte am 2. Februar 1922 dessen Bruder Hans. Die Familie Rohn fand eine neue Bleibe in der Hanauer Dammstraße 8.72 Das zweigeschossige Haus lag in unmittelbarer Nachbarschaft zur damaligen „Maintalbahn“, der Eisenbahnlinie Frankfurt–Aschaffenburg. Es hatte einen großen Garten, in dem ein Gartenhaus stand, das Familie Rohn untervermietete.73
Die W. C. Heraeus Platinschmelze GmbH verlor zwar durch amerikanische Sanktionen ihr US-Geschäft, profitierte zunächst aber dennoch vom Kriegsbeginn. Durch die von den Alliierten blockierten Handelsrouten war die chemische Industrie im Kaiserreich von wichtigen „Chilesalpetersäurelieferungen“ abgeschnitten. Nun kam das von dem deutsch-baltischen Chemiker Wilhelm Ostwald 1902 patentierte Verfahren der großtechnischen Herstellung von Salpetersäure durch Oxidation von Ammoniak zum Einsatz. Wurde Natriumnitrat zuvor für die Herstellung von stickstoffreichem Dünger in der Landwirtschaft genutzt, waren es zu Kriegszeiten in besonderem Maße Munition und Sprengstoffe. Als Katalysator im Ostwald-Verfahren wurden Platinnetze benötigt, die Heraeus liefern konnte. Das Platin von Heraeus wurde zudem – rüstungswichtig – in Funk- oder Höhenmessgeräten eingesetzt.
Der Kriegsbeginn bedeutete für Heraeus andererseits den Verlust eines großen Teils der jüngeren männlichen Mitarbeiter. Sie wurden – wie Rohn – zum Kriegsdienst eingezogen. Das zuständige Kriegsministerium nahm auch auf Arbeiter und Forscher in kriegswichtigen Produktionen keine Rücksicht. Bei Heraeus sank die Belegschaftszahl um die Hälfte, Frauen besetzten einen Teil der frei gewordenen Arbeitsplätze.74 Trotz der Einberufungen konnte Heraeus den Betrieb aufrechterhalten. Für andere mittelständische Betriebe bedeuteten die Einberufungen oft die Schließung der Produktion und damit des gesamten Unternehmens. Beispielsweise wurde der in Hanau ansässige Geschäftsinhaber Carl Göbel gezwungen, seine Verkaufsstelle in der Freigerichtsstraße 2 in Hanau aufzugeben, da er und Teile seines Personals eingezogen wurden.75 Auch die Hanauer Kleinbahn, die die Stadt mit dem Umland verband, musste aufgrund der Mobilmachung ihren Fahrplan ändern.76 Der Krieg prägte den Alltag in Hanau – obgleich die Stadt von den Kriegsfronten weit entfernt lag.
Das Unternehmen Heraeus engagierte sich während des Ersten Weltkriegs für die Soldaten. Verschiedene Zeitungsartikel des Hanauer Anzeigers berichten von Spenden der Platinschmelze für die Soldaten, etwa im Rahmen der sogenannten Ludendorff-Spende für Kriegsbeschädigte.77 Darüber hinaus strickten im Oktober 1914 die weiblichen Angestellten der Heraeus 30 Paar Wollsocken für die im Feld kämpfenden Soldaten.78 Die Socken waren sicher nur ein kleiner Beitrag für die Ausrüstung der Soldaten an der Front, der Artikel im Anzeiger belegt allerdings, dass es zumindest in Hanau als berichtenswertes Engagement der Heraeus-Mitarbeiterinnen gewertet wurde.
Nachdem Wilhelm Rohn an seinen Arbeitsplatz bei Heraeus zurückgekehrt war, beschäftigte er sich neben den Forschungen zu Legierungen und Metallen auch mit der Gewinnung von Reineisen.79 Es ist anzunehmen, dass diese Arbeit im Zusammenhang mit der Kriegswirtschaft stand, die durch die Seeblockade der Alliierten auch auf die Zufuhr von Eisenerzen weitgehend verzichten musste.
Vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich die maßgeblichen Stellen, wie das Preußische Kriegsministerium, nur wenig um wirtschaftliche Vorsorgemaßnahmen für den Kriegsfall gekümmert. Die Rüstungsproduktion der deutschen Kriegswirtschaft war im Bereich der Eisen- und Stahlindustrie auf die Materialschlacht des Ersten Weltkriegs nicht vorbereitet. Zwar wurde seit 1906 davor gewarnt, dass etwa die Flotte des Kaiserreichs nicht stark genug sei, um britische Blockademaßnahmen zu durchbrechen und infolgedessen die Rohstoffzufuhr gefährdet sein könnte. Das führte aber nicht zur Beschäftigung mit Rohstoffsicherung, sondern zur Stärkung der Marine. Zudem vertraute der Staat darauf, dass die Industrie im Notfall ohne Importe auskommen werde. Bereits im August 1914 mangelte es an Nahrungsmitteln und Buntmetallen, also etwa Kupfer, Nickel und Zinn.80
Das Kaiserreich setzte auf eine Vorratspolitik, die den Verbrauch der Eisenerze und ihre Verteilung kontrollierte.81 Es wurden selbstständige Kriegsrohstoffgesellschaften gegründet, die unter ministerieller Aufsicht standen. Die Rohstoffgesellschaften erhielten das Recht, Rohstoffe zu kaufen und an Unternehmen abzugeben. Der Staat garantierte mit ständig steigenden Kreditsummen die Beschaffung und Verteilung der Rohstoffe. Bis 1916 wurden ungefähr 30 dieser Gesellschaften gegründet, darunter die Kriegs-Chemikalien-Aktiengesellschaft, eine Kriegs-Metall-Aktiengesellschaft oder eine Kriegsleder-Aktiengesellschaft.82
Mit Fortschreiten des Kriegs verdeutlichte sich zusehends, dass in vielen Industriezweigen benötigtes Grundmaterial fehlte. Die Ersatzwirtschaft und die Forschung zu Ersatzmaterialien, etwa durch voll- oder halbsynthetische Stoffe und Methoden, wurden deshalb von staatlicher Seite verstärkt gefördert. Der Stellungskrieg ließ auch die Notwendigkeit an Neuentwicklungen stetig steigen. Da die militärischen Stellen weder das Wissen noch die Mitarbeiterzahlen für Neuentwicklungen aufbringen konnten, wandte der Staat sich vermehrt an private oder halbstaatliche Einrichtungen.83 Der Staat förderte Forschungen, davon profitierten auch Wilhelm Rohn und seine Abteilung. Es ist anzunehmen, dass Rohns Forschungen zum Kupferersatz eine staatliche Förderung erhielten.
Rohn war es gelungen, gewöhnliches Flusseisen durch Schmelzen im Vakuum von Kohlenstoff- und Sauerstoffverunreinigungen zu befreien. Dadurch unterschied sich das Eisen in den Bereichen Weichheit und Zähigkeit kaum noch von seiner chemisch reinen Form. Rohn sah hier die Möglichkeit, das Eisen als Ersatzmaterial für kupferne Geschossführungsringe liefern zu können.84 Das Verfahren zum „Reinigen und Veredeln von flüssigem Eisen“ ließ Rohn am 19. April 1918, kurz vor Kriegsende, patentieren.85 Das Ende des Kriegs im November 1918 verhinderte weitere Forschungen in diesem Bereich.86
