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Die Tage jenes Jahres scheinen wie im Dunst eines frühen Morgennebels weit hinter mir zu liegen und manches Mal glaube ich, dass sie nur in meinen Albträumen Wirklichkeit sind …
Und doch erinnere ich mich auch an die Sonnenstrahlen auf meiner nackten Haut und wie sie mich geliebt hat, zumindest glaube ich mich daran erinnern zu können ...
Es ist ein Bild, das ich nicht festhalten kann, das ihr Gesicht in den verschiedensten Facetten aufstrahlen lässt, scherenschnitthaft und frontal mir zugewandt. Ihr Lächeln wirkt fast unwirklich und in den Momenten, in denen sie mich beobachtet, zu einer Fratze verzerrt, bis die Erinnerung an sie und an jenes Jahr wieder in den Tiefen des Nebels, der meine Erinnerung ständig überlagert, zu versinken droht, ohne dass ich auch nur eine Scherbe des längst zerbrochenen und vom Staub der Jahre verwischten Bildes erhaschen kann.
Fast zwölf Jahre sind seit diesen Momenten, Erinnerungen und Gefühlen vergangen, unwirklich und doch in den Quadratmetern meiner Seele eingebrannt, deren Dimension auf die zwölf Quadratmeter meiner Zelle begrenzt sind.
Markus Weiss, geboren 1968, arbeitet als Gymnasiallehrer für die Fächer Deutsch, Katholische Religion, Literatur und Theater an einem Gymnasium in Baden-Württemberg. Er lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Ludwigsburg.
„Ein Jahrleben“ ist ein Roman, der an die Erzählung „Ein Sommerleben“, die im April 2021 in der EuropaBuch Verlagsgruppe erschienen ist, anknüpft. Die Lebensgeschichte des Protagonisten Michael wird darin weitererzählt. Sein Leben erfährt eine dramatische Wendung, die ihn in eine existenzielle Krise stürzt. „Ein Jahrleben“ kann als eigenständiger Roman gelesen werden.
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Ein Jahrleben
Roman
von
Markus Weiss
© 2022 Europa Buch | Berlin www.europabuch.com | [email protected]
ISBN 9791220131902
Erstausgabe: Dezember 2022
Gedruckt für Italien von Rotomail Italia
Finito di stampare presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)
Ein Jahrleben
Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens.
Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien
Es ist ein Bussard, der sich von den hohen Baumwipfeln, die das eingemauerte Grundstück umstehen, in die Thermik der frühen Frühlingssonne fallen lässt. Sein rechter Flügel hat eine tiefe Kerbe, doch im Flug findet er die Eleganz seiner jungen Tage wieder. Fast höre ich ihn jauchzen, falls Tiere dazu überhaupt in der Lage sind. Tiere waren mir immer näher als Menschen. Junggrünfrisch aus der Erde spitzende Weizenpflanzen liegen im sanften Licht der gerade aufgehenden Sonne, die am Beginn dieses Frühlings ein Versprechen auf die reiche Ernte des sicher kommenden Spätsommers oder Herbstes geben. Die Jagd beginnt und ich bewundere in meiner Vorstellung, wie er weit unten am Boden seine Kraft und Anmut zur Entfaltung bringt. Er hat heute wohl noch nichts gefressen, denn sein Flügelschlag ist nicht mehr so kräftig wie im letzten Sommer. Damals war es noch ein Leichtes für ihn, die ersten Mäuse des Frühlings nach dem langen Winter in den weiten Landschaften seiner Augen aufzuspüren und zu fangen. Ich folge mit meinen Augen seinem Flug und obwohl er noch nicht weiß, dass die Tage in diesem Jahr immer kürzer für ihn werden, spürt er doch den Hunger in seinem Körper und in seiner Seele. Das frühe Licht der Morgensonne wärmt ihn nach der langen Nacht, doch ganz tief in sich fühlt er, dass es sein letzter Sommer sein wird, es dringt nicht in die oberen Schichten seines Bewusstseins, da er auf Nahrungssuche für seine Jungen ist. Während der Wind sanft durch sein Gefieder streicht, glaube ich zu sehen, dass er lächelt ... – und es ein guter Tag wird, doch aus der Dunkelheit der Baumkronen, die weit hinter dem streng umzäunten Raum seines Lebens liegen, erhebt sich ein
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Schwarm Krähen. Sie gleiten zunächst lautlos in die Tiefen des Tales, das unterhalb des Grundstücks liegt, steigen dann, fast wie eine Formation eines Jagdgeschwaders, immer höher, folgen seiner Bahn, werden schneller und schneller, das Krächzen ihrer Stimmen wird überlaut in meinem Kopf, die Jagd hat längst begonnen und sie steigen auf seinen Bahnen immer höher, bis sie ihm näher und näher kommen und ihn mit ihren spitzen Schnäbeln attackieren und immer lauter aus seinem Revier zu vertreiben versuchen.
Die Jagd hat längst begonnen, ich sehe mich selbst, weit unten am Boden ohne die Möglichkeit, ihn zu warnen oder ihm zu helfen. Es ist ein Bussard, der sich von den hohen Baumwipfeln, die das eingemauerte Grundstück umgeben, in die Thermik der frühen Frühlingssonne fallen lässt. Sein rechter Flügel hat eine tiefe Kerbe, doch im Flug findet er die Eleganz seiner jungen Tage wieder. Ich sehe ihm nach, bewundere seinen Flug, bis er aus meinem Sichtfeld verschwindet und ich alleine zurückbleibe.
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Ich sehe von dem zwölf Quadratmeter großen Raum auf die graue Betonwand, die das gesamte Gelände zu umgeben scheint, auch wenn ich nur diesen kleinen Ausschnitt meiner eng begrenzten Welt vor mir sehe und obwohl sich irgendjemand scheinbar Mühe gegeben und Bäume gepflanzt hat, ist der Innenhof, den ich von meinem vergitterten Fenster aus wahrnehme, ein verlassener Ort. Den Bäumen fehlt die Wärme der Sonne, so dass sie ein verkrüppeltes Dasein führen, das in der Spiegelung meiner Augen nur Kargheit und Einsamkeit hinterlässt.
Es gibt nur wenige Augenblicke am Tag, in denen das Sonnenlicht durch meine Scheiben dringt und an den Wänden Schatten zeichnet, die ich mit meinen Blicken verfolge und zu deuten versuche. An diesem Ort, den ich nicht selbst gewählt habe, spüre ich die Einsamkeit und Verlorenheit, die seit nunmehr fast zwölf Jahren Tag für Tag und Nacht für Nacht mein Sein bestimmt. Auch wenn ich versuche, einen Ausschnitt des Himmels zu erhaschen, wandern meine Gedanken wieder und wieder, wie in einer Endlosschleife, zurück in die Zeit, in jenes Frühjahr und ja, auch in jenen Sommer, als ich daran glaubte, dass alles noch gut werden könnte.
