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Klug, frech, entschlossen – Hauptkommissar Häberle ist zurück! Flott erzählt, mit einer Prise Humor und einer großen Portion Liebe für Land und Leute. Woran ist der mysteriöse Tote gestorben, der im Wald bei Oberried gefunden wurde? Wer ist der Mann, der von dort geflüchtet ist? Wie ist die lokale Pilzszene in das Ganze verwickelt? Und wer zum Teufel ist der rätselhafte Unbekannte Don Funghi? Fragen über Fragen, die nur einer beantworten kann: Hauptkommissar Thomas Häberle von der Freiburger Kripo. Doch um dem Mörder auf die Spur zu kommen, müssen er und sein Team erst die dunklen Geheimnisse des Schwarzwalds lüften ...
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Seitenzahl: 467
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Markus Fix, Jahrgang 1974, ist Journalist, Autor und Pressereferent. Nach seinem Germanistikstudium an der Universität Freiburg und ausgedehnten Radreisen folgte ein Volontariat bei einer Tageszeitung in Offenburg. Fünfzehn Jahre arbeitete er anschließend als Redakteur in der dortigen Nachrichtenredaktion. 2021 wechselte er in die Pressestelle einer Behörde. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin in Emmendingen nahe Freiburg. Den Schwarzwald kennt er durch viele Touren auf dem Rennrad, dem Mountainbike und in Wanderschuhen. Er liebt die steilen Höhen und die einsamen Täler dieser Berge.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Radiocat
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzeptvon Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-143-0
Schwarzwald Krimi
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Beate Riess.
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Für Katja
Fast war er erleichtert, als ihm bewusst wurde, dass es nun so weit war. Er würde sterben. Jetzt. Allein. In diesem dunklen und feuchten Verlies. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Aber er ahnte, dass er unerreichbar weit entfernt war von jedem, der ihm hätte helfen können. Er hatte geschrien. Stundenlang, nachdem er hier vor mehreren Tagen aufgewacht war. Wie viele Tage es waren, konnte er nicht sagen. Er hatte das Zeitgefühl in dem immer nur stundenweise von Kerzen erhellten Raum schnell verloren. Irgendwann hatte seine Stimme versagt. Und schließlich hatte er es eingesehen. Es gab kein Entkommen aus diesem Felsenverlies. Die Tür in der Holzwand aus dicken Brettern hatte noch nicht einmal ein Schloss, das sich vielleicht hätte knacken lassen. Wahrscheinlich lag von der anderen Seite ein Balken quer davor. Einfach, aber effektiv. Nein, es gab keine Hoffnung auf Rettung, keine Hoffnung auf ein Entkommen.
Die unerträglichen Kopfschmerzen, der unstillbare Durst und die weiteren ihm bekannten Symptome hatten ihn schon vor ein paar Tagen erkennen lassen, dass es jetzt ohnehin zu spät war. Auf die Panik nach dieser Erkenntnis war erst Verzweiflung, dann Verleugnung, Verdrängung und schließlich Akzeptanz gefolgt. Es hatte noch mehrere qualvolle Tage gebraucht, die er teils im Delirium verbracht hatte, um an den jetzigen Punkt zu gelangen. Nun gab sein Körper auf, gleich würde es vorbei sein.
Er dachte an seine Tochter, mit der er in den fünf Jahren seit der Scheidung viel zu wenig Zeit verbracht hatte. An seine Freundin, wegen der er diesen qualvollen Tod erleiden musste. Aber wer hätte denn auch ahnen können, dass dieser Mensch zu so etwas fähig war? Und er hatte es clever eingefädelt und durchgeplant. Hatte ihm in den vergangenen Tagen neben einzelnen Kerzen und Streichhölzern immer genügend Wasser und Essen gebracht, sodass sein Körper bis auf die Kopfverletzung keinerlei Wunden oder Mangelerscheinungen aufweisen würde, falls man ihn irgendwann fand. Wobei er davon ausging, dass er einfach im Wald verscharrt werden würde und somit niemand jemals herausfinden konnte, was mit ihm passiert war.
Natürlich hätte er die Aufnahme von Nahrung und Wasser verweigern können. Aber Hunger und Durst waren stärker gewesen. Er hatte nie verstanden, wie Hungerstreikende es schafften, trotz vorhandener Nahrung nichts zu essen. Was für eine unfassbare Willensstärke sie haben mussten. Gestern hatte es sogar noch einmal ein Pilzgericht gegeben. Dieser eiskalte und zynische Mistkerl wusste genau, dass es mit ihm zu Ende ging.
Er konnte jetzt nur noch hoffen, dass dieser Psychopath nicht damit davonkam. Dass seine Leiche gefunden, der Mord an ihm als solcher erkannt und das Schwein erwischt wurde. Er zuckte zusammen. Eine letzte starke Welle von Übelkeit und Krämpfen durchlief seinen Körper, und er stöhnte gequält auf. Dann verlor er die Besinnung. Und wachte nicht mehr auf.
»Wir essen, wir essen, wir essen so gerne Spiegelei auf Brot …« Thomas Häberle musste lächeln, als er bemerkte, was er da gerade leise vor sich hin sang, während er besagtes Spiegelei in der Pfanne anbriet. Wo kam denn das plötzlich her, das hatte er ja seit den Achtzigern nicht mehr gehört? Langsam schob er einen Pfannenheber unter das Ei. Vorsichtig, nicht das Eigelb auslaufen lassen – perfekt. Und ab damit auf das eben besungene Brot.
Er summte die Melodie weiter, da er sich nicht mehr an den weiteren Text des uralten Mike-Krüger-Lieds erinnern konnte, und streute eine Prise Salz auf das Ei. Nicht zu viel, nicht zu wenig, dazu etwas Pfeffer und nein, kein Maggi. In der Küche seiner Mitbewohnerin Lotte Merckheim gab es diese laut ihr »Geschmackssinn abtötende Glutamat-Plörre« nicht, und er hatte sich damit abgefunden. Teils, weil sie ihm gezeigt hatte, wie er seine Spiegeleier mit Liebstöckel und Petersilie aus ihrem kleinen Kräutergarten mindestens genauso lecker hinbekam. Und teils, weil er sich nicht traute, ihr zu widersprechen.
Sie konnte immer noch ziemlich wütend werden, die junge Köchin, auch wenn sie sich inzwischen sehr viel besser vertrugen als bei seinem Einzug vor zehn Monaten. Zwar nannte sie ihn hin und wieder noch immer »Herr Häberle«, wenn sie richtig sauer wurde. Aber vor ein paar Wochen hatten sie es tatsächlich geschafft, zum Du überzugehen, da es ihnen sowieso schon öfters herausgerutscht war. Das offizielle Du war bei einem von ihr gekochten, mal wieder hervorragenden Abendessen ausgesprochen worden, bei dem auch seine Kolleginnen Maria Dupont und Julia Specht nebst deren Freund Uwe anwesend waren.
Der nette und sehr humorvolle, fast zwei Meter große Mittdreißiger, der mit seinen circa hundertzwanzig Kilogramm mindestens doppelt so viel wie seine dreißig Zentimeter kleinere Freundin wog, war inzwischen fast schon Dauergast in Lotte Merckheims Küche, da auch er Koch war und zudem ein großer Bewunderer ihrer Kochkunst. Wann immer er die Möglichkeit hatte, probierte er mit der Meisterköchin neue Rezepte aus, sehr zur Freude von Julia Specht, die das Ergebnis dann immer verkosten durfte. Was wiederum eher schlecht für Häberle war, da die junge Kommissarin nicht dazu neigte, etwas übrig zu lassen, und er daher meistens leer ausging.
Egal. Die gemeinsam getrunkenen vier Flaschen Rotwein von verschiedenen Kaiserstühler Weingütern hatten den Übergang zum Du jedenfalls relativ einfach gemacht.
»Siehst du, hat doch gar nicht wehgetan, oder?«, hatte Julia Specht diese für ihn ziemlich große Sache kommentiert, da durch das Wegfallen des Siezens die letzte Barriere zu seiner Mitbewohnerin eingerissen worden war. Jetzt lebte er also offiziell mit einer »Du«-Freundin in einer Wohngemeinschaft. Wenn auch nicht in einer kleinen versifften Wohnung wie zu seiner Studentenzeit, sondern in der von seiner Tante geerbten hochherrschaftlichen Villa im Freiburger Stadtteil Herdern.
