Ein Leben für die Freiheit - Michael Koch - E-Book

Ein Leben für die Freiheit E-Book

Michael Koch

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Beschreibung

"Ich habe keine Gegenwart. Ich habe nur eine Vergangenheit. Und vielleicht, eine Zukunft. Die Gegenwart hat man mir genommen. (Leonard Peltier) Seit vier Jahrzehnten spaltet der Fall des indianischen politischen Gefangenen Leonard Peltier die amerikanische Gesellschaft in Befürworter und Gegner seiner Freiheit. Weltweit bewegen Leben, Leistungen und Leiden des mittlerweile 71jährigen Peltiers Millionen von Menschen. Und niemals zuvor haben sich so viele Prominente aus Politik, Wissenschaft, Musik-, Mode-, Film- und Literaturbereich, Glaubensgemeinschaften und Nobelpreisträgern für die Freiheit eines politischen Gefangenen eingesetzt. Das vorliegende Buch bindet Leben, Fall und Haft des indianischen Aktivisten Leonard Peltier ein in die Völkermordgeschichte an den Indianern Nordamerikas, in die Situation in und um die Pine Ridge Reservation Anfang der 70er Jahre sowie in die Geschichte des aufkommenden indianischen Protests und Widerstands und in die aktuelle Lage der indianischen Bevölkerung in den USA.

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Ein Leben für die Freiheit

Leonard Peltier und der indianische Widerstand

Michael Koch und Michael Schiffmann

Impressum

Ein Leben für die Freiheit, Leonard Peltier und der indianische

Widerstand

TraumFänger Verlag Hohenthann, 2016

2. Auflage Oktober 2017

1. Auflage eBook Juli 2021

Herausgeber: Tokata - LPSG RheinMain e.V.

Autoren: Michael Koch/Michael Schiffmann

eBook ISBN 978-3-941485-95-2

Lektorat: Michael Krämer und Monika Seiller

Satz und Layout: Janis Sonnberger, merkMal Verlag

Textlayout: Kerstin Schmäling

Datenkonvertierung: Bookwire

Titelbild: Leonard Peltier

Copyright by TraumFänger Verlag GmbH & Co. Buchhandels KG,

Hohenthann/Tokata - LPSG RheinMain e.V.

Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Grußwort Leonard Peltiers an die deutschen Unterstützer und Leser dieses Buches (Leonard Peltier)

Grußwort der Nichte Leonard Peltiers zur zweiten Auflage des Buches

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung: Leonard Peltier, AIM und die Geschichte von Völkermord und indianischem Widerstand (Michael Koch)

1. „Indian Wars Aren‘t Over“ – die vielen Gesichter des Völkermords (Michael Koch)

2. Von Red Power zu AIM – eine kurze Chronologie indianischen Widerstands (Michael Koch)

3. Leonard Peltier – Kindheit, Jugend und Politisierung (Michael Koch)

4. Pine Ridge Reservation (Michael Koch)

5. AIMs längster Tag – der „Zwischenfall in Oglala“ am 26. Juni 1975 (Michael Schiffmann)

6. Leonard Peltier – Verfahren und Haftsituation Die Mühen der Ebene: Ein halbes Jahrhundert Kampf um Freiheit_(Michael Schiffmann)

Zur aktuellen Situation Leonard Peltiers seit 2009 (Michael Koch)

7. Reservationblues Vom Alltag des Lebens und Überlebens in Reservationen heute (Michael Koch)

8. Kein Schlusswort: Indian Wars Still Are Not Over – The Struggle Goes On (Michael Koch)

Anhang

Erklärung von Leonard Peltier vor dem Urteilserlass

Schreiben Leonard Peltiers an seine europäischen Unterstützer (Januar 1980)

Erklärung zum Todesfasten von Robert H. Wilson aka Standing Deer (Dezember 1983)

Erklärung zum Todesfasten von Leonard Peltier

Interview mit Delaney Bruce (LPDOC)

Ein guter Tag zum Reden Interview mit Dennis Banks

Mr. X: Statements von Dino Butler und Dennis Banks

Solidaritätsarbeit für Leonard Peltier

Zeittafel Leonard Peltier: Leben und Fall Leonard Peltiers in Daten

Brief von Leonard Peltier am 6. Februar 2016

Leonard Peltiers Statement anlässlich des Heidelberger Symposiums Oktober 2016

Statement von Leonard Peltier zum Oglala Commemoration Day 2017

Literaturverzeichnis

Dokument: Proklamation 26.6.2013 zum Leonard Peltier Tag

Dokument: Vergleichsübersicht zu den Verfahren „Butler/Robideu“ und „Peltier“

Danksagung

Kurze Erklärung des Verlages

Zu den Autoren

Übersetzungen

Bildseiten

Grußwort Leonard Peltiers an die deutschen Unterstützerund Leser dieses Buches(Leonard Peltier)

An all meine deutschsprachigen Brüder und Schwestern in Europa und anderswo:

Während ich hier in meiner Zelle sitze – „meinem Zuhause“, wie wir es in diesem unseligen amerikanischen Gulag nennen, in dem so viele meiner indigenen Schwestern und Brüder ein zerstörtes Leben fristen müssen –, wirbeln mir die neuesten Nachrichten durch den Kopf … Europa ist in Aufruhr, zig Millionen Flüchtlinge auf der Welt, gerade erst haben Menschen in Paris, Mali, über dem Sinai und so vielen, vielen Teilen der Welt Hunderte von Unschuldigen getötet… Aberwitzige Bombenangriffe von US-amerikanischen, russischen, französischen Kampffliegern, auch sie vorwiegend auf unschuldige Menschen. Ja, bombardieren wir die Unschuldigen! Das wird ihnen eine Lehre sein!

Meine lieben Mitmenschen – welchen Weg werden wir gehen?

Ich sitze hier auf meinem Gefängnisbett in diesem kalten Sarkophag aus Stahl, gewärmt von dem Wissen, dass dieses neue Buch in deutscher Sprache seinen Weg in viele seelenverwandte Herzen in vielen Ländern finden wird. So werden die Leser ein persönliches Gefühl dafür bekommen, wer ich bin und wer die Menschen meines Volkes sind… Aber in Wirklichkeit geht es nicht um mich, Leonard Peltier, oder auch nur um mein notleidendes Volk – es geht um uns, die Angehörigen der gesamten Menschheit, die wir einander aus welchen Gründen auch immer Angst und Schrecken und Hass und Tod leiden lassen. Ob wir im Recht sind oder nicht, wir sind ALLE schuldig. Schuldig, uns zu weigern, das EINSSEIN in uns ALLEN zu sehen.

Mitakuye Oyasin: Meine Sioux-Vorfahren haben uns gelehrt: Wir sind mit allen und allem verwandt.

Lassen wir diese Worte für alle Menschen überall erklingen. Machen wir sie zu einer Hymne für die Menschheit, die die sinnlosen Gefühle des Hasses in unseren Herzen auslöscht. Im Lauf der vier Jahrzehnte meiner Gefangenschaft ist mir die Unterstützung und Freundschaft – und ja, sogar die Liebe – von vielen, vielen deutschsprechenden Menschen zuteil geworden. Diese Liebe wandert von ihren Herzen in mein Herz und wieder zurück. Sie fühlen sie, ich fühle sie, sie ist real – und sie ist mächtig. Lasst jeden von uns senden und empfangen – diese gegenseitige Liebe, diesen Respekt und diese spirituelle Kraft an die gesamte Menschheit, an jede einzelne Seele auf unserer Mutter Erde. Und möge dieses neue Buch dazu beitragen, dass dies geschieht.

 

Doksha (Auf bald)

Leonard Peltier

(USP Coleman, Florida – Samstag, 28. November 2015)

Übersetzung: Michael Schiffmann

 

Email Leonard Peltiers an Michael Koch:

..9/22/2016 9:24 PM

hey Doc :) I just received the book it looks good and of excellent quality, thank you Bro, its lock up for the nite . doksha L.P.

 

 

 

 

„…wir waren im Krieg, und im Krieg sagst du nicht, wer schießt, wer auf wen schießt …

Dies war ein Krieg, ein Krieg der vor Jahrhunderten begann und immer noch anhält. Wir sind das Ziel des längsten unerklärten Krieges in der Geschichte der US-Regierungen …

Leonard Peltier ist ein großer Krieger. Er ist wie all die anderen, die im Camp lebten.

… Sie hörten den Ruf der Bevölkerung. Sie kamen, um den Menschen beizustehen. Und so ist dies auch zu erinnern. Dies ist die einzige Art dies zu erinnern. Da war ein Krieg am Laufen, ja, und wir haben hierauf entsprechend geantwortet. Es waren nicht wir, die diesen Krieg begannen, es war das FBI!“

Dennis Banks am 4.10.2013 vor dem „International Peoples Tribunal on Leonard Peltier“ in Green Bay/Wisconsin

Grußwort der Nichte Leonard Peltiers zur zweiten Auflage des Buches

Als mein Onkel, Leonard Peltier, November 2016 seine Grußworte an die deutschen Leserinnen und Leser der Erstauflage dieses Buches schrieb, war er noch voll der Hoffnung, dass die Tage seiner Haftentlassung kurz bevorstehen würden. Er und wir alle dachten dabei, dass das große Interesse und die Unterstützung im deutschsprechenden Teil Europas hier sicherlich auch eine große Hilfe sein würden, um für ihn endgültig die Türen zur Freiheit zu öffnen. Und so wie Ihr haben sich weltweit so viele andere Menschen für Leonards Freiheit eingesetzt und für alle schien es so, dass sich die Tore zur Freiheit öffnen würden. Wie Ihr alle wisst, haben sich die Dinge jedoch anders entwickelt. Mein Onkel ist immer noch gefangen in dem, wie er es nennt, Iron House. Und nach wie vor sind auch all seine indigenen Brüder und Schwestern überall in Amerika mit der fortgesetzten Geschichte von Unterdrückung, Menschenrechtsverletzung und Umweltzerstörung konfrontiert. In dieser schweren Zeit erhielten wir, auch mein Onkel Leonard, die Nachricht, dass dieses Buch nun in einer zweiten Auflage erscheinen wird. Wir haben mitbekommen, dass zu den Buchpräsentationen viele hundert Menschen bislang kamen und diese Veranstaltungen auch weitergehen, in den verschiedensten Städten Deutschlands. Mein Onkel und ich wissen, dass dies ein Beweis für Euer immer noch bestehendes Interesse und die anhaltende Unterstützung ist. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, das weit weg, auf der anderen Seite des Ozeans mehr und mehr Menschen sich im Falle Leonard Peltiers aber auch allgemein im Zusammenhang mit dem Schicksal der Native Americans für Gerechtigkeit, Menschenrechte und Freiheit einsetzen.