In meiner Erinnerung wandere ich durch die endlos erscheinenden, dichten Wälder des Tessins mit ihren riesigen, uralten Bäumen, zuerst mit ihr, deren Namen ich gern vergessen hätte und der doch in dunklen Kammern meines Bewusstseins ein Eigenleben entwickelt hat, das ich nicht mehr steuern kann, dann mit Berry an meiner Seite, immer treu und verlässlich ... – und dann, es fällt mir schwer mich wirklich an diese Tage zu erinnern, völlig allein, verloren und orientierungslos. Die Tage jenes Jahres scheinen wie im Dunst eines frühen Morgennebels weit hinter mir zu liegen und manches Mal glaube ich, dass sie nur in meinen Albträumen Wirklichkeit sind ... Doch dann blitzt es in meinem Bewusstsein wie ein helles, gleißendes Licht auf … – und trotz der langen Zeit, die vergangen ist, erinnern sich meine Augen, mein Herz und meine unendlich verwundete Seele, an tief in meine Pupillen eingebrannte Bilder, wie die langsam vorüberziehenden Landschaften, wie den Wind und den Regen und den Schnee, die in mein Gesicht schlagen und ich sehe meine nackten, blutigen Füße ... – atemlos, gefühlt immer auf der Flucht vor ihr. Und doch erinnere ich mich auch an die Sonnenstrahlen auf meiner nackten Haut und wie sie mich geliebt hat, zumindest glaube ich mich daran erinnern zu können ... Es ist ein Bild, das ich nicht festhalten kann, das ihr Gesicht in den verschiedensten Facetten aufstrahlen lässt, scherenschnitthaft und frontal mir zugewandt, ihr Lächeln fast unwirklich und in den Momenten, in denen sie mich beobachtet, zu einer Fratze verzerrt, bis die Erinnerung an sie und an jenes Jahr wieder in den Tiefen des Nebels, der meine Erinnerung ständig überlagert, zu versinken droht, ohne dass ich auch nur eine Scherbe des längst zerbrochenen und vom Staub der Jahre verwischten Bildes erhaschen kann.
Fast zwölf Jahre sind seit diesen Momenten, Erinnerungen und Gefühlen vergangen, unwirklich und doch in den Quadratmetern meiner Seele eingebrannt, deren Dimension auf die zwölf Quadratmeter meiner Zelle begrenzt zu sein scheint. Hier liege ich jede Nacht wach, wälze mich von einer Seite auf die andere, ohne auch nur einen Ansatz zu finden, der die Abgründe der Ereignisse fassen könnte, die in mir wie eine Uhr mit einem riesigen, scheinbar zerbrochenen Räderwerk ablaufen, stehen bleiben, kurz darauf ihren endlosen Weg durch meinen Geist wieder aufnehmen, um im nächsten Atemzug, in der scheinbaren Pause des Luftholens, wieder mit einem alles zerstörenden knirschenden Geräusch, von grellem, gleißend weißem Licht überstrahlt, plötzlich weiterlaufen, nur um gerade in dem Augenblick, in dem es einen Weg aus diesem alles zerstörenden Kreislauf zu geben scheint, doch wieder, wie zerbrechende Knochen zurückzudrehen, nur für einen Augenblick, in dem der Schmerz unendlich groß wird und für meine Seele nicht mehr auszuhalten ist, und sich genau in diesem Moment weiterdrehen, so dass jede Sekunde dieses Martyriums sich anfühlt, als würde mein Körper, mein Geist, meine Seele von Furien gejagt, die sich genau in dem Moment, als sich das riesige Uhrwerk wieder in die andere Richtung wendet, umdrehen, ihre Blicke mich fixierend, so dass ich innerhalb des fest umzirkelten Kreises des zerbrechenden Räderwerks, das meine Lebenszeit zählt, das sich in meinem Bewusstsein in die Unendlichkeit ausdehnt, stolpere und ins Bodenlose falle. Das knirschend zerbrechende Geräusch meines eigenen Falls bohrt sich wie ein Messerstich in mein Bewusstsein, während das sich ausdehnende Gehäuse in meinem Inneren zu bersten droht, das Räderwerk unter einem irisierenden Geräusch in sich zerbirst und die einzelnen Metallteile des filigranen, doch unerbittlich tödlichen Räderwerks weit in die Dunkelheit der sternenklaren Nacht hinausgeschleudert werden, bis ich wie ein Ertrinkender nach Atemluft schnappend aufwache und nicht weiß, wo ich bin. Nacht für Nacht träume ich diesen Traum in meiner Zelle. Die Grausamkeit und Brutalität, mit der jeder Knochen in meinem Leib gebrochen wird, die tosenden Geräusche meines tiefen Falls in die Unendlichkeit und die immer wiederkehrende Präzision und Tödlichkeit, mit der das Räderwerk mich zermalmt, lassen mich wieder und wieder wie ein Ertrinkender, der nach Atemluft schnappt, schweißgebadet aus meinen Albträumen aufwachen, immer ihr Gesicht vor meinen Augen.
Die Tage an diesem Ort, den ich nicht selbst gewählt habe, sind keinen Augenblick besser als meine Erinnerungen, sie bleiben düster und kalt, obwohl in einzelnen Momenten sogar die Sonne in meine vergitterte Zelle dringt, auch wenn ich das nicht wirklich spüre und obwohl ich mich im gesamten Haus frei bewegen kann, fühle ich mich die ganze Zeit beobachtet, von ihr ... Alles hier ist unwirklich, erinnert mich an den Nebel, der vom Tal zum Haus hochstieg und wochenlang mein einziger Begleiter war, und der Ablauf eines jeden Tages hier gleicht dem anderen. Die Menschen, denen ich begegne, sind nichts weiter als Schatten und ihre Worte, die ich höre und doch nicht verstehen kann, dringen nicht in die Tiefen meines Bewusstseins. Der Zugang zu meiner Welt ist für immer verschlossen ... Ich habe vergessen, wie der Wind und die Sonne und die Liebe sich auf meiner Haut anfühlen und die wenigen Sätze, die ich immer und immer wieder wiederhole, scheinen den anderen zu genügen, auch wenn mich die Einsamkeit und Verlorenheit dieses Ortes und meiner Seele immer tiefer in die Dunkelheit führen.
Das Haus, in dem ich ein Gefangener bin, erinnert mich an eine völlig verlassene Klinik, die ich auf einer meiner einsamen Wanderungen oberhalb des Lago Maggiores entdeckt hatte. Die Anstalt musste noch aus der Zeit der Jahrhundertwende stammen, in der man Tuberkulosepatienten in der „guten Tessiner Luft“ zu behandeln und heilen versuchte. Mein erster Eindruck damals war, dass der Ort sich seit Jahren in einem verwahrlosten Dornröschenschlaf befand, aus dem es keine Erweckung mehr geben würde und als ich zum ersten Mal das weitläufige Gelände durch ein Loch in einem Zaun betrat, umgab mich völlige Stille. Die Natur hatte sich alles zurückgeholt, was die Menschen hier jemals erdacht und gebaut hatten, und für einen Augenblick spürte ich, dass hier alles längst tot war. Kein einziger Vogel erhob an diesem Ort seine Stimme und selbst die Sonne, die in jenen Frühsommertagen bereits Kraft hatte, erkaltete, so dass mich bei jedem weiteren Schritt fröstelte. Als ich das Schloss der zweiflügeligen, schmiedeeisernen Eingangspforte zu öffnen versuchte, wäre ich beinahe umgekehrt, da es im ersten Moment durch den jahrzehntealten Rost, für immer verriegelt schien, doch dann schwang es, fast ohne ein Geräusch, auf, und obwohl der Hof von Bauschutt, altem Laub und Feuchtigkeit einen modrigen Geruch verströmte, betrat ich das weitläufige Gelände, dessen Einfahrt in einem weiten Bogen direkt zum Hauptportal führte, an dem noch abgeblättert und teilweise windschief die Buchstaben „Sanatorium“ prangten. Die alte Eingangstür aus Eichenbohlen war längst aus ihren Angeln gebrochen und als ich die hohe Eingangshalle betrat, von der aus Treppen in alle Richtungen führten, sah ich das gesamte Ausmaß der Zerstörung und Verwahrlosung: Die ursprünglich mit wertvollen Tapisserien bedeckten Wände waren zerschlissen, die Sandsteinfliesen des Eingangsbereichs durch Vogelkot und andere Exkremente von Tieren, die eingedrungen sein mussten, völlig verdreckt, die Marmorplatte des Empfangstresens zerbrochen ... Überall zog sich der Schimmel, der in Jahrzehnten, wie wild wuchernde Baumwurzeln, alles überrannt hatte, in die lichte Höhe, so dass der Putz, der das einst lichte Treppenhaus verziert hatte, das in einer zerborstenen Glaskuppel endete, abgebröckelt war und an den Wänden nur noch der rohe Stein hervortrat. Durch die bunten Graffitis von Jugendlichen, die sich hier nachts trafen, um zu trinken und zu kiffen, war eine magisch anmutende Welt aus Bildern, Buchstaben und Phantasiegestalten entstanden, die sich im diffusen Licht der durch Fensterläden verschlossenen Räume fast plastisch zu bewegen schien.