Er trug sein Spiegelei-Brot zu dem großen Esstisch in der Mitte der Küche, der dort stand, seit die uralten Geräte und Schränke »seiner« Küchenhälfte ausgeräumt worden waren. Aus allen Richtungen der Villa war Hämmern, Bohren und Sägen zu hören. Die Küche war inzwischen so ziemlich der einzige Rückzugsort in der Villa, an dem nicht gearbeitet wurde. Bis auf das Beseitigen der alten Möbel war die Profi-Küche seiner Mitbewohnerin unberührt geblieben, sodass sie weiterhin fast täglich neue Kreationen für die Speisekarte des Goldenen Hirschen austüfteln konnte, in dem sie langsam, aber beständig auf ihren ersten Michelin-Stern hinarbeitete, wenn man den begeisterten Kritiken in einschlägigen Zeitschriften glauben konnte.
In der restlichen Villa wurden Wände eingerissen und neu eingezogen, Rohre entfernt und verlegt, Decken und Böden erneuert oder aufgehübscht, die Elektrik komplett ersetzt und so vieles mehr. Zumindest beim Wändeeinreißen konnte Häberle ab und zu helfen, was ihm wirklich Spaß machte. Den Vorschlaghammer schwingend ein Loch in eine Wand zu hauen, war ein super entspannender Ausgleich zu der Arbeit als Hauptkommissar im Morddezernat, fand er. Außerdem hoffte er insgeheim, dass dadurch ein paar Euro weniger auf den fast täglich ins Haus flatternden Rechnungen aufgeführt würden. Selbstbeteiligung war das Zauberwort. Aber natürlich waren die paar eingesparten Cent nur Peanuts im Vergleich zu den Summen, die die Renovierung kostete.
Die Bank hatte ihm und Lotte Merckheim das Geld mit der Villa als Sicherheit gern gegeben, und zu Häberles Überraschung und Erleichterung hatte seine Mitbewohnerin, die von seiner Tante lebenslanges Wohnrecht in der Villa zugesichert bekommen hatte, eine ansehnliche Summe aus dem Verkauf eines großen geerbten Waldstücks nahe ihrem Heimatort im Schwarzwald beigesteuert. Trotzdem, sobald er vom Bauleiter eine WhatsApp mit dem Inhalt »Morgen ist in einem der Stockwerke wieder Abrisstag!« bekam, versuchte er freizubekommen und zog morgens seine ältesten Klamotten und die noch immer sehr neu aussehenden Sicherheitsschuhe mit den Stahlkappen an. Dann schulterte er seinen Vorschlaghammer, der laut Obi-Verkäufer der Ferrari unter den Vorschlaghämmern war, und ging voller Vorfreude in das betreffende Stockwerk. Dort nickten ihm dann die Bauarbeiter zu, gaben ihm eine Schutzbrille und zeigten auf die zu entfernende Wand.
Ausholen, draufhauen und dann schauen, was passiert. Es passierte nämlich nicht immer das Gleiche, schließlich war die Villa über hundertfünfzig Jahre alt. Manchmal schlug er auf eine dünne Wand aus roten Ziegelsteinen ein, bei der die Zwischenräume mit Stroh gedämmt waren. Ein andermal war es Porenbetonstein, was auf eine neuere Wand hinwies. Einmal hatte er auch große, mit Lehm vermörtelte Sandsteine vorgefunden. Und ein anderes Mal war er beim Draufhauen fast durch die Wand geflogen, weil sie nur aus ein paar Brettern bestand. Die Bauarbeiter hatten einen Riesenspaß gehabt, denn sie hatten es natürlich gewusst. Seitdem klopfte er immer erst vorsichtig mit dem Hammer gegen die Wand und lauschte auf den Klang, bevor er zuschlug.
Langsam auf seinem Spiegelei-Brot kauend hörte er auf die Geräusche im Haus. Das würde noch Monate so weitergehen, bis alles fertig war, er und Lotte Merckheim ihre jeweiligen zwei Zimmer mit Bad beziehen und sieben weitere Zimmer mit zwei Etagenbädern an Studenten vermietet werden konnten. Das war der Plan. Und dann würde in der großen Villa noch immer mehr als genug Platz zur Verwirklichung weiterer, noch nicht spruchreifer Pläne zur Verfügung stehen. Lottes Traum von einem eigenen Restaurant im Erdgeschoss kam immer mal wieder zur Sprache, aber sie waren sich zum Glück einig, dass erst mal die aktuellen Umbauten beendet werden mussten.
»Wir essen, wir essen, wir essen so gerne …«, brummte er wieder vor sich hin und schaute traurig auf seinen inzwischen leeren Teller. Fertig. Schade. Also musste er jetzt wohl oder übel ins Polizeipräsidium.
Er räumte den Teller in die Spülmaschine, ging in sein Zimmer, das bisher von den Umbauten unberührt geblieben war, zog sich eine Jeans und einen Pullover an und steckte eine Mütze in die Tasche seines Parkas. Die Sonne schien zwar vom blauen Oktoberhimmel, wie er bei einem schnellen Blick aus dem Fenster sah. Aber in den vergangenen drei Wochen war es herbstlich geworden in Freiburg, das erkannte man nicht nur an den bunten Blättern an den Bäumen, sondern spürte es auch an den sinkenden Temperaturen. Vor allem am Morgen war es empfindlich kalt.
Zudem hatte es zuletzt immer mal wieder ein paar Stunden am Stück geregnet, nachdem zuvor über Wochen hinweg kein einziger Tropfen gefallen war. Aber der Regen war mehr als willkommen und störte ihn kein bisschen. Der Sommer war herrlich gewesen, er war, wann immer er Zeit gehabt hatte, mit Rennrad oder Mountainbike getourt oder im Wald gewandert. Sogar sein Vorhaben, einen Fernwanderweg im Schwarzwald zu bezwingen, hatte er in einer Urlaubswoche umgesetzt. Fünf Tage hatte er für die hundertneunzehn Kilometer des Schluchtensteigs benötigt, und jede Minute in der unfassbar schönen und abwechslungsreichen Natur hatte ihn begeistert. Vor allem die berühmte Wutachschlucht mit ihren steilen hohen Wänden, der abwechslungsreichen Pflanzenwelt und der teils abenteuerlichen Wegführung entlang des Flusses war wirklich beeindruckend gewesen.
Sogar mit den als so unnahbar geltenden Schwarzwäldern hatte er Kontakt gehabt, zum Beispiel bei einem feuchtfröhlichen Abend in der Todtmooser Kneipe Klimperkasten, bei dem ihm ein Kräuterlikör namens Schwarzwaldteufel zum Verhängnis geworden war. Für die letzte Etappe durch die Wehraschlucht nach Wehr hatte er am nächsten Tag aufgrund dieses »Teufelszeugs« sehr viel länger gebraucht als geplant. Aber hey, die konnten wirklich lustig sein, diese Badener!
Ansonsten hatte er die Einsamkeit während der mehrtägigen Wanderung genossen und auch genutzt. Er hatte es endlich geschafft, auch gedanklich von seiner in Berlin zurückgelassenen Ex Melanie Abschied zu nehmen, und die hatte nun wohl auch eingesehen, dass Schluss war, da sie sich seit über zwei Monaten nicht mehr gemeldet hatte. Das Wandern und Radfahren hatten zudem seiner Figur gutgetan. Er konnte inzwischen die Knöpfe seiner Hosen wieder schließen, ohne dass er den Bauch einziehen musste. Mit siebenundachtzig Kilogramm auf seine hundertzweiundneunzig Zentimeter Körpergröße empfand er sich für einen inzwischen doch schon sechsundvierzig Jahre alten Mann mit ergrauenden Haaren insgeheim sogar als richtiges Schnittchen. Was er so natürlich nie gesagt hätte.
Jetzt war der Sommer aber vorbei, und er freute sich auf seinen ersten Herbst in Freiburg.
Wie jeden Morgen, wenn er mal etwas länger schlief und ein paar Überstunden »wegschnarchte«, hielt er auf dem Weg ins Polizeipräsidium kurz in seinem Stammcafé Liebes Bisschen an, um sich einen Cappuccino für jetzt und ein Stück Apfelkuchen für den Nachmittag zu holen. Katrin, die Inhaberin des Cafés, kannte ihn inzwischen, und er musste gar nicht mehr bestellen, um zu bekommen, was er wollte. Genau so etwas machte ein Stammcafé aus, fand er. Ob er sich wohl jemals an dem unfassbar guten Apfelkuchen sattessen würde? Er konnte es sich nicht vorstellen, aber falls es doch eines Tages passieren sollte, gab es in der Kuchenvitrine vom Liebes Bisschen zum Glück genügend lecker aussehende Alternativen.
Momentan hatte er keinen aktuellen Fall, er musste stattdessen viel Papierkram erledigen. Als er im Präsidium auf seinem Stockwerk aus dem Aufzug stieg, nickte er kurz Frau Weiß zu, der bereits seit über dreißig Jahren hier arbeitenden Sekretärin, die ihn mit ihrem phantastischen Daten- und Personengedächtnis zu uralten Fällen immer wieder zum Staunen brachte. Wie gewohnt empfing sie ihn mit ihrem »Wer-sind-Sie-denn-bitte-schön?«-Blick, um ihn kurz darauf nett anzulächeln.
Häberle lief direkt weiter in sein Büro, wo ihn seine natürlich mal wieder essende Kollegin Julia Specht empfing, die ihm nur kurz zunickte, da sie aufgrund ihres vollen Munds nicht sprechen konnte.
»Croissant?«, fragte er.
Sie nickte.
»Hast du wieder versucht, das Ganze auf einmal in den Mund zu stecken?«
Wieder nickte die junge Kommissarin.
»Hat es geklappt?«
Diesmal nickte sie nicht nur, sondern hob auch beide Daumen, während er in ihren Augen einen gewissen Stolz erkennen konnte. Er seufzte. So hatte eben jeder seine eigenen kleinen Erfolgserlebnisse. Er wartete insgeheim darauf, dass der Metabolismus seiner achtundzwanzig Jahre alten Kollegin irgendwann ermüden und sich ihr ununterbrochenes Essen dann auch auf ihren hundertfünfundsechzig Zentimeter großen Körper auswirken würde. Es war wirklich unfair, dass die Frau kein Gramm zunahm, egal was und wie viel sie aß. Mit ihrer mädchenhaften Figur und dem rotblonden Pferdeschwanz wurde sie allerdings gern unterschätzt, was bei manchen Ermittlungen bereits von Vorteil gewesen war. Denn wenn es darauf ankam, war sie knallhart und extrem schnell im Kopf.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch. Sein Blick fiel auf den Benjamini, den er in den vergangenen Monaten von einem sterbenden kleinen Etwas zu einem prächtigen, hübschen Bäumchen hochgepäppelt hatte. Jep, jeder hatte seine eigenen kleinen Erfolgserlebnisse. Julia Specht freute sich, wenn sie ein ganzes Croissant in ihren Mund quetschen konnte, und er, wenn er seinen kleinen, von ihm geretteten Benjamini sah. Er wollte gerade seinen E-Mail-Account öffnen, als das Telefon klingelte. Frau Weiß, wie er an der Nummer erkannte.
»Ja, was gibt es?« Er hoffte, dass nicht schon wieder Polizeidirektor Thorsten Furtwängler – inoffiziell Twitter-Thorsten genannt – mit ihm reden wollte, um ihm Ideen zu unterbreiten, wie das Polizeipräsidium in den sozialen Medien präsenter sein könnte und mehr Follower bekäme. Der Mann war besessen von diesem Thema.
»Hallo, Herr Häberle, eben kam ein Anruf vom Polizeiposten Hinterzarten rein. Es gibt einen Toten. Im Wald, bei Oberried. Oder zumindest in der Nähe. Die Kollegen von der Streife sagen, dass das – und ich zitiere – ›irgendwie komisch aussieht‹. Haben Sie Zeit, sich das anzuschauen? Oder soll ich Frau Eck oder Herrn Lanz fragen?«
Häberle war bereits aufgesprungen. Das klang definitiv besser als die Option, Papierkram zu erledigen. »Nein, ich fahre hin! Sagen Sie den Kollegen vor Ort, dass ich auf dem Weg bin, und geben Sie ihnen meine Handynummer. Sie sollen mich am Ortseingang von Oberried treffen. Ich nehme Kommissarin Specht mit. Und Hauptkommissarin Dupont, falls sie Zeit hat.« Damit legte er auf.
Julia Specht schaute ihn mit immer noch dicken Backen fragend an, während er seinen Rechner wieder runterfuhr.
»Ein Toter bei Oberried. Die Kollegen finden irgendetwas seltsam, das schauen wir uns an. Sagst du Maria Bescheid?«
Sie nickte und lief ins benachbarte Büro, während er kurz überlegte, ob er auch schon die Spurensicherung alarmieren sollte. Warum eigentlich nicht? Besser einmal zu viel als zu wenig. Während er aus dem Büro und zu seinem Auto lief, rief er bei Manuel Palmer an, dem Chef der Spurensicherung.
»Herr Schwabe, lange nicht mehr gehört, wie kann ich helfen?«
Häberle hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass der immer gut gelaunte Palmer ihn aufgrund seines doch sehr württembergisch klingenden Nachnamens mit »Herr Schwabe« ansprach, obwohl er ein waschechter Berliner war. Born and raised in der Hauptstadt sozusagen. Die vielen Schwabenwitze, die der Mann ihm um die Ohren haute, sobald sie sich trafen, gingen ihm allerdings ein bisschen auf den Zeiger. Wenn sie zumindest lustig wären.
»Hallo, Herr Palmer, wir haben einen Toten bei Oberried im Wald. Können Sie mich mit einem kleinen Team am Dorfeingang treffen? Keine Ahnung, ob ein Fremdverschulden vorliegt, aber die Kollegen, die vor Ort sind, macht anscheinend irgendetwas misstrauisch.«
»Ja, bin unterwegs«, sagte Palmer und legte auf. So mochte Häberle das, schnell und entschlossen. Er war inzwischen bei seinem alten Passat angekommen, direkt hinter ihm kamen Julia Specht und Maria Dupont aus dem Polizeipräsidium.
»Was haben wir? Einen Mord?« Maria Dupont setzte sich auf den Beifahrersitz. Wie immer war sie modisch elegant und trotzdem sportlich gekleidet. Mit ihren kurzen braunen Haaren und dem durch andauerndes Marathontraining gestählten Körper sah man ihr ihre zweiundvierzig Jahre definitiv nicht an.
»Nicht sicher, wir sollen mal nachschauen. Ich habe auch Palmer Bescheid gegeben«, antwortete Häberle, während er rückwärts aus der Parklücke fuhr.
»Soll ich dir Richtungsanweisungen geben?«, fragte von der Rückbank Julia Specht, die es wohl endlich geschafft hatte, das Croissant runterzuschlucken. Sie war geborene Freiburgerin und kannte sich hier aus, während Häberle nach seinem Umzug aus Berlin hin und wieder noch Probleme hatte, sich in Freiburg und Umgebung zurechtzufinden.
»Nicht nötig, Oberried finde ich«, antwortete er aber in diesem Fall mit einem Anflug von Stolz. Durch seine Radtouren im Sommer, die ihn sowohl durch die Rheinebene als auch durch den Schwarzwald geführt hatten, hatten sich seine Ortskenntnisse enorm verbessert. Und an Oberried war er schon mehrfach auf dem Weg zur Passhöhe Notschrei und zum Schauinsland-Gipfel durchgeradelt, sowohl mit dem Rennrad als auch dem Mountainbike. Er fuhr auf die Bundesstraße 31 Richtung Titisee und gab Gas.
Als sie in Oberried einfuhren, wartete bereits ein Beamter mit einem Polizeiauto auf sie, und nach zwei Minuten gesellte sich auch Palmer mit einem kleinen Transporter und zwei seiner Kollegen dazu. Im Konvoi fuhren sie erst auf einer schmalen geteerten Straße durch den Ort und danach an mehreren idyllisch zwischen Wiesen liegenden Höfen vorbei, um dann auf teils ziemlich ausgewaschenen Wegen durch den Wald zu fahren.
»Schaut mal, die haben den Weg zum möglichen Tatort sogar schon beschildert!« Julia Specht zeigte grinsend auf ein Schild für Wanderer, auf dem neben den Entfernungen zum Feldberg und zu einem Ort namens Zipfeldobel auch »Toter Mann – 6 km« zu lesen war.
Häberle schnaubte nur kurz. Vor ein paar Monaten hätte er sich vielleicht noch über diesen seltsamen Namen gewundert, inzwischen wusste er aber, dass es sich beim »Toten Mann« um einen knapp über tausenddreihundert Meter hohen Schwarzwaldberg handelte, den er sich auf dem Weg zum Feldberg auch schon mit dem Mountainbike hochgequält hatte. Die vielen Höhenmeter hatte er damals nur geschafft, weil er unterwegs an mehreren bewirtschafteten Berghütten vorbeigekommen war. Ein riesiger Rhabarberkuchen in der Erlenbacher Hütte und ein großes Käsebrot in der Zastler Hütte hatten ihm die nötige Kraft für die Fahrt zum mit 1496 Metern höchsten Schwarzwaldgipfel verliehen.
»Weiß einer von euch, warum der Berg so einen komischen Namen hat? Habe ich mich immer schon gefragt«, sagte Julia Specht.
Häberle schüttelte nur den Kopf. Woher sollte denn bitte schön jemand, der kein Heimatforscher war, wissen, woher die ganzen Berge ihre Namen hatten? »Vielleicht ist da oben mal vor ein paar hundert Jahren jemand vom Blitz erschlagen worden«, wagte er trotzdem eine mögliche Erklärung.
»Nein, kein Blitz. Eine eingeklemmte Hand«, meldete sich in dem Moment Maria Dupont vom Beifahrersitz.
Natürlich, dachte Häberle. Er erwischte sich mal wieder dabei, wie er zwischen Neid und Bewunderung schwankte, als seine Kollegin erklärte, wie der Berg zu seinem Namen gekommen war. Es schien wirklich nichts zu geben, was sie nicht wusste, was zugegebenermaßen bei Ermittlungen eine große Hilfe war.
»Es heißt, dass ein Holzfäller sich vor langer Zeit dort oben beim Arbeiten die Hand in einem riesigen Baumstamm eingeklemmt hat, den er spalten wollte. Er konnte sich nicht befreien und ist jämmerlich verdurstet, da er erst nach mehreren Tagen gefunden wurde. Seither trägt der Berg den Namen Toter Mann«, klärte Dupont sie auf.
»Cool, was du alles weißt.« Julia Specht schaute Maria Dupont bewundernd von der Seite an.
Ja, cool, dachte Häberle. Aber er blieb dabei: Irgendwie war es auch beängstigend. Wie konnte diese Frau sich das alles merken? Er selbst hatte sich vor Kurzem sogar dabei erwischt, wie er den Namen der Straße vergessen hatte, in der er jetzt wohnte.
Wenige Minuten später schaltete der Streifenwagen vor ihnen sein Warnblinklicht an und fuhr langsam an den Wegrand. Durch den Regen der vergangenen Tage war der Boden etwas feucht, aber soweit Häberle das beurteilen konnte, bestand keine Gefahr, in den neben dem Weg verlaufenden Graben abzurutschen. Er parkte hinter dem Streifenwagen, Palmer davor. Ein paar Meter weiter standen mehrere Baumaschinen, hier wurde wohl gerade der Weg erweitert.
»Okay, hier müssen wir in den Wald«, rief ihnen der Polizeibeamte zu, der sich vorhin als Oberwachtmeister Kevin Ell vorgestellt hatte. Er war ausgestiegen und zeigte nach vorne auf einen schmalen Pfad, den ein Schild als »Felsenweg« auswies. Ell ging voraus, dann folgten hintereinander Häberle, Specht, Dupont, Palmer und dessen zwei Mitarbeiter.
»Jetzt merke ich es erst, hier war ich schon mal!« Julia Specht schaute sich um. »Das ist der Weg zum Gfällfelsen, da kann man total viele Routen klettern, von leicht bis schwer. Manche sind bis zu hundert Meter lang. Als ich noch jung war, bin ich hier mit Uwe manchmal hochgekraxelt.«
»Als du noch jung warst? Was bist du denn jetzt, bitte schön?« Häberle schaute über die Schulter nach hinten zu seiner achtundzwanzigjährigen Kollegin.
»Jetzt geh ich auf die dreißig zu. Noch zwei Jahre, dann bin ich nicht mehr cool und hip, sondern eine langweilige mittelalte Dame.«
»Vorsicht, eine kleine Warnung einer mittelalten Dame. Je älter du dich machst, desto älter werde auch ich, und das lasse ich mir nicht gefallen«, meldete sich Maria Dupont von hinten. »Gib mir ein paar Expresssets, Kletterschuhe und ein Seil, und ich zeige dir mal, wie eine mittelalte Dame hier die Felsen hochjagt, du Küken!«
Sie liefen weiter auf dem felsigen Weg, der langsam anstieg. Links ragten immer mehr Felswände in die Höhe, groß und mächtig, wie Häberle sie bisher noch nie im Schwarzwald gesehen hatte. Kein Wunder, dass hier geklettert wurde. Rechts ging es steil den Hang hinunter, überall lagen kleine und große Felsbrocken zwischen den Bäumen, der Pfad war so schmal, dass sie wirklich nur hintereinander laufen konnten. Wenn wir uns jetzt an den Schultern fassen, haben wir eine prima Polonäse, dachte er und musste grinsen.
»Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse, denn nun geht sie los, unsre Polonäse, von Blankenese bis hinter Wuppertal«, fing in dem Moment auch schon der immer fröhliche Manuel Palmer an zu singen, der vor Kurzem seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte und dort mit Sicherheit diesen Party-Knaller hatte auflegen lassen. Dass sie auf dem Weg zu einem Toten waren, störte ihn dabei nicht, aber Pietät war noch nie seine Stärke gewesen, wie Häberle schon des Öfteren hatte feststellen müssen.
Er schüttelte verwundert den Kopf. Heute Morgen Mike Krügers »Spiegelei auf Brot«, und jetzt ließ Palmer den Hit von Gottlieb Wendehals durch den Wald schallen. War heute Schlechte-Songs-aus-den-Achtzigern-Tag?
Polizeiwachtmeister Ell schaute über die Schulter. »Noch vierzig Meter, dann sind wir bei dem Toten.«
»Wie wurde er denn gefunden? Und können Sie uns schon sagen, was sonst noch bekannt ist?«, fragte Häberle. In Oberried hatten sie sich nur kurz vorgestellt und waren nach dem Eintreffen von Palmer gleich losgefahren, sodass sie bisher noch gar nicht dazu gekommen waren, sich über den bisherigen Sachstand informieren zu lassen.
»Ein Mountainbiker hat ihn entdeckt, als er den Pfad hier runtergekommen ist. Eigentlich darf er den ja nicht fahren, aber ich glaube, das ist jetzt nicht so wichtig.«
Häberle brummte zustimmend. In Baden-Württemberg gab es die Regel, dass Radfahrer nicht auf Wegen unterwegs sein durften, die schmaler als zwei Meter waren. Und dazu zählte dieser Pfad definitiv. Aber natürlich machte es sehr viel mehr Spaß, auf schmalen Pfaden zu fahren als auf breiten, gut ausgebauten Waldwegen, wie Häberle aus eigener Erfahrung wusste.
»Jedenfalls kam er hier vorbei und hat den Mann gefunden, bereits tot«, erzählte der Beamte weiter. »Er hat bei der Wache angerufen, und wir sind hergefahren, um uns das anzuschauen.«
»Konnten Sie irgendwelche Verletzungen an dem Mann feststellen?«, fragte Palmer von hinten.
»Er hat eine übel aussehende Kopfwunde, die aber schon einigermaßen verheilt zu sein scheint«, antwortete Ell. »Ansonsten haben wir ihn noch nicht so genau untersucht. Auf den ersten Blick konnten wir aber nichts erkennen.«
»Und was meinten Sie bei Ihrer Meldung mit ›Sieht irgendwie komisch aus‹?« Bisher sah Häberle hier noch keinen Verdachtsfall. Der Mann konnte auch an einem Herzinfarkt gestorben oder unglücklich gestürzt sein, warum also gleich das Morddezernat alarmieren?
»Irgendwie komisch ist, dass der Mountainbiker glaubt, dass er jemanden hat wegrennen sehen, und kurz darauf ein Auto starten und davonfahren hörte. Und mein Kollege, der da vorne steht …«, Ell zeigte auf einen weiteren Beamten, der zehn Meter vor ihnen auf sie wartete, »… hat so etwas wie Schleifspuren auf dem Boden entdeckt. Also da, wo keine Felsen sind. Das kam uns seltsam vor, deshalb haben wir Sie vorsichtshalber informiert. Ist ja auch prima, dass gleich die Spurensicherung dabei ist.«
Sie waren inzwischen bei dem anderen Beamten angekommen und stellten sich kurz vor, wobei ihr Blick zu dem toten Mann ging, der etwa zwei Meter unterhalb des Pfads unübersehbar an einem Baumstamm lag, der ihn wohl davor bewahrt hatte, weiter nach unten zu rutschen und schließlich über eine Kante in die Tiefe zu stürzen.
Palmer ging mit einem »Na, dann wollen wir mal« zu dem Toten, gefolgt von seinen beiden Kollegen. Dupont und Specht ließen sich von dem zweiten Beamten, der sich als Oberwachtmeister Georg Kunz vorgestellt hatte, weitere Details erzählen, und Häberle ging zu dem Mountainbiker, der in seinen bunten Biker-Klamotten ein paar Meter weiter bei seinem teuer aussehenden Rad an einem Baum lehnte und ziemlich verstört wirkte. Häberle schätzte ihn auf Mitte dreißig, er hatte etwa seine Größe und war offensichtlich ziemlich durchtrainiert. Die Waden sahen jedenfalls so aus, als ob er keine Angst vor langen Steigungen haben müsste.
»Hallo, Hauptkommissar Thomas Häberle mein Name, ist es okay, wenn wir kurz reden? Können Sie mir schildern, wie Sie den Mann gefunden haben?«
Der Mann schaute ihn mit großen Augen an und nickte. »Ja. Klar.« Er räusperte sich. »Wie Sie eben sagten, ich habe den Toten gefunden. Meine App hat mir den Weg hier angezeigt. Der Mann lag da. Und ein anderer Mann ist weggerannt. Der war aber schon weit weg, als ich das bemerkt habe. Und dann ist ein Auto weggefahren. Ziemlich schnell. So wie es sich anhörte. Dann habe ich die Polizei gerufen. Zum Glück gibt es hier Netz. Und ich habe natürlich geschaut, ob der Mann noch lebt und ich helfen kann. Aber er war schon tot. Er hatte keinen Puls. Dann kam ja zum Glück die Polizei. Das dauerte aber gefühlt eine Ewigkeit.«
Häberle hätte schwören können, dass der Mountainbiker kein einziges Mal geblinzelt hatte, während er monoton seine Angaben herunterratterte. Er stand wohl unter Schock. »Okay, das ist sehr interessant«, sagte er behutsam. »Dürfte ich nach Ihrem Namen fragen?«
»Jochen. Jochen Dübel.«
»Gut, Herr Dübel. Sie sagten ja auch schon meinen Kollegen, dass Sie gesehen haben, wie ein Mann weggerannt ist. Konnten Sie erkennen, wie er aussah? Größe? Ungefähres Alter? Kleidung?«
Jochen Dübel runzelte die Stirn. »Nein. Der war schon mindestens hundert Meter weg, zwischen den Bäumen, als ich ihn gesehen habe. Wäre er nicht über ein paar Steine gestolpert, hätte ich ihn gar nicht bemerkt. Ich konnte wirklich nichts von ihm erkennen.«
»Aber Sie sind sich sicher, dass er von hier, von dem Mann, den Sie gefunden haben, kam? Hatte er Sie denn gesehen, oder warum scheint er geflohen zu sein?«
Wieder runzelte der Zeuge die Stirn. »Also ich kann es nicht sicher sagen, aber es sah schon so aus, als wäre er von hier losgerannt. Auf mich aufmerksam wurde er wahrscheinlich, weil ich etwa hundert Meter weiter oben gestürzt bin. Ich denke mal, dass ich einen Schrei ausgestoßen habe. Und ganz sicher hinterher ein paar deftige Flüche.« Er lächelte entschuldigend und schien etwas aufzutauen.
»Wie gesagt hat mir eine App den Weg angegeben, aber der liegt ein paar Stufen über meinem fahrerischen Können, ich musste dauernd schieben und das Rad tragen, weil ich nicht über die Felsen gekommen bin. Und als ich doch mal wieder versucht habe zu fahren, bin ich wie eben schon erwähnt gestürzt und habe mir das Knie aufgeschlagen.« Er zeigte auf sein rechtes Knie, das blutete. »Aber wahrscheinlich war das mein Glück, oder? Ohne den Sturz wäre ich vielleicht hier auf den anderen Mann gestoßen. Weil der mich nicht hätte kommen hören. Und wer weiß, was dann passiert wäre.«
Jetzt war es an Häberle, die Stirn zu runzeln. »Wie meinen Sie das? Denken Sie, dass von dem Mann eine Gefahr ausging?«
»Ich weiß nicht, aber hier liegt ein Toter. Und warum rennt jemand weg, wenn er nichts zu befürchten hat? Das ist doch seltsam, oder nicht? Darüber denke ich nach, seit ich den Mann gefunden und hier ganz alleine auf die Polizei gewartet habe.«
Häberle musste ihm recht geben. Hier stimmte etwas nicht, das schien kein trauriger, aber klarer Unglücksfall zu sein, bei dem ein Mann auf einer Wanderung einen Herzinfarkt erleidet oder unglücklich mit dem Kopf auf einen Stein stürzt. Da musste mehr dahinterstecken.
»Okay, Herr Dübel, Kollege Kunz wird gleich Ihre Daten aufnehmen. Könnten Sie dann noch kurz warten, falls eine meiner Kolleginnen oder die Spurensicherung noch Fragen haben? Und können Sie überhaupt heimfahren nach dem Schock, oder sollen wir Sie nachher mitnehmen?«
Dübel schüttelte den Kopf. »Nein, nein, alles gut. Ich muss eigentlich nur noch den Berg runterrollen und bis Kirchzarten fahren, das schaffe ich. Und natürlich warte ich, bis hier alles so weit geklärt ist.«
Häberle nickte und ging zu den anderen hinüber.
Manuel Palmer hatte sich inzwischen mit dem Toten beschäftigt und richtete sich gerade auf. »Wer bist du? Und warum bist du tot?«, murmelte er vor sich hin, während er sich am Kopf kratzte.
»Wer ist das? Und warum ist er tot?«, nahm Häberle die Steilvorlage auf und lächelte den Chef der Spurensicherung an.
Palmer grinste kurz und sammelte sich, bevor er seine ersten Erkenntnisse verkündete. Maria Dupont und Julia Specht sowie die beiden Polizeibeamten waren inzwischen zu ihnen getreten, und auch der Mountainbiker kam näher, um zuzuhören.
»Also, wir haben es hier mit einem etwa vierzig Jahre alten Mann zu tun. Circa hundertachtzig Zentimeter groß und etwa fünfundneunzig Kilogramm schwer. Alles geschätzt, also verklagen Sie mich nicht, wenn er sich als ein hundertneunundsiebzig Zentimeter großer Hundert-Kilo-Mann herausstellt. Er trägt nichts bei sich, weder Geldbeutel mit Ausweis oder Führerschein noch ein Smartphone, das bei der Identifizierung helfen könnte. Nicht mal ein benutztes Taschentuch befindet sich in seiner Kleidung. Und apropos Kleidung: Der Mann ist angezogen, als wäre er zu einem Stadtbummel aufgebrochen und nicht zu einer Wanderung im Schwarzwald. Halbschuhe mit glatten Sohlen, Jeans, Hemd und Jackett. Und alles müffelt ziemlich, und zwar nicht nach Wald, sondern nach zu selten geduscht. Meiner Meinung nach trägt er diese Kleidung schon längere Zeit. Und damit meine ich nicht zwei bis drei Tage, sondern mindestens eine Woche. Auf der rechten Seite und am Rücken des Jacketts ist feiner grauer Staub richtiggehend in den Stoff hineingerieben. Ich denke, dass er seine Nächte auf einem steinigen Naturboden verbracht hat.«
»Warum denken Sie das?« Häberle konnte Palmer nicht ganz folgen.
»Meine Vermutung ist, dass der Mann Rücken- und Seitenschläfer war, rechte Körperseite. Er hat im Jackett geschlafen, daher die Staubrückstände im Stoff.«
Er räusperte sich kurz. »Was die Wunde am Kopf angeht, muss die Gerichtsmedizin sich das anschauen. Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass sie mindestens eine Woche alt ist und definitiv hätte genäht werden müssen – was sie aber nicht wurde. Gestorben ist er allerdings nicht daran, sie hat schon angefangen zu verheilen. Ansonsten sind keine weiteren äußerlichen Verletzungen zu erkennen, die seinen Tod erklären würden, auch keine Würgemale am Hals. Die Gerichtsmedizin hat also ein kleines Rätsel vor sich. Entweder die Kollegen entdecken einen Hinweis auf einen natürlichen Tod, zum Beispiel Herzinfarkt, oder sie müssen eine andere Todesursache finden. Jedenfalls nicht mein Problem, wobei ich natürlich auch gerne wüsste, warum der Mann tot ist. So weit fürs Erste. Fragen?«
»Was sagen Sie zu den Schleifspuren, die ich gefunden habe?«, meldete sich Oberwachtmeister Kunz aus dem Hintergrund.
Palmer schaute zu seinen beiden Kollegen rüber. »Mister Meister«, rief er und grinste in die Runde. »So heißt der wirklich! Mister Meister, kannst du dazu was sagen? Habt ihr was gefunden?«
Der sehr jung aussehende Spurensicherer nickte verdrießlich. »Guten Tag, Lennard Meister mein Name«, stellte er erst mal klar. »Mister Meister« mochte er offensichtlich nicht. »Ja, es gibt Spuren, die darauf hinweisen, dass der Tote hierhergeschleppt wurde.«
Häberle schaute zu seinen Kolleginnen, die ihm beide zunickten. Das lief alles auf eine Ermittlung hinaus, und so wie es aussah, auf eine ziemlich aufwendige, da es bisher kaum verwertbare Informationen gab.
»Den Spuren nach wurde der Tote unter den Achseln gehalten und vom Waldweg, wo wir geparkt haben, auf dem Pfad hierhergeschleppt. Dann wurde versucht, ihn den Hang hinunterzustoßen. Der Baumstamm, an dem der Tote hängen geblieben ist, hat das aber verhindert. Die Absätze seiner Schuhe haben auf dem Boden die Schleifspuren hinterlassen. Von der Rundung passen sie genau, das ist einwandfrei erkennbar.«
»Konntet ihr auf dem Waldweg etwas finden?« Palmer schaute seinen Kollegen neugierig an.
Meister nickte. »Ja. Da, wo die Spuren anfangen, stand ein Auto. Den Reifenabständen nach zu urteilen ein ziemlich großes. Und auf der Seite, auf der der Kofferraum gewesen sein muss, sind Abdrücke am Boden, die mit etwas Phantasie daher stammen könnten, dass ein Körper aus dem Kofferraum auf den Boden gefallen ist. Also hat der Fahrer vielleicht geparkt, der bereits tote Mann könnte aus dem Kofferraum auf den Boden fallen gelassen worden sein, und dann würde alles dafür sprechen, dass der Tote hierhergeschleift wurde, um ihn dann –«
»Stoooopp!« Alle erschraken, als Palmer seinen Kollegen laut unterbrach. »Mister Meister, das sind definitiv zu viele ›könnte‹ und ›würde‹. Wir führen schließlich keinen Konjunktiv-Handel. Und was die Phantasie angeht, überlassen wir die Joanne Rowling und ihrem Harry Potter. Wir sind die Spurensicherung, Fakten sind gut, Vermutungen schlecht.«
Die anderen schauten nach dieser Zurechtweisung etwas betreten zu Boden, aber Palmer war schon zu Lennard Meister rübergegangen. »Trotzdem gute Arbeit, Mister Meister. Mit den Fakten, dass der Tote mit einem Auto hierhergebracht wurde und die Schuhabsätze perfekt zu den Schleifspuren passen, können wir uns ziemlich sicher sein, dass dies ein Fall für Herrn Schwabe und sein Dezernat ist. Auch wenn die Todesursache noch nicht feststeht, nicht wahr?«
Er schaute zu Häberle hinüber. Bevor der aber antworten konnte, meldete sich der Mountainbiker aus dem Hintergrund. »Heißt das, ich habe einen Mörder wegrennen sehen?« In seiner Stimme war leichte Panik zu hören.
Wieder kam Häberle nicht zu Wort.
»Auch das ist nur eine Vermutung«, antwortete Palmer an seiner Stelle. »Vielleicht hat der Mann den Toten für den eigentlichen Mörder hergebracht. Als kleinen Gefallen unter Freunden. Vielleicht ist das Opfer eines natürlichen Todes gestorben und sollte hier versteckt werden. Beispielsweise, um den Tod aus welchen Gründen auch immer zu vertuschen. Vielleicht kam es zu einem tragischen Unfall, Gräte im Hals stecken geblieben oder sonst was, und jetzt musste der Erstickte weg. Oder – aber das ist nun mal nur eine von vielen Möglichkeiten – der Mann wurde ermordet, und der Mörder hat ihn hierhergebracht, um die Spuren seiner Tat zu verwischen und unerkannt weiterhin als unbescholtener Bürger mitten unter uns zu leben. Erschreckend, aber möglich. Weitere Fragen?«
»Warum schleppt jemand eine Leiche bei Tageslicht auf einem beliebten Wanderweg, der noch dazu zu einem bekannten Kletterfelsen führt, mitten in den Wald und entsorgt sie nicht direkt neben dem Auto?« Julia Specht schaute fragend in die Runde.
»Auch hier kann ich nur mutmaßen«, antwortete Palmer. »So wie der Wald hier aussieht, ist es Bannwald, das heißt, er wird sich selbst überlassen. Keinerlei Waldwirtschaft, also auch keine Baumfällarbeiten. Zudem ist es hier an dieser Stelle besonders steil, da vorne geht es über eine Kante viele Meter nach unten. Da geht keiner runter, um sich mal kurz zu erleichtern oder so. Zwischen den vielen Felsbrocken gibt es zudem viele Versteckmöglichkeiten. Vielleicht waren es auch die Baumaschinen vorn auf dem Waldweg, die den geflüchteten Mann dazu veranlassten, den Toten hierherzuschleppen und nicht direkt beim Auto zu entsorgen. Schließlich ist davon auszugehen, dass dort in den nächsten Tagen einige Bauarbeiter unterwegs sein werden. Aber wie gesagt, alles nur Mutmaßungen.«
Palmer war fertig, und Häberle schaute ihn etwas genervt an. »Sind Sie jetzt so weit durch mit Ihren Theorien? Dann erst mal an alle hier Folgendes, auch an Sie, Herr Dübel.« Er schaute zu dem Mountainbiker. »Absolute Funkstille, was die Presse angeht. Natürlich gibt es eine Pressemitteilung, mit dem Inhalt, dass ein toter Mann im Wald bei Oberried gefunden wurde. Darüber hinaus aber weder Fakten noch Vermutungen noch Theorien, alles klar? Infos gehen nur über unsere Pressestelle raus.«
Er schaute kurz in die Runde, und alle nickten. Er wandte sich noch mal an den Mountainbiker. »Herr Dübel, ich kann Ihnen natürlich nichts verbieten, aber ich würde Sie doch sehr bitten, vorerst nichts oder nicht zu viel zu erzählen. Vor allem nicht die ganzen Vermutungen, die Herr Palmer hier gerade von sich gegeben hat, so viel nämlich zu Joanne Rowling und Harry Potter.« Er schaute kurz zu dem Chef der Spurensicherung, der übertrieben mit den Augen rollte.
»Bevor wir nicht die Identität des Mannes ermittelt und die Angehörigen informiert haben, würden sämtliche Gerüchte über einen möglichen Mord nur für Klatsch und Tratsch sorgen. Also bitte, halten Sie sich etwas zurück.«
Wieder nickte Jochen Dübel.
»Gut, dann war es das fürs Erste. Julia und Maria, wir besprechen gleich im Auto, wie wir weiter vorgehen. Die Herren von der Spurensicherung, schauen Sie sich noch etwas um und warten Sie auf die Gerichtsmediziner, die die Leiche abholen?«
Palmer streckte den rechten Daumen nach oben. »Wird gemacht.«
»Und Herr Ell und Herr Kunz, vielen Dank erst mal. Wir melden uns, wenn wir noch Fragen haben. Genau wie bei Ihnen, Herr Dübel. Auf geht’s.«
***
Langsam rollte er durch den sich in der Freiburger Innenstadt mal wieder stauenden Verkehr, um in einer Waschanlage den verdächtigen Dreck von seinem Land Cruiser entfernen zu lassen. Um die tiefen Kratzer im Lack würde er sich kümmern, wenn das alles vorbei war, an denen konnte er momentan nichts ändern.
In ihm brodelte es. Das war schiefgegangen. Und zwar gründlich. Erst hatte dieser Scheißtyp, den er so sehr hasste, sein kleines Zusatzgeschäft platzen lassen. Wodurch die letzte Barriere weggeschwemmt worden war, die ihn von dem abgehalten hatte, was er eigentlich schon seit Monaten hatte tun wollen: ihn töten. Dann hatte es sehr viel länger gedauert als angenommen, bis er gestorben war. Klar, er hätte ihn auch mit einem Messer abstechen oder ganz einfach mit seinen Händen erwürgen können, aber ein schneller Tod wäre zu einfach gewesen für diesen Drecksack. Er hatte so lange davon geträumt, ihn um die Ecke zu bringen, und genau gewusst, wie es passieren sollte. Wie es passieren musste. Langsam und qualvoll. Er hatte dafür sogar sein Verlies, wie er es nannte, vorbereitet. Alles schien perfekt abzulaufen, genau wie geplant. Aber jetzt hatte er seine Leiche nicht unbemerkt verschwinden lassen können. Was für eine verfluchte Scheiße!
Er zählte langsam bis zehn, versuchte sich zu beruhigen. Verdammte Mountainbiker, vor denen war man wirklich nirgends sicher! Nicht mal so früh am Morgen! Und dann waren da auch noch plötzlich Bauarbeiten, wer konnte denn so etwas ahnen? Mitten im Wald!
Er hatte so gehofft, dass er Stefan zwischen den Felsen für immer verschwinden lassen konnte, aber er musste zähneknirschend zugeben, dass das eine bescheuerte Idee gewesen war. Der Schwarzwald war riesig, da gab es abgelegenere Plätze, wie er nur zu gut wusste. Er war einfach zu faul gewesen, weit zu fahren. Und genauso gut hätte er ihn auch direkt beim Verlies verbuddeln können. Aber da er das Versteck vielleicht mal wieder brauchen würde, hatte er keine Leiche dort haben wollen. Warum, wusste er selbst nicht so genau. Er hatte ja wohl keine Angst vor Geistern, verdammt noch mal!
So bescheuert, so bescheuert, so bescheuert! Er schlug auf das Lenkrad. Einmal. Zweimal. Wie blöd konnte man sein, was hatte er sich nur dabei gedacht? Wieder fing er an, langsam bis zehn zu zählen, aber dann hielt er es nicht mehr aus, verlor mal wieder die Beherrschung und schlug mit aller Kraft auf das Lenkrad ein, während er seinen ganzen Frust herausschrie. »So eine verdammte Scheiße, ich könnte kotzen!«
Links von ihm an der roten Ampel schaute ihn eine Autofahrerin durchs Fenster an und zeigte ihm kopfschüttelnd den Vogel. Fast wäre er ausgestiegen und hätte seine Wut an ihr ausgelassen. Aber er beherrschte sich gerade noch rechtzeitig und zeigte ihr stattdessen den Mittelfinger. Jetzt aufzufallen war das Letzte, was er sich erlauben konnte. Stattdessen atmete er dreimal tief durch, schlug noch einmal mit aller Kraft auf das Lenkrad und überlegte dann, was zu tun war.
Stefans Smartphone hatte er bereits vor Tagen zerstört und entsorgt. Seines lag wie immer, wenn er in den vergangenen Tagen in Sachen Stefan unterwegs gewesen war, zu Hause. Um keine Spuren zu hinterlassen, auch keine digitalen. Stefans Geldbeutel mitsamt Inhalt war bereits auf Nimmerwiedersehen im Leopoldskanal verschwunden. Nur das Buch hatte er noch. Aber auch das würde er schweren Herzens loswerden müssen, am besten verbrennen. All die akribische Arbeit von fast hundert Jahren. Und dann hatte er auch noch das Glück gehabt, dass Stefan es bei sich getragen hatte, als er zu ihm gekommen war! Wie viel Geld er damit verdienen könnte, wenn er es richtig anstellte! Aber es half ja nichts, es durfte nicht bei ihm und am besten gar nicht gefunden werden. Also weg damit.
Und danach? Das Verlies putzen, und zwar gründlich. Sodass nichts mehr darauf hinwies, dass Stefan darin seine letzten Tage verbracht hatte und gestorben war, falls der Ort jemals gefunden werden sollte.
***
»Okay, eure ersten Gedanken. Wie gehen wir vor?« Häberle lenkte den Passat durch den Wald und passte auf, dass er nicht an einer der unzähligen Abzweigungen falsch abbog. An einer Stelle kreuzte der Weg einen Downhill-Trail für Mountainbiker, mehrere Schilder wiesen darauf hin. Er fuhr in Schrittgeschwindigkeit, denn er hatte schon gesehen, wie schnell die Radverrückten auf den im Schwarzwald extra angelegten Wegen teilweise unterwegs waren. Und hätte er es gekonnt, wäre er bestimmt auch so gefahren. Das sah nach einem riesigen Spaß aus, wenn die mit ihren Rädern die Steilkurven nahmen, bis zu zwanzig Meter weite Sprünge anscheinend spielerisch landeten und auch sonst eine Fahrsicherheit zeigten, von der er nur träumen konnte.
Er konzentrierte sich wieder auf die anstehenden Ermittlungen und schaute kurz in den Rückspiegel zu Julia Specht, die sich gerade einen Schokoriegel in den Mund steckte, und dann zu Maria Dupont.
»Zuerst brauchen wir die Identität des Opfers, also Fingerabdrücke nehmen und schauen, ob wir ihn im System haben. Falls nicht, Gebissabdrücke anfertigen lassen und an die Freiburger Zahnärzte schicken. Und natürlich die Vermisstenmeldungen durchschauen, vielleicht passt ja eine davon zu unserem Toten«, zählte Hauptkommissarin Dupont das in solchen Fällen standardmäßige Vorgehen auf.
»Dann brauchen wir die Todesursache, ohne die können wir keine Mordermittlung starten, auch wenn mein Bauchgefühl sagt, dass es ein Mord war«, fuhr sie fort. »Und ja, ich weiß, Bauchgefühl ist keine Wissenschaft, und wie schon Dürrenmatt sagte: ›Unter Intuition versteht man die Fähigkeit gewisser Leute, eine Lage in Sekundenschnelle falsch zu beurteilen.‹ Aber mal ehrlich, was soll es denn sonst gewesen sein? Ein tödlicher Herzinfarkt bei einem circa Vierzigjährigen? Kommt vor, aber doch sehr selten. Und niemand bringt eine Leiche in den Wald, wenn er nicht etwas wirklich Fieses zu verbergen hat. Wie eben einen Mord.«
»Ich hab auch einen Spruch zum Thema Bauchgefühl: ›Vom Feeling her hatte ich ein gutes Gefühl.‹ Hat irgendwann mal irgendein Fußballer gesagt«, meldete sich Julia Specht vom Rücksitz. »Ansonsten sehe ich es wie Maria. Ohne die Identität und die Todesursache sitzen wir ziemlich auf dem Trockenen, was die Ermittlungen angeht. Vielleicht könnten wir noch einen Aufruf an die Bevölkerung in Oberried und Umgebung machen, sich zu melden, falls jemand heute zwischen …«, sie schaute kurz auf ihren Notizblock, auf dem sie die Angaben des Mountainbikers notiert hatte, »… zwischen neun und neun Uhr dreißig ein großes unbekanntes Auto auf einem Waldweg gesehen hat. Aber bevor wir nicht sicher wissen, dass es Mord war, lohnt sich der Aufwand wahrscheinlich nicht.«
Inzwischen waren sie aus dem Wald heraus und wieder auf einer asphaltierten Straße, sodass Häberle etwas mehr Gas geben konnte.
»Also erstens, der Fußballer war Andreas Möller. Zweitens, die Zitate von Maria sind sehr viel hübscher und auch intellektuell ansprechender als deine. Und drittens habe ich euren Vorschlägen nichts hinzuzufügen. Maria, kannst du nachher zur Gerichtsmedizin gehen, um schnellstmögliche Ergebnisse und die Fingerabrücke zu erhalten? Dann kann Julia die Vermisstenmeldungen durchschauen. Ich informiere Furtwängler über die bisherigen Erkenntnisse und bereite auch schon die Pressestelle darauf vor, dass da etwas auf sie zukommen wird.«
Beide Kolleginnen nickten, Julia Specht schmollte allerdings ein bisschen. »Möller-Schnöller. Mir doch egal. Und von Dürrenmatt kenne ich auch ein Zitat, das hat mir meine Deutschlehrerin in der sechsten Klasse immer vorgetragen, wenn sie mal wieder meine Schrift nicht lesen konnte: ›Leserlichkeit ist die Höflichkeit der Handschriften.‹ Mit anderen Worten: Ich habe eine unhöfliche Handschrift.«
Zurück im Polizeipräsidium verabschiedete sich Maria Dupont sofort Richtung Gerichtsmedizin, um dort auf das Eintreffen der Gerichtsmediziner mit dem Toten zu warten, während Thomas Häberle und Julia Specht ins Büro gingen, um ihre Aufgaben zu erledigen.
Der Hauptkommissar wollte gerade bei Frau Weiß anfragen, ob Polizeidirektor Thorsten Furtwängler für ein kurzes Gespräch zur Verfügung stehe, als seine Kollegin einen triumphierenden Schrei ausstieß. »Hab ihn!«
Häberle drehte sich um. »Wen hast du?«
»Na, den Toten! Hier, schau.« Sie drehte den Laptop ein bisschen, damit Häberle auf den Bildschirm sehen konnte. Sie hatte wohl sofort nach dem Eintreffen im Büro den Ordner mit den aktuellen Vermisstenanzeigen geöffnet, und auf dem aufgerufenen Foto lächelte ihm tatsächlich der Tote aus dem Wald entgegen.
»Das ging schnell, gut gemacht«, murmelte er und las dann die wenigen Informationen unter dem Foto laut vor: »Stefan Schwamm, geboren 1979, zuletzt gesehen am 21. September. Vermisstenanzeige aufgegeben von Heike Schwamm (Tochter) und Andrea Lauber (Lebensgefährtin). Okay. Die Kontaktdaten sind alle da.« Er schaute Julia Specht an. »Das ist dreizehn Tage her, seit er zuletzt gesehen wurde. Wann wurde die Vermisstenanzeige aufgegeben?«
Die Kommissarin klickte sich kurz durchs Menü. »Hier: Aufgenommen am 23. September um dreizehn Uhr fünfundvierzig auf der Polizeiwache Freiburg-Stühlinger von Wachtmeister Konrad Gleiber.«
Häberle sah sie überrascht an. »Nur zwei Tage nach dem Verschwinden. Da wurde schnell reagiert. Schließlich handelt es sich um einen erwachsenen Mann, es gibt Tausende Erklärungen und Möglichkeiten, warum er für ein paar Tage nicht aufzufinden ist oder nicht erreichbar sein will.«
Julia Specht nickte. »Das stimmt. Vielleicht war er noch niemals in New York. Oder auf Hawaii. Oder lief noch nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans, um mal drei Gründe aufzuzählen, aus denen man laut Udo Jürgens Hals über Kopf das Weite suchen kann. Halte ich aber für eher unwahrscheinlich. Und was machen wir jetzt? Wir müssen die Angehörigen darüber informieren, dass der Vermisste gefunden wurde und leider tot ist. Aber ermitteln wir auch schon in Richtung Mord? Und sagen wir den Angehörigen, dass es möglicherweise Mord war?«
Sie schaute ihn neugierig an, und er musste zugeben, dass das gute Fragen waren, die er zu beantworten hatte. Schließlich war er ihr Vorgesetzter und sie noch immer in der Lernphase, vor allem wenn es darum ging, die richtige Vorgehensweise nach einem Mord zu beachten.
Er räusperte sich. »Wir können nicht warten, bis die Gerichtsmedizin etwas herausgefunden hat. Die Hinterbliebenen haben ein Recht darauf, so schnell wie möglich zu erfahren, dass der Vermisste gefunden wurde und tot ist. Wir fahren da jetzt hin, sagen es ihnen und werden dann auch gleich darauf hinweisen, dass es ein Fremdverschulden geben könnte. Das M-Wort vermeiden wir möglichst. Trotzdem, wenn von den Hinterbliebenen Mutmaßungen geäußert werden, haken wir natürlich nach. Okay?«
»Alles klar«, sagte Julia Specht. »Und zu wem gehen wir zuerst? Tochter oder Lebensgefährtin?«
»Tochter. Verwandtschaft schlägt nicht eheliche Beziehung. Sagst du Maria Bescheid? Ich laufe bei der Pressestelle vorbei, wir treffen uns am Auto.«
***
Auf der Fahrt zu der in der Vermisstenanzeige angegebenen Adresse im Freiburger Stadtteil Stühlinger war Julia Specht ungewöhnlich ruhig.
»Alles klar bei dir, Julia? Ich frage nur, weil du seit mindestens zehn Minuten nichts gegessen hast, so kenne ich dich gar nicht«, versuchte Häberle es mit einem Scherz.
Sie lächelte kurz und etwas verkrampft. »Hast du schon öfters Todesnachrichten überbringen müssen?«
Häberle wiegte den Kopf hin und her. »Oft würde ich nicht sagen, aber schon das ein oder andere Mal. Ist es bei dir eine Premiere?«
Sie nickte stumm. Eine Weile war es ruhig. »Gibt es einen Trick? Ich meine, um es weniger schlimm für den Betroffenen und weniger unangenehm für die Überbringerin zu machen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Und wie schlimm eine Todesnachricht ist, hängt auch immer davon ab, wie eng sich das Opfer und die Hinterbliebenen gestanden haben. Ich habe schon erlebt, dass Nachbarn einerseits mit Schreikrämpfen zusammenbrachen, weil das Opfer für sie wie ein enges Familienmitglied war. Und andererseits Kinder die Nachricht vom Tod eines Elternteils teilnahmslos entgegennahmen, weil sie sich über die Jahre komplett entfremdet hatten. Das weiß man vorher nie.«
»Und wie bereitest du dich vor? Bereitest du dich überhaupt vor?«
Er überlegte kurz. Bereitete er sich vor? »Ich sage mir immer, kurz bevor ich klingle: ›Besser ich als Martin Knuppke.‹ Das war ein Kollege von mir in Berlin. Ich war einmal dabei, wie er an der Haustür einer Ehefrau mitteilte, dass ihr Mann gerade bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen ist. Dann sagte er: ›Schönen Tag noch‹, drehte sich um und lief zurück zum Streifenwagen. Die Frau brach zusammen, und ich kümmerte mich um sie, so gut ich eben konnte, während er mir ›Komm schon, wir müssen weiter‹ zurief. Seitdem denke ich in solchen Situationen immer, besser ich überbringe die schlimme Nachricht als irgendein Kollege, der möglicherweise genauso gefühllos ist wie Martin Knuppke. Ich mache es so gut und einfühlsam ich eben kann. Und das ist ja irgendwie auch tröstlich für die Betroffenen. Selbst wenn die gar nicht wissen, wer Martin Knuppke ist, oder?«
Julia Specht lächelte, auch weil sie merkte, dass Häberle bei dem Thema selbst etwas unsicher war. »Ja, das stimmt. ›Besser ich als Martin Knuppke‹, das ist ein guter Leitspruch, den werde ich mir merken.«
Den Rest der Fahrt saßen sie still nebeneinander und hingen ihren eigenen Gedanken nach.
»Ja, bitte?«
Fast hatte Häberle gehofft, dass Heike Schwamm nicht zu Hause sein würde und er die unangenehme Aufgabe somit noch aufschieben konnte. Während der Fahrt hatte er auch kurz überlegt, dass er eigentlich Maria Dupont hätte bitten können, das zu erledigen. Aber das wäre feige und auch nicht fair gegenüber der Kollegin gewesen.
»Frau Schwamm?«, fragte er in die Gegensprechanlage des alten Mehrfamilienhauses, an dem er gerade beim entsprechenden Namen geklingelt hatte.
»Ja, kann ich Ihnen helfen?« Sie klang sehr nett und sehr jung.
»Guten Tag, Frau Schwamm. Mein Name ist Thomas Häberle, ich bin Hauptkommissar bei der Freiburger Polizei.« Er erwähnte weder die Spezifizierung Kriminalpolizei noch den Terminus Morddezernat, um sie nicht unnötig zu erschrecken und ihr die Nachricht möglichst schonend von Angesicht zu Angesicht überbringen zu können. »Könnten ich und meine Kollegin kurz mit Ihnen sprechen? Es geht um Ihren Vater.«
Der Türöffner summte, und sie traten ein. Laut Klingelschild musste Heike Schwamm im zweiten Stock wohnen, also gingen sie langsam die ausgetretenen Holzstufen durch das dunkle Treppenhaus nach oben. Es war ein typisches Mietshaus aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als der zerstörte Stadtteil Stühlinger wiederaufgebaut worden war.
Heike Schwamm stand mit vor der Brust verschränkten Armen, so als würde sie sich zu wärmen versuchen, im Treppenhaus und wartete auf sie. Sie war schätzungsweise Anfang zwanzig, höchstens eins sechzig groß, etwas stämmig und hatte ihre tiefschwarzen Haare zu einer Pagenfrisur geschnitten. Sie hatte wohl nicht mit Besuch gerechnet, denn sie trug eine alte blaue Jogginghose und einen grünen Pullover, der ihr mindestens drei Nummern zu groß war.
»Was ist mit meinem Vater, haben Sie ihn gefunden? Geht es ihm gut? Wo hat er sich denn herumgetrieben? Bestimmt irgendwo im Wald, oder?« Sie lachte leise, aber man sah ihr an, wie nervös sie war und wie sehr sie sich vor einer schlechten Nachricht fürchtete.
»Hallo, Frau Schwamm, mein Name ist Thomas Häberle, wie eben schon gesagt. Das hier ist meine Kollegin Julia Specht. Können wir vielleicht hineingehen? Wir haben leider keine guten Neuigkeiten.«
Heike Schwamm fiel in sich zusammen, als hätte ihr jemand sämtliche Energie entzogen. Man sah ihr an, dass sie sofort wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie drehte sich um, ging in die Wohnung und ließ die Tür hinter sich offen. Häberle und Julia Specht folgten ihr.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte die Tochter flüsternd und zeigte auf eine kleine moderne Sitzgarnitur in einem winzigen, aber sehr geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer. Sie selbst ließ sich auf einen Sessel fallen.
Häberle nahm Platz. »Frau Schwamm, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater heute Morgen tot in einem Waldstück in der Nähe von Oberried gefunden worden ist«, sagte er dann seinen Spruch auf. Denn wie ein immer gleicher Spruch kam es ihm vor, aber wie sollte man auch sonst eine solche Nachricht überbringen?
»Bisher können wir nicht sagen, woran er gestorben ist, die Untersuchungen laufen. Natürlich sagen wir Ihnen sofort Bescheid, wenn wir mehr wissen. Mein aufrichtiges Beileid.«
»Von mir auch mein aufrichtiges Beileid«, sagte Julia Specht, und man konnte hören, dass sie einen Kloß im Hals hatte.
Heike Schwamm sagte nichts, nickte nur. Sie blieb so lange still, bis es für Häberle und Julia Specht fