Ein Killer lässt singen - John Gardner - E-Book

Ein Killer lässt singen E-Book

John Gardner

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Beschreibung

Boysie Oakes will auf die feine britische Art den Dienst quittieren. Doch ehe er sich's versieht, hat er einen Auftrag am Hals, der die Bluthunde von der anderen Seite weckt. Und dabei spielt die aufregende Zizi ein besonders böses Spiel ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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John Gardner

Ein Killer lässt singen

Aus dem Englischen von Dietrich Wild

FISCHER Digital

Inhalt

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1

James Gest war kein zweiter Frank Sinatra, und er wußte das. Für den achtlosen, dünnen Beifall, den er eben auf der Bühne des Palladium-Theaters in London zu hören bekam, genügte ein Lächeln als Quittung. Na gut, ganz unbekannt war er nicht, und er kam auch ganz schön rum: London, Paris, New York, Rom und – beinahe – Las Vegas. Er war jetzt sechsunddreißig und wußte, seine Laufbahn war gelaufen. Ein internationaler Superstar würde aus James Gest nicht mehr.

»Danke. Danke schön«, murmelte er ins Mikro, um dem flatternden Beifall ein Ende zu machen. »Es ist Zeit, Freunde –« Das war das Stichwort für die Musik, die mit viel Streichern in den »Vorhangschließer« glitt, das traditionelle Schlußlied seines allabendlichen Auftritts. Er hatte es eigens schreiben lassen vor Jahren und fünfhundert Dollar dafür hingelegt: umsonst. Seinen Paß sollte es ersetzen, alle Welt sollte aufhorchen, aha, James Gest singt: nichts. Das Lied war schlecht, und keiner horchte auf …

Die Streicher steigerten sich in einen langgezogenen, gefühligen Akkord, während er die Bühne verließ. Der Leuchtfinger des Scheinwerfers ließ ihn los, die Musik verebbte. Aus. Keine Zugabe. Sein letzter Abend in London war vorbei.

James Gest atmete auf. Kaltes, nasses, überfülltes, verdrecktes London – er konnte gut ohne diese Stadt leben. Auf dem Weg zu seiner Garderobe zündete er sich eine Zigarette an: morgen – Paris! Schon besser.

Im Flur vor seiner Tür lehnte sein Manager an der Wand und redete auf ein langbeiniges Tanzmädchen ein. Lou Castervermentes kassierte seit rund zehn Jahren fünfundzwanzig Prozent von Gests Gage – und das war so ziemlich alles, was er managte. Als Gest näher kam, nahm Castervermentes seinen Zigarrenstummel aus dem Mund. Gest sah schmutzige Fingernägel und eine Menge goldener Zähne, als der andere sagte: »Unser Mann ist drin«, und sich sofort wieder dem Mädchen zuwandte.

»Also gibt’s Arbeit«, sagte Gest ohne Freude.

Sein Manager drehte sich noch mal um, betrachtete den Sänger und fragte, ohne eine Antwort zu erwarten: »Arbeit, die mich angeht?«

Gest betrat seine Garderobe. Caesar Chiliman war klein und fett und saß auf dem einzigen ordentlichen Stuhl mitten im Raum. Gest übersah ihn völlig, ging zum Tisch vor dem Spiegel, goß sich ein Glas Milch ein, trank es halb aus, füllte es neu, drehte sich um, lehnte sich an die Wand und sah Chiliman an.

»James«, sagte Chiliman, ohne einen Muskel zu bewegen, außer den paar, die zum Sprechen unbedingt benötigt wurden, »James, es ist schön, dich zu sehen!« Sein Gesichtsausdruck sagte das genaue Gegenteil.