Von der Eingangshalle folgte ich, ohne auch nur einen Augenblick nachzudenken den langen Fluren, deren kalkweiße Wände nur von einzelnen Zellentüren durchbrochen wurden, immer weiter von Treppenhaus zu Treppenhaus in die Höhe des Gebäudes, das kein Ende zu nehmen schien. Nur einmal blieb ich stehen, öffnete eine halbverfallene Türe, in der eine eiserne Klappe an die grausame Funktion der dahinterliegenden, circa zwölf Quadratmeter große Zelle erinnerte, deren Wände von Vereinsamung, Krankheit und Tod erzählten. Die serpentinenartigen Treppen führten mich immer weiter nach oben, bis ich am Ende ankam und mich auf der obersten Etage in einer wohl für reiche Patienten reservierten Suite wiederfand, die mich unmittelbar an Thomas Manns Patient in „Der Zauberberg“ erinnerte, der seine Lungenkrankheit in einer Klinik irgendwo in den Schweizer Bergen, ich glaube es war Davos, auszukurieren versuchte. Ich musste, ohne mir dessen wirklich bewusst zu werden, durch einen Flur geschritten sein, der über 100 Türen hatte, die links und rechts in irgendwelche Grüfte führten und als ich nach endlosen Wegen in einen im obersten Stockwerk liegenden, riesigen, lichtdurchfluteten Raum kam und auf den Balkon trat, der in der Luft schwebend weit in die Landschaft des Lago Maggiore hinausragte und zuerst das filigran geschmiedete, mit Rosen verzierte Metallgeländer auf der weitläufigen Dachterrasse sah, das längst teilweise weggebrochen oder verrostet war, war ich von dem Ausblick so überwältigt, dass ich alles andere um mich herum vergaß. Ich sah in den Abgrund hinunter und als es mir endlich gelang, mich davon loszureißen, verlor sich mein Blick in der unendlichen Weite des Horizonts ... Und dann sah ich ihn, meinen Bussard ... wie er sich für einen winzigen Augenblick am Ende des Horizonts verlor ... Ohne darüber nachzudenken, musste ich einen Schritt nach vorne gemacht haben und wäre beinahe in die Tiefe gestürzt, doch es gelang mir gerade noch, wieder Halt auf den zerborstenen Magnoliafliesen zu finden, wobei einzelne in den Abgrund fielen und, ohne dass ich sie noch hören konnte, am Boden in tausend kleine Stücke, die niemals wieder ein Ganzes geben würden, zerbarsten. Mein Atem ging stoßweise und als ich endlich wieder ruhiger wurde, schweifte mein Blick über die glatte Fläche des Sees und verlor sich gleichzeitig in seinen dunklen Untiefen. Ich war zutiefst berührt von den Tälern, Hügeln und Wäldern, die sich tief eingeschnitten und doch unendlich majestätisch zu meinen Füßen ausbreiteten und über meine Blicke in den Himmel erhoben. Es gelang mir nicht, mich von diesem Anblick loszureißen und so setzte ich mich auf den aufgerissenen Boden der Dachterrasse und blieb lange Zeit dort sitzen. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein und erst als von irgendwoher die Glocken einer kleinen Kirche zum Abend- oder Nachtgebet riefen, die Dunkelheit langsam hereinbrach und der Sternenhimmel seine ganze Herrlichkeit entfaltete, gelang es mir, aus meiner Versenkung aufzutauchen und in der absoluten Stille, die in diesem Augenblick über allem lag, glaubte ich, die Schreie der an diesem Ort qualvoll und unter Schmerzen Verendeten zu hören. Ich riss mich los, stand auf und setzte meinen Weg durch das endlos erscheinende Labyrinth fort, um irgendwie aus diesem Gebäudeskelett wieder hinauszufinden. Ich irrte von einer
Ebene zur anderen und war so in meiner Angst, nie wieder ins Freie zu gelangen gefangen, dass ich über die langen, immer gleich aussehenden Flure immer tiefer in die Eingeweide des Gebäudes stolperte, bis ich zwischen disparat dastehenden Gerätschaften, rostigen Rollstühlen und alten Infusionsständern, mich plötzlich im Keller des Gebäudes wiederfand. Die Dunkelheit umgab mich inzwischen fast vollständig und meine Schritte verlangsamten sich immer mehr, bis ich in einen nur noch vom fahlen Licht der Sterne erleuchteten Raum trat, dessen Funktion sich mir unmittelbar erschloss: In der Mitte stand ein mit Keramik verkleideter Tisch, dessen gesprungene Fliesen sich wie scharfkantige Krater darboten und die Abflüsse für die Leichenflüssigkeiten auf eine groteske Art so offen legten, dass ich für einen kurzen Moment glaubte, den Geruch des Blutes, der bei den Sektionen geflossen war, zu riechen. Direkt neben dem Tisch, an dem ich nicht wagte vorbeizugehen, standen zwei Stühle, die aufgrund der Positionierung der Reste von Lederfesseln, deren metallene Ösen und Verschlüsse inzwischen völlig verrostet waren, eindeutig für die Fixierung von Patienten und entweder deren Konvulsionstherapien oder aber zur Vorbereitung von irgendwelchen Eingriffen in das Gehirn mit metallenen Bohrern, von denen einer noch auf dem Boden lag, vorgesehen waren ... Ich stolperte bei dem Anblick dieser grausamen Apparaturen rückwärts, fiel auf den Boden, glaubte, das Blut, das über Abflüsse in irgendeine Kanalisation geflossen war, warm an meinen Händen zu spüren und die Schreie dieser Kreaturen zu hören, die fixiert den völlig sinnlosen Eingriffen ausgeliefert waren und wohl nie wieder das Licht des Tages erblickt hatten, immer weiter gejagt und verfolgt von den Schreien der Gefolterten durch die endlosen Flure und Treppenhäuser, bis ich endlich den völlig zugewachsenen Innenhof erreichte und im Dunkel der Nacht wieder zu mir kam und sich meiner Kehle ein Schrei entrang, der mich aus meinen Erinnerungen aufweckte, mich in die zwölf Quadratmeter meiner Zelle zurückholte und mich mit blankem Entsetzen erkennen ließ, wo ich war …
An manchen Tagen hier höre ich diesen Schrei, meinen eigenen Schrei, der mich an den markerschütternden Schrei eines sich in tödlicher Gefahr befindlichen Tieres erinnert, tief in mir immer noch und an manchen Tagen hier glaube ich, dass jede Hilfe zu spät kommt und ich tief in meinem Inneren an dieser Verzweiflung, die mein ganzes Sein seit jenem Jahr bestimmt, und die ich bis heute nicht eindeutig zuordnen kann, wie ein Ertrinkender ersticke. Für kurze Momente sehe ich dann das Gesicht einer jungen Frau, die mit offen schreiendem Mund am Ende eines Flures steht und auf mich zu warten scheint ... ohne, dass ich jedoch weiß, was es bedeuten soll ... – dann sehe ich plötzlich das Gesicht einer jungen Frau, die mir vom Grund eines tiefen Sees zuwinkt und auf mich zu warten scheint ... ohne, dass ich jedoch weiß, was es bedeuten soll ... Für kurze Momente glaube ich, einen Schrei eines verendenden Tieres zu hören, der mich so tief in meiner Seele und in allem was ich bin berührt, dass es mir nicht mehr gelingt aufzutauchen, Luft zu holen und das Licht der Sonne zu spüren ...
