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Anastasia wird bald heiraten, was eigentlich eine aufregende Zeit für ein Mädchen sein sollte. Es gibt nur einen Haken: sie kennt ihren Bräutigam nicht. Königin Viktoria erwartet von ihr, dass Anastasia den König von Mauronien heiraten, um das kleine Land vor einer Invasion Frankreichs zu schützen. Ihr Bräutigam ist für seine Vorliebe alles Französischen und seine affaires du coeur bekannt. Kurz davor, mit einem Verehrer zu entfliehen, entscheidet sich Anastasia doch, die arrangierte Heirat einzugehen und ihre Pflicht zu tun. Schon kurz nach der Ankunft in ihrem neuen Land wird deutlich, dass Anastasia das Herz ihres neuen Volkes gewonnen hat. Doch kann sie auch das Herz ihres Mannes gewinnen?
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Seitenzahl: 330
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2020
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
www.m-ybooks.co.uk
»Ich liebe dich, Anastasia!«
»Tut mir leid, Christopher.«
»Ich muß mit dir reden! Wo gibt es hier einen ruhigen Platz, an dem wir ungestört sind?«
»Nirgendwo auf Windsor Castle, das solltest du wissen!«
»Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen! Hörst du - etwas sehr Wichtiges!«
»Dann wirst du damit warten müssen!«
Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Anastasia sah ihren Tanzpartner mißtrauisch an. Der Gesichtsausdruck des Vicomte Lyncombe verriet äußersten Unwillen, während er die Prinzessin im Roten Salon von Windsor Castle nach den Klängen eines Wiener Walzers im Kreise drehte.
Das Licht Hunderter von Kerzen erhellte den Saal, in dessen Mitte sich zahlreiche Paare dem rhythmischen Zauber dieses neuen Tanzes hingaben. Die Orden und Auszeichnungen auf den Jacketts der Gentlemen blinken.
Die Ladys in ihren weiten Reifröcken sahen aus wie liebliche Schwäne und bewegten sich mit unbeschreiblicher Anmut und Grazie.
Dennoch war auf dem Antlitz der Königin eine Unmutsfalte zu sehen, als sie ihre Gäste beim Tanz einer feurigen Mazurka beobachtete.
»Ich muß mit dir reden, Anastasia!« wiederholte der Vicomte hartnäckig. »Was ich dir zu sagen habe, betrifft dich persönlich, und du mußt mich einfach anhören!«
»Falls du vorhast, mir wieder einen Heiratsantrag zu machen, kannst du dir das sparen«, erwiderte Prinzessin Anastasia. »Du verschwendest nur deine und meine Zeit damit, denn du weißt sehr genau, daß wir beide unmöglich heiraten können!«
»Wieso nicht?« fragte der Vicomte unwirsch. »Warum sollte das unmöglich sein?«
»Weil ich aus königlichem Geblüt bin - so wenig ich mir etwas darauf zugutehalte.«
»Was spielt das schon für eine Rolle?« wandte er ein. »Schließlich ist der Titel meines Vaters einer der ältesten in ganz Großbritannien. Wir waren Earls zur Zeit von Agincourt, während dein Land...«
Er brach ab, als sei ihm bewußt geworden, daß er dabei war, etwas Ungehöriges zu sagen.
»All right, sag es ruhig!«
»...während dein Land von den Preußen geschluckt wurde und seine Selbständigkeit verlor.«
»Na schön, Papa mag ein von Hohlenstein gewesen sein«, sagte die Prinzessin, »aber du weißt so gut wie ich, Ihre Majestät würde es niemals zulassen, daß jemand von uns einen Mann heiratet, in dessen Adern kein königliches Blut fließt.«
»Wir könnten durchbrennen«, schlug der Vicomte vor.
Er meinte es ernst, und Prinzessin Anastasia schaute ihn überrascht an.
Sie hatte Christopher Lyncombe schon gekannt, als sie noch ein Kind gewesen war, denn die Komtess von Coombe und ihre Mutter waren Freundinnen gewesen.
Er war sechs Jahre älter als sie, und wenn Anastasia mit ihrer Mutter, der Prinzessin Beatrice, Großherzogin von Hohlenstein, bei dem Earl und der Komtess von Coombe auf deren Landsitz weilte, hatte Christopher sich ihr gegenüber stets sehr gemein und häßlich benommen. Oft genug hatte er sie gequält und tyrannisiert, bis ihr die Tränen gekommen waren.
Sie war noch so klein gewesen, daß sie kaum laufen konnte, da hatte er sie schon geschlagen und an den Haaren gerissen. Und auch später hatte er sie stets seine Stärke und Überlegenheit spüren lassen.
Erst jetzt, nachdem Anastasia fast achtzehn war, hatte der Vicomte, der in London ein ziemlich lockeres und ausschweifendes Leben führte, sich in sie verliebt.
Er selbst wunderte sich am meisten über die heftige Leidenschaft, die Anastasia neuerdings in ihm geweckt hatte. Und für Anastasia waren die neuen, gewandelten Gefühle Christopher Lyncombes etwas, an das sie in ihren kühnsten Träumen nicht gedacht hätte.
»Ist das dein Ernst?« fragte sie nun.
Bei diesen Worten blickte sie verstohlen in die Runde, um sich zu vergewissern, daß auch niemand ihre Unterhaltung mitbekommen hatte.
Zum Glück war die Weihnachtsparty auf Windsor Castle immer sehr aufwendig, und es befanden sich viele Paare auf der Tanzfläche. Jedermann gab sich voll und ganz dem Vergnügen hin, und kein Mensch interessierte sich für das, was Prinzessin Anastasia und Vicomte Lyncombe miteinander zu besprechen hatten.
»Natürlich ist das mein Ernst«, entgegnete der Vicomte ärgerlich. »Ich liebe dich, Anastasia. Ich kann ohne dich nicht mehr leben.«
»Schwer zu glauben, daß du mich tatsächlich lieben solltest«, antwortete Anastasia skeptisch. »Ich habe noch nicht vergessen, wie unfreundlich du vor zwei Jahren zu mir gewesen bist, als ich von Mücken gestochen wurde und du mich ständig Eure Königliche Stechmücke genannt hast.«
»Da hast du auch noch nicht so ausgesehen wie jetzt!« verteidigte sich Christopher und verschlang ihr kleines herzförmiges Gesicht regelrecht mit seinen Blicken.