»Was ist los?«

»Arbeit. Geld.«

»Was ist es diesmal?«

»Das Übliche.«

»Falls es hier in London laufen soll, ist nichts drin. Ich ziehe ab. Morgen früh. Nach Paris.«

»Zwei Wochen Gastspiel im Le Nostradamus. Ich weiß. Ausschnüffeln ist schließlich mein Beruf.«

»Richtig. Zwei lausige Wochen in diesem Flohnest und Nuttenstützpunkt.«

»Das Geld dafür wirst du kaum so empört ablehnen.« Chiliman lachte keuchend. »Meins auch nicht.«

Gest trank seine Milch aus und wischte sich den Mund ab. »So so?«

»Nicht so so. Kriegst du überhaupt noch ’ne Truppe zusammen in Paris?«

»Ich kriege überall ’ne Truppe zusammen.«

Der Dicke nickte und holte ein sorgfältig gefaltetes Papier aus der Brusttasche seines façonlosen grauen Jacketts. »Hier ist eine Liste von Leuten, die in den kommenden zehn Tagen an einer internationalen Sicherheitskonferenz in Paris teilnehmen. Namen und Hoteladressen stehen drauf. Nur zwei davon interessieren dich. Die letzten beiden auf der Liste.«

Gest entfaltete das Blatt und ließ den Blick über die eng beschriebene Seite nach unten gleiten. Das Hotel der beiden letztgenannten war das Baltimore in der Avenue Kléber im 16. Arrondissement. Die Namen waren: George Mostyn und Brian Ian Oakes.

»Gemacht?« fragte Chiliman.

»Kein Problem«, sagte Gest. »Solange der Preis stimmt …«

2

»Sogar mein verdammtes Gesicht ist das von gestern«, sagte Boysie Oakes laut, als er sich am Morgen im Spiegel betrachtete. »Gesicht von gestern. Dieses Gestern ist eine verfluchte Sache …«

In der Tat war Brian Ian Oakes gegenwärtig von einer ganzen Menge Erinnerungen an gestern umgeben. Gewiß: die Wohnung hier war nicht weitläufig und prunkvoll wie jene, die er einst am noblen Chesham Place bewohnt hatte. Aber sie war zweifellos luxuriös, verglichen mit dem Schuppen, in dem zu leben er während der vergangenen zwei Jahre relativer Untätigkeit gezwungen gewesen war.

Während er sich rasierte, bestürmten ihn viele vertraute Gefühle. Zum Beispiel konnte er im Spiegel seinen sturmerprobten Koffer offen auf dem Boden des Wohnzimmers liegen sehen, mit seiner Patina alter Hotelaufkleber eine beständige Erinnerung an jene Zeit, in der er ausschließlich für die Spionageabwehr gearbeitet hatte. Damals, dachte Boysie, damals war das Leben noch zum Platzen voll – voll von Spaß und Tod und Verderben. Damals hatte ihn die Abwehr, in der Person des ölglatten Obersten James George Mostyn, angeheuert: als Spezialagent, dessen Aufgabe es war, Sicherheitsrisiken aus der Welt zu schaffen, und das im buchstäblichen Sinn des Wortes. Man hatte ihn bald den »Erlediger« genannt, den »Fleischwolf«, die »Ein-Mann-Müllabfuhr« oder ganz einfach den »Problemkiller«.

Lauter Namen, die zu Boysie paßten wie zu einem Eichhörnchen. Denn er war in Wirklichkeit von größter Sanftmut, mit einer deutlichen Neigung zur Ängstlichkeit – eben genau wie ein höchst nervöses Eichhörnchen. An diesem Mißverhältnis zwischen seinem Ruf und seiner wahren Seele war allein Mostyn schuld, dachte Oakes, knipste den Rasierer aus und blickte sich selbst in die Augen: kalt, blau und klar wie eh und je. Diese Augen hatten den gerissenen Mostyn 1944 während der Befreiung von Paris zum erstenmal gesehen. Damals fing alles an …

An jenem Morgen hatte Oakes seine Panzereinheit verloren und war, nach Straßenschildern suchend und mit einer entsicherten Colt-Pistole in der Faust, durch die umkämpfte Stadt geirrt. Zur gleichen Zeit hatte Mostyn um sein Leben gezittert, fast am Ende eines Geheimauftrages seiner Behörde und ganz am Ende einer Sackgasse, in die ihn zwei Naziagenten getrieben hatten. Gerade, als diese beiden Mostyn gestellt hatten und zu seiner Liquidierung schreiten wollten, hatte dieser den panzerlosen Oakes um die Ecke biegen sehen. Auf Mostyns Zuruf fährt Oakes vor Schreck zusammen, sein Colt kracht zweimal, die beiden Deutschen liegen auf dem Pflaster …