Ich liege auf meiner Pritsche, mein Blick ist starr auf das kleine, vergitterte Fenster gerichtet. Meinen Freund, den Bussard, sehe ich nicht und ich habe auch nicht die Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen. Ich bekomme keine Luft an diesem Ort, sehne mich nach den endlosen, dichten Wäldern des Tessins mit ihren riesigen, uralten Bäumen ... Das Gefühl in meinem Inneren, an mir selbst zu ersticken, der lautlose Schrei, dem es nicht gelingt, sich meiner Kehle zu entringen ... – ist alles, was meine Gedanken, was meine Gefühle und was jeden Tag hier, an diesem Ort, den ich nicht selbst gewählt habe und dem ich doch nicht entkommen kann, beherrscht. Und obwohl ich glaube, mir nichts zuschulden kommen lassen zu haben, treibt mich jeder Tag hier weiter an den Abgrund des Wahnsinns und ich glaube wieder und wieder auf jener Dachterrasse der privaten Suite eines Lungenkranken zu stehen, unmittelbar über dem Lago Maggiore, den Klang des zerbrechenden Räderwerks der filigranen Uhr zu hören und im Licht des beginnenden Abends einen Schritt über die verrostete Balustrade zu machen und zu fallen, während das Sonnenlicht in einer wilden Flut die Bilder jenes Jahres in meinen weit aufgerissenen Pupillen widerspiegelt, die Wärme noch auf meiner Haut unvergessen in mein Gedächtnis eingebrannt. Und kurz bevor ich in der unendlichen Tiefe aufschlage, fällt mein Blick aus dem vergitterten Fenster, das der Ausschnitt meiner Welt ist und gewährt mir einen kleinen Augenblick des Glücks ... Ein Bussard fliegt durch den Ausschnitt meiner Welt, verlässt ihn sofort wieder und ich glaube kaum, dass ich ihn wirklich gesehen habe. Er erinnert mich an jenen Bussard im Frühjahr 2001, der zum ersten Mal auftauchte, als ich von der Dachterrasse des Hauses im Tessin, das den Eltern von Elena gehörte, in die unendliche Weite des Horizonts blickte. Wir waren gerade erst angekommen, um dort unseren ersten, gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Dass es unser letzter sein sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Ich erinnere mich genau, dass wir damals Hand in Hand auf der großen Dachterrasse standen, die weit in die Landschaft oberhalb des Lago Maggiore hineinreichte, und beobachteten, wie der Bussard sich von den Höhen der Baumwipfel der riesigen Bäume, die auf dem durch eine Mauer eingezäunten Grundstück standen, in die Lüfte fallen ließ und die Wärme der ersten Frühlingsluft nutzte, um Nahrung für seine Jungen zu fangen.
Sein rechter Flügel hatte eine tiefe Kerbe, doch im Flug fand er die Eleganz seiner jungen Tage wieder. Fast hörten wir ihn im Fall jauchzen, falls Tiere dazu überhaupt in der Lage sind. Die junggrünfrisch aus der Erde spitzenden Weizenpflanzen lagen im Licht der sanften Sonne, und schienen am Beginn dieses Frühlings ein Versprechen auf die reiche Ernte des sicher kommenden Spätsommers oder Herbstes zu geben. Die Jagd begann und wir bewunderten weit unten über dem Tal seine Kraft und Anmut. Er hatte heute noch nichts gefressen, denn sein Flügelschlag wirkte nicht so kräftig auf uns. Ich erinnere mich genau, wie wir mutmaßten, dass es im letzten Sommer sicher noch ein Leichtes für ihn gewesen war, die ersten Mäuse nach dem langen Winter in den weiten Landschaften seiner Augen aufzuspüren und zu fangen. Wir folgten mit unseren Augen seinem Flug und obwohl er noch nicht zu wissen schien, dass die Tage in diesem Jahr immer kürzer für ihn werden würden, spürte er doch den Hunger in seinem Körper und in seiner Seele. Das frühe Licht der Morgensonne wärmte ihn nach der langen Nacht und doch redeten wir darüber, dass er sicher ganz tief in sich spürte, dass es sein letzter Sommer sein würde ... Ich erinnere mich noch genau, wie Elena mich für einen kurzen Moment wissend ansah, dann meine Hand nahm und mich in eines der Schlafzimmer führte ...
Ich muss, wie so oft an diesem Ort, eingeschlafen sein, denn ich wache schweißgebadet auf, während das brutalberstende Geräusch des Räderwerks in meinem Kopf nachhallt ... – vor mir ihre Augen, ihr Gesicht, das unscharf wird, sich in unendlich viele Facetten zersplittert und unauslöschlich in die Netzhaut meiner Augen und meines Herzens eingebrannt, sich in meiner Erinnerung widerspiegelt. Mein unregelmäßiger Herzschlag, der in meinen Ohren nachklingt, und mein Atem, der nach Luft ringt, bis ich tief in meinem Inneren eine Stimme höre, die mir ganz leise flüsternd etwas zu sagen versucht ... – mein Bewusstsein dringt nicht zum Sinn der Worte durch und es bleibt in meiner Erinnerung nur ein weißgleißender, alles überstrahlender Lichtschein, der die Bilder jenes Frühjahrs, Sommers, Herbstes und Winters wie ein Kaleidoskop rückwärts ablaufen lässt und nur für einzelne Augenblicke ein klares Bild vor meinem inneren Auge entstehen lässt, das aber sofort wieder verschwindet. Und wie in einer überdimensionalen Projektion bleiben die Worte von Rilkes „Duineser Elegien“ vor der Leinwand meiner Seele stehen, die ich irgendwann, ich weiß nicht mehr in welchem Zusammenhang, vor dem großen Kamin gelesen haben muss. Ob ich sie allein gelesen oder Elena vorgelesen habe, weiß ich nicht ... Es spielt heute keine Rolle mehr und doch habe ich, ohne den Gedanken klar formulieren zu können, das Gefühl, dass die Worte der Schlüssel zu allem sein könnten:
„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich
wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen
mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter?
Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los.
Weißt du’s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.“
1
Es war noch früh am Morgen, ein kalter Glanz lag über der nebligen Ebene des Schussentals und die ersten Sonnenstrahlen, die sich nur mühsam durch den Dunst, der in der Luft hing, kämpften, gaben nur ein milchig, trübes Licht, als Elena und Michael in seinem alten Volvo aufbrachen. Obwohl sie seit Juli letzten Jahres zusammen waren, war es der erste gemeinsame Urlaub. Elenas Eltern hatten seit über 20 Jahren im Tessin ein Haus, das einsam oberhalb eines malerischen Dorfes lag, und Elenas Vater hatte Michael den Schlüssel vertrauensvoll in die Hand gedrückt, in seiner jovialen Art lachend seine breite Hand auf Michaels Schulter gelegt und ihm verschwörerisch zugezwinkert: „Macht euch ein paar schöne Tage, ihr habt es verdient und wenn ihr nebenher ein bisschen nach dem Rechten schaut, freut es mich.“ Elenas Mutter hatte ein Picknick für den Tag eingepackt und frische Wäsche für das Haus in Michaels Auto gelegt. Sie küsste ihn zum Abschied, wie es ihre Art war, links und rechts auf die Wangen und umarmte Elena zärtlich, als ob sie sich nie wiedersehen würden.
Die beiden wollten einfach ein paar Tage ausspannen, Michael hatte Osterferien und Elena an der Musikhochschule ausnahmsweise keine Termine oder Konzerte. Sie hatte Michael immer von diesem besonderen Ort vorgeschwärmt und sie hatten sich mit einem befreundeten Pärchen verabredet, das zwei Tage später nachkommen wollte. Der Frühling war in diesem Jahr früh gekommen und obwohl die Nächte noch frostig waren, gab es bereits ein Meer von Narzissen und auch die ersten Tulpen blühten, als sie die noch schneebedeckten Pässe hinter sich ließen und in die hügelig sich auf die Fläche des Lago Maggiore hin öffnende, wie verzaubert sich vor ihren Augen ausbreitende Landschaft des Tessins einfuhren. Michael spürte Elenas Hand auf seinem Schenkel und hatte das Gefühl, dass sie ihn von der Seite beobachtete, doch wenn es die Serpentinen gerade zuließen und er sich für einen kurzen Moment ihr zuwendete, wusste er, dass er sich täuschte, sein Misstrauen nach seiner gescheiterten Ehe und dem Tod seines Sohnes war einfach zu groß. Elenas Körperhaltung und ihr Blick wirkten entspannt, ihre Hand streichelte ihn und ihr typisch leicht verkniffener Blick schien ihn liebevoll anzulächeln: „Alles klar bei dir?“ Michael nickte nur. „Du wirst sehen, es ist ein traumhafter Ort, in zwei Stunden sind wir da.“
In der Nacht vor der Abreise, die sie im Haus ihrer Eltern verbracht hatten, hatten sie kaum geschlafen, da Elena einen nicht zu befriedigenden sexuellen Hunger zu haben schien. Michael liebte es, ihre geschlossenen Augen zu sehen, wenn sie zum Höhepunkt kam und kleine spitze Schreie von sich gab, und doch lösten genau diese Momente, obwohl er fast zwölf Jahre älter war als sie, eine tiefe Unsicherheit bei ihm aus, die er sich, auch jetzt, nachdem sie schon fast ein Jahr zusammen waren, nicht erklären konnte. Elena ging völlig offen mit ihrer Sexualität um, ganz anders als das, was in Michaels Kindheit und Jugend „normal“ war. In seiner streng katholisch geprägten Welt sprach man nicht über Sex und als er in Elenas Alter war, war die Zeit von Aids. Er hatte auch seine Erfahrungen gesammelt, doch die Natürlichkeit, mit der Elena nackt durch seine kleine Wohnung lief und ihn verführte, überraschte ihn immer wieder. Und trotzdem blieb eine Kluft zwischen ihnen, da er sich von ihr beim Sex beobachtet fühlte. Nicht, dass er es nicht genossen hätte mit ihr zu schlafen, er erlebte Elena immer wild und leidenschaftlich, wie sie ihre Fingernägel in seinen Rücken grub und sich ihm ganz hingab. Sie kamen fast immer gemeinsam zum Höhepunkt und wenn er erschöpft neben ihr auf das Leintuch sank und sie immer noch nicht genug zu haben schien, fragte er sich immer, ob er sie wirklich liebte oder ob es nicht etwas anderes war, was diese so ungleiche Beziehung begründete. Irgendwann hatte er aufgehört, das Ganze zu hinterfragen, denn der Sex mit Elena war aufregend, abwechslungsreich und gab ihm, nach dem „Blümchensex“ in seiner Ehe, das Gefühl wirklich als Mann begehrt zu werden. Er war vor der Abfahrt, wie immer, früh aufgewacht, während Elena, wie eine Katze eingerollt, ganz nah bei ihm schlief und hatte sie im Schlaf beobachtet. Sie hatte eine besondere Art sich morgens zu räkeln, drehte sich dabei scheinbar ohne Absicht mit ihrem mädchenhaften Körper nackt zu ihm hin und schien ihn von unten herauf mit ihren grünen Katzenaugen anzulächeln. Sie waren aufgestanden, hatten gemeinsam im Badezimmer ihres Elternhauses geduscht und ohne den Schlüssel herumgedreht zu haben, hatte sie sich völlig natürlich umgedreht und er hatte sie von hinten kurz und hart genommen. Es war aufregend und obwohl scheinbar nichts mehr dabei war, dass sie zusammen waren, da er nicht mehr ihr Deutschlehrer war und ihre Eltern, ohne auch nur ein einziges Mal mit der Wimper zu zucken, ihn als „Schwiegersohn“ in spe akzeptiert hatten, hatten Elena und Michael ihre Beziehung in der Öffentlichkeit überwiegend noch geheim gehalten, vor allem Michaels Freunde und Familie wussten nichts von ihr. Es reizte ihn, zumindest war das seine Erklärung für die ungewöhnliche Beziehung, dass sie so viel jünger war als er, und obwohl er nie an eine Beziehung mit ihr gedacht hatte, hatte er sich kurz nach ihrem Abitur auf sie eingelassen. Dass sie diejenige war, die ihn verführte und sich ihm eigentlich fast aufgedrängt hatte, hatte Michael längst ausgeblendet. Nach seiner Scheidung war er, bis auf ein paar Verabredungen über das Internet, einige Zeit allein gewesen. Es war die Zeit, in der die ersten Chatrooms aufkamen, die meist mit schnellem flüchtigem Sex, ohne dass je ein weiteres Treffen geplant war, endeten und er genoss es, wie sie zu ihm aufblickte und mit ihren wilden langen Haaren seine Nähe und Körperlichkeit suchte. Auch jetzt auf der Fahrt in ihren ersten gemeinsamen Urlaub, spürte er ihre Blicke, während sie neben ihm saß und scheinbar gedankenverloren in der traumhaften Landschaft noch weit oberhalb des Lago Maggiore versank.