Dann fügte er beinahe zornig hinzu: »Du bist schön, und du weißt das natürlich selbst. Du bist so schön, daß ich dich keinem anderen Mann gönne. Ich würde sterben, wenn ich dich verlieren müßte, Anastasia!«
»Warum sprichst du so?« wollte Anastasia wissen. »Warum jetzt, in diesem Augenblick?«
Der Vicomte schwieg eine Weile nachdenklich. Es war, als überlege er jedes einzelne seiner Worte, dann sagte er: »Mein Vater war heute morgen in einer Sitzung des Geheimen Staatsrates. Sie haben über deine Zukunft entschieden.«
»Haben über meine Zukunft entschieden?« fragte Anastasia verblüfft. »Was soll das heißen?«
»Das ist doch der Grund, weshalb ich dich bitte, mit mir zu fliehen. Wir werden uns irgendwo verstecken. An einem Ort in der Welt; den du magst und wo niemand uns hindert, einander zu heiraten und als Mann und Frau zusammenzuleben.«
»Wo sollte das sein?« erkundigte sich Anastasia neugierig.
»Wo du willst«, erwiderte der Vicomte. »Ich habe Geld genug, und wir könnten so glücklich sein, daß nichts sonst eine Rolle spielt.«
»Die Königin würde es nicht dulden. Sie würde uns ganz bestimmt einen Strich durch die Rechnung machen, da bin ich ganz sicher. Außerdem weiß ich nicht, ob mir das gefallen würde, irgendwo an einem wildfremden Ort zu leben, fern von allen Freunden und Bekannten.«
»Aber das ist genau das, was dir bevorsteht!« sagte der Vicomte. »Genau zu einem solchen Leben haben sie dich verdammt.«
Anastasia blickte zu ihm auf, die blauen Augen geweitet vor fassungslosem Entsetzen.
»Wozu- haben sie mich verdammt?« fragte sie kaum hörbar.
»Sie wollen, daß du Maximilian von Mauronien heiratest.«
»Den König?«
»Ja, den König. Du wirst eine Königin sein, vermählt mit einem Mann, der - nach allem, was ich gehört habe - gewiß nicht der richtige Gemahl für dich ist.«
»Und woher weißt du - das?« fragte Anastasia.
»Mein Vater erzählte, es sei der ausdrückliche Wunsch der Queen. Der britische Botschafter wurde bereits von Mauronien nach London beordert, um nähere Instruktionen zu empfangen. Die Vorschläge zu einer solchen Verbindung sind dem König bereits vor einiger Zeit unterbreitet worden.«
»Vielleicht ist er mit einer Heirat gar nicht einverstanden«, sagte Anastasia mehr zu sich selbst.
»Ihm wird - genau wie dir - überhaupt nichts anderes übrig bleiben«, entgegnete der Vicomte. »Mauronien ist ein kleines Land, das es sich nicht leisten kann, Großbritannien eine Absage zu erteilen. Und obwohl der König persönlich nichts gegen einen Anschluß an Frankreich einzuwenden hätte, wären seine Untertanen unter gar keinen Umständen damit einverstanden.«
»Und warum hätte der König nichts dagegen einzuwenden?« fragte Anastasia neugierig.
»Weil Seine Majestät ganz vernarrt ist in alles Französische. Vor allem in die französischen Frauen. Wenn er einmal nicht in Paris weilt, um sich mit den Schönen des Second Empire zu vergnügen, widmet er seine Zeit der Frau des französischen Botschafters, mit der er eine skandalöse Liaison unterhält.«
Der Vicomte hatte seinen Worten einen verächtlichen Klang gegeben, doch dann fügte er etwas verlegen hinzu: »Ich hätte dir das eigentlich nicht sagen sollen. Du mußt das verstehen, ich wollte dir doch nur die Augen öffnen. Wie anders könntest du begreifen, daß es einfach unmöglich für dich ist, diesen Mann zu heiraten.«
»Bist du ihm schon einmal begegnet?«
Der Vicomte antwortete nicht sofort. Er hatte die Königin bemerkt, die in diesem Augenblick mit einem der Vettern des Prinzgemahls an ihnen vorüber tanzte.
Als das Paar außer Hörweite war, sagte der Vicomte: »Ja, schon zweimal. Kein übler Bursche eigentlich. Jemand, mit dem man Pferde stehlen kann. Aber in keinem Fall der geeignete Ehepartner für dich, Anastasia.«
»Und ich habe wohl in dieser Angelegenheit kein Wort mitzureden?« fragte Anastasia leise.
»Du weißt, daß man auf dich dabei keinerlei Rücksicht nehmen wird«, erwiderte der Vicomte. »Man wird dir lediglich mitteilen, daß du dafür vorgesehen bist, diesen Mann zu heiraten. Glaub mir, du wirst nicht einmal die Zeit haben, dich mit dieser Tatsache abzufinden. Das Ganze ist nämlich von äußerster Dringlichkeit, wie ich hörte.«
»Aber warum? Warum diese überstürzte Hast? Was ist der Grund dafür?«
»Der Grund dafür ist der Kaiser«, antwortete der Vicomte. »Im Foreign Office kursiert das Gerücht, Louis Bonaparte plane nach dem Waffenstillstand mit Österreich weitere Eroberungen. Und als erstes beabsichtige er die Annexion Nizzas und Savoyens.«
»Aber kann er das denn überhaupt wagen?«
»Warum sollte er das nicht wagen können? Für einen Mann, der ernsthaft an die Eroberung Englands denkt, ist die Besetzung eines kleines Fürstentums auf dem Festland nur ein Kinderspiel.«
»Ich habe nie geglaubt, daß eine derartige Gefahr jemals wirklich bestehen könnte«, rief Anastasia, war sich jedoch gleichzeitig darüber im Klaren, daß sie von der Richtigkeit ihrer Worte nicht überzeugt war.
Seit zwei Jahren schon herrschte in England eine regelrechte Panikstimmung, und die Regierung genehmigte die Bildung eines Freiwilligen Corps als Ergänzung der regulären Streitkräfte.
Der Zulauf, den diese Freiwilligentruppe fand, war überwältigend. Innerhalb weniger Wochen meldeten sich 130.000 Männer und erklärten sich bereit, in jedem Jahr vierundzwanzig Tage für eine militärische Ausbildung zu opfern, die sie unter den bewundernden Blicken ihrer Ehefrauen und Bräute absolvierten.
Über Dorfanger und Parkanlagen hallten Trompetensignale und Exerzierkommandos. England mobilisierte seine letzten Kampfreserven und widmete sich mit Begeisterung den Vorbereitungen auf einen Krieg mit Frankreich.