Neben seinen Arbeiten zur Eisenforschung setzte Rohn auch im Krieg seine Forschungen zu Platinersatzstoffen fort. Im Dezember 1916 wurden die Versuche zu Unedelmetall-Legierungen wieder aufgenommen. Dazu arbeitete das Team auch an der Weiterentwicklung der Schmelzöfen. In seinen Erinnerungen berichtet Wilhelm Rohn, dass bereits zu Beginn des Jahres 1917 der erste betriebsmäßige Vakuumschmelzofen gebaut wurde. Dieser habe zunächst nur Chargen von zwei Kilogramm bearbeiten können und sei hauptsächlich zu Studienzwecken genutzt worden.87
Wilhelm Rohn berichtet weiter, dass 1917 die Platinknappheit im Kaiserreich dazu geführt habe, dass kein Platin mehr für Thermoelemente zur Verfügung gestanden habe. Sein Arbeitgeber, die Heraeus Platinschmelze, profitierte jetzt von seinen Forschungen. Als es gelang, im Vakuumofen reproduzierbare Chrom-Nickel-Legierungen zu erschmelzen, die sich zur Herstellung von Thermoelementen eigneten, konnte ab Mai 1917 die Herstellung der Legierungen für den Verkauf beginnen. Produziert wurde in dem Ofen, der bisher nur zu Forschungszwecken im Laboratorium eingesetzt wurde.88
Laut Rohn halfen seine Thermoelemente mit Chrom-Nickel-Legierungen noch während der Kriegszeit der Industrie dabei, für Messungen unter 1.000 °C auf Platin zu verzichten. Die Anzeige- und Registrierinstrumente mussten, wie bereits beschrieben, aufgrund der ähnlichen Eigenschaften der Chrom-Nickel-Legierungen zum Platin-Rhodium-Thermoelement nicht geändert werden. Zudem erwiesen sich die neuen Thermoelemente als langlebiger.89 Rohn hatte also ein neues Verfahren entdeckt und dessen Funktionsfähigkeit in der Praxis bewiesen. Ob allerdings der „Fabrikationsbeginn im Laboratorium“ der Heraeus Platinschmelze tatsächlich bereits für eine flächendeckende Versorgung der Industrie und des Militärs sorgen konnte, muss bezweifelt werden.
Die Patentschrift über das „Verfahren zum Vakuumschmelzen und Vergüten von Metallen und Legierungen“ aus dem Jahr 1918. Das amtliche Dokument bildete das Fundament für die spätere Unternehmensgründung der Vacuumschmelze.
Noch während des Ersten Weltkriegs konnte Wilhelm Rohn sein Verfahren zum Vakuumschmelzen zur Patentanmeldung bringen. Dieses Patent bildete die Grundlage für die spätere Geschäftsidee der Vacuumschmelze und begründete eine mehr als 100-jährige Unternehmensgeschichte.
Unter maßgeblicher Beteiligung der W. C. Heraeus Platinschmelze GmbH wurde 1920 eine Studiengesellschaft zur Entwicklung und Verwertung des Vakuumschmelzverfahrens gegründet. Der „Vacuumschmelze GmbH“ gehörten neben der W. C. Heraeus auch die Unternehmen Stahlwerke Richard Lindenberg (später Deutsche Edelstahlwerke), Chem. Fabrik Griesheim-Elektron (später I.G. Farbenindustrie) und Felten & Guilleaume an.90 Das in Baden-Baden gemeldete Unternehmen sollte Rohn bei der weiteren Ausarbeitung des neuen Verfahrens unterstützen.91 Eine aktive Geschäftstätigkeit, etwa Produktion oder Handel, konnte für die GmbH nicht nachgewiesen werden.