Das Ganze war ein grausiger Unfall in Boysies Augen, doch den eisigen Ausdruck des Entsetzens darin hatte Mostyn sofort und gern als den unmißverständlichen Blick eines kaltblütigen Killers mißverstanden. Jahre später benötigte Mostyn, inzwischen stellvertretender Chef seiner Behörde, genau einen solchen Mann und trieb Boysie auf.

Boysie war von dieser Fehleinschätzung seiner Person so geschmeichelt wie ein Mann in fortgeschrittenem Alter, den man der mehrfachen Vergewaltigung verdächtigt – viel zu geschmeichelt, um das todbringende Talent zu bestreiten, das Mostyn in ihm sah. Fortan gab Mostyn im Namen der Behörde die mörderischen Aufträge an Boysie, zusammen mit dem, was dieser am meisten brauchte: Sterling, Dollar, D-Mark, Franken, Escudos – es kam ihm nicht darauf an, wie die Währung hieß. Aber Boysie wurde nie das schlechte Gewissen los, wenn er aus Versehen eine Ameise zertrat. Mit der Zeit wurde Mostyn für ihn zu einem janushäuptigen Ungeheuer: sein Gönner und sein Peiniger zugleich.

Nach dem katastrophalen Scheitern einer geheimen Operation wurde die Abwehr »reorganisiert«: Mostyn und Oakes flogen raus. Aber Boysie gelang es auch danach nicht, sich von Mostyn zu lösen: Sie arbeiteten gelegentlich als private Geschäftspartner zusammen.

Und heute war es wieder mal soweit. Die neue Wohnung hier, das regelmäßige Einkommen – all das floß aus Regierungsquellen, und es war, wie gehabt, Mostyn, der die Schleusen betätigte. Boysie massierte sein Gesicht mit After-shave-Lotion und dachte an den neuen Auftrag. Sofort wurde ihm übel: In wenigen Stunden würde er nach Paris fliegen – und der bloße Gedanke daran, in einem donnernden, geflügelten Monstrum durch die Wolken getragen zu werden, löste panische Ängste in ihm aus.

Angst und Übelkeit wuchsen noch, als Boysie seinen Koffer fertig packte und obenauf den kleinen automatischen Browning legte, den er stets zur Arbeit mitnahm wie ein Kumpel seinen Henkelmann.

Warum um alles in der Welt fuhr er nur nach Paris? fragte sich Boysie, als er den Koffer schloß. Die Frage war so überflüssig, wie die Antwort klar war: wegen Mostyn.

 

Boysie hatte Mostyn seit fast vier Jahren nicht mehr gesehen. Als er neulich in der Tür zu Boysies schäbiger Behausung lehnte, fand dieser ihn nicht sehr verändert.

»Warum gerade ich?« hatte er sich fragen gehört.

»Laß mich erst mal rein, Junge, dann erklär’ ich’s dir.« Mostyn hatte sich in dem Wohnschlafraum umgesehen und die Nase gerümpft, als ob ihn irgendein ganz und gar unausstehlicher Gestank belästigte. »Nicht sehr hübsch, Boysie, überhaupt nicht sehr hübsch.«

»Schon gut. Das Geschäft läuft nicht besonders.«

»Das weiß ich allerdings«, sagte Mostyn und gewährte Boysie einen Blick, der sonst für geistig behinderte Kinder bestimmt war. »Freischaffende Privatdetektive sind nicht sehr gefragt, was? Und dann hast du diese Scheidungssache ja auch ziemlich verkorkst!«

»Was weißt du denn davon?«

»Ich habe Augen im Kopf, mein Junge, und kann also die Klatschspalten lesen: Dame heuert Detektiv an, um liebesfrohen Gatten in flagranti zu ertappen – und dann ertappt dieser den Detektiv in flagranti. Bei der Gattin …«