Für all das, liebe Leserinnen und Leser, liebe Unterstützerinnen und Unterstützer, möchte ich mich im Namen meines Onkels Leonard Peltier, im Namen der amerikanischen Ureinwohner, im Namen aller ehrlichen Menschen auf dieser Welt und in meinem Namen bei Euch bedanken.

Kari Ann Boushee, Nichte Leonard Peltiers (Fargo/North Dakota, 25.8.2017)

Leonard Peltier sitzt seit Frühjahr 2017 fast permanent im Lock Down des USP Coleman, Florida. Aufgrund dieser Tatsache erhält er weder seine Emails noch kann er per Email kommunizieren. Daher war es ihm auch nicht möglich, rechtzeitig vor Druckbeginn der zweiten Auflage dieses Buches selbst ein Grußwort zu schreiben. Das Grußwort seiner Nichte ist jedoch mit ihm telefonisch abgestimmt. M. Koch, 25.8.2017

Vorwort zur 2. Auflage

Als wir, also der Verlag, die Lektoren und Autoren sowie der Herausgeber Anfang 2016 im Wettlauf gegen die Zeit die erste Auflage des vorliegenden Buches gerade noch rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse gestellt hatten, machten wir uns nur wenige Gedanken über Dinge wie Verkauf, Lesereisen, Kundeninteresse oder gar Werbung. Das Buch und die damit verbundene Arbeit sahen wir gemeinsam vor allem als Beitrag im weltweiten Bemühen, den indianischen politischen Langzeitgefangenen Leonard Peltier nach 40-jähriger Haft endlich zu Freiheit und Recht zu verhelfen. Gleichzeitig wollten wir auf das historische und leider nach wie vor anhaltende Unrecht hinweisen, das den amerikanischen Ureinwohnern widerfahren ist und weiterhin widerfährt. Die Zeit zwischen Februar 2016 und Januar 2017 erschien uns als im doppelten Sinne relevantes Jahr. Zum einen war der mittlerweile 72-jährige Peltier nun seit 40 Jahren in Haft. Zum anderen stand im Kontext mit der Präsidentschaftswahl wieder eine präsidiale Begnadigung von Häftlingen an. Und hier lagen nun alle Hoffnungen, dass auch Leonard Peltier durch den scheidenden 44. Präsidenten Barak Obama begnadigt würde. In diesem besagten Jahr wurde im deutschsprachigen Raum das vorliegende Buch neben dem dreitägigen Symposium in Heidelberg (Free Peltier – Leonard Peltier und der Kampf der Native Americans), der Initiative „Musiker für Peltier“ und der Herausgabe der CD „One Life for Freedom“ zum wichtigen Baustein der europaweiten Solidaritätskampagnen. Buchvorstellungen und Lesereisen, Zeitungsartikel und Radioberichte, Werbeplakate und Veranstaltungsflyer erreichten viele tausend Menschen allein in Deutschland und trugen somit zur Verbreitung des Schicksals Peltiers bei. Über tausend Besucher kamen allein zu den knapp dreißig Buchvorstellungen. Doch unsere Hoffnung, dass sich für Leonard Peltier Anfang 2017 endlich die Tore des „Iron House“ zur Freiheit öffnen würden, wurde enttäuscht. Obama entschied sich dafür, alle juristischen Zweifel an Peltiers Schuld, alle humanitären Aspekte im Falle Peltiers und alle menschenrechtlichen Kritiken zu ignorieren. Und so wie es derzeit aussieht, wird es der jämmerliche Verdienst Obamas sein, Peltiers endloses Leiden und dessen Tod im Knast zu verantworten.

Für uns als Herausgeber, Autoren und engagierte Menschenrechtler war dies eine maßlose Enttäuschung. Und immer wieder stellte sich die Frage, woher die Kraft nehmen, um mit der Solidaritäts- und Aufklärungsarbeit für Peltier sowie für indigene Anliegen und Rechte weiterzumachen. Das anhaltende Interesse an Lesungen auch nach der Begnadigungsablehnung und der Ausverkauf der ersten Auflage des vorliegenden Buches haben uns hierfür die notwendige Kraft gegeben. Wir freuen uns über das ungebrochene Interesse an diesem Thema. Der Fall und das Schicksal Peltiers dürfte einer der größten Justizskandale des 20. und 21. Jahrhunderts in den USA sein. Peltiers anhaltende Tortur steht für eine beispiellose Missachtung seiner persönlichen Rechte, indigener Rechte und Menschenrechte im Allgemeinen. Unsere Antwort haben Sie in Form der zweiten Auflage des Buches in der Hand. Wir haben Texte korrigiert und aktualisiert. Es wurden neue Inhalte und Themen, neue Texte und Dokumente hinzugenommen sowie bestehende erweitert. Für uns geht somit der Kampf für Peltiers Freiheit und für die Rechte und Belange der Native Americans weiter. In diesem Sinne danken wir Ihnen für Ihr Interesse und heißen Sie im weltweiten Kreis der Unterstützerinnen und Unterstützer willkommen.

In the spririt of resistance, freedom and justice

Michael Koch, 1. September 2017

(Möchten Sie mehr über unsere Arbeit erfahren und uns in unserer Arbeit unterstützen, dann finden Sie weitere Informationen unter www.leonardpeltier.de sowie unter https://www.facebook.com/LPSGRheinMain

Einleitung:

Leonard Peltier, AIM und die Geschichte von Völkermord und indianischem Widerstand(Michael Koch)

Auf den ersten Blick scheint in Europa und somit auch in Deutschland das Interesse sowohl am Schicksal der indigenen Völker vor allem Nordamerikas als auch am indigenen Widerstand seit geraumer Zeit weitestgehend erloschen. Solidarisches Engagement für die Belange der Indigenen Mittel- und Südamerikas blieb ohnehin einer kleinen Gruppe von Menschenrechts- und Dritte-Welt-Aktivisten vorbehalten. Weit über eine Generation ist es her, als sich in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in einigen europäischen Staaten Teile der libertär-spontaneistischen Linken gerne als Stadtindianer bezeichneten, Plakate mit militanten indianischen Posen oder Sprüchen die Wohngemeinschaften vieler undogmatischer Linker schmückten und ein „Mescalero“ sich in „Buback – ein Nachruf“ öffentlich mit dem Attentat auf Generalbundesanwalt Buback auseinandersetzte. Erst der bewaffnete Konflikt in Oka, Kanada, im Jahre 1990, der über 25-jährige Widerstand gegen die Vertreibung der Navajo in Arizona aus einem Teil der gemeinsamen Hopi-Navajo-Reservation und der bewaffnete Auf- und Widerstand der Zapatisten (EZLN) seit 1994 in Chiapas, Süd-Mexiko, rückten Leben und Kampf der amerikanischen Indigenen mehr oder minder kurz in den Fokus öffentlichen Interesses. Und 2016/ 2017 sorgten die Aktionen der Protectors of Water gegen den Bau der Dakota Access Oil Pipeline weltweit für Beachtung und Solidarität. Doch nach wie vor bleibt es meist kleinen Gruppen überlassen, hier anhaltende Solidaritätsarbeit zu leisten.

Ähnlich könnte man die Entwicklung des öffentlichen Interesses an dem Schicksal des indianischen politischen Gefangenen, Mitglied des American Indian Movement (AIM)- und Menschenrechtsaktivisten Leonard Peltier beschreiben, der aufgrund seiner niemals nachgewiesenen Schuld an dem Tod von zwei FBI-Agenten seit 1976 inhaftiert ist. Immer mal wieder flammt in den USA und weltweit der Kampf um Peltiers Freiheit auf. Die Glut und Wut, gegen seine „Geiselhaft“ massiven Widerstand zu organisieren, mögen zwar nicht erloschen sein, doch reichen sie kaum zu spektakulären Aktionen und erfolgversprechenden Strategien. Dazu kommt, dass das Wissen um die Person und den Fall Peltier im Bewusstsein vieler politisch engagierter Menschen sowohl in den USA als auch in Europa erheblich weniger präsent ist als das Wissen um den lange Jahre durch den Vollzug der Todesstrafe bedrohten ehemaligen Black-Panther-Aktivisten und engagierten Journalisten Mumia Abu-Jamal. Ins Deutsche übersetzte Kolumnen Abu-Jamals oder auch telefonische Statements anlässlich politischer Konferenzen in Europa sind seit vielen Jahren selbstverständlich. Eine gezielte Ansprache an die deutschen Unterstützer durch Leonard Peltier beschränkte sich in den letzten Jahren vorwiegend auf einige Telefonate mit dem Autor dieser Zeilen und wird erst mit Erscheinen dieses Buches auf eine neue Basis gestellt. Umso mehr freuen wir uns über Peltiers eigens für seine deutschen Unterstützer, die Autoren, Herausgeber und Leser dieses Buches geschriebene Grußwort.

In Deutschland zeichnet sich also seit einigen Jahren eine neue Entwicklung ab. Das Schicksal des seit über vier Jahrzehnten inhaftierten AIM-Aktivisten und mit ihm auch Geschichte und Schicksal der nordamerikanischen Native Americans und deren Kampf um Freiheit, Selbstbestimmungsrechte und Würde rückt wieder mehr in den Blick sowohl einer liberalen Öffentlichkeit als auch sozialrevolutionärer Personen und Gruppen. Die Motive hierfür mögen vielschichtig sein, doch zwei Gründe tragen hierzu sicherlich entscheidend mit bei.

Erstens: In den vergangenen sechs Jahren hat sich einerseits die Haft- und Gesundheitssituation Leonard Peltiers kontinuierlich erheblich verschlechtert. Andererseits zerschlugen sich immer wieder aufkommende Hoffnungen auf eine mögliche Begnadigung.

Zweitens: Die Solidaritätsarbeit gerade der deutschen Unterstützungsgruppen war von Anfang an eingebunden in die weltweiten Bemühungen um Peltiers Freiheit und Unterstützung des indigenen Widerstands. Sie war aber ebenso von Anfang an assoziiert mit dem Kampf für die Freiheit Mumia Abu-Jamals; dem weltweiten Kampf gegen Todesstrafe, Folter und unmenschliche Haftbedingungen; dem Kampf gegen Atomwirtschaft und atomare Rüstung; dem Kampf gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur durch internationale Konzerne und nationale Wirtschaftsinteressen und letztlich mit dem Kampf gegen Rassismus, Nationalismus, Sexismus und autoritäre Strukturen in der Gesellschaft und bei uns selbst. Gerade diese Einbindung in unterschiedlichste soziale Kämpfe führt nun dazu, dass auch in anderen Bewegungen sich der Blick auf das Schicksal indigener Völker, deren Widerstandsaktionen und deren Aktivisten wieder öffnet.

Das vorliegende Buch versucht eine Verbindungslinie herzustellen zwischen dem Fall von Leonard Peltier, der Entwicklung indianischen Protests und Widerstands sowie der Geschichte der versuchten Ausrottung und Unterdrückung der indigenen Völker Nordamerikas bis hin zu deren heutigen Lebensbedingungen.

Im ersten Kapitel „Indian Wars Aren‘t Over …“ soll anhand einiger Ereignisse die Geschichte eines der längsten Genozide der Menschheit beschrieben werden. Ohne hierbei dem Anspruch auf Vollständigkeit auch nur annähernd nachkommen zu wollen, so soll dieses Kapitel dazu beitragen zu verstehen, weshalb indianischer Widerstand des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts gegenüber unseren europäisch tradierten bürgerlichen und vor allem sozialrevolutionären Vorstellungen z. B. von Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus sperrig war, ist und wohl auch bleiben wird.

Im zweiten Kapitel „Von Red Power zu AIM“ wird neben der Darstellung einiger wichtiger Stationen des erwachenden Kampfes für indianische Rechte und Souveränität dieser Aspekt nochmals aufgegriffen. Außerdem befasst sich ein Unterkapitel mit der vorherrschenden männlichkeits- und männerdominierten Geschichtsschreibung des indianischen Widerstands. In einem kurzen Beitrag soll auf die wichtige Rolle der Frauen im indianischen Widerstand, aber auch in den Kämpfen um die Organisation des Überlebens im Reservationsalltag näher eingegangen werden.

Kapitel 3 zeichnet Kindheit, Jugend und die Politisierung des jungen Peltier bis zu jenem Zwischenfall bei Oglala nach, für den er seit 1976 inhaftiert ist.

Kapitel 4 und 5 befassen sich mit der Situation rund um die Pine Ridge Reservation im Zeitraum zwischen 1973 und 1975, einschließlich des tödlichen Schusswechsels zwischen FBI-Agenten, BIA-Polizei und anderen Polizeigruppen einerseits und Anwesenden eines AIM-Camps andererseits. Auch hier gilt wieder: Wer nicht wenigstens eine Ahnung von dem hat, was in den Jahren vor und nach der Besetzung von Wounded Knee in und um die Reservation herum geschah, der/die wird sich kaum ein richtiges Bild über die Gründe bewaffneter Gegenwehr bei dem plötzlichen überfallartigen Auftauchen der FBI- Agenten in dem AIM-Camp machen können.

Kapitel 6 beschreibt dann den Prozess, die Rechts- und die Haftsituation Peltiers, wobei der zentrale Fokus auf der Entwicklung der vergangenen Jahre seit 2009 und aktuell auch auf der Begnadigungsablehnung durch Barak Obama 2017 liegen wird.

Kapitel 7 nimmt anhand ausgewählter Aspekte eine schlaglichthafte Beschreibung des „Reservationsalltags“ in der Pine Ridge Reservation und anderen Armutsreservationen vor, eines Alltags, der einerseits Native Americans motiviert und mobilisiert, sich für ihre Rechte und Belange einzusetzen, andererseits ein Elend perpetuiert, dass viele Menschen in Resignation, Apathie, Selbstzerstörung und Gleichgültigkeit gefangen hält und entpolitisiert. Zum Ende des Buches macht ein kurzer Ausblick auf aktuelle Konflikte und Kämpfe deutlich, dass die „Indian Wars“ tatsächlich noch längst nicht Vergangenheit sind, weder in den USA und Kanada, noch in Mittel- und Südamerika. (Kap. 8)

Die genannten Kapitel werden im Anhang durch weitere Interviews und Dokumente, Zeittafeln und eine ausführliche Literaturliste ergänzt. Die Interviews und Übersetzungen geben einen zum Teil erschütternden Einblick in den Haftalltag Peltiers, zeigen aber auch seine Fähigkeit zur politischen Analyse. Dies gilt auch für Dennis Banks. Dennoch ist den Autoren bewusst, dass der vorliegende Band auf wichtige Teilaspekte des Falls Peltier, des indigenen Widerstands oder der Völkermordgeschichte an den nordamerikanischen Indianern an manchen Stellen nur unzureichend, zu kurz oder manchmal auch gar nicht eingeht. Völlig unberücksichtigt im vorliegenden Band ist Peltiers künstlerisches Schaffen als Maler und als Autor von Gedichten. Umso mehr freut es uns, dass uns Peltier eines seiner Bilder für den Bucheinband zur Verfügung gestellt hat.

Es fehlt weiterhin eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Person Bill Janklows, jenem Gouverneur Süd-Dakotas, der u. a. für seinen Satz bekannt wurde, „die beste Methode, mit Dennis Banks und anderen AIM-Sympathisanten aufzuräumen, wäre, ihnen eine Kugel in den Kopf zu jagen“.

Im Januar 2000 brüstete sich der Ex-Gouverneur sogar damit, Bill Clinton von einer Begnadigung Peltiers abgehalten zu haben. Janklow, der von 1966 bis 1973 im Auftrag des Staates Süd-Dakota als Anwalt für die Rosebud Reservation tätig war und in dieser Zeit sich auch oftmals für die Belange der Reservatsbewohner engagierte, geriet später nicht nur aufgrund seiner AIM-feindlichen Politik ins Visier von AIM, sondern auch, weil er im Verdacht stand, die fünfzehnjährige Babysitterin seiner Familie, Jancita Eagle Deer, vergewaltigt zu haben. Kurz nach Janklows Wahl als Gouverneur verstarb die junge Lakota bei einem angeblichen Autounfall. Die Autopsie ergab jedoch, dass sie bereits zuvor erheblicher Gewalteinwirkung ausgesetzt war.

Es fehlt ebenso eine ausführliche Würdigung der AIM-Aktivistin Anna Mae Aquash Pictou, einschließlich der Betrachtung der Umstände ihrer Ermordung im Dezember 1975 und der juristischen Aufarbeitung des Falles. Im Zusammenhang mit den Prozessen gegen die Tatverdächtigen Arlo Looking Cloud und John Graham wurden unter anderem Dennis Banks und Leonard Peltier erheblich als mögliche Auftraggeber, zumindest aber Profiteure von Aquash Pictous Ermordung, belastet. Dabei ist die Entführung und Ermordung der Mi‘kmaq Indianerin nicht nur im Kontext der Verdächtigung, sie sei ein möglicher FBI-Spitzel gewesen, zu sehen, sondern auch im Kontext des Todes der beiden FBI-Agenten, die im Juni 1975 in der Pine Ridge Reservation getötet wurden. Aquash Pictou hätte gewusst, dass Peltier der wahre Mörder der beiden FBI-Agenten sei, da dieser in Gegenwart von ihr sowie von Dennis Banks Frau, Darlene Kamook Nichols, und deren Schwester, Bernie Nichols-Lafferty, gesagt habe, der „Hurensohn bettelte um sein Leben, aber ich habe ihn trotzdem erschossen“ („but I shot him anyway“). In die Entführung Anna Mae Aquash Pictous sei auch Peltiers späterer Anwalt Bruce Ellison verwickelt gewesen, der Aquash Pictou im Auftrag des AIM bezüglich ihrer angeblichen Verbindungen zur Polizei verhört habe. Ebenfalls belastet wird Peltier durch Aussagen, dass er Anna Mae in einer Situation seine Pistole in den Mund schob und dabei aufforderte, etwas zu den Vorwürfen zu sagen. Eine AIM-Aktivistin aus dieser Zeit äußerte in einem Gespräch mit dem Autor, dass dies wohl stimme, aber Peltier weder Täter, Auftraggeber noch Mitwisser der Hinrichtung Anna Mae Aquashs war. Peltier und Aquash standen sich freundschaftlich sehr nahe. Und auch in der Situation bei der Schießerei in Oglala sei er sehr verantwortungsvoll gewesen.

Dies spricht einen weiteren Bereich an, den wir in diesem Buch zwar immer wieder erwähnen, nämlich die Infiltrationstaktik des FBI (Counter-Intelligence Programm; COINTELPRO) und deren Folgen, bezogen auf das American Indian Movement und andere indigene Aktivisten. Gerade im Fall von Anna Mae Aquash Pictou wird dies besonders deutlich. Da beschuldigen sich über Jahrzehnte einzelne AIM-Führer gegenseitig der Mitwisser- und Mittäterschaft an dem Tod Aquashs. Sie beschuldigen sich in unterschiedlichen Zusammenhängen auch als Spitzel amerikanischer Geheimdienste, als egomane Verbrecher oder Verräter am gemeinsamen Kampf. Einzelne Aktivisten belasten andere und stehen gleichzeitig selbst im Verdacht, für das FBI zu arbeiten – mit bestem Gewissen oder wider besseren Wissens. Da belasten Zeugenaussagen Peltier und andere Personen erheblich, und gleichzeitig werden immer neue Fälle aufgedeckt, wie das FBI mal plump, mal äußerst geschickt Zeugen manipuliert, Aussagen erpresst oder verfälscht. Wir verzichten hier auf weitere Details und Nennung von Namen, da dies nur zu einer sinnlosen Verunsicherung beitragen würde. Wir wollen und werden uns an diesem Desinformationsprozess, der meines Erachtens sehr wohl auch als Resultat der COINTELPRO-Strategie zu werten ist, nicht beteiligen. Die langjährige Auseinandersetzung mit der COINTELPRO-Strategie des FBI, mit dem American Indian Movement und auch mit dem Fall Leonard Peltier hat den Autor dieser Zeilen selbst oftmals in Situationen gebracht, in denen er sich fragte, was er wem denn noch glauben solle. Umso wichtiger war es, dass den immer wiederkehrenden Konjunkturen aufkommender Zweifel immer neue Gespräche mit Zeit- und Augenzeugen, anderen AIM-AktivistInnen und auch ReservatsbewohnerInnen folgten, die ausreichend Anlass waren, die kritische Solidaritätsarbeit für Peltier und für die indianischen Kämpfe weiterzuführen.