Am 6. Dezember 1921 stellte das Reichspatentamt unter der Nummer 345161 rückwirkend zum 12. Januar 1918 Wilhelm Rohn und der Studiengesellschaft Vacuumschmelze GmbH in Baden-Baden ein Patent über das „Verfahren zum Vakuumschmelzen und Vergüten von Metallen und Legierungen“ aus. Laut Patentschrift galt das Patent für ein neues Verfahren, mit dem sich die technischen Eigenschaften von Metallen und Legierungen verbessern ließen. Bevor Wilhelm Rohn das Vakuumschmelzverfahren entwickelt hatte, konnten Nickel-Legierungen nur durch den Zusatz von Magnesium oder Aluminium hergestellt werden. Dies war für die Nutzung von Thermoelementen, für die besonders reine Metalle benötigt wurden, kontraproduktiv. Das neue Verfahren sorgte für ein reines Erzeugnis, das immer identische Eigenschaften aufwies. Gleiches galt für andere Metalle, die mit dem Vakuumschmelzverfahren bearbeitet wurden. Für die Herstellung von Eisen wurde der Manganzusatz, der etwa in der Herstellung verschiedener Edelstähle benötigt wurde, überflüssig.92
Die Patentschrift führte drei Neuerungen des Verfahrens aus, die eine Patentanmeldung ermöglichten. (I) Zunächst musste der Ofen, in dem das Material zum Schmelzen gebracht wurde, absolut geschlossen sein, damit Materialverunreinigungen verhindert würden. Öfen mit gleitenden Dichtungen oder sogenannten Stopfbüchsen, die „immer nur relativ, nie absolut dicht halten“, seien für das neue Verfahren nicht brauchbar. Die Patentschrift empfahl die Verwendung von elektrischen Widerstands- oder von Induktionsöfen. (II) Eine zweite Bedingung war die Dauer: Das Vakuumschmelzen benötigte mehr Zeit als die vorher angewendeten Methoden. Wichtig sei es, so steht es in der Patentschrift, dass im verwendeten statischen Vakuum keine Druckänderungen mehr zu beobachten seien. Dies war deshalb relevant, da durch das Vakuumschmelzen die Metalle ihren Gasgehalt und andere Verunreinigungen verlieren sollten. Eine genaue Zeitangabe, wie lange ein Schmelzprozess dauern sollte, lässt die Patentschrift aber offen. (III) Als dritte Bedingung gab die Patentschrift die Regelung der Temperaturen an. Allerdings konnte hierfür keine genaue Formel genannt werden. Die Patentschrift berichtete von Fällen, in denen aus „völlig entgasten“ Schmelzen durch Temperatursenkungen oder Temperatursteigungen weitere Gase und Verunreinigungen aus der Schmelze extrahiert werden konnten. Je nach verwendetem Metall und den enthaltenen Verunreinigungen musste das Verfahren schlicht ausprobiert werden; wörtlich empfahl die Patentschrift ein „sachverständiges Probieren“.93
In der Nachkriegszeit wurden die Schmelzversuche fortgesetzt. Die Aufnahme zeigt einen 1922 durchgeführten Schmelzversuch mit Unedelmetall-Legierungen.
Entscheidend war, dass das Vakuumschmelzverfahren die Verwendung von Unedelmetallen für Thermoelemente erlaubte.94 Die Heraeus Platinschmelze konnte auf die Verwendung von Platin verzichten und das teure Metall in anderen Bereichen verwenden.
Rohn und sein Team beobachteten während ihrer Forschungen zudem, dass einige Metalle sich durch das Verfahren des Vakuumschmelzens leichter verarbeiten ließen als Metalle, die mit herkömmlichen Schmelzverfahren bearbeitet wurden. Außerdem ermöglichte das Vakuumschmelzverfahren die Herstellung von Erzeugnissen nach genau berechneter Zusammensetzung. Es war jetzt möglich, Legierungen mit zuvor unerreichter Genauigkeit herzustellen.95 Neben dem bereits beschriebenen Einsatz als Thermoelemente zur Temperaturmessung wurden die Unedelmetall-Legierungen als Stromführungsdrähte eingesetzt. Auch in elektrischen Glühlampen oder als Stromeinführungen für Röntgenröhren fanden sie Verwendung. Die vakuumgeschmolzenen Metalle zeichneten sich durch eine hohe Bruchfestigkeit aus. Sie wurden deshalb in der Zahnmedizin als Haltestifte bei Zahnersatz eingesetzt.96