Die Wogen des Patriotismus schlugen hoch. Und nicht nur in London sprachen die Menschen von nichts anderem mehr als von der Verteidigung des Vaterlandes. Die Franzosen sollten nur kommen! England war gerüstet. Die Eroberer würden sich blutige Köpfe holen. Sogar in der Zivilbevölkerung kannten Opfermut und Einsatzbereitschaft keine Grenzen.
Nach einer großen Parade bewirtete Lord Derby zehntausend Lancashire-Freiwillige, und es wurde berichtet, daß dabei elftausenddreihundertvierzig Fleischpasteten und neunundfünfzig Dreihundertliterfässer Bier dran glauben mußten.
Anastasia wußte, daß die meisten Politiker und Offiziere aus dem Bekanntenkreis ihrer Mutter ernsthaft mit Krieg rechneten.
Sir Charles Napier, der im Krimkrieg die baltische Flotte kommandierte, hatte in ihrem Beisein erklärt: »Frankreich ist eine ungeheure Gefahr für uns. Selbst unter dem ersten Napoleon mit seiner riesigen Kriegsflotte und seiner Millionen Mann starken, bestens gerüsteten Armee war die Gefahr nicht größer als heute. «
Nach ihrer Rückkehr von der Flottenparade in Cherbourg im August des Jahres 1858 hatten die Königin und der Prinzgemahl der Großherzogin anvertraut, wie sehr der gewaltige Ausbau der französischen Kriegsmarine sie beunruhige.
Und als der erste Panzerkreuzer, La Gloire, im vergangenen Jahr in Frankreich vom Stapel lief, hatte die Königin voller Entsetzen ausgerufen: »Es muß etwas geschehen, und wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«
»Die diplomatischen Berichte lassen keinen Zweifel daran, daß Kaiser Louis Napoleon sich mit Eroberungsplänen trägt«, hatte Lord Palmerston der Großherzogin erst in der vergangenen Woche bei einem Dinner auf Windsor Castle gesagt.
Anastasia fragte sich nun, ob der Lord dabei einen ganz bestimmten Hintergedanken gehabt hatte, als er zu ihrer Mutter von seinen Befürchtungen und Ängsten gegenüber Frankreich sprach.
Es bedurfte also der Worte des Vicomte nicht, um Anastasia klarzumachen, daß die Entscheidung des Geheimen Staatsrates einzig und allein aus politischen Überlegungen heraus gefallen war: Durch eine Heirat König Maximilians mit einer nahen Verwandten der englischen Queen sollte Mauronien enger an Großbritannien gebunden und eine Annektion durch Frankreich verhindert werden.
Mauronien war ein kleines Königreich am Golf von Lyon, das im Norden und Osten an Frankreich, im Westen an Spanien angrenzte. Eine sehr lange Zeit vermochte es seine Unabhängigkeit zu bewahren, geriet neuerdings jedoch wie Nizza und Savoyen immer stärker in das Spannungsfeld der großen Politik.
»Du verstehst, weshalb wir schleunigst handeln müssen«, sagte Vicomte Lyncombe und schreckte sie aus ihren Gedanken auf. »Du mußt einfach mit mir kommen, Anastasia. Wenn du einverstanden bist, werde ich alles Nötige unverzüglich arrangieren. Wann wirst du wieder nach Hause fahren?«
»Mama und ich verlassen das Schloß morgen Vormittag.«
»Sehr gut. Ich werde dich am Donnerstag abholen.«
»Nein, Christopher, das wirst du nicht«, rief Anastasia bestimmt. »So etwas läßt sich nicht übers Knie brechen. Die Angelegenheit ist viel zu wichtig, als daß ich sie während eines Walzers entscheiden könnte. Außerdem... woher kann ich wissen, daß du die Wahrheit sagst?«
»Das wirst du sehr bald erfahren«, erwiderte der Vicomte finster. »Du weißt so gut wie ich, daß mein Vater kein Schwätzer ist. Auf Vermutungen und vage Gerüchte hat er sich noch niemals eingelassen.«
Er hat recht, dachte Anastasia. Als Königlicher Kammerherr und einer der engsten Berater der Queen, kannte der Earl von Coombe sämtliche Staatsgeheimnisse und hatte den Ruf äußerster Korrektheit und Verschwiegenheit.
Wenn er gesagt hatte, der Geheime Staatsrat habe beschlossen, sie als Braut König Maximilians nach Mauronien zu entsenden, dann konnte Anastasia sicher sein, daß dies auch geschehen würde.
Trotzdem konnte sie sich nur widerwillig mit dieser Tatsache abfinden. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß man mit einer solchen Leichtigkeit über ihr Leben und ihre Zukunft entschieden hatte.
Obwohl in den Augen vieler Geladener das Weihnachtsfest auf Windsor Castle eine sehr ermüdende und langweilige Angelegenheit war, hatte Anastasia diese Tage stets begeistert genossen.
Im Vergleich zu dem eintönigen und zurückgezogenen Leben, das Anastasia mit ihrer Mutter auf dem von der Queen gestifteten Adelswohnsitz Hampton Court Palace führte, erschienen ihr die Gesellschaften auf Windsor Castle vergnüglich und abwechslungsreich.
Die Kronleuchter im Privatsalon der Queen waren abgenommen worden und durch große, mit Kerzen und Süßigkeiten geschmückte Weihnachtsbäume ersetzt worden.
Die Tische bogen sich gleichsam unter den vielen Speisen, und auf der Anrichte standen große Platten mit Rindskeulen und Filetstücken.
Auch im Eichenzimmer stand ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum. Darunter lagen die Geschenke für jedes Mitglied des Königlichen Haushalts, und an jedem Päckchen steckte eine Karte, die Ihre Majestät persönlich geschrieben hatte.
In diesem Jahr war der See zugefroren, und die Festgesellschaft hatte sich jeden Tag auf dem Eis vergnügt.
Am Abend gab es die verschiedensten Darbietungen: ein Theaterstück, das die Kinder der Königin aufführten, ein Kammerkonzert oder eine kleine Oper in der Waterloo Gallery. Obwohl die Akustik in diesem Saal nicht besonders gut war, fand Anastasia, die selten einmal ein Theater oder Konzert besuchte, die Aufführungen ganz hinreißend.
Die Schauspieler und Musiker wurden mit einem Sonderzug nach Windsor gebracht, und nach der Vorstellung bedauerlicherweise sofort wieder nach London zurückgefahren, so daß Anastasia nie die Gelegenheit fand, mit ihnen zu sprechen oder ein wenig aus ihrem Leben zu erfahren.
Schon oft war ihr der Gedanke gekommen, daß alle anderen Leute ein interessanteres oder zumindest weniger eintöniges Leben führten als sie selbst.