»Wie konnte ich ahnen, daß der Alte schon um diese Zeit nach Hause kommt? Sonst blieb er mittwochs immer bis zehn bei seiner Freundin!«

»Bist tief gesunken, Boysie. Sehr tief! Und deine Tapeten sind scheußlich.«

Boysie kratzte die Reste seines Humors zusammen. »Bettler können es sich eben nicht leisten, wählerisch zu sein …«

»Traurig«, murmelte Mostyn, zog ein makelloses Tuch aus der Brusttasche und staubte damit einen Stuhl ab, ehe er sich darauf niederließ. »Traurig, wie weit es mit dir gekommen ist!«

»Wenn du mir jetzt verkündest, daß du mich wieder mal vor dem Untergang retten kannst, verprügle ich dich.«

»Das glaub’ ich nicht. Und ich kann dich retten – wieder mal.« Mostyn hob eine Hand. Von seinen gepflegten Fingern baumelte ein Schlüssel. »Zwei Zimmer, Küche, Bad in Kensington. Dazu hundert Pfund die Woche Taschengeld – steuerfrei –, ein freier Bürostuhl und Spesen.«

Für ein paar Sekunden vergaß Boysie zu atmen. Gemessen an der anhaltenden Ebbe in seiner Brieftasche war das eine königliche Apanage. Der gesunde Menschenverstand sagte ihm, schleunigst nach dem Schlüssel zu greifen. Seine Erfahrung mahnte ihn zur Vorsicht.

»Wo ist der Haken?«

»Ist keiner dran.«

»Fronteinsatz? Tod und Zerstörung? Leute, die auf mich schießen?«

»Klingen hundert Pfund auf die Hand schon nach Gefahrenzulage?«

»Steuerfrei schon.«

»Du hast gar keine Wahl, Boysie. Bist sowieso schon eingeplant – genau wie dein Onkel Mostyn.«

»Eingeplant – wo?«

»Im Sonderausschuß zur Terrorismusbekämpfung.«

»Also wird doch auf mich geschossen!«

»Kein Stück. Du sitzt in einem Ausschuß, der Maßnahmen gegen den Terrorismus berät. Wie man mit Bombenlegern, Flugzeugentführern, Stadtguerillas, Amokschützen fertig wird.«

»Warum gerade ich?« Boysie wiederholte sich.

»Du hast doch Fachkenntnisse.«

»Was für Kenntnisse denn?«

»Bitte, korrigier mich, falls ich mich irre – aber wenn ich mich recht entsinne, warst du doch mal das personifizierte Todeskommando unserer Regierung – oder?«

Mostyn wußte genau, daß Boysie weitaus die meisten Mordaufträge sozusagen »untervermietet« hatte, statt sie selbst auszuführen. Das war damals, in der Zeit der Katastrophe, ans Licht gekommen.

»Also?« Boysie schluckte heftig.

»Also sitzt du in dem Ausschuß und läßt uns deine Fachkenntnisse nutzen.« Mostyn ließ den Schlüssel auf den abgetretenen Teppich fallen. »Zieh ein, wann du magst! Das Taschengeld strömt ab Montag. Ich melde mich am Wochenende. Unser Büro ist getarnt, wie immer. Spielwarengroßhandlung. Übrigens: für dienstwilliges rothaariges Personal ist gesorgt.« Mostyn erhob sich und ging mit seinen typischen gezierten Schrittchen zur Tür. »Ach, und noch was, Boysie. Wir werden einen netten Ausflug machen. Internationale Konferenz und so weiter.«

 

Das war vier Wochen her. Die neue Wohnung war fabelhaft. Das Geld half. Denn mit dem Geld kamen Frauen, wenn auch nicht gleich in ganzen Trauben, so doch in ansehnlichen Einzelexemplaren. Lauter unleugbare Verbesserungen der Lebensqualität, auch wenn sich Mostyns rothaariges Personal im Spielwarenladen als eine einzige gefärbte Putzfrau unbestimmbaren Alters entpuppt hatte.