Wilhelm Rohn war einerseits Wissenschaftler, andererseits zeigten seine vor und während des Ersten Weltkriegs angemeldeten Patente auch ein umfassendes technisches und unternehmerisches Verständnis. Ein nach Rohns Tod veröffentlichter Nachruf fasste die Bündelung seiner Fähigkeiten zusammen: „Aus dem Vorstehenden ist bereits klar geworden, daß nur eine außergewöhnliche technische Begabung, wie sie nur selten anzutreffen ist, es Wilhelm Rohn ermöglichte, die sich selbst gestellten Aufgaben technisch vollkommen zu lösen. So ist dem ursprünglichen Physiker, der sich in seiner Promotionsarbeit noch mit einer rein wissenschaftlichen Aufgabe aus der Physik befaßte, ein Techniker und Metallkundler geworden, der vielen Fachgenossen wegweisend war.“97
Rohns wissenschaftlicher Durchbruch gelang in einer wirtschaftlich und politisch instabilen Zeit. Nach dem Ende des Kriegs kam es im November 1918 in ganz Deutschland zu revolutionären Ausschreitungen. Auch Hanau war davon betroffen. Die Stadt war schon lange vor dem Ersten Weltkrieg ein Zentrum der Arbeiterbewegung gewesen. Die Arbeiter der Hanauer Tabakindustrie setzten 1871 durch einen 14-wöchigen Streik die Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen durch und stärkten gleichzeitig das Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft. Ebenfalls im 19. Jahrhundert bildete sich in Hanau eine gewichtige Metallarbeiterorganisation. Ab 1900 kam es in der Hanauer Edelmetallindustrie zu Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitern und den Unternehmen. Durch organisierte Streiks setzte die Hanauer Abteilung des Deutschen Metallarbeiter-Verbands eine tägliche Arbeitszeitreduzierung auf neun Stunden durch, bei gleichbleibendem Lohn. Weiteres Ziel war die Abschaffung der in der Edelmetallindustrie vorherrschenden Akkordarbeit. Der Erfolg sorgte bei den Gewerkschaften und Vereinen in Hanau für großen Zulauf. 1907 waren drei Viertel der Arbeiter in der Edelmetallbranche gewerkschaftlich organisiert.98
Nach Kriegsende war die USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) bestimmende politische Kraft in Hanau. Die Partei hatte sich 1916 im Zuge von Auseinandersetzungen in Kriegsfragen von der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) abgespalten. Die USPD stand für linke Gesellschaftsideen und unterhielt Verbindungen zur KPD (Kommunistische Partei Deutschlands).99
Am 9. November 1918 berichtete die Oberhessische Zeitung von „scharfen Auseinandersetzungen“ im Zuge einer tags zuvor abgehaltenen Stadtverordnetenversammlung in Hanau. Einer Diskussion über die Lebensmittelversorgung sowie die Verteilung von Holz und Kohle folgten Ausschreitungen, in deren Folge ein Lebensmittelladen auf dem Markplatz geplündert wurde. Anschließend kämpften die Demonstranten und die Plünderer mit der hinzugerufenen Polizei. Die Anführer der Demonstranten wurden in Gewahrsam genommen. Die Oberhessische Zeitung weiß zu berichten, dass es „recht junge Bürschchen“ gewesen seien.100 Am 14. November 1918 übernahm der Arbeiter- und Soldatenrat die Verwaltung Hanaus. Der Hanauer Anzeiger, der jetzt unter der Federführung des Arbeiter- und Soldatenrats erschien, verkündete: „Arbeiter, Bürger! Die alten Gewalten sind gestürzt, die Sozialisierung der Gesellschaft eingeleitet. Jetzt gilt es vor allem, die revolutionäre Bewegung in die Kreise der ländlichen Bevölkerung zu tragen und weiter durchzuführen, um ihre Erfolge zu sichern. [...] Das Ziel der Bewegung ist die sozialistische Republik.“101 Als sich der von den Revolutionären enthobene Landrat Carl Christian Schmid mithilfe des preußischen Militärs sein Amt zurückeroberte, kam es abermals zu Plünderungen und Straßenunruhen.102
Wilhelm Rohn war, wie sein Vater, politisch konservativ und stand den Demons-trationen kritisch gegenüber. Es wird berichtet, er habe während der Novemberrevolution versucht, eine Gegenbewegung in Hanau zu organisieren. Die Kriegsniederlage habe er akzeptiert, als aber kurz danach amerikanische Wissenschaftler ihn hätten besuchen wollen, um seine Arbeit kennenzulernen, habe er ihnen den Empfang verweigert. Zeitzeugen bezeichneten Rohn als „glühenden Patrioten.“103
Die Gründung der Vacuumschmelze erfolgte aus der heutigen Heraeus Group heraus. Bis heute sind die Standorte beider Unternehmen in direkter Nachbarschaft am Grünen Weg in Hanau zu finden.
Trotz der Unruhen in der Stadt blieb das wirtschaftliche Geschäft für Heraeus stabil. Platin war auch nach Kriegsende ein knappes Gut. Der Platinpreis stieg weiter an. Die Heraeus Platinschmelze konnte jetzt aber die hohe Nachfrage bedienen, da sie Alternativen aus Unedelmetallen anbieten konnte. Wilhelm Rohn beschreibt, dass in der Nachkriegszeit besonders die Nachfrage nach Halterungen für künstliche Zähne angestiegen sei.104
1919 gründete die Heraeus Platinschmelze mit der Abteilung „Vacuumschmelze“ einen eigenen Bereich im Unternehmen. Als Abteilungsleiter wurde Wilhelm Rohn eingesetzt. Er trug die Verantwortung für den Auf- und Ausbau der neuen Abteilung.105
Die Anwendungsmöglichkeiten für das neue Vakuumschmelzverfahren wurden stetig erweitert. Nickel-Eisen-Legierungen boten sich für Bauteile von Sende- und Empfangsanlagen in der Nachrichtentechnik an.106 Die hitzebeständigen Chrom-Nickel-Legierungen kamen in elektrischen Geräten für den Privathaushalt zum Einsatz. Sie wurden in erster Linie in Heizelementen für Koch- und Heizapparate verbaut. In den Heißluftduschen erhitzten die Metall-Legierungen durch ihre Stromleitfähigkeit und ihre Beständigkeit den Luftstrom und erzeugten so den gewünschten Trocknungseffekt.107 Diese neuen Legierungen und ihre verhältnismäßig geringen Kosten sollten in den kommenden Jahrzehnten ein Grund dafür sein, dass sich immer mehr Haushalte Elektrogeräte leisten konnten und wollten. Die Heraeus-Abteilung Vacuumschmelze wurde so zu einem Treiber der Modernisierung. Nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte Publikationen sprachen bereits von einer neuen Form der Hauswirtschaft und sahen in der Elektrizität neue Möglichkeiten. So schrieb die Hauswirtschaftlerin Erna Meyer 1926: „Das kann aber nicht geleugnet werden: unsere Sehnsucht gehört der Elektrizität! Möge die Industrie sie zu nutzen verstehen und alles tun, damit in recht naher Zeit an Verwirklichung unserer Träume gedacht werden kann!“108
Doch noch war es nicht so weit. 1919 war das Vakuumschmelzverfahren theoretisch verstanden und die technische Umsetzung war gelungen. Die Kapazität des Vakuumofens reichte jedoch noch nicht aus, um die von der Elektroindustrie benötigten Mengen zu einem bezahlbaren Preis zu produzieren. Erst die Weiterentwicklung der Vakuumschmelzöfen ermöglichte einen Einsatz der Metall-Legierungen in der Massenproduktion. Neue, größere Öfen mit Herden, die im Sinter-Verfahren hergestellt wurden, verbilligten die Herstellung.109
Die Nachfrage nach den Thermoelementen aus Unedelmetallen blieb hoch. Dies war die Grundlage für Wilhelm Rohn, um seine Abteilung aufzubauen. Er ließ erste sogenannte Knüppelwalzwerke aufstellen, an denen sich Stangen- und Drahtwalzen anschlossen, da es für Rohn „untunlich“ war, die im Vakuum geschmolzenen Unedelmetalle „in den gleichen Betriebsräumen und auf den gleichen Maschinen zu verarbeiten, auf denen die Platin-Legierungen und Edelmetalle“ der Heraeus Platinschmelze verarbeitet wurden.110