Es bereitete ihr eine außergewöhnliche Freude, neue Menschen kennenzulernen und sich mit ihnen zu unterhalten. Sie lachte gern, und besonders unvergesslich waren ihr jene Abende, an denen der Prinzgemahl die Gäste auf Windsor Castle mit seinen Rätseln und lustigen Geschichten unterhielt.
Aber auch die ernsthaften Unterhaltungen über Politik, Wissenschaft und Kunst fand sie höchst lehrreich und aufregend.
Da die übrige Zeit des Jahres in einer fast quälenden Monotonie und Gleichförmigkeit verlief, fand sie alles auf Windsor Castle vergnüglich und unterhaltsam. Sogar die Spiele mit den jüngeren Kindern erfreuten sie, und oft tollte sie mit ihnen so ausgelassen durchs Schloß, daß die Queen sich veranlasst sah, dem lärmenden Treiben Einhalt zu gebieten.
Was Anastasia jedoch über alles liebte, waren die schottischen Tänze, die mit sehr viel Feuer und zugleich auch voller Anmut getanzt wurden.
Auch an diesem Abend hatte Anastasia die Gigue, wie dieser Tanz genannt wurde, kein einziges Mal ausgelassen, obwohl sie wußte, daß ihr dies ganz bestimmt den Tadel ihrer Mutter einbringen würde.
»Du solltest dich ein wenig umsichtiger benehmen, mein Kind«, würde Prinzessin Beatrice zu ihrer Tochter sagen, sobald sie mit ihr allein war.
Aber Anastasia war der Auffassung, sie würde im Alter noch Zeit genug haben, sich umsichtig zu benehmen. Jetzt war sie jung und wollte sich vergnügen, wenn sich schon einmal eine der seltenen Gelegenheiten dazu bot.
»Well, hast du es dir überlegt?« fragte Vicomte Lyncombe und schreckte sie aus ihren Gedanken.
»Du weißt sehr gut, daß ich dazu Zeit brauche!« antwortete Anastasia. »Ich werde auf keinen Fall Hals über Kopf mit dir davonlaufen. Diese Angelegenheit ist für mich von solcher Wichtigkeit, daß ich meine Entscheidung darüber nur nach reiflicher Überlegung treffen werde.«
»Wenn ich nur einen Funken Vernunft besäße, würde ich dich zwingen, auf der Stelle mit mir zu kommen«, sagte der Vicomte. »Wie hieß noch dieser Bursche in der Ballade, der sich ein Mädchen packte, sie quer über seinen Sattel legte und mit ihr davon galoppierte?«
»Du meinst Jung-Lochinvar«, erwiderte Anastasia.
»Ja, er mochte zwar einen äußerst blödsinnigen Namen haben, aber seine Idee war goldrichtig.«
»Aber ich denke nicht daran, mich von dir quer über den Sattel legen zu lassen«, erklärte Anastasia entschieden. »Erstens dürfte das ziemlich unbequem für mich werden, und zweitens würde ich mir ohne Kleider und ohne all die Dinge, die ich zur Pflege meiner Schönheit benötige, sehr verloren vorkommen.«
»Ach was! Warum redest du einen solchen Unsinn, Anastasia! Du bist auch schön ohne all diese Dinge!«
Die Stimme des Vicomte klang plötzlich dunkel, und ein Blick in seine Augen machte Anastasia leicht verlegen.
Gleichzeitig jedoch verspürte sie einen gewissen Triumph darüber, daß es ihr gelungen war, gerade in dem Mann Gefühle für sich zu wecken, der sie als Knabe mit seinen Hänseleien und Gemeinheiten oft bis zur Weißglut getrieben hatte.
»Um welche Zeit reist ihr morgen Vormittag ab?«
»In aller Frühe, nehme ich an«, erwiderte Anastasia. »Die Queen wird langsam genug von ihren Gästen haben.«
»Ich werde morgen Abend bei euch vorbeisehen. Einen Grund für meinen Besuch werde ich schon finden. Vielleicht bringe ich eine Nachricht von meiner Mutter, jedenfalls wird mir schon was einfallen.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte Anastasia. »Ich frage mich nur, ob bereits jemand mit Mama darüber gesprochen hat.«
Die Antwort auf diese Frage erhielt sie am nächsten Morgen, kurz nachdem die Königliche Kutsche, die sie nach Hampton Court Palace bringen sollte, das Schloßtor passiert hatte und den Hügel hinunter zum Fluß fuhr.
Die Großherzogin war in der Tat über die Pläne der Königin bis in alle Einzelheiten informiert.
»Ich habe mit dir zu reden«, sagte sie, nachdem sie sich vom Wagenfenster abgewandt und bequem in die Polster zurückgelehnt hatte.
»Worüber?« Anastasia schenkte ihrer Mutter einen Blick aus großen, unschuldsvollen Mädchenaugen.
»Über deine Vermählung!«
»Meine Vermählung, Mama?«
»Die Queen wollte es dir eigentlich persönlich sagen«, fuhr die Großherzogin fort. »Doch schließlich hielt sie es für angebrachter, wenn ich mit dir darüber sprechen und dir klarmachen würde, welche Auszeichnung und welches Glück dir zuteilwerden.«
Anastasia sagte nichts. Aus Erfahrung wußte sie, daß es ein Fehler war, ihre Mutter zu unterbrechen, wenn diese sich einmal zum Reden entschlossen hatte.
»Da du eine vorzügliche Schulbildung genossen hast und auch über die politischen Ereignisse in der Welt bestens unterrichtet bist«, fuhr die Großherzogin fort, »bedarf es keiner langen Erklärungen mehr darüber, wie angespannt die Lage in Europa ist. Unser Land rechnet jeden Tag mit einer französischen Invasion, und seit langem war die Gefahr eines Krieges nicht mehr so akut wie in diesem Augenblick.«
»Ich weiß, Mama«, sagte Anastasia und nickte.