Dennoch: Es war die Arbeit, die Boysie Sorgen bereitete. Nicht die Tatsache, daß er tagaus, tagein in diese Spielwarenhandlung zu trotten hatte. Sondern das, was sich dort während des Tages abspielte, machte ihn fertig. Die ganze Bude roch stark nach der Abwehrbehörde und den vergangenen Zeiten: die Geheimschriften und Ausschnittsammlungen, die seltsamen Kuriere, die Routine und der Geruch von Geheimnistuerei.

Boysie verbrachte die meiste Zeit mit der Prüfung von Fernschreiben, die immerhin größtenteils in Klartext kamen, sich um allgemeine Sicherheitsfragen und Terrorismus drehten, durchaus abstrakt blieben und Boysie mithin nicht persönlich berührten. Aber irgendwas hing in der Luft – hoch und lebensgefährlich wie ein Damoklesschwert.

Dann, eines Morgens, kam ein Fernschreiben an, das Boysie weder entschlüsseln noch abheften konnte. Er erkannte nur die Pariser Ortskennzahl des Absenders. Mostyn lächelte heiter, als er es erhielt.

»Das ist es, Junge. Wir sind so gut wie unterwegs.«

Boysie fühlte, wie die bislang schlummernde Schlangenbrut seiner Nerven sich zu rühren begann. »Unterwegs wohin?«

»Zur Konferenz. Ich hab’s dir doch gesagt. Internationale Konferenz. In Paris. Geh deinen Koffer packen!«

Boysie schluckte. »Bleiben wir lange weg?«

»Wer weiß? Pack einfach deinen Koffer – und vergiß dein Spielzeuggewehr nicht!«

Boysies Nervenschlangen richteten sich auf: »Los, Mostyn, spuck’s aus! Es ist die alte Leier, was? Eine Operation, oder?«

»Nicht genau das. Nur eine Konferenz über Anti-Terrorismus. Pack dein Schießeisen ein! Das beruhigt mich.« Mostyn tätschelte Boysies Arm: »Reisen ist so gefährlich heutzutage.«

 

Und da war er nun: reisefertig. Boysie schaltete das Radio aus, hievte sich den Mantel über und stakte zur Tür. So zu verreisen, erinnerte ihn nur zu gut an die alten Zeiten. Verreisen ins Land der Gefahr. Sein Traumziel war dieses Land wahrhaftig nicht …

3

Mostyn wartete auf dem Flughafen Heathrow. Er trug einen eleganten dunkelbraunen Anzug und darüber einen bodenlangen, pelzbesetzten Hirschledermantel. Er sah aus wie eine Luxusratte, dachte Boysie.

Wie immer quoll das Abfluggebäude über, und viele Flüge waren verspätet. Der Kaffee in der Wartehalle schmeckte wie chemisch gereinigtes Abwasser. Die zahllosen uniformierten jungen Damen, die Tickets abstempelten, Reisegruppen dirigierten und Ansagen in Mikrophone hauchten, trugen allesamt den gleichen Ausdruck von Selbstzufriedenheit und Hygiene zur Schau. Mostyn sagte nichts und ließ den Blick seiner schmalen Augen ununterbrochen über das stetig wechselnde Menschenmeer in der Halle schweifen.

Von draußen kam in kurzen Abständen das pfeifende Heulen der landenden Maschinen und das dumpfe Brüllen der startenden. Jedesmal drehte sich Boysies Magen um. Schon in der guten alten Zeit hatte er Flughäfen gehaßt, und die zeitgenössischen Fortschritte in diesem Bereich – wie Flugzeugentführungen und Bombenanschläge – hatten seine Abneigung nur gesteigert.

Der Flug nach Paris wurde aufgerufen. Gleichzeitig und noch immer schweigend erhoben sich Mostyn und Boysie, hielten der Paßkontrolle ihre geradezu magischen Plastikkärtchen hin, die sie als staatlich geschützte Besonderheiten auswiesen, und warteten, bis sie der zuständige Sicherheitsbeamte abgefertigt hatte.