Bob Robideau fasste dies 2003 bei einem gemeinsamen Treffen in seinem AIM-Museum in Barcelona so zusammen: „Ich will und werde mit dir nicht über das reden, was an dem Tag in Oglala geschehen ist. Für dich ist es lediglich wichtig zu wissen, dass Leonard kein kaltblütiger Mörder ist.“

Ein anderes AIM-Mitglied ergänzte 2011 bei meinem Besuch in der Reservation: „Mehr kann ich hierzu nicht sagen. Folge deinem Herzen, du bist auf dem richtigen Weg.“

Aus diesem Grunde findet auch keine vertiefende Auseinandersetzung mit der Mr. X-Theorie im Hauptteil dieses Buches statt. Das Auftauchen eines vermummten Aktivisten, eben des mysteriösen Mr. X, der sich im Dokumentarfilm „Incident at Oglala“ als eigentlicher Täter outet, wird bis heute von führenden AIM-Aktivisten kontrovers bewertet. (Siehe hierzu Kapitel 6 und Anhang)

Vielleicht reicht es, in diesem Kontext zusammenfassend zu sagen, dass Leonard Peltier in all den Jahrzehnten der Haft aufgrund der schier aussichtslosen Situation und des langen Leidens immer wieder auf unterschiedliche Ratgeber und deren strategische Empfehlungen mit großer Hoffnung hörte, dabei aber nicht immer wirklich gut beraten war.

Im vorliegenden Buch werden die Begriffe „Native Americans“, „Indianer“, „First Nations“, „Indigene“ als Synonyme benutzt. Dem Hinweis, dass der Begriff „Indianer“ politisch und auch ansonsten nicht korrekt sei, möchte ich dabei nicht widersprechen. Doch meine lange Zusammenarbeit mit indigenen Künstlern, Sozialarbeitern und Lehrern, politischen Aktivisten, aber auch Jugendlichen und Reservatsbewohnern hat mich dazu gebracht, es so zu halten, wie meine indigenen Freunde auch, die sich mal so oder so oder einfach nur als „skins“1 bezeichnen, denn in ihrer Sprache und Tradition verbindet sie stammesübergreifend eins: die Selbstbezeichnung als Menschenwesen. Analog halte ich es mit den Begriffen wie „Nations, Nationen, Völker oder Stämme. Dem Begriff „Stamm“ haftet zweifelsohne eine Herabstufung indigener Kulturen als zivilisationsferne Gruppe an, während Weiße sich den „Volksbegriff“ wählen, der eine irreführende und problematische „völkische“ Begrifflichkeit anklingen lässt. Native Americans nutzen ihn seit den 60er Jahren bewusst wieder und laden ihn inhaltlich neu auf. Beispiele: Vine Deloria jr. sprach von „new tribes“, die Besetzer von Alcatraz nannten sich „indians of all tribes“, AIM verstand sich als ein „intertribal movemnent“. Dem Kampf dieser Menschen um Selbstbestimmung, um physisches und kulturelles Überleben, um Freiheit, Menschenrechte und Menschenwürde widme ich in kritischer Solidarität vorliegendes Buch. Dabei möchte ich nicht vergessen, mich bei all meinen indianischen Gesprächspartnern, Freunden, Kooperationspartnern für ihre Unterstützung dieses Projektes zu bedanken. Aufgrund sicherheitsbedingter Bitten einiger wird bei der Danksagung im Anhang auf die vollständige namentliche Nennung einiger Unterstützer verzichtet.

______________

1 Rothäute

1. „Indian Wars Aren‘t Over“ – die vielenGesichter des Völkermords(Michael Koch)

Wer Geschichte und Formen, Themen und Artikulation des indianischen Widerstandes des ausgehenden 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts verstehen will, wird nicht umhinkommen, sich mit der Ausrottungs- und Vernichtungspolitik der europäischen Eroberer und Einwanderer gegen die Ureinwohner Amerikas auseinanderzusetzen. Einerseits bleiben ansonsten Gedanken, Intentionen und Aktionen indigenen Widerstands für uns nur schwer verständlich und auch sperrig bezüglich einer interpretatorischen Einvernahme anhand revolutionär-emanzipatorischer Kriterien unseres „europäischen Denkens“ – selbst wenn dies solidarisch gemeint sein sollte.2

Andererseits bleiben die Dimensionen dieses Völkermordes samt seiner Begleiterscheinungen im wahrsten Sinne des Wortes „unvorstellbar“, wenn nicht doch in einem Kapitel einige Aspekte in aller Kürze benannt und beleuchtet werden.

„Indian Wars Aren´t Over“, so lautet die Überschrift eines Solidaritätsplakats für den indianischen politischen Gefangenen Leonard Peltier.3

Kleingedruckt am Rand stehen die Namen von ca. 60 Opfern tödlicher Angriffe auf traditionelle Lakota und AIM-Sympathisanten bzw. -Aktivisten, die vor allen in den Jahren zwischen 1973 und 1976 in der Pine Ridge Reservation stattfanden. Damit soll auf die Kontinuität des Tötens nordamerikanischer Indianer seit den sogenannten „Indianerkriegen“ in der Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert hingewiesen werden. Wer sich jedoch mit der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner seit der „Entdeckung“ durch Christoph Columbus 1492 befasst, wird den zahlreichen Autoren indianischer, aber auch nicht-indianischer Herkunft zustimmen müssen, dass es sich bei der Bekämpfung der Indianer um den wohl längsten, anhaltenden Völkermord der Geschichte handelt. Dabei verbinden sich über die Jahrhunderte Aspekte von Genozid (Völkermord), Ethnozid (Kulturzerstörung) und Ökozid (irreversible Zerstörung intakter Ökosysteme) zu einer vielgesichtigen und vielschichtigen Geschichte von Ausrottung und Unterdrückung.

Die Stationen dieser Geschichte reichen von der Vertreibung, Umsiedlung, militärischen Bekämpfung und Ausrottung indianischer Völker über deren Dezimierung durch Krankheiten und andere sogenannte „Zivilisationsfolgen“, den Entzug ihrer Lebensgrundlagen bis hin zur Zwangsumerziehung in Internatsschulen, Zwangssterilisation indianischer Frauen und nuklearen Kontaminierung ganzer Regionen. Was an dieser Stelle über das Schicksal der nordamerikanischen Indianer ausgeführt wird, kann mit etwas veränderter Beschreibung auch für das Sterben, Leben und Überleben der Indigenen in Mittel- und Südamerika ausgeführt werden.

Auf all das, was an Entwicklungen in der sogenannten Paläo-Indianischen Periode Nordamerikas und in der Zeit von 7.000 v. Chr. (sogenannte archaische Periode) bis zum 15. Jahrhundert (im Südwesten die sogenannte Pithouse-Pueblo-Periode) stattfand, soll hier nicht näher eingegangen werden. Nur so viel sei gesagt: dass im Südwesten Nordamerikas die ersten nennenswerten Besiedlungen bereits zwischen 12.000 und 10.000 v. Chr. erfolgten. Zwischen 7.000 v. Chr. und der Zeitenwende entwickelten sich Ackerbau und Siedlungen, beides prägte die Lebensweise der indianischen Völker des Südwestens. Keramikherstellung, Baumwollnutzung und Webtechnik kamen in dieser Region zwischen 700 und 1.000 n. Chr. hinzu. Und Charles C. Mann wies in seinem Buch „Amerika vor Kolumbus“ darauf hin, dass im Gegensatz zu unseren Klischeevorstellungen von den Indianern als nomadische, ökologische Ureinwohner tatsächlich sich zur Zeit von Kolumbus die große Mehrheit der alteingesessenen Indigenen südlich des Rio Grande aufhielten. „Sie waren keine Nomaden, sondern erbauten und bevölkerten einige der größten und reichsten Städte der Welt……,lebten …auf Farmen…,ernährten sich von Fisch und Schalentieren…..Mit anderen Worten, Amerika war unermesslich geschäftiger, mannigfaltiger und dichter bevölkert, als es sich die Forscher vorgestellt hatten. Und älter war es auch.“4

Unterschiedliche Studien gehen davon aus, dass in der vorkolumbianischen Zeit, also noch im 15. Jahrhundert, an die 800 unterschiedliche Stämme im Gebiet der heutigen USA lebten, heute sind dies noch etwa 300. Dabei unterschieden sich Lebensformen, Lebensräume und Kulturen oftmals nicht unerheblich zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit, zwischen Pflanzenanbau, Fischerei und Jagd, zwischen dem Leben an Küsten, in Wäldern, Gebirgen, Wüsten oder in den Weiten der Plains und Prärien.

Diesen unterschiedlichen indianischen Völkern standen seinerzeit, berücksichtigt man mal lediglich die Fläche der heutigen USA, knapp zehn Mio. Quadratkilometer zur Verfügung.5 1887, nach der Umsiedlung der Indianer in Reservationen und nach dem Invasionsende des Westens durch die weißen Siedler, waren dies in den USA 558.472 km2 (knapp 5 %), 1900 ca. 300.000 km2 und gegen Ende des 20. Jahrhunderts gar nur noch 215.549 km2 (ca. 2,3 %) der Gesamtfläche der USA.

In dieser Zeit nahm die Anzahl der nördlich des heutigen Mexiko lebenden Indianer drastisch von acht bis zehn Millionen auf nur noch 360.000 (1892) ab. Und wenn wir heute wieder von ca. 2,5 Mio. indianischen und indianisch-stämmigen Amerikanern in den USA reden, dann meint dies Menschen indianischer Herkunft, Fullbloods (Vollblut) und Mixedbloods (also teilweise indianischer Abstammung), Reservationsbewohner, indianische Wanderarbeiter und Stadtindianer. Sicherlich waren nicht all die 7,5 - 9,5 Mio. gestorbenen Indianer Opfer militärischer Aktionen und Vertreibungen durch die Europäer. Viele von ihnen starben mittel- oder unmittelbar an den unterschiedlichsten Folgen der Invasion aus Europa.