»Wenn die drohende Kriegsgefahr überhaupt noch zu bannen ist, dann nur dadurch, daß das Gleichgewicht der Macht in Europa erhalten bleibt. Das heißt, wir müssen mit allen Mitteln zu verhindern suchen, daß Frankreich sein Territorium und seine Einflußsphäre auf dem Festland noch weiter ausbaut.«
»Natürlich, Mama.«
»Und aus diesem Grunde sollte zum Beispiel alles geschehen, Mauronien in seiner Unabhängigkeit von Frankreich zu bestärken. Und eine Königin, deren Sympathie eindeutig auf der Seite Großbritanniens liegt, könnte dazu sehr entscheidend beitragen.«
Die Großherzogin hatte die letzten Worte mit großer Eindringlichkeit gesprochen, und nach einem kurzen Schweigen fragte Anastasia ruhig: »Was habe ich damit zu tun, Mama?«
»Du, Anastasia, bist von der Queen dazu ausersehen, die Braut König Maximilians von Mauronien zu werden.«
Bevor Anastasia noch etwas darauf erwidern konnte, sagte die Großherzogin hastig: »Ich weiß, daß dies ein Schock für dich ist, und ich weiß auch, Anastasia, daß der Gedanke, mich und England verlassen zu müssen, dich aufs Tiefste erschüttert. Doch andererseits geht auf diese Weise alles in Erfüllung, was ich mir jemals für dich ersehnt habe. Und ich bin sicher, dein lieber Papa, wäre er noch am Leben, würde hocherfreut sein bei der Vorstellung, daß seine Tochter im Begriff ist, einen Platz unter den gekrönten Häuptern Europas einzunehmen.«
»Warum ist die Wahl der Queen auf mich gefallen, Mama?«
Nach Anastasias Frage entstand eine längere Pause. Es war, als überlegte die Herzogin, ob sie dem Mädchen die Wahrheit sagen sollte oder nicht.
Dann erklärte sie mit einem überraschenden Lächeln: »Du bist die Schönste unter den Prinzessinnen, die für eine Heirat mit König Maximilian in Frage kommen.«
Anastasia lachte.
»Wenn ich an die anderen denke, Mama, dann muß ich gestehen, daß dies nicht allzu viel besagt.«
Die Großherzogin sah das belustigte Lächeln auf dem Gesicht ihrer Tochter und blickte ein wenig betreten zur Seite.
Schließlich meinte sie erlöst: »König Maximilian gilt als äußerst wählerisch und anspruchsvoll. Es wäre unmöglich, ihm jemanden zu schicken, der vor seinem kritischen Blick keine Gnade finden würde. Nur ein Mädchen, von dem er überzeugt ist, daß es dem Thron von Mauronien zur Zierde gereichen wird, kommt als Bewerberin in Frage. Darüber waren sich alle, die an der Entscheidung beteiligt waren, im Klaren.«
Während sie sprach, dachte sie an die Worte, die die Queen zu ihr gesagt hatte.
»Anastasia ist eigentlich viel zu jung und - nach allem, was wir gehört haben - auch viel zu unreif für eine solch wichtige Position. Aber es gibt niemanden sonst, der dafür in Frage käme. Der Prinzgemahl und ich sind die Liste der Kandidatinnen sehr sorgfältig durchgegangen, aber außer Anastasia konnten wir keine Prinzessin finden, die sowohl im heiratsfähigen Alter als auch attraktiv genug ist, um dem verwöhnten Geschmack König Maximilians gerecht zu werden.«
»Ich bin Ihnen, Ma'am, natürlich äußerst dankbar für Ihre Wahl«, hatte die Großherzogin sich devot verneigend geantwortet.
Innerlich konnte sie ein Gefühl des Triumphes darüber nicht unterdrücken, daß ausgerechnet Anastasia für die verantwortungsvolle Aufgabe ausersehen wurde.
Seit der Großherzog vier Jahre nach ihrer Eheschließung bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war, lebte Prinzessin Beatrice wieder in England.
Hohlenstein war auf friedlichem Wege und ohne Widerstand seiner Untertanen von Preußen annektiert worden, und es hatte nichts mehr gegeben, was die Prinzessin dort zurückhielt. So brach sie also ihre Zelte kurzentschlossen ab und kehrte mit ihrem zwei Jahre alten Baby in die Heimat zurück.
Sie verfügte nur über geringe Geldmittel, und als verwitwete Großherzogin ohne Herzogtum besaß sie keinen offiziellen Titel mehr. Was blieb, war die Achtung vor ihrer königlichen Herkunft und ihre Verwandtschaft mit der Queen.
Auf Hampton Court Palace erhielt sie eine kleine Suite, die ihr und Anastasia als Wohnung diente, und man ließ sie ständig spüren, daß sie nur eine arme Verwandte war, mit ihrer kleinen Tochter ganz und gar abhängig vom Wohlwollen und der Unterstützung der Queen.
Die Queen hatte die tausend Räume des herrlichen Tudor-Palastes als Apartments für adelige Witwen, Kinder bewährter, aber mittelloser Diener der Krone und alte oder kranke Mitglieder des Königlichen Haushalts herrichten lassen.
Erbaut von Kardinal Wolsey, war der Palast sehr bald in den Besitz von Heinrich VIII. übergegangen, der mit zweien seiner Frauen dort gelebt hatte.
Prinzessin Beatrice hatte ihren Gatten aufrichtig geliebt, und nachdem sie ihn lange und maßlos betrauert hatte, mußte sie erkennen, daß es für eine Änderung ihrer Lebenssituation bereits zu spät war.
Die meisten Bewohner des königlichen Stiftes waren sehr alt, und der Großherzogin wurde nach kurzer Zeit bewußt, welch ein zurückgezogenes und eintöniges Dasein sie und Anastasia zu führen gezwungen waren.
Gelegentlich erhielten sie eine Einladung der Königin zu einem mehrtägigen Aufenthalt auf Windsor Castle. Und ab und zu wurde die Großherzogin aufgefordert, an einem Staatsempfang im Buckingham Palace teilzunehmen. Doch was Anastasia betraf, so bildete der Unterricht bei ihrer Gouvernante und einigen Privatlehrern die einzige Abwechslung und Zerstreuung in der Monotonie ihres jungen Lebens.
Die Großherzogin besaß noch einige Freundinnen aus ihrer Mädchenzeit, die sie ab und zu einmal zu sich einluden. In den meisten Fällen scheiterten diese Einladungen jedoch an der Tatsache, daß eine Frau ohne Ehemann auf Hausgesellschaften meist nur störend wirkt.
Die Coombes waren die einzige Ausnahme, und wenn Prinzessin Beatrice von ihrer Jugendfreundin eingeladen wurde, durfte Anastasia stets mitkommen.
Die Großherzogin wäre keine Frau und Mutter gewesen, wenn sie nicht manchmal mit dem Gedanken an eine eheliche Verbindung zwischen Anastasia und dem hübschen und wohlhabenden einzigen Sohn des Earls und der Komtess von Coombe gespielt hätte.