Erst an Bord des Flugzeuges, als die Triebwerke schon liefen, begann Mostyn zu reden. »Hab’ gestern zufällig einen Freund von dir getroffen«, sagte er, fast ohne die Lippen zu bewegen.

»Ach ja?« Boysies Stimme entglitt in unnatürliche Höhen. Seine Aufregung kletterte gleich mit. Zwei Dinge vermiesten Boysie die Lust am Leben: hysterische Vorahnungen beim Fliegen – und die Drahtziehereien des glatten kleinen Mostyn …

Die Maschine rollte zum Start. Die Motoren winselten bei vollem Schub. Boysie schloß die Augen und versuchte, sich auf irgendeinen Gedanken zu konzentrieren, der weder mit Fliegen noch mit Mostyn zu tun hatte. Das Rumpeln der anrollenden Maschine auf der Startbahn endete mit einem letzten Stoß. Sie hoben ab, und die vertraute Übelkeit in Boysies Innereien setzte ein. Das war die kritische Phase, und alles wurde noch kritischer durch die Anwesenheit von Mostyn.

»Einen guten Freund von dir«, wiederholte dieser und schaute gelassen aus dem Fenster.

Boysies zitternde Hände tasteten nach der gewissen Papiertüte. Dann hörte er, wie die Triebwerke aus ihrem hohen Winseln in ein freundliches Summen übergingen, und öffnete die Augen. Die Leuchttafeln für »Anschnallen« und »Nicht Rauchen« waren erloschen. Die Leute zündeten sich Zigaretten an und redeten lebhaft – wie alle, die noch einmal vom Rand des eigenen Grabes zurücktreten dürfen, dachte Boysie.

»Was für’n Freund?« fragte er, darum bemüht, ebenso gelassen zu erscheinen wie sein Chef.

»Charlie Griffin.« Mostyn lächelte nicht einmal.

»O Gott«, stöhnte Boysie. Ausgerechnet Griffin. Charlie Griffin – Boysies Totengräber, dem er den größten Teil der tödlichen Aufträge der Behörde heimlich »untervermietet« hatte. Inzwischen wußte Mostyn alles von Griffin. Also würde er ihn kaum ohne Absicht erwähnen …»Irgendwas liegt in der Luft«, sagte Boysie matt.

»Keine Ahnung, was du meinst«, entgegnete Mostyn und winkte einer Stewardess. »Zwei doppelte Whiskys, meine Liebe.«

Das Mädchen nickte, und es tat Boysie wohl zu beobachten, daß sie ihren Blick länger auf ihm als auf dem öligen Mostyn ruhen ließ. Ölig, dachte Boysie – so ölig, daß man ihn anbohren und damit auf lange Sicht das Energieversorgungsproblem des Vereinigten Königreiches lösen könnte.

»Natürlich weißt du verdammt gut, was ich meine. Hältst du mich für blöd? Danke, du brauchst nicht zu antworten. Du hast es wieder mal geschafft, nicht wahr? Nehmen wir doch Oakes, den perfekten, idiotischen Kugelfang! Wer bist du bloß, Mostyn? Der Marquis de Sade oder so was?«

»Oder so was«, bestätigte Mostyn. »Ich bin ganz versehentlich über Griffin gestolpert. Ein Zufall. Er hatte eine dunkle Dame dabei, die offensichtlich an Drüsenüberfunktion leidet.«

»Freud hat festgestellt, daß es so was wie Zufall nicht gibt«, dozierte Boysie. Er hatte diese Weisheit einst in einer Fernseh-Talkshow mitgekriegt und brachte sie seither an den Mann, wo es nur ging.

Mostyn gewährte ihm einen geringschätzigen Blick. Die Stewardess brachte die Drinks. Als sie Mostyn das Glas hinüberreichte, streifte ihre rechte Brust sanft Boysies linke Wange. Unwillkürlich hob er eine Hand. Ihm war, als sei in der klimatisierten Flugzeugkabine der Frühling ausgebrochen.