Ein oftmals vernachlässigter Aspekt ist dabei, dass Kriege zwischen indianischen Völkern aufgrund deren Einbeziehung in kriegerische Konflikte zwischen den weißen Eroberern (Kriege zwischen Engländern und Franzosen, Spaniern und Engländern, Unabhängigkeitskrieg), durch die Einführung neuer Waffen und von Pferden, aber auch aufgrund der territorialen Vertreibungen vom Osten immer tiefer in den Mittleren Westen und Westen ebenfalls zunahmen. Vor allem Krankheiten, Hunger und Alkohol waren im großen Maße für das Massensterben bei den Indianern verantwortlich und waren erheblich mörderischer als die Gewehre der Eroberer. „Den Indianern fehlten die Abwehrkräfte gegen Malaria, Masern, Tuberkulose und Pocken. Ganze Dörfer wurden oft in wenigen Wochen dahingerafft; die Überlebenden waren zum Widerstand zu schwach. Bereits vor der Gründung der USA ging die indigene Bevölkerung Nordamerikas … um knapp 80 % zurück.“6

Kaum verwunderlich, dass so auch Pläne entstanden, alle Indianer über die Verteilung infizierter Decken und Bekleidung mit Masern zu infizieren, denn im 18. und 19. Jahrhundert galten sie den einwandernden Europäern und nach Gründung der USA auch den neuen Machthabern Nordamerikas als eine Art „menschliches Ungeziefer“, das es zu dezimieren galt.7 So schrieb der britische General Jeffrey Amherst bereits 1752: „Sie täten gut daran, die Indianer mit Laken zu infizieren, auf denen Blatternkranke lagen, oder sich aller sonstigen Mittel zu bedienen, die dazu beitragen können, diese verfluchte Rasse auszurotten.“8

Mit der Besiedlung Nordamerikas durch die Spanier im 16. Jahrhundert und durch die Engländer und Franzosen (und im geringeren Ausmaß auch durch die Niederländer) ab dem 17. Jahrhundert ging nach der Anfangsphase einer freundlichen Aufnahme durch die Indianer der Ostküstenregion und, zumindest bei den Engländern und Franzosen, auch nach anfänglich friedlicher Koexistenz die Vertreibung der Urbevölkerung bei gleichzeitiger Annexion des Landes einher.

Im Zuge der spanischen Besatzung wurden die hochentwickelten Städte und Kulturen der Indigenen zerstört. Nuñez Cabeza de Vaca, der tausende von Meilen durch Mexiko zurücklegte, berichtete bei seiner Ankunft im heutigen Mexico City von ummauerten Städten mit mehrgeschossigen Häusern und Indianern, die in ihrem Verhalten weit kultivierter als die Spanier seien.9 Trotzdem wurde die indianische Bevölkerung im großen Stile versklavt oder massakriert. Alleine auf den Inseln des heutigen Haiti und der Dominikanischen Republik lebten 50 Jahre nach der Landung von Kolumbus nur noch 10 % der dortigen indianischen Bevölkerung.

In den von Engländern besiedelten Ostküstengebieten des heutigen Virginia (ab 1607) und Massachusetts (1620) begann die Vertreibungspolitik erheblich subtiler. Den ersten Winter nach ihrer Ankunft überlebten die Engländer nur mit Hilfe der lokalen Stämme der Powhatan, Massachusetts und Wampanoag, die den Engländern Lebensmittel und Feuerholz brachten und diesen zeigten, wo sie Fisch fangen und wie sie Mais pflanzen konnten. Um sich die Gunst der Indianer so lange zu sichern, bis die Engländer über befestigte und sichere Ansiedlungen verfügten, krönten die englischen Siedler gar einen der Häuptlinge zum König, dessen Tochter, Pocahontas, später von einem Briten geheiratet wurde.

Nach dem Tod dieses Königs endete jedoch dieser (be)trügerische Frieden. Die indianischen Stämme sahen, dass in den 15 Jahren seit Ankunft der Engländer große Teile ihrer bewaldeten Jagdgebiete gerodet und somit viele jener Tiere, die sie als Lebensgrundlage jagten, verschwunden waren. 1622 erhoben sich 30 Stämme, um die Engländer wieder ins Meer zu treiben, hatten jedoch gegen die Waffen der Eroberer keinerlei Chance. Von einzelnen Stämmen, wie z. B. den Powhatan, überlebten gerade noch 10 % der Stammesbevölkerung – und auch diese sollten vertrieben werden. Im nördlicheren Ostküstenbereich, wo 1620 die Pilgrim Fathers landeten, waren 20 Jahre später bereits ganze Stämme ausgerottet worden: „Die Wälder waren fast gänzlich gereinigt von diesen schädlichen Kreaturen“, formulierte der Puritaner Cotton Mather die Vernichtung der Pequot-Indianer.10 Um dem Hunger zu entkommen, gerieten viele der Ostküstenstämme bei der Suche nach neuen, westlicher gelegenen Jagdgründen in Konflikte mit den dortigen Stämmen – die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen indianischen Völkern nahmen in Folge zu.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts erreichte der Machtkampf zwischen Franzosen, Engländern und Spaniern um die Vorherrschaft in der „Neuen Welt“ seinen Höhepunkt, wobei jede dieser drei Kolonialmächte ihre indianischen Verbündeten samt deren Stammesfehden für sich geschickt auszunutzen wusste, um letztendlich dabei auch die indianischen Stämme gegeneinander auszuspielen. Zu dieser Zeit (1675) begannen sich die Stämme der nördlichen Ostküste zu einer Konföderation zu vereinigen, um gegen die immer weiter ins Land vordringenden weißen Siedler vorzugehen, doch bei Rhode Island wurden 1676 die indianischen Krieger vernichtend geschlagen.

Knapp 90 Jahre später wiederholte sich Ähnliches, allerdings bereits erheblich weiter westlich, in der Gegend der großen Seen (Huron, Ottawa, Michigan, Erie). Hier vereinte der Ottawa-Häuptling Pontiac mehrere Stämme zum panindianischen Gegenangriff, um die vorrückenden Briten nach Osten zurückzutreiben. Nach anfänglichen Erfolgen musste Pontiac 1766 seinen Widerstandskrieg jedoch aufgeben und widerwillig mit den Engländern Frieden schließen. Auch weitere panindianische Bündnisaktionen, wie zum Beispiel um den Shawnee Tecumseh, konnten der immer größer werdenden Invasion europäischer Einwanderer nichts mehr entgegensetzen. Und die letzten rechtlichen Restriktionen der britischen Krone, wie zum Beispiel das Siedlungsverbot für Einwanderer westlich der Appalachen, fielen mit der Unabhängigkeitserklärung 1776 und dem darauf folgenden Unabhängigkeitskrieg der 13 Ostkolonien gegen das englische Mutterland, der 1783 mit der Anerkennung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten endete.

Die Landnahme durch weiße Siedler und die Vertreibung der indianischen Bevölkerung waren unaufhaltsam und fanden im 19. Jahrhundert ihren traurigen Höhepunkt. Die politische Legitimation erhielten die Siedler direkt von den ersten Präsidenten der USA, wie z. B. durch Thomas Jefferson, von 1801 bis 1809 dritter Präsident der USA: „Wir tauschen Land, das sie im Überfluss haben und wir besitzen möchten, gegen Lebensnotwendigkeiten, die wir im Überfluss besitzen und sie haben möchten. Wir gründen Handelsposten und werden zufrieden sein, wenn sie sich verschulden, denn wir werden erleben, dass sie sich willig zeigen, ihr Land herauszugeben, wenn die Schulden ihre Zahlungsfähigkeit übersteigen. … Was ihre Furcht angeht, so nehmen wir an, unsere Stärke und ihre Schwäche sind jetzt dermaßen sichtbar, dass wir nur unsere Hand schließen brauchen, um sie zu zerbrechen.“ „Und wer sich dem Interesse des neuen Staates widersetze, und in die Barbarei zurückfalle, werde wie wilde Tiere in die Wälder der Rocky Mountains getrieben.“11

Und der spätere Präsident Andrew Jackson (1829 - 1837) setzte da noch eins drauf: „Sie (die Indianer, der Verf.) haben weder die Intelligenz, den Fleiß, die moralische Struktur noch das Verlangen nach einer Entwicklung, die so wichtig für die günstige Wende ihrer Lebensbedingungen ist. … So müssen sie notwendig der Gewalt der Umstände weichen.“12 Der US-Historiker George Bancroft behauptete 1834, dass Nordamerika vor dem Eintreffen der Europäer „eine unproduktive Wüste“ gewesen sei. Und weiter: „Seine einzigen Bewohner waren ein paar verstreute Stämme schwächlicher Barbaren“13. Durch solche Äußerungen ermutigt, wurden die Indianer immer mehr zum Hassobjekt der amerikanischen Siedler, die den Indianern jegliches Recht auf Land absprachen, so wie sie Indianerfrauen auch das Recht auf sich selbst absprachen und diese in Folge massenhaft durch Weiße vergewaltigt wurden.

Ein Instrument zur Interessensdurchsetzung der Siedler, deren Zahl von 1812 bis 1852 von sieben auf 23 Millionen anwuchs, war das 1824 als Abteilung des Kriegsministeriums gegründete und ab 1849 dem Innenministerium unterstellte Bureau of Indian Affairs (Büro für indianische Angelegenheiten, BIA). In der ersten Phase seines Bestehens war es vornehmliche Aufgabe des BIA, mit den als souverän erachteten Indianerstämmen Verträge auszuhandeln, um den aus dem Osten kommenden Siedlern Zugänge zur Westküste (sogenannte Durchgangskorridore) zu sichern. Allerdings wurde keiner der im Zeitraum von 1778 bis 1868 zwischen der Regierung der USA und den souveränen indianischen Nationen geschlossenen 394 Verträgen seitens der US-Regierung eingehalten.14 So wurde diese Aufgabe des BIA mit der Zunahme militärischer Siege der US-Armee über die Indianer und mit dem Einstellen weiterer Vertragsabkommen im Jahre 1871 obsolet.