Doch bei nüchterner Betrachtung der Dinge war ihr immer wieder klar geworden, daß es sich dabei nur um einen unerfüllbaren Traum handelte. Anastasia als königliche Prinzessin konnte nicht heiraten ohne die Zustimmung der Queen, und Ihre Majestät lehnte jede Vermählung zwischen einer Prinzessin und einem Mann aus nicht königlichem Geblüt kategorisch ab.
Doch nun hatte Anastasia Aussicht, Königin zu werden, und die Großherzogin fühlte, wie ihr das Herz überfloß vor Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal, das ihr und ihrer Tochter in dem Moment ein unerwartetes Geschenk machte, als sie es am wenigsten zu hoffen wagten.
»Ich frage mich, was geschehen würde, wenn ich mich weigerte, die Entscheidung der Queen zu akzeptieren«, sagte Anastasia mit klarer Stimme, als der Wagen an dem ausgedehnten Gebäudekomplex des Eton College entlangfuhr.
Durch das Kutschenfenster sah sie die wundervollen roten Backsteingebäude aus der Tudorzeit, in denen seit Jahrhunderten die Söhne des britischen Adels ihre Ausbildung erhielten.
»Weigern?« stieß ihre Mutter hervor. »Was kannst du damit meinen, Anastasia?«
»Glaubst du nicht auch, Mama, daß es ziemlich barbarisch ist, wenn eine Frau gezwungen werden kann, einen Mann zu heiraten, den sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hat? Und das in einem Land, das stolz darauf ist, demokratisch zu sein, und in dem Männer für die Freiheit kämpfen und sterben?«
»Wie kannst du nur etwas so Törichtes sagen?« rief die Großherzogin unwillig. »Du weißt so gut wie ich, daß königliche Hochzeiten immer vereinbart und arrangiert werden. Und etwas Ähnliches geschieht unter den Adligen aller zivilisierten Ländern der Erde.«
»So etwas ist in meinen Augen nicht besonders zivilisiert.«
Anastasia seufzte.
»Also wenn du mich fragst, Mama, diese Art des Heiratens ist für mich nur so etwas wie ein Tauschgeschäft. Ich komme mir dabei vor wie eine Ware, die über die Ladentheke geschoben wird.«
Sie lachte, dann fuhr sie fort: »Die Queen hat sicher zu König Maximilian gesagt: ‚Sie wollen von England Schutz und Hilfe! Well, in diesem Fall senden wir Ihnen eine unserer Spezialbräute - fein säuberlich in den Union Jack verpackt.‘ Meinst du nicht auch, daß es so war, Mama?«
»Anastasia, willst du, daß ich einen Herzanfall bekomme!« stieß die Großherzogin nach Atem ringend hervor. »Wenn dich die Queen so reden hörte - sie würde sehr zornig auf dich sein!«
»Wahrscheinlich würde ich das in ihrer Gegenwart auch nicht sagen, Mama«, erwiderte Anastasia. »Aber ich hoffe, vor der eigenen Mutter wird man wohl noch sagen können, was man denkt.«
»Schon, schon, Anastasia. Aber ich beschwöre dich, denke solche Dinge, nicht mehr!« Die Stimme der Großherzogin zitterte. »Vermagst du dir denn nicht vorzustellen, welch einmalige und wundervolle Gelegenheit sich dir hier bietet?«
Anastasia antwortete nicht, und die Großherzogin stieß einen tiefen Seufzer, aus.
»Ich weiß, Liebes, wie langweilig und öde die letzten Monate für dich gewesen sein müssen. Auch ich hatte gehofft, daß die Queen dir nach deinem Debüt im Frühjahr einmal eine Einladung zu einem Dinner oder einer Gesellschaft im Buckingham Palace geschickt hätte. Aber leider geschah nichts dergleichen.«
»Ich glaube nicht, daß Ihre Majestät mich besonders mag, Mama«, sagte Anastasia und lächelte wissend. »Nicht von ungefähr wird erzählt, daß sie kein weibliches Wesen, das auch nur einigermaßen hübsch ist, in ihrer Nähe duldet.«
»Anastasia!« rief die Großherzogin ein zweites Mal, und ihr Tonfall verriet höchstes Entsetzen.
»Aber was ist denn, Mama! Du weißt doch selbst, daß hübsche Kammerfrauen der Queen ein Greuel sind. Denk nur an den Skandal um die schöne Lady Hastings, als alle Welt glaubte, sie erwarte ein Kind, und in Wirklichkeit hatte die Ärmste Krebs im letzten Stadium!«
»Wie kannst du nur diesen bedauerlichen und unglücklichen Vorfall erwähnen«, rief die Großherzogin vorwurfsvoll. »Woher weißt du überhaupt davon? Wer hat dir diese Geschichte erzählt?«
»Du und die anderen Bewohner von Hampton Court Palace habt doch jahrelang über nichts anderes gesprochen, wie hätte ich da von der Sache nichts mitbekommen sollen!« entgegnete Anastasia ruhig. »Außerdem wohnt die Tante der armen Lady Hastings nur drei Türen neben uns.«
»Mir wäre lieber, du hättest von den Dingen, die vor deiner Geburt geschahen, keine Ahnung! War es notwendig, dir solche Skandalgeschichten zu erzählen?«
»Alte Leute haben ein Gedächtnis, das weit in die Vergangenheit zurückreicht«, sagte Anastasia. »Und am liebsten reden sie über Dinge, die sich ereigneten, als sie noch jung waren. Ich wollte dir ja auch nur sagen, daß die Queen mich nicht gerade in ihr Herz geschlossen hat, Mama.«
»Ob die Königin dich in ihr Herz geschlossen hat oder nicht, spielt keine Rolle, Anastasia«, fuhr die Großherzogin ihre Tochter an. »Auf jeden Fall hat sie in dieser Angelegenheit an dich gedacht. Darauf allein kommt es an. Und was noch mehr ist, Ihre Majestät hat uns tatsächlich ihre Hilfe bei der Aussteuer angeboten.«
Anastasia ließ einen leisen Ausruf der Überraschung hören.
»Das glaube ich nicht! O Mama, welche Vorstellung, ein einziges Mal im Leben ein paar wirklich hübsche und teure Kleider zu besitzen! Mir wird ja todübel, wenn ich an die Sachen denke, die wir uns selbst geschneidert haben. Und die arme alte Mrs. Hawkins hat ihre erfolgreiche Zeit als Näherin auch schon seit langem hinter sich. Mit ihren gichtgekrümmten Fingern kann sie kaum noch eine Nadel halten. Ich komme mir stets sehr unbarmherzig vor, wenn ich sie bitte, mit etwas zu nähen oder in Ordnung zu bringen. Es ist ganz offensichtlich eine Folter für sie, wenn sie Nadel und Faden in die Hand nehmen muß.«
»Leider sind wir nicht in der Lage, uns jemand anderen zu nehmen«, sagte die Großherzogin beinahe entschuldigend.