»Hände weg, Boysie«, murmelte Mostyn, »sie arbeitet für uns!«

Lange Pause. Dann sagte Boysie sachlich, als stanze er jedes Wort mit den Zähnen: »Was für ein Zufall! Ich arbeite auch für euch. Du hast es wieder mal geschafft!«

Mostyn produzierte ein öliges Lächeln. »Je mehr wir sind, desto besser. Desto sicherer sind wir. Unsere Kollegin stößt in Paris zu uns. Und ich wünsche, mein lieber alter Oakes, daß wir diesmal unter ›Kollegin‹ dasselbe verstehen …«

 

Die zehn Minuten des Anflugs und der Landung auf dem Flughafen Charles de Gaulle im Norden von Paris verbrachte Boysie mit Selbstbetrachtungen. Was er sah, war ein großer, hart aussehender Mann, dessen gute Erscheinung langsam welkte. Was er hinter diesem stabilen Äußeren erblickte, war eine einzige Masse gelierter Feigheit. Er fühlte sich krank.

Als die Maschine ausgerollt war, küßte Boysie in Gedanken Mutter Erde und fragte Mostyn: »Jetzt, da wir wieder auf dem Boden sind, könntest du mir endlich sagen, was uns wirklich erwartet?«

»Die Konferenz«, gab Mostyn kurz und bündig zurück.

Die gewisse Stewardess stand an der Flugzeugtür: hochgewachsen, dunkelhaarig, rehäugig und mit einem Gesichtsausdruck, der Verletzbarkeit, Hilflosigkeit und sexuelles Interesse in schöner Ausgewogenheit verriet. Boysie kannte sich aus mit Mädchen dieser Art. Sie waren meist durchaus imstande, sich zu wehren, sich selbst zu helfen und Nein-vielen-Dank zu sagen. Letzteres pflegten sie, wenn nötig, mit einem Tritt in empfindsame Körpergegenden zu bekräftigen.

»Auf Wiedersehen«, sagte die Stewardess.

»Auf Wiedersehen in der Tat«, gab Boysie grinsend zurück.

Der Fahrer des Wagens, der sie erwartete, sah Sean Connery nicht unähnlich. Der Wagen selbst schien ein frisierter Mercedes zu sein, und drinnen saß ein weiterer Mann, den Boysie sofort als Schwergewichtler einstufte. Mostyn stellte die beiden mit einer flatternden Handbewegung einander vor.

»Boysie Oakes – von uns. Gerard Couperose – von der Sûreté.«

Sie musterten sich wie zwei Ringer vor einem Schulterversuch.

»Spionageabwehr?« erkundigte sich Boysie.

Couperose nickte knapp, aber freundlich und streckte eine mächtige Pranke aus. »Sehr erfreut, Monsieur Oakes. Oberst Mostyn hat mir viel von Ihnen erzählt.«

Sie gaben sich die Hände. Für einen Augenblick schien es, als beginne der Ringkampf schon hier und jetzt.

»Gerard ist uns zugeteilt«, ging Mostyn dazwischen. »Verbindung zu den französischen Behörden und so weiter.«

»Und so weiter«, echote Boysie bedeutungsschwanger, ehe er in den Fond des Wagens kletterte und sich neben Mostyn in die Polster sinken ließ. »Warum bin ich nur wieder darauf reingefallen?«

»Worauf reingefallen?« fragte Mostyn lebhaft.

»Auf das, was ihr mit mir vorhabt. Auf die Schinderei und die verfluchte Gefahr, in die ihr mich bringt.«

»In die du dich bringst«, verbesserte Mostyn lächelnd.

Der Mercedes fuhr an. Couperose saß neben dem Fahrer und wandte sich zu Mostyn um. »Ist Mademoiselle Lyric nicht mitgekommen?«

»Sie kommt ins Baltimore.«

»Lyric?« schnaufte Boysie. »Was ist ’n das für ’n Name?«

»Der Name der jungen Dame, mit deren rechter Brust du dich oben im Flugzeug bereits näher bekannt gemacht hast«, erläuterte Mostyn.