2
Der Tag unterwegs war wie im Flug vergangen, der noch im Schneekleid daliegende Splügenpass hinterließ nur noch eine schwache Erinnerung. Michael freute sich auf diesen Urlaub, denn bisher war Elena immer sehr mit ihrem Oboe-Studium in Stuttgart beschäftigt gewesen, das sie unmittelbar nach dem Abitur angefangen hatte. Er hatte ihr geholfen, ihre erste eigene Wohnung zu finden und da Geld in der Familie Kleinschmitt keine Rolle spielte, hatte sie ein kleines zauberhaftes Appartement gemietet, das in einem Altbau in Bad Cannstatt lag. Die Wohnung war ein einziger großer Raum, der sich über zwei Ebenen, die mit drei über die gesamte Breite der Wohnung gehenden Stufen verbunden waren, vom Küchenbereich in den Wohnbereich öffnete und selbst das Badezimmer, mit einer freistehenden Wanne mit Löwenfüßen, war nur durch eine Glaswand abgetrennt und dadurch frei einsehbar. Michael fühlte sich von Anfang an wohler in Elenas Wohnung als in seiner kleinen Zweizimmer-Wohnung, die er nach der Scheidung für seine erste Stelle gemietet hatte und die rechteckig und überwiegend funktional zugeschnitten in einer alten renovierten Militärkaserne im Hochparterre lag. Sie waren seit ihrem Umzug nach Stuttgart meist in ihrer Wohnung gewesen. Michael war derjenige, der vor allem an den Wochenenden pendelte, manches Mal aber auch spätnachmittags, wenn sie ihn anrief und sagte, sie hätte Lust auf ihn, schnell nach Stuttgart fuhr, die Nacht mir ihr verbrachte und dann morgens so aufbrach, dass er es gerade noch rechtzeitig schaffte, zur ersten Stunde seinen Unterricht im Leistungsfach zu halten. Michael hatte aufgehört dieses Hin- und Herpendeln zu hinterfragen, sie gab den Ton an und er genoss ihre Freizügigkeit und Offenheit, vor allem im sexuellen Bereich, da sie für alles offen war und ihm Wünsche erfüllte, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass sie in ihm schlummerten. Seine eigenen Kontakte hatte er mehr und mehr vernachlässigt, sie spielten keine Rolle mehr für ihn. Seine Kollegen waren nett und freundlich, er genoss es, mit seinen Schülern über Literatur und Religion zu philosophieren, und die Nächte und Wochenenden mit Elena gaben ihm den notwendigen Auftrieb, um aus seiner eigenen Dunkelheit auszubrechen und fast wie auf einem Aufwind mit weit ausgebreiteten Schwingen dahinzugleiten. Elena gab den Takt vor. Sie strukturierte die Zeit und bestimmte, wann sie ihn sehen wollte.
Er hatte es genossen, dass ihre Hand fast die gesamte Fahrt über auf seinem Oberschenkel gelegen war und ihn immer wieder gestreichelt hatte. Als sie an einer Stelle, etwas abseits der Straße anhielten, die sich Elena bei den vielen Fahrten mit ihren Eltern hierher gemerkt hatte, war er glücklich. Es war genau der Moment, in dem man zum ersten Mal, weit unten, einen Blick über die endlos scheinenden Serpentinen auf den, wie eine bleiern spiegelnde Fläche daliegenden Lago Maggiore hatte. „Hier machen wir Picknick!“, sagte Elena und Michael verliebte sich auf Anhieb in diesen Anblick, der weit über die Landschaft hinausführte. Er suchte im Gepäck aufgeregt nach der alten Leica, die er sich als Ersatz für die auf einem Parkplatz der Freiburger Kliniken, in denen sein Sohn nach nur vier Tagen verstorben war, vor Jahren gestohlenen Kamera gekauft hatte und hielt den atemberaubenden Blick über die sanfte Hügellandschaft des Tessin fest. Als er wieder aus seiner Versunkenheit auftauchte, sah er aus dem Augenwinkel, wie Elena ihn anlächelte. Er machte ein schnelles Foto von ihr aus dem Handgelenk, sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn verführerisch an: „Lust auf Picknick …?“ Michael war erregt, wie er es im letzten Jahr so oft war, wenn sie ihn verführen wollte. Obwohl es noch früh im Jahr war und noch Schneereste auf den Hängen und in den tiefen Tälern der letzten Ausläufer der Alpen lag, packten sie den Picknickkorb, den Elenas Mutter für sie gepackt hatte, aus, legten das Plaid, das sie in mühevoller Handarbeit genäht hatte, auf einer sanften Anhöhe unter riesigen Bäumen aus, aßen liebevoll vorbereitete Häppchen und als Elena ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, ob nicht doch jemand vorbeikommen würde, ihre mädchenhafte, mit Rüschen besetzte und verspielt wirkende Bluse auszog und ihn zu sich auf den noch feuchten Boden zog, schliefen sie miteinander, mit dem Blick auf die leicht verschwommene und im kühlen Blau der kalten Frühlingsluft versinkenden Wasserfläche des weit unter ihnen liegenden Lago Maggiores, so dass Michael das Gefühl hatte, Elena würde ihn vollständig in sich aufnehmen und nie wieder loslassen.
1
Er war ihr Tutor gewesen und als er ihr bei der Abiturfeier das Zeugnis überreichte, hätte er niemals daran gedacht, dass er sie wiedersehen würde, denn er hatte nie einen einzigen erotischen Gedanken an sie verschwendet. Es war fast so, als ob Elena alles geplant hätte und als er am Rutenfest, das er zum ersten Mal seit seiner eigenen Kindheit und Jugend wieder besuchte, alleine durch seine Heimatstadt unterwegs war und sie mit ihren alten Schulfreunden, die fast alle in seinem Deutschleistungskurs gesessen hatten, mitten auf dem Festplatz traf, hing sie mit ihren Blicken an ihm, ohne dass Michael es zu diesem Zeitpunkt überhaupt bemerkte. Denn für ihn war es immer Anne gewesen, die aus allen anderen, die in den Bänken vor ihm gesessen hatten, herausgestochen war. Sie war mit ihrem Freund Bernd ebenfalls auf dem Rutenfest. Michael hatte sich nie getraut sie anzusprechen und als er Anne, die wie alle anderen und er selbst, schon leicht angetrunken war, mit Bernd wild knutschen sah, wollte er sich abwenden und allein in seine Wohnung zurückkehren. „Lust, noch einen Spaziergang zur Veitsburg zu machen?“, hörte Michael kurz nach seiner Verabschiedung hinter sich keck jemanden fragen. Es war Elena, die graue Maus, die seinen Ausführungen zwar immer aufmerksam gefolgt war, mit der sich aber nie eine wirkliche Beziehung zwischen Lehrer und Schüler einstellen wollte. Bevor er noch antworten konnte, hatte sie sich bereits bei ihm eingehängt und die Richtung seiner Schritte, ohne dass er auch nur eine Chance gehabt hätte zu widersprechen, geändert. Michael ließ sich auf das Abenteuer ein, auch wenn er ein schlechtes