»Das weiß ich doch, Mama, und ich bin deswegen auch nicht unzufrieden«, erklärte Anastasia rasch. »Aber es würde himmlisch sein, nach London zu fahren und dort etwas wirklich Exquisites aussuchen zu können. Was hat die Queen gesagt? Wieviel will sie dazu tun?«
»Sie hat keinen Betrag genannt«, entgegnete die Großherzogin. »Sie sprach nur davon, daß sie dir ein halbes Dutzend Abendkleider, ein Dutzend toilettes für den Tag, zwölf Unterröcke und das Hochzeitsgewand schenken will.«
»Das ist ja direkt sensationell!« rief Anastasia aus. »Viel sensationeller und erregender als die Nachricht, man habe mich zur Braut eines Königs bestimmt, der eine Schwäche für französische Frauen hat und Engländerinnen höchstwahrscheinlich nicht ausstehen kann.«
»Anastasia!« rief die Großherzogin ein drittes Mal. Tadel und Entsetzen waren nun in ihrer Stimme nicht mehr zu überhören. »Wie kannst du so etwas behaupten! Wer hat dir nur solche Dinge über König Maximilian erzählt?«
»Ich bitte dich, Mama, was soll diese falsche Entrüstung!« sagte Anastasia. »Sei doch ehrlich zu mir. Auch dir dürfte bekannt sein, daß der König eine Vorliebe für alles Französische hat. Weshalb sonst sollte die Königin solche Anstrengungen machen, ihn an Großbritannien zu binden! Sie fürchtet eben, daß Mauronien ein Teil Frankreichs werden könnte, wenn nicht schleunigst etwas geschieht, was dies verhindert.«.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wo du diesen Unsinn nun wieder aufgeschnappt hast...« begann die Großherzogin. Doch dann begegneten ihre Augen denen ihrer Tochter. Sie verstummte und setzte nach einer kurzen Pause zögernd hinzu: »Ich habe gehört, daß der König sich des Öfteren in Paris aufhält.«
Anastasia lächelte verständnisvoll.
»Französinnen sind dunkel, Mama. Dunkel, attraktiv und sehr temperamentvoll. Glaubst du, der König, würde Gefallen an mir finden?«
Die Großherzogin blickte ihre Tochter staunend an und ertappte sich dabei, daß sie um eine Antwort verlegen war. Anastasias Bedenken waren gar nicht so abwegig.
Obwohl sie einen russischen Vornamen trug, weil der Zar einer ihrer Taufpaten gewesen war und ihr Vater aus Osteuropa stammte, konnte es niemanden geben, der englischer aussah als sie.
Sie hatte blaue Augen. Groß und ausdrucksvoll beherrschten sie das feine, herzförmige Gesicht. Ihre Wimpern waren sehr lang und dunkel, während ihr Haar die Farbe des Sonnenscheins im Frühling hatte. Und selbst an den trübsten Regentagen hatte man den Eindruck, eine Gloriole aus Licht umgebe sie.
Ihre Gestalt war zartgliedrig und sehr graziös. Ihrer Meinung nach ein Erbteil des Vaters, dessen Vorfahren mütterlicherseits aus Österreich stammten.
Aber Anastasias Mutter war Engländerin, und von ihr besaß sie die milchweiße Haut, die etwas von der Durchsichtigkeit und dem perlmutternen Glanz einer Perle hatte.
Ja, das Mädchen war die Verkörperung dessen, was in den Augen der meisten Menschen irrtümlicherweise als typisch englische Schönheit galt.
Aber im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, daß ein schönes Gesicht auf mangelnde Intelligenz schließen lasse, verfügte Anastasia über ungewöhnliche Geistesgaben.
Sie war hochintelligent, außergewöhnlich musisch begabt und sehr feinfühlend. Aber sie war auch, wie ihrer Mutter mit einem plötzlichen Gefühl der Beklemmung bewußt wurde, sehr verwundbar und verletzlich.
Zum ersten Mal stellte die Großherzogin sich die bange Frage, wie würde das junge Mädchen, das nichts von der Welt kannte, dem die Probleme und Schwierigkeiten der Diplomatie fremd waren, das den Gefahren, Intrigen und Kabalen der feinen Gesellschaft schutzlos gegenüberstand, wie würde dieses unschuldsvolle und hochgemute Geschöpf sich gegenüber einem Mann wie König Maximilian behaupten können?
Doch dann gebot sie sich Einhalt. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren und in Panik geraten. Außerdem war sie ja selbst der lebende Beweis dafür, wie gut eine solche Verbindung werden konnte.
Wie glücklich war sie in ihrer eigenen Ehe geworden, obwohl diese unter fast den gleichen Umständen zustande gekommen war, wie es bei ihrer Tochter der Fall sein würde.
Zugegeben, der Großherzog von Hohlenstein konnte, was seine Bedeutung und seine Macht betraf, schwerlich mit dem König von Mauronien verglichen werden. Aber auch sie hatte England verlassen, um einen Mann zu heiraten, den sie zuvor nur ein einziges Mal gesehen hatte. Und dennoch war sie schon bald nach der Hochzeit unsterblich in ihn verliebt gewesen.
Ihre Jugend allerdings unterschied sich von der Anastasias völlig.
Sie war in einer großen Familie aufgewachsen. Sie hatte Brüder gehabt und einen Vater, den sie sehr liebte und mit dem sie sehr viel zusammen gewesen war. Und vor allem hatte sie nicht so früh ihr Elternhaus verlassen müssen. Sie war zweiundzwanzig gewesen, als sie geheiratet hatte.