»Ach die! Eine von uns, nicht wahr? Tarnung, Tarnung über alles. Ich dachte, diese Art von Schmierentheater sei schon vor Jahren aus der Mode gekommen!«

»Ja und nein«, antwortete Mostyn. »Ja: eine von uns. Und nein: nichts ist aus der Mode gekommen.«

»Sind Sie verärgert, Monsieur Oakes?« erkundigte sich Couperose mit einem Blick, der an einen stark belasteten Stahlträger denken ließ.

»Ich bin verärgert, Monsieur Couperose«, bestätigte Boysie traurig. »Verdammt verärgert sogar. Was soll die Lyric?«

»Lyric Lavenham!« Mostyn ließ den Namen gewissermaßen auf der Zunge zergehen.

»Riecht nach süßlicher Seife«, bemerkte Boysie angewidert.

Der Franzose hob die Augen zum Wagenhimmel und sagte gelassen: »Fou!«

Der Verkehr auf der Autobahn war dicht. Sie fuhren mit ungefähr siebzig auf der Mittelspur.

»Du beginnst, langweilig zu werden, Boysie«, sagte Mostyn.

»Und wie steht es mit Monsieur Griffin?« schaltete sich Couperose wieder ein.

»Ich hab’s gewußt«, murmelte Boysie. »Ich hab’ es ja gewußt! Mostyn, du bist ein Bastard!«

»Schnauze!« zischte Mostyn.

Boysie imitierte seinen Chef: »Hab’ gestern zufällig einen Freund von dir getroffen. Bin ganz zufällig über ihn gestolpert. Ein Zufall. Hatte eine dunkle Dame dabei …«

»Ich mag Monsieur Griffin«, erklärte Couperose lächelnd. »Er ist sehr drollig.«

»Ungefähr so drollig wie ein Leichenwagen«, präzisierte Boysie.

»Wir werden verfolgt«, sagte Mostyn unvermittelt. »Von einem weißen Peugeot, zwei Wagenlängen zurück. Drei Männer. Sie sind seit dem Flughafen hinter uns. Sie hätten uns längst überholen können. Aber sie bleiben absichtlich zurück.«

»Mein Gott …« betete Boysie.

Couperose sprach auf den Fahrer ein. Dann wandte er sich um. »Ich habe Charlot gesagt, er soll es überprüfen.«

Boysies Vermutung bestätigte sich: Der Mercedes war frisiert. Charlot, der Fahrer, lehnte sich zurück und steuerte mit ausgestreckten Armen wie ein Rennfahrer, während der Wagen auf die linke Spur glitt und beschleunigte wie ein unterbesetztes Düsenflugzeug. Die Tachonadel kletterte auf zweihundert.

»Mein Gott …«, versuchte Boysie es noch einmal, als Charlot das bemannte Geschoß durch die Lücken im Verkehr fädelte.

»Anhänglich«, meldete Mostyn nach einem Blick zurück. »Sie sind weiter weg, aber sie holen auf.«

Couperose sprach französisch in ein Handmikrophon. Dann fragte er Mostyn über die Schulter: »Ist unser Mann dabei?«

»Was für ein Mann?« hakte Boysie ein, wohl wissend, daß ihm Angst aus allen Knopflöchern schimmerte.

»Weg sind sie. Abgehängt!« Mostyn nickte Couperose zufrieden zu. »Ihr Charlot kann den Bleifuß wieder anheben.«

»Was für ein Mann?« beharrte Boysie.

»Natürlich war er nicht in dem Peugeot«, sagte Mostyn zu dem Franzosen.

»War wohl nur eine Eskorte«, meinte dieser.

»Was für ein Mann?« bellte Boysie.

»Genau«, antwortete Mostyn, »sie wollten sicher sein, daß wir dorthin fahren, wo sie denken, daß wir hinfahren –«

»Was für ein Mann?« brüllte Boysie aus voller Lunge. »Noch nicht«, besänftigte ihn Mostyn endlich.

»Warum noch nicht?«

»Alles zu seiner Zeit!«

»Wann?«

»Wenn wir Lyric treffen.«

»Und Griffin?«