In seinem Vorgehen werden Charakterzüge deutlich, mit denen Wilhelm Rohn in den 1920er Jahren die Unternehmensgründung der Vacuumschmelze realisieren konnte. Das Streben nach Eigenständigkeit war Teil seiner Persönlichkeit. Zeitzeugen erinnerten, dass Rohn etwas „Eigenes schaffen“ wollte und dafür wiederholt bereit war, neue Wege zu gehen.111 Bereits als Angestellter bei Heraeus zeigte Rohn Charaktereigenschaften wie Weitsicht, Planungs- und Innovationsfähigkeit sowie Selbstständigkeit. Er war zu einem Unternehmer geworden. Rohn kann als typischer Vertreter des ab 1850 in Deutschland verstärkt aufkommenden Typus des Techniker-Unternehmers beschrieben werden. Er war prädestiniert für die Aufgaben, die ein Unternehmer in einer innovativen Branche im 20. Jahrhundert übernehmen musste. Besonders zwischen Elektroindustrie, Chemie und Maschinenbau stellte sich mehr und mehr die Herausforderung, das Wissen der einzelnen Bereiche miteinander zu verbinden.112 Es waren Unternehmer wie Wilhelm Rohn gefragt, die nicht starr an ihren Fachbereichen festhielten, sondern zur Qualitätssteigerung der Produkte verschiedene Bereiche zusammenführten.
In der folgenden Zeit wuchs Rohns Abteilung. In einem Schreiben erinnerte sich Rohn 1928 rückblickend, dass seine Abteilung Vacuumschmelze zwischen 1917 und 1921 eine „stetige Zunahme der Produktion und eine stetige Entwicklung des technischen Fortschritts“ erreicht habe. Auch mit der Wirtschaftlichkeit sei er zufrieden gewesen. Allerdings habe der begrenzte Platz in seiner Abteilung ein schnelleres Wachstum verhindert. Eine Umsatzsteigerung sei etwa aufgrund der „damaligen beschränkten Räume und mit den vorhandenen Maschinen effektiv unmöglich“ gewesen.113 Der Erfolg der Abteilung bedingte Anfang der 1920er Jahre einen weiteren Ausbau. Rohn selbst war es, der Heraeus Ende 1921 Pläne zur Vergrößerung vorschlug.114 Dies war ein erster Schritt hin zur zwei Jahre später erfolgenden Unternehmensgründung der Vacuumschmelze AG.
Erste Jahre der Heraeus Vacuumschmelze AG1923–1933
Federn und Membrane aus Beryllium-Legierungen.
Verlässliche Chronografen
Gründung der Vacuumschmelze 1922/1923
Eine neue Fabrikhalle
Die offizielle Gründung
Auswirkungen der Hyperinflation
Die ersten Jahre 1923–1929
Ausbau der Betriebsanlagen
Thermobimetalle und weichmagnetische Nickel-Eisen-Legierungen
Geschäftsentwicklung und erste ausländische Vertretung in Spanien
Der Wirtschaftsstandort Hanau
Während der Weltwirtschaftskrise 1929–1933
Arbeitskämpfe bei Heraeus
Die Weltwirtschaftskrise in Hanau
Hanau im Übergang zum Nationalsozialismus
NIVAROX
„Wenn Du auf dem Weg von der Schule nach Hause bist und noch kurz ein paar Runden Baseball spielst – was passiert dann mit Deiner Armbanduhr?“ Diese Frage stellte der Uhrenhersteller Ingersoll amerikanischen Pfadfindern in einer Werbung im Mitgliederheft Boys’ Life im Jahr 1930. Selbstverständlich beantwortete Ingersoll die Frage auch sofort: „Die Uhr wird an Deinem Hangeldenk gedreht und gewendet. Mal oben für eine Sekunde, dann gekippt, nach unten, zur Seite, schräg. In nur fünf Minuten hat sie mehr Positionen, als Du zählen kannst.“ Die Armbanduhr hält das natürlich aus und zeigt weiterhin genau die Zeit an, denn sie hat zuvor den Vier-Positionen-Test bestanden.