Die Großherzogin wählte ihre Worte sehr sorgfältig, als sie nun weitersprach: »Ich glaube, man muß da unterscheiden, Anastasia. Viele Männer bevorzugen für ihr Vergnügen einen ganz bestimmten Frauentyp. Aber als Gemahlin und Mutter ihrer Kinder wünschen sie jemanden, der sich sowohl dem Aussehen nach als auch vom Charakter her grundlegend von diesen Frauen unterscheidet.«
»Ein tröstlicher Gedanke, Mama«, antwortete Anastasia. »Doch Lady Walters meinte, daß Männer sich im allgemeinen immer wieder in den gleichen Frauentyp verlieben. So ähnlich wie der eine Labradorhunde mag und der andere für Dalmatiner schwärmt.«
»Lady Walters!« stieß die Großherzogin unwillig hervor. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst deine Zeit nicht damit verschwenden, dir die Klatschgeschichten dieser Frau anzuhören! Mir wird es immer unbegreifbar bleiben, wie sie es anstellte, einen Platz auf Hampton Court Palace zu erhalten. Für mich gibt es dafür nur die Erklärung, daß die Queen ihr nie begegnet ist.«
»Aber sie ist ihr begegnet, Mama. Mrs. Walters hat mir oft genug erzählt, wie abweisend die Queen sich ihr gegenüber verhalten hat. Ihre Majestät hat immer wieder versucht, sie von oben herab zu behandeln, mußte aber feststellen, wie schwierig das ist, da Mrs. Walters sie beinahe um Haupteslänge überragt.«
»Ich habe nicht die Absicht, mich mit dir über diese Frau zu unterhalten«, erklärte die Großherzogin ungnädig, »und ich möchte dich bitten, Anastasia, mit ihr nicht über die bevorstehende Heirat zu sprechen.«
Anastasia gab ihrer Mutter keine Antwort, denn sie hatte sich bereits vorgenommen, Lady Walters ausgiebig über König Maximilian von Mauronien zu befragen.
Als Witwe eines äußerst fähigen und erfolgreichen Diplomaten war Mrs. Walters gleichsam eine unerschöpfliche Fundgrube an Informationen über jedes Land der Erde und jede Persönlichkeit von einiger Bedeutung.
Sie war schon sehr alt, dennoch trug sie immer noch eine auffallend rote Perücke, schminkte sich stark und hatte einen Verbrauch an Duftwässern, daß die Großherzogin und die anderen Bewohnerinnen des Stiftes sich regelrecht belästigt fühlten.
Mrs. Walters brachte Abwechslung in das graue Einerlei des Lebens auf Hampton Court Palace. Sie sorgte dafür, daß der unter den Menschen so dringend benötigte Gesprächsstoff über die Schwächen und Fehler des lieben Nächsten niemals ausging.
Anastasia hatte die alte Dame sofort in ihr Herz geschlossen.
Sie fand Mrs. Walters wunderbar und hätte ihr stundenlang zuhören können, wenn sie von den Skandalen berichtete, die sich an den Höfen ereignet hatten, an denen ihr Mann als Botschafter tätig gewesen war.
Daß sie auf die Königin von England nicht gut zu sprechen war, konnte Anastasia durchaus verstehen. Denn als Mrs. Walters und ihr Mann schließlich nach London zurückgekehrt waren, hatte man sich bei Hof lustig über sie gemacht und sie gemieden, wo man nur konnte.
Während sich die Kutsche Hampton Court Palace näherte, dachte Anastasia voller Eifer an die vielen Themen, die sie mit Mrs. Walters zu besprechen haben würde.
Zwischendurch mußte sie immer wieder daran denken, mit welcher Schärfe der Vicomte ihre geplante Ehe mit König Maximilian abgelehnt hatte.
Christopher ist eifersüchtig, sagte sie sich. Gleichzeitig jedoch war sie sicher, daß er in seiner Ablehnung nicht so rigoros und unerbittlich gewesen war, nur weil er sie, Anastasia, liebte.
Eifersucht allein konnte nicht der ausschließliche Grund für Christophers negative Einstellung gegenüber dem Herrscher von Mauronien sein.
Kein Zweifel: Christopher verabscheute den König aus ganzer Seele. Aber es mußte da noch etwas anderes geben, das eine maßgebliche Rolle spielte.
Anastasia fragte sich, welcher Vergehen Seine Majestät sich wohl schuldig gemacht hatte und ob die Befürchtungen der Queen sich einzig und allein auf die geographische Lage seines Landes bezogen.
Während draußen die Landschaft vorüberzog und Anastasia scheinbar interessiert aus dem Fenster blickte, dachte sie an das, was sie über Paris und über die Vergnügungssucht und Zügellosigkeit des Second Empire gehört hatte.
Sie erinnerte sich daran, daß Kaiser Napoleon III. und Kaiserin Eugenie England vor zwei Jahren einen Besuch abgestattet und mit der Queen in Osborne weilten.
Die Großherzogin war zu dieser Begegnung eingeladen worden. Anastasia selbst war damals noch zu jung gewesen, um ihre Mutter begleiten zu dürfen. Sie hatte sich jedoch schrecklich für diesen Besuch interessiert und ihre Mutter fast zum Wahnsinn getrieben, bis sie auch die letzten Einzelheiten dieses Ereignisses erfahren hatte.
Die Garderobe der Kaiserin mußte phantastisch gewesen sein, und Anastasia hatte sämtliche illustrierten Blätter nach Skizzen und Abbildungen davon durchstöbert.
Im folgenden Jahr war dann die Queen zu einem Gegenbesuch nach Cherbourg gereist. Doch die Großherzogin war nicht bei denjenigen gewesen, die die Monarchin über den Kanal nach Frankreich begleiteten.
Zum Glück hatte es Mrs. Walters gegeben. Sie erfuhr sämtliche Details dieser Reise und des Empfangs in Cherbourg von ihren Freunden.
Von ihr wußte Anastasia auch, daß es zwischen der Queen und Madame Walenska, der Frau des französischen Außenministers kein Lächeln, nicht einmal den vom Zeremoniell vorgeschriebenen Begrüßungskuß gegeben hatte.
»Und warum nicht?« hatte Anastasia Mrs. Walters gefragt.
»Ihre Liaison mit dem Kaiser war in der Öffentlichkeit zu sehr bekannt geworden, als daß man sie hätte übersehen können«, hatte Mrs. Walters erwidert.
»Sie meinen, daß der Kaiser...«
»Mein Liebes, er ist Franzose«, erklärte Mrs. Walters mit einem verständnisvollen Lächeln. »In Paris gibt es nicht eine einzige schöne Frau, für die der Kaiser sich nicht interessieren würde. Und welche Frau fühlte sich nicht geschmeichelt, wenn ein Mann von seinem Rang sich um sie bemüht.«
Anastasia hatte viel über Lady Walters Worte nachgedacht. Und sie hatte gewußt, daß ihr hier eine völlig andere und fremde Welt begegnete. Eine Welt, in der Menschen lebten, deren Verhalten ihr Angst und Abscheu einflößte. Nie hätte sie es in ihrem wohlbehüteten, ruhigen und weltabgeschiedenen Dasein für möglich gehalten, daß jemand so unmoralisch und gewissenlos sein könnte.