Längst wurde ein groß angelegter Vertreibungsplan für einzelne indianische Völker umgesetzt. Gesetzliche Grundlage war der 1830 unter Präsident Andrew Jackson vorgelegte „Indian Removal Act“. Allerdings sah dieser Plan vor, dass alle Gebiete östlich des Mississippi den Weißen und das gesamte Land der Vereinigten Staaten westlich des Flusses mit Ausnahme der Staaten Missouri und Louisiana sowie des Territoriums von Arkansas den Indianern vorbehalten sein solle.

Diese „Ewige Grenze“, wie sie 1834 im „Gesetz zur Regelung des Handels und der Beziehungen mit den Indianerstämmen und zur Einhaltung des Friedens in den neuen Siedlungsgebieten“ genannt wurde, sollte durch die militärischen Streitkräfte der Vereinigten Staaten geschützt werden. Die Siedler stoppte dies allerdings kaum. Und so wurde die „Ewige Grenze“ kurzerhand nach Westen verschoben. Und nachdem Kalifornien zum 31. Bundesstaat wurde und der Weg der Siedler bis zur Pazifikküste geöffnet werden sollte, wurde die „Ewige Grenze“ der „Manifest Destiny“ geopfert, jener Doktrin, nach der Europäer als überlegene Rasse auserkoren seien, in Amerika das Land und seine Ureinwohner zu beherrschen.

Die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende Gegenwehr der indianischen Völker und vor allem der Prärieindianer konnte diese Entwicklung nicht mehr aufhalten. Die Vertreibung der Indianer in Reservate und die permanente Verkleinerung ihres Lebensraumes waren die Folgen. Manche Reservate waren nahe der ursprünglichen Lebensgebiete der jeweiligen indigenen Nationen, andere lagen viele hundert Meilen entfernt. Viele Stämme wurden nach Inkrafttreten des „Indian Removal Acts“ in weit entfernte Gegenden zwangsumgesiedelt. Besonders bekannt wurden dabei vor allem die Vertreibung der Apachenstämme im Südwesten der USA und der „Lange Marsch“ der Navajo sowie der „Pfad der Tränen“ der im Südosten lebenden indianischen Stämme nach Oklahoma.

Allein bei diesem „Trail of Tears“, dem Marsch in das über 2.000 km entfernt gelegene neue Territorium, starben seit 1838 mindestens 4.000 Cherokee, mindestens 500 Chickasaw. Von den Muskogee starben schätztungsweise etwa 10.000, d.h. 50 % des Volkes sowie rund 2.500 Choctaw an den direkten oder indirekten Folgen der Vertreibung.

Bei dem „Langen Marsch“ der Diné (Navajo) aus dem heutigen Arizona in das Bosque Redondo Reservat in Neu Mexiko starben bereits beim ersten Konvoi 1864 von 2.500 Navajo 323 Personen an Kälte, Hunger, Krankheit und Erschöpfung. Vor allem Kinder, Schwangere, Alte und Kranke, die bei dem fast 500 km langen Marsch nicht mithalten konnten, wurden durch die Soldaten der US-Armee gnadenlos getötet. Beim folgenden Konvoi erreichten von 946 Navajos gerade noch 836 Bosque Redondo. Am Ende lebten 9.000 Navajo und 400 Mescalero-Apachen in einem Reservat, dessen Boden unfruchtbar war, dessen Bäume fast alle für den Bau des in der Nähe gelegenen Fort Sumner gefällt wurden und dessen alkalihaltiges Flusswasser ungenießbar war. Um unter diesen Bedingungen überhaupt überleben zu können und Schutz vor der Sonnenhitze zu finden, lebten die internierten Diné und Mescalero in Erdlöchern, die ein wenig Schatten und Kühle gewährten. Nach drei Jahren waren bereits 10 % der Navajo und Mescalero an diesen Lebensbedingungen gestorben.

Die amerikanische Regierung, die zehn Millionen Dollar in das Unternehmen gesteckt hatte, beauftragte General Tecumseh Sherman mit der Untersuchung der Zustände – nicht nur aus Gründen der Menschlichkeit, sondern auch, um Geld zu sparen. Sherman war erschüttert über die Lage der Diné und schickte einen Bericht an General Ulysses S. Grant, der bald Präsident der Vereinigten Staaten werden sollte. Am 1. Juni 1868 unterzeichneten Navajo-Häuptlinge in Fort Sumner einen Vertrag, worin die US-Regierung dem Diné-Volk ein Reservat in seinem alten Land zuteilte und den Überlebenden die Rückkehr bewilligte. Im Gegenzug verpflichteten sie sich, von nun an in Frieden mit den amerikanischen Siedlern zu leben.15

Als die Diné in ihre Heimat zurückkehrten, fanden sie ihre Hogans zerstört und ausgebrannt, ihre Pfirsichplantagen mit über 5.000 Obstbäumen gefällt und ihre Maisfelder verwüstet vor. Ihr Vieh war verschwunden oder sinnlos abgeschlachtet worden, und ihre Trinkwasserbrunnen waren teilweise vergiftet.

Diese Liste der Vertreibungen und deren Folgen lässt sich weiter ausführen. Viele der Reservationen lagen in Gegenden, in denen das Überleben für die nun dort angesiedelten Natives schwer war: kaum Wasser, wenig Vegetation, extreme Temperaturen, kaum mehr Wild zum Jagen. Allerdings zeigte sich im Laufe der Jahrzehnte, dass ein Großteil der nordamerikanischen Bodenschätze, wie z. B. Gold, Kohle, Kupfer, Uran usw., genau in diesen Territorien lag.

Die Gebiete der Lakota, Dakota, Nakota, denen im Vertrag von Fort Laramie 1868 ein Territorium von Wyoming bis Minnesota, der kanadischen Grenze bis Nebraska zugesichert wurde, wurden nach dem Fund von Gold in den Black Hills zunehmend verkleinert, was zu immer neuen Konflikten führte. Nachdem in den USA die Regierung 1871 dazu überging, mit den Indianern keine Verträge mehr abzuschließen, wurde den Indianern jegliches Mitspracherecht entzogen. Nun bestimmte die US-Regierung die Neuschaffung, Verkleinerung oder Vergrößerung von Reservaten („Erlass-Reservate“).

In den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bäumten sich gegen diese Vertragsbrüche und gegen die anhaltende Besiedlung der ihnen vertraglich zugesicherten Territorien vor allem die Stämme der Plains- und Prärieindianer ein letztes Mal auf. Die Schlacht am Little Big Horn River am 25. Juni 1876 mag hierfür als Symbol stehen. Doch so spektakulär und geschichtsträchtig diese Schlacht und der Sieg der indianischen Verbündeten über die 7. US-Kavallerie von Lieutenant Colonel Custer auch gewesen sein mag, so sieht die blutige Bilanz der militärischen Auseinandersetzungen zwischen US-Soldaten und den indianischen Verteidigern ihres Landes in der Zeit der sogenannten Indianerkriege zwischen 1790 und 1891 eindeutig anders aus. Den hierbei gefallenen 2.283 Soldaten stehen ca. 400.000 indianische Tote gegenüber.16 Dabei starben viele bei grausamen Gemetzeln und Massakern der US-Kavallerie. Hundert Jahre später rüttelten Bücher wie Dee Browns „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses” (1970) und Kinofilme wie Arthur Penns „Little Big Man“ oder Ralph Nelsons „Soldier Blue – Das Wiegenlied vom Totschlag“ (beide ebenfalls aus dem Jahr 1970) viele junge 68er auf. Durch die zeitlicher Nähe zu den Vietnam-Kriegs-Massakern der US-Army in My Lai aber auch zum neu entstehenden indianischen Widerstand brachten sie das Thema des Völkermords an den nordamerikanischen Indianern wieder in die politische Öffentlichkeit. Dabei war die reale Dimension dieser Gemetzel erheblich brutaler und barbarischer als die schon teilweise schwer erträglichen filmischen Darstellungen:

Nach Sonnenuntergang, am 28. November 1864, verließ Colonel J. M. Chivington mit seiner Truppe „Fort Lyon“ im Bundesstaat Colorado. In der Dunkelheit ließ der Oberst ein Camp umstellen, in dem sich 500 Indianer zur Nacht rüsteten. … Als Indianer den Aufzug der weißen Soldaten bemerkten, informierten sie erschrocken ihren Führer, der die weiße Fahne und die Fahne der Weißen zum Zeichen seiner Friedfertigkeit aufziehen ließ. … Ohne jede Ankündigung … und Pardon wurde das Camp gestürmt. Zuerst machten sie sich über die Männer her … Dann waren die entsetzten Frauen an der Reihe, deren Schreie nach und nach verstummten. Nun waren nur noch die Schreie der Kinder zu hören, dann verstummten auch sie … Als sich nichts mehr regte, was indianisch war, schnitten die weißen Soldaten die reglosen Körper auf. Sie trennten den Frauen die Brüste ab, und dann, Höhepunkt der gespenstischen Nacht, skalpierten sie die Opfer. Am Ende lagen 450 grausam zugerichtete Menschen, wo noch wenige Stunden zuvor die Idylle des Nachtlagers geherrscht hatte.17

Bei der Rückkehr nach Denver wurden Chivingtons Truppen, die an ihren Hüten abgeschnittene Brüste und Genitalien, Skalpe von Kindern und große abgezogene Hautfetzen der massakrierten Cheyenne befestigt hatten, von der Bevölkerung begeistert begrüßt und gefeiert.

Ähnlich wie das Sand-Creek Massaker verliefen zahlreiche weitere Gemetzel, wie z. B. das Massaker am Washita River, ebenfalls an Cheyenne-Indianern:

Die im Winter 1868 in einem Lager am Washita River lagernden Cheyenne unter ihrem Häuptling Black Kettle litten Hunger, da die von der Regierung versprochenen Lebensmittellieferungen ausblieben. Zahlreiche junge Krieger wollten diesen Zustand nicht länger hinnehmen und machten sich auf in die ehemaligen Jagdgründe am Smoky Hill. Der Indianeragent Wynkoop eilte zu Black Kettle und bat ihn, die jungen Krieger zurückzuhalten.