Gewissen hatte, weil es nicht Elena war, der sein Interesse galt. Sie redete fast ununterbrochen, erzählte, wie beeindruckt sie von Effi Briest, Franz Kafka, seinem Unterricht, seiner lockeren Art und von Eduard Mörikes Gedichten gewesen sei. Michael hörte einfach zu und noch bevor er sich klar darüber wurde, was eigentlich gerade passierte, fand er sich mit Elena wild knutschend auf einer Bank unmittelbar unterhalb der Veitsburg, einem Ort, den sich junge, verliebte Pärchen bevorzugt aussuchten, wenn sie keinen Platz hatten, um miteinander zu schlafen. Es kam fast nie jemand vorbei und wenn, dann waren es Gleichgesinnte, die so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie die Gesichter der anderen nie bewusst wahrnahmen. Längst hatte sie seine Hände unter ihre Bluse gezogen und ihre kleinen, knospenden, fast noch mädchenhaften Brüste erregten ihn. Mehrfach hatte sie sein Glied durch die Jeans gestreichelt und kaum dass sie seinen Reißverschluss geöffnet hatte, kam er fast unmittelbar in ihrem Mund. Sie blickte ihn mit ihren grünen Katzenaugen von unten herauf an, leckte mit ihrer Zunge über ihren Mund und küsste ihn erneut. Es setzte Regen ein und da sie beide zu angetrunken waren, ließen sie Michaels Auto auf einem der Parkplätze des Festgeländes stehen und liefen engumschlungen die fünf Kilometer zu seiner Wohnung. Der Morgen dämmerte bereits, als sie dort völlig durchnässt ankamen und er den Schlüssel in dem Sicherheitsschloss umdrehte. Elena zögerte keinen Augenblick, zog ihn zuerst aus und streifte dann ihre Kleider vom schlanken, fast mageren Körper, dessen erster Anblick Michael zwar überraschte, aber so erregte, dass er unmittelbar wieder hart wurde. Elena zog ihn unter die Dusche, stellte den Strahl so ein, dass er sie wärmte, und Michael drang fast ohne einen Augenblick der Verzögerung in ihre Feuchte ein. Sie klammerte sich an ihm fest, als sie mit weit gespreizten Schenkeln an ihm hing, und schien so erregt zu sein, dass sie, als sie kurz darauf gemeinsam kamen, einen Laut wie von einem verendenden Tier von sich gab. Als er in sie abspritzte, warf sie ihren Kopf in den Nacken, so dass er das Grübchen an ihrem überstreckten Hals sehen konnte und sie dort küsste. Elena lachte, als er sich aus ihr zurückzog und fragte: „Du nimmst doch die Pille?“ „Reichlich spät, Herr Lehrer – oder?“ Sie küsste ihn frech auf den Mund, seifte ihn ein und sagte, während sie ihn heftig ins Ohr biss, so dass es blutete: „Du denkst aber nicht, dass du der Erste bist – oder?“
Elena führte ihn, nackt und nass, wie sie nach der Dusche waren, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, auf die am Boden liegende Matratze, da Michael nach seiner Scheidung noch kein Bett gekauft hatte. Eigentlich hatte er im Unterricht immer gedacht, dass sie schüchtern wäre; sie hatte sich fast nie gemeldet und wenn er sie aufgerufen hatte, hatte sie ihn meist schweigend angeschaut. Als sie sich an ihn schmiegte und mit ihrer kleinen Hand über seine nackte Hüfte streichelte, fühlte er sich an ihren Blick erinnert, der ihm in seinem Rücken immer durch den gesamten Klassenraum gefolgt war. Sie zögerte keinen Augenblick, als sie erneut sein hartes Glied in den Mund nahm, während er sie mit seinen Händen stimulierte und dann erneut in sie eindrang. Michael war fasziniert von ihrer Lust und ihre gerade einmal pfirsichgroßen Brüste erregten ihn, so dass sie in dieser Nacht wieder und wieder miteinander schliefen. Erst als er sie von hinten nahm, mit seiner Hand ihren Körper und ihr Gesicht auf die Matratze drückte und sie unter seinen harten Stößen laut aufschrie und kam, sanken sie erschöpft auf das völlig zerwühlte weiße Laken, das ihn für einen kurzen Moment an ein Leichentuch erinnerte, doch genau in diesem Moment, als der Morgenwind durch die riesigen Ulmen, die vor seinem Fenster standen und blätternde Geräusche machten, seinen Gesang anstimmte, schliefen sie ein.
Der Tag war weit fortgeschritten, als Michael aufwachte und sah, wie Elena nackt neben ihm lag und ihn beobachtete. Es war ihm noch nie passiert, dass er nicht als erster aufgewacht war, und als sie völlig selbstverständlich aufstand und immer noch, ohne sich etwas übergezogen zu haben, in seiner Küche hantierte und ihm einen Kaffee ans Bett brachte, wurde ihm klar, dass sie ihn gewollt hatte und nicht umgekehrt. Im Schneidersitz saß sie vor ihm, während sie beide ihren Kaffee tranken. Michael wusste nicht richtig, was sagen, es war ihm fast peinlich, dass er mit ihr geschlafen hatte ... – sie sah im Licht des frühen Morgens zerbrechlich aus. Elena blickte ihn unverwandt und herausfordernd an: „Und? Hat es dir gefallen?“ Michael nickte nur, ohne etwas sagen zu können und doch, wenn er ganz ehrlich zu sich war, hatte es ihm gefallen sie zu dominieren, vor allem als er sie von hinten genommen, sie nach unten gedrückt hatte und sie unter seinen harten Stößen nicht ausweichen konnte ... – gleichzeitig schämte er sich für seine Gedanken, da sie so unendlich jung aussah. Bestimmend sagte Elena: „Du weißt schon, dass wir den Tag im Bett verbringen?“ Michael sah sie an, suchte die Unsicherheit der Schülerin, die er immer wahrgenommen hatte, nickte wieder nur und als sie ihn an der Hand zur Dusche führte, sich vor ihn hinkniete und sein schon wieder hartes Glied in den Mund nahm, war er ihr restlos verfallen. Den restlichen Tag verbrachten sie gemeinsam nackt im Bett, redeten, tranken Wein, liebten sich und Elena schlief eng an ihn geschmiegt ein, während er kaum glauben konnte, was in seinem einsamen Leben, in das er sich eingefunden hatte, passierte. Das Gefühl beobachtet zu werden, hatte sich fast vollständig aufgelöst, doch Michael gelang es nicht, neben ihr einzuschlafen und sich völlig fallen zu lassen.
Auch die nächsten Tage standen sie nur auf, um etwas zu essen und zu trinken. Michael hatte sich für die letzten Schultage krankgemeldet. Es gelang ihm nicht, sein altes Leben aufzunehmen und sie auch nur für einen Augenblick allein zu lassen. Elena, die völlig frei war, drängte ihn nicht; sie nahm es einfach hin, dass er die Schule schwänzte, lachte darüber und verführte ihn erneut, so dass er alles andere zu vergessen schien. „Du musst unbedingt meine Eltern kennenlernen. Sie werden dich lieben!“ Elena war der Augenstern ihres Vaters, der einen eigenen Handwerksbetrieb hatte und in der Stadt hoch angesehen war. Ihre Mutter kümmerte sich um das weitläufige Haus und las ihrer Tochter alle Wünsche von den Augen ab. Egal ob Tennis oder Reiten oder der kleine Mini Cooper zum Abitur ... – es gab nichts, was Elena verwehrt blieb. Seine Frage, ob sie Geschwister habe, verneinte sie. Nur für einen kurzen Moment glaubte Michael in ihren Augen das aufblitzen zu sehen, was er, nachdem er zum ersten Mal in ihr gekommen war, in ihrem ihn musternden Blick zu sehen geglaubt hatte. Er zuckte fast körperlich zurück und es schien ihm, als ob Elena seine Reaktion gespürt und ihn mit ihren Augen verfolgt hätte. „Wollen wir sie morgen besuchen?“ Michael nickte, obwohl es ihm viel zu früh war und er sich fragte, wie ihre Eltern es wohl aufnehmen würden, wenn ihre Tochter ihren Leistungsfachlehrer als ihren Freund mit nach Hause bringen würde. Der Abiball in der festlich geschmückten Schulkantine fiel ihm ein; er erinnerte sich an seinen eigenen Abiball, an die Schwester einer Klassenkameradin, mit der er in einem Schulflur in den unteren Ebenen geschlafen hatte und die kurz nach ihrem eigenen Abitur, ein Jahr nachdem er selbst an dieser Schule Abitur gemacht hatte, an einem Aneurysma gestorben war. Er erinnerte sich, dass er nach jener Nacht in den frühen
Morgenstunden den weiten Weg nach Hause gelaufen war, und er erinnerte sich an Elenas Abiball, auf dem ihn ihre Eltern freundlich per Handschlag begrüßt hatten, ihr Vater sich lautstark bei ihm bedankte, dass er seine Tochter zum Abitur gebracht, ihn zu einem Glas Champagner eingeladen und er noch mit keinem einzigen Augenblick daran gedacht hatte, dass er jemals mit Elena etwas anfangen würde, einer ehemaligen Schutzbefohlenen. Es war ihm bewusst, dass ihn das seine Karriere in seinem über alles geliebten Beruf als Lehrer, den er als eine Berufung empfand, kosten konnte.
Und doch ging etwas von Elena aus, das ihn, auch bei dem Gedanken ihre Eltern kennenzulernen, nicht zögern ließ, im Hinterkopf zwar den Tabubruch reflektierend, gleichzeitig aber relativierend, da sie ihr Abitur in der Tasche hatte und er nicht mehr ihr Lehrer war. Es faszinierte ihn, wie selbstverständlich und offenherzig sie sich in seiner kleinen Wohnung bewegte. Nackt stand sie vor dem Spiegel, föhnte ihre Haare und warf ihm, während er sich rasierte, immer wieder verführerische Blicke zu; einmal fand sich ihre Hand in seiner Hose, die er bereits angezogen hatte, wieder und erregte ihn erneut. Sie brauchte ewig im Bad, so dass er sich an seinen alten, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Schreibtisch setzte und ein Gedicht für sie schrieb:
Sehnsuchtshände
Meine Hände, deine festen Brüste streichelnd wie Aprikosen zart,
voll Sehnsucht überrascht
und doch unendlich fordernd.
Meine Hände, deine schmale Taille streichelnd
wie Verlangen zerspringend, voll Sehnsucht erwartend
überrascht
und doch unendlich fordernd.
Meine Hände, deine Augen küssend
wie Seide umschmeichelnd, voll Sehnsucht wehrlos
überrascht
und doch unendlich fordernd.
Deine Hände mich zwingend, du über mir –
ich in dir,
deine Schenkel umschließen mich ganz, lassen mich nicht mehr los,
deine Augen, aufblitzend in mir, ich falle ...
Deine Blicke mich verfolgend,
du über mir –
ich in dir,
dein Lächeln alles verzehrend, du lässt mich nicht mehr los ...
deine Augen, aufblitzend in mir, ich falle ...
Michael musste sich völlig in seinen Gedanken verloren haben, denn als er wieder aus seiner Versunkenheit auftauchte, spürte er, wie Elena hinter ihm stand, eine Hand fast besitzergreifend auf seine Schulter gelegt hatte und ihn beobachtete. „Gefällt es dir?“ „Du kannst nicht erahnen, wie sehr!“ Es fiel ihm ein, wie er mit dem gesamten Kurs eine Exkursion ins Elsass gemacht hatte und ihnen am Freiburger Münster den „Fürst der Welt“ im Eingangsportal erklärt hatte ... – warum er sich genau in diesem Augenblick daran erinnerte, konnte er nicht nachvollziehen. Doch für einen Moment fiel ihm wieder ein, wie Elena von der Steinskulptur fasziniert war, die vorne ein feminin perfektes Gesicht zeigt, mit einer vollkommenen Frucht in der Hand, wenn man jedoch unter den Tympanon trat und die Figur von hinten betrachtete, sah man, wie sie von Würmern zerfressen war und das harmonische Bild, das der unbedarfte Betrachter von vorne sah, nur Trugbild war. Die Erinnerung an diesen Augenblick war jedoch so flüchtig, dass Michael ihn, als Elena ihn auf den Mund küsste und seine Zunge umspielte, sofort wieder vergaß. „Für mich?“ und noch bevor er antworten konnte, nahm sie das lose Blatt mit seinem Gedicht, faltete es sorgfältig, wie ein Dokument, steckte es in ihre noch vom Regen des Vortages klamme Tasche und fragte: „Wollen wir?“ Michael schaute sie erstaunt an: „Was meinst du?“ „Naja, wir wollten zusammen meine Eltern besuchen.“
„Heute schon?“ Elena lächelte: „Sie werden dich mögen.“
2
Sie nahm ihn an ihre kleine Hand, führte ihn, fast wie in Trance aus seiner Wohnung. Als sie vor seinem Volvo standen, streckte sie einfach die Hand aus und er gab ihr den Schlüssel. Elena hatte erst vor kurzem den Führerschein gemacht und doch fuhr sie halsbrecherisch die gewundenen Straßen in einen kleinen Ort, der auf den Anhöhen oberhalb des Schussentals schon in Richtung Allgäu lag. Und als sie vor dem großen Anwesen ihrer Eltern angekommen waren, öffnete sich das riesige Tor, in dessen Mitte angeberisch das Wappen mit den Initialen der Familie prangte und den Reichtum des neureichen Vaters anzeigte. Das Tor war die einzige Öffnung in der das Grundstück umgebenden weißen Mauer. Elenas Vater war einer der ersten, der Kameras zur Sicherheit installiert hatte, die ihnen automatisch – Michael drehte sich um und glaubte fast das surrende Geräusch zu hören – auf ihrem Weg die gekieste Einfahrt hoch folgten. Das Tor schloss sich hinter ihnen wie von Geisterhand und fast spürbar griff die Stille des ca. 20 Hektar großen Parks, der völlig von der Außenwelt abgeschlossen war, nach ihm. Riesige, uralt erscheinende Bäume umstanden das alte Bauernhaus, das nichts mehr von seinem ursprünglichen Charme besaß, sondern mit Glas und Beton völlig auf modern getrimmt war. Völlig geschmacklos lag es inmitten des Parks, hingeworfen wie ein Raumschiff aus einer anderen Galaxie und doch in seinem Prunk so beeindruckend, dass Michael, der aus einfachen Verhältnissen kam, den Atem anhielt.
Innerhalb der Mauer lag, vom Haus gerade noch sichtbar, in einiger Entfernung der Pferdestall, von dem Elena ihm erzählt hatte und in dem ihre Württembergische Stute „Desperate“ stand, die ihr Ein und Alles war. Als Elena und Michael aus seinem alten, verstaubten Auto stiegen, standen ihre Eltern – ihr Vater musste an seinem Schreibtisch gesessen haben und auf einem überdimensionierten Bildschirm auf den Überwachungskameras des
Grundstücks ihre Ankunft verfolgt haben – bereits auf der weitläufig, im Halbkreis geschwungenen Freitreppe, die künstlich in der Einfahrt nach unten verlegt worden war, um den Eindruck eines herrschaftlichen Hauses bei den Gästen hervorzurufen. Helene, schlank und deutlich hochgewachsener als ihre zierliche Tochter, die langen Haare gepflegt und unnatürlich schwarz gefärbt und
Elenas Vater, Georg, klein, etwas untersetzt, mit einem Bauch, der über die elegante Hose, die sicher Helene ausgesucht hatte, hing, winkten aufgeregt und lächelten ihnen entgegen. Die seltsame Beziehung ihrer gerade mal 18-jährigen Tochter mit ihrem ehemaligen Tutor schien sie nicht zu stören. Dass Georg in dieser Ehe nichts zu sagen hatte, war sofort klar. Er war immer der Gutgläubige, der weder realisierte, was wirklich in seinem Haus passierte, noch auch nur einen einzigen Augenblick an Michael und der Liebe zu seiner Tochter zweifelte. Als sie ausstiegen, erwartete Michael im Idealfall kühle Skepsis, mit der Elenas Eltern ihm, dem viel Älteren, begegnen würden. Doch es kam anders: Elenas Vater brachte ihm herzliche Aufrichtigkeit und Wärme entgegen, so dass Michael sich zum ersten Mal in seinem Leben in einer Familie wirklich aufgenommen fühlte. Wieder und wieder nahm ihn Georg am Ellenbogen, klopfte ihm sein joviales Willkommen mit seinen derben Handwerkerhänden auf die Schulter und zeigte ihm den weitläufigen Besitz. Es dauerte fast zwei Stunden, bis er Michael völlig erschöpft vom Rundgang zurückbrachte und in die „gute Stube“ führte, die mehr als viermal so groß wie Michaels kleine Zwei-Zimmerwohnung und für die Bewirtung von mindestens 50 Gästen ausgelegt war.