„Unsere weißen Brüder entziehen uns die Hand, die sie uns am Medicine Lodge gereicht haben, aber wir werden versuchen sie festzuhalten“, sagte Black Kettle. Doch immer wieder brachen junge Krieger auf, um Nahrung zu beschaffen und sich für die gebrochenen Versprechen zu rächen. General Sheridan wollte das unterbinden und ein abschreckendes Beispiel geben, was den Indianern bevorstand, wenn sie aufbegehrten.

Anfang November 1868 wurde Black Kettle bekannt, dass Truppen unter George Armstrong Custer auf dem Weg waren, und er bat, seinen Stamm in der Nähe von Fort Cobb lagern zu lassen. Der Kommandant des Forts lehnte ab, er gab jedoch die Zusicherung, Black Kettle würde nicht angegriffen, wenn er und seine Krieger ruhig blieben. Aber die Vernichtung seines Dorfes war bereits beschlossen.

Im Morgengrauen des 27. November 1868 kamen Custers Truppen. In der Nacht hatte es geschneit, und Nebel lag über dem Lager. Die Indianer hatten nicht bemerkt, dass Custers Truppen vor dem Lager ausschwärmten. Custer hatte klare Weisungen erhalten und gedachte diese mitleidlos auszuführen, um sich nach seiner einjährigen Zwangspause erneut zu profilieren. Mit dem Angriffssignal des Hornisten und unter den Klängen der Regimentskapelle, die den Militärmarsch der 7. Kavallerie spielte, stürmten die Truppen in das schlafende Dorf, ohne auf Widerstand zu stoßen, und das Massaker begann. Die fast nackt aus ihren Zelten in den Schnee flüchtenden Indianer wurden niedergemacht. 103 Indianer wurden binnen Minuten getötet, 53 Frauen und Kinder gefangengenommen. Über 800 Indianer-Ponys wurden auf Befehl von Custer erschossen.18

Es mag ein trauriges Zeugnis über den Zivilisationsgrad des weißen Amerika sein, dass gerade in Nähe dieser Stätten übelster Massaker an den Cheyenne Ortschaften die Namen der beiden Kriegsverbrecher „Chivington“ und „Custer“ tragen und beide über 150 Jahre später immer noch als Helden von Teilen der weißen Bevölkerung ver- und geehrt werden.

Die sogenannten Indianerkriege endeten mit dem Massaker von Wounded Knee im Jahr 1890, 16 Tage, nachdem der Lakota-Medizinmann Sitting Bull bei seiner Festnahme durch indianische Polizisten in Kanada erschossen wurde. 300 meist unbewaffnete Indianer, darunter viele Frauen, Kinder und Alte, waren unter Führung ihres an einer schweren Lungenentzündung erkrankten Häuptlings Spotted Elk (Big Foot) auf dem Weg zur Pine Ridge Agency, um dort bei Häuptling Red Cloud in Sicherheit den harten Winter überstehen und Schutz vor den sie verfolgenden Soldaten finden zu können. Keinen Tagesritt von Pine Ridge entfernt trafen die Minneconjou-Lakota nahe des Flüsschens Wounded Knee, in der Nähe jenes geheimen Ortes, an dem die Lakota das Herz des in Fort Robinson, Nebraska, ermordeten Häuptlings Crazy Horse bestattet haben sollen, auf Soldaten und wurden durch diese zu einem Lagerplatz der Kavallerie gebracht. Dort wurden sie von dem zu diesem Zeitpunkt noch die Operation leitenden Major Samuel Whiteside recht fair behandelt. Den entkräfteten Indianern wurden Zelte und Proviant übergeben, und der Regimentsarzt kümmerte sich um den erkrankten Häuptling, vor dessen Zelt sogar ein Ofen aufgebaut wurde. Die Situation änderte sich am späten Abend, als Colonel J. W. Forsyth mit dem Rest der 7. US-Kavallerie eintraf und die Leitung der Gesamtoperation übernahm. Forsyth feierte mit seinen Soldaten die Festnahme Big Foots – es wurde massenhaft Whiskey getrunken. Ein indianischer Zeuge, der sich von den Soldaten unbemerkt angeschlichen hatte, hörte bereits in der Nacht, dass die alkoholisierten Soldaten immer wieder in Rachegedanken aufgrund der Niederlage am Little Big Horn und des Todes von George Armstrong Custer verfielen und warnte daraufhin seine Leute. Als am kommenden Tag die Indianer entwaffnet werden sollten und sich dabei ein Krieger, der nach Aussagen eines Nachfahren von Big Foot schwerhörig gewesen ist, weigerte sein Gewehr abzugeben und bei der Rangelei bei seiner Entwaffnung sich ein Schuss aus seinem Gewehr löste, eröffneten die Soldaten sofort mit Gewehren und später auch mit Hotchkiss-Kanonen das Feuer auf das indianische Camp.

Laut Zählung starben bei diesem Massaker 153 Minneconjou-Lakota, viele waren verwundet und einige konnten auch schwerverletzt in die umliegenden kleinen Rinnen und Schluchten (Ravines), in denen auch einige Frauen und Kinder Zuflucht gefunden hatten, entkommen. Die Soldaten forderten die sich dort versteckenden Lakota auf, aus den Ravines hochzukommen, dann würden sie medizinisch versorgt werden. Für diejenigen, die diesen Worten glaubten, und dies war die Mehrzahl der sich dort verbergenden Lakota, sollte ihr Vertrauen tödliche Folgen haben. Sobald sie den oberen Rand der kleinen Senken erreicht hatten, wurden sie durch die Soldaten erschossen.

Die Bilder des im Schnee liegenden steif gefrorenen Leichnams von Big Foot und der in Massengräber geworfenen Leichen der getöteten Lakota zählen bis heute zu den meistverbreiteten Aufnahmen jener Zeit und sind damit Zeugnisse jenes grausamen Mordens und Tötens der US-Kavallerie, das noch am 30.12.1975 offiziell durch das US-Verteidigungsministerium als legitime Schlacht bezeichnet wurde.

Eine weitere zentrale Todesursache für viele Native Americans lag in den Folgen von Unterernährung und Hunger. Diese wiederum korrespondierten mit drei Entwicklungen.

Erstens starben viele Indianer an Unterernährung verbunden mit Erschöpfung im Rahmen ihrer territorialen Vertreibung und Zwangsumsiedlung – entweder direkt im Verlauf dieser ethnischen Säuberungsaktionen oder aber, da es in den zugewiesenen Reservationsgebieten kaum ausreichende Jagd-, Fischerei- oder Anbaumöglichkeiten gab.

Zweitens wurden einige Reservate permanent so verkleinert bzw. nach dem „General Allotment Act“ von 1887, auch „Dawes Act“ genannt, so parzelliert, dass die zugewiesenen Parzellen auf die Dauer für die Ernährung der Familien kaum ausreichend waren.

Drittens wurden mit der gezielten Ausrottung der Bisons den nordamerikanischen Indianern eine ihrer wesentlichsten Lebensgrundlagen entzogen.

„Der Bison war alles für die Indianer. Er war ihr Leben. Er war Tag und Nacht. Was sie sahen, rochen, aßen oder anfassten, bestand aus Bison. Er war das Zentrum ihrer Kultur.“ Bisons lieferten nicht nur ausreichend Fleisch für die Ernährung. Bisonmägen dienten lange Zeit als Koch- und die Blase als Aufbewahrungsbehälter. Hirn, Niere und Leber wurden als Gerbmaterial eingesetzt. Gegerbtes Fell mit und ohne Haare wurde zur Herstellung von Decken, Winterkleidung, Material für Sättel, Zeltplanen, Satteltaschen und Bekleidung genutzt. Ungegerbte Rohhaut diente der Herstellung von Aufbewahrungsboxen, Trommeln, Messerscheiden usw. Seile und Schnüre wurden aus Bisonhaar gedreht, und aus Haut- und Hufresten wurde Leim gekocht. Hörner wurden als Löffel, Trink- und Pulverhörner verwendet, Zähne und Knochen dienten der Schmuckherstellung und Bisonschädel als Altarbestandteile bei indianischen Zeremonien. Die Sehnen konnten als Nähmaterial oder Bogensehnen genutzt werden, und der getrocknete Büffeldung ersetzte oftmals Holz als Feuerungsmaterial.19

Somit wird deutlich, dass die Beziehung zum Bison gerade für die Plains- und Prärieindianer auch erheblich deren Kultur als nomadische Jäger determinierte. Die systematische Ausrottung der Büffel in den USA betraf die indianischen Völker daher sowohl existentiell als auch kulturell und war eindeutig Bestandteil geplanter Ausrottungspolitik. „(Büffeljäger) haben in den vergangenen zwei Jahren mehr zur Lösung der ärgerlichen Indianerfrage beigetragen als die gesamte Armee in den vergangenen 30 Jahren. Sie zerstören damit den Proviant der Indianer … Sendet ihnen (den Büffeljägern, MK) Pulver und Blei …, lasst, um einen dauerhaften Frieden zu sichern, sie töten, häuten und handeln, bis alle Büffel ausgerottet sind.20

Und General William Tecumseh Sherman wurde zitiert mit seiner Aussage „Es wird klug sein, all jene Sportsmänner aus England und Amerika zu einer großen Büffeljagd einzuladen, um richtig Tabula rasa zu machen.“21 Tausende Jäger strömten in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts in die Great Plains, wobei jeden Tag ca. 5000 Bisons abgeschlachtet wurden. 1875 war die südliche und 1882 die nördliche Bisonherde der USA ausgelöscht. Mit ursächlich hierfür war auch, dass 1870 in Deutschland ein neuartiges Gerbverfahren entwickelt wurde, dass Bisonhaut zu hochwertigem Leder werden ließ. Allein in diesem Jahr wurden über 2 Millionen Bisons getötet. Lag die Zahl der Bisons in Nordamerika bis zum 16. Jahrhundert bei über 50 Mio. Tieren (manche Wissenschaftler gehen sogar von einer Zahl von über 80 Millionen Tieren aus), so lebten nach der systematischen Ausrottung 1889 in den USA gerade noch ca. 542 Exemplare und in Kanada ca. 250 Exemplare.22 Andere Zählungen ergaben, dass es in den USA 1884 gerade noch 325 und 1902 gar nur noch 23 frei lebende Bisons (Pelican Valley) in den USA und in Kanada nur 8 frei lebende Büffel gab.

Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nahm der Genozid an den Indianern ein neues Gesicht an. Die militärische Bekämpfung und Massaker wurden nun vor allem durch Strategien der „Pazifizierung“ und der kulturellen Entwurzelung und Entfremdung (Ethnozid) abgelöst. Die Indianer sollten aus ihren bisherigen gemeinschaftlichen Lebensformen herausgelöst und im Sinne der europäischen Ideologie individuellen Grundbesitzes „zivilisiert“ werden. Ich will dies anhand einiger Beispiele kurz aufzeigen.

Am 8. Februar 1887 unterzeichnete Präsident Grover Cleveland den „General Allotment Act“, der die Aufteilung indianischer Ländereien an einzelne Familien vorsah. Eine solche Denkweise widersprach völlig der indianischen Tradition, dass Land niemals in Privatbesitz übergehen könne. Territorien würden zwar von den jeweiligen Völkern für Jagd, Fischerei, Sammeln von Wildpflanzen (Kräuter, Wurzeln, Rinden, Wildreis, wilde Rüben usw.) und Ernte angebauter Pflanzen (Mais, Kürbis, Bohnen usw.) genutzt und als Lebensraum definiert und auch gegenüber anderen indianischen Völkern entweder verteidigt oder aber erobert. Doch prinzipiell gilt für traditionelle Indianer bis heute „Mother Earth is not for sale“, denn sie verstehen sich in symbiotischer Einheit mit allen sie umgebenden Dingen, Pflanzen und Tieren ihrer Territorien.

Nun sollten also die Reservationsländereien nach einem ausgeklügelten System privatisiert werden, wobei der damit verbundene weitere Landraub erst einmal verdeckt blieb. Nach dem Gesetz sollte jedes Familienoberhaupt 160 acres (ca. 480 km2), jeder unverheiratete Mann 80 acres und jedes Kind 16 acres erhalten. Dies klingt zwar nach großen Flächen, ist jedoch in Anbetracht der Größe der eigentlichen indianischen Gebiete, selbst der Reservationsgebiete, nur ein Bruchteil des Landes. Das nicht verteilte Land sollte dann an weiße Siedler durch das BIA langfristig verpachtet werden.

1888 sollte ein Folgegesetz vor allem die Zerschlagung der „Great Sioux Reservation“ regeln. Statt einem gemeinsamen großen Reservat sollten in diesem Gebiet sechs kleine Reservationen entstehen und dann das restliche Land zur Besiedlung durch Weiße freigegeben werden (über 36.000 km2). Allerdings lehnten die Lakota mehrheitlich bei einer Befragung (traditionell müssen 75 % der befragten männlichen Lakota bzw. der auf dem Reservat lebenden Indianer solche Gesetze unterzeichnen) dieses Gesetz ab. Langfristig konnten sie aber diese Zersiedelungspolitik nicht verhindern.

Ein weiteres Folgegesetz aus den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts erlaubte dann den indianischen Eigentümern den Verkauf dieser zugewiesenen Ländereien, zunächst bis zu maximal 120 acres und später die gesamten 160 acres.

Dabei wurden Verkauf oder aber auch Verpachtung ebenfalls durch das Bureau of Indian Affairs vorgenommen, das dann die Transaktionen managte, die Einnahmen kassierte, verwaltete und den verkaufenden oder verpachtenden Familien ihr Geld irgendwann auszahlte.

Dies ist bis heute noch so. Die Pachtgebühr kassiert das gesamte Jahr über das BIA und zahlt dann die wenigen Centbeträge pro acre zum Jahresende/-anfang an die indianischen Eigentümer aus. Solche Verpachtungen laufen dann noch über sehr lange Zeiträume.

1914 war von den US-Reservationen 1 % im Besitz des Staates, 19 % im Privatbesitz indianischer Familien und 80 % im Besitz des Stammes, der diese Ländereien wiederum bis heute an weiße Farmer und Rancher, Firmen und Industrien verpachten kann.

Bei den Lakota der Pine Ridge Reservation sind z. B. ca. 25 % des Gebiets für einen Zeitraum von 50 Jahren an Weiße verpachtet. Wohin die Einnahmen dann tatsächlich gehen, ob damit das Wohl der jeweiligen Stämme und Gemeinden gemehrt wird und ob die Investition dieser Gelder im Interesse der Mehrheit der jeweiligen Reservationsbewohner ist, mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben.

Deutlich werden die Folgen des Dawes Act, wenn man sich vorstellt, wie über Generationen die Ländereien aufgrund der Anzahl der Erben immer kleiner werden:

Der Muskogee-Creek Medizinmann und Bürgerrechtler Philip Deere beschreibt die Auswirkungen und neuen Konflikte, die durch den „General Allotement Act“ für sein Volk bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden sind, sehr deutlich in dem von Daniel C. Rohr herausgegebenen Buch „Das entzündete Feuer - Botschaften und Reden“(1986, S. 73 f).

Diese Fraktionalisierung des Landes führte dazu, dass in Wisconsin sich 2.300 Natives das Eigentum an 0,3 Quadratkilometern Land teilen oder in der Pine Ridge Reservation 6.000 Parzellen im Besitz von ca. 200.000 Eigentümern sind, die über jede Nutzung dann mehrheitlich entscheiden müssen.

Derzeit verwaltet das Innenministerium (DOI) treuhänderisch ca. 226.000 Quadratkilometer indianischen Landes, davon ca. 43.370 Quadratkilometer für einzelne Indianer, aufgeteilt in 493.909 Parzellen bei nahezu 3 Mio. Anteilseignern. Die restliche Fläche ist Stammesland. Für die Eigentümer bringt diese treuhänderische Verwaltung kaum Ertrag: fast 50 % des Landes erzielt keinen Gewinn, und 2013 erhielten 60 % der indianischen Eigentümer lediglich 25 Dollar oder weniger für die Fremdnutzung ihres Landes.23

Drei weitere Gesetze sollen an dieser Stelle noch kurz erwähnt werden. Bereits drei Jahre vor Erlassen des „General Allotment Act“ wurde 1884 ein Verbot der Ausübung indianischer Religion erlassen. 1924 erhielten alle Indianer der USA den Status US-amerikanischer Staatsbürger. In manchen Reservationen wurden erst vier Jahre zuvor die letzten bewaffneten Reservationswachen der Armee abgezogen. Das Gesetz räumte der indianischen Bevölkerung zwar mehr Rechte ein, doch eine mögliche weitere Bedeutung dieses Gesetzes sollte erst drei Jahrzehnte später im Rahmen der Umsiedlungs- (relocation) und Termination-Politik der US-Regierung deutlich werden. 1934 wurde unter Präsident Franklin D. Roosevelt der „Indian Reorganisation Act“ verabschiedet. Dieses Gesetz sollte dazu beitragen, „die kulturelle und kommunale Identität der Stämme wieder aufzubauen. Die Indianer konnten Stammesräte wählen und erhielten nicht verteiltes Land zurück sowie deutlich mehr finanzielle Unterstützung für Landwirtschaft, Bildung, Kunsthandwerk und Gesundheit.“24

Traditionelle Indianer sahen hierin allerdings einen weiteren Versuch der Zerstörung ihrer Kultur und Selbstbestimmung. Für die Traditionellen war immer noch das Häuptlingssystem Leitbild der Stammesorganisation. Manche Stämme wie die Diné kannten nicht einmal ein hierarchisches Häuptlingssystem. Konkreter Anlass für die Schaffung der Stammesräte war tatsächlich das Bestreben, die reichen Kohlevorräte auf dem Land der Diné und Hopi abzubauen, doch für Verträge bedurfte es eines Vertragspartners. Also wurden mit den Stammesräten eben solche neu geschaffen. An dem Modell der sogenannten Stammesregierungen (Tribal Council) kritisierten und kritisieren auch heute noch viele Natives, dass mit der Übernahme des Regierungsmodells der westlichen Demokratien Machtmissbrauch, Korruption, Interessenspolitik und die Spaltung der Community Einzug gehalten haben. (In diesem Zusammenhang sei an dieser Stelle auf die Junta de Buen Gobierno, den Rat der guten Regierung, in den zapatistischen Gemeinden in Süd-Mexiko verwiesen. Dieses Modell versucht in den indigenen Gemeinden der Zapatisten mit einem Modell horizontaler, rotierender und kollektiver Instanzen die Entstehung personen- oder gruppenbezogener Macht aufgrund von Regierungsverantwortung zu verhindern.25

Die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts markierten eine erneute Wende. Der zunehmende Energie-, Wasser- und sonstige Ressourcenbedarf des Nachkriegsamerikas führte dazu, zur Deckung dieses Bedarfs neue Talsperren zu bauen, Grundwasservorkommen für die Versorgung fern gelegener Städte zu nutzen und zwecks Uran-, Kohle-und Kupferabbau ganze Landschaften zu verwüsten. Die Regierung bezeichnete diese Gegenden als „nationale Opfergebiete“ (national sacrifice areas), die den Interessen des „amerikanischen Gemeinwohls“ zu opfern seien. Und wieder wurden Indianer umgesiedelt, deren heilige Orte entweder geflutet oder zu Abbaugebieten erklärt. Längst war den Regierenden und Herrschenden klar geworden, dass über 60 % aller relevanten Bodenschätze auf indianischem Gebiet lagen. Was lag also näher als einen erneuten Versuch der Vertreibung zu unternehmen? Schließlich waren die Indianer doch nun Bürger der USA. Für was also Sonderrechte und Staatsausgaben für Bildungs- und Gesundheitswesen, Sozialprogramme und Lebensmittelhilfen in indianischen Reservationen? Wäre es nicht endlich Zeit für die Reservationsbewohner, diese Orte der Armut und Ausgrenzung zu verlassen und in die Großstädte zu ziehen und endlich die Reservationen aufzulösen? So könnten auch alle Garantien aus den Verträgen zwischen den indianischen Völkern und den USA hinfällig werden, die bislang regelten, dass Grund und Boden in Reservationen einen besonderen Gemeinschaftsstatus haben und daher nicht einfach individuell genutzt bzw. weiterverkauft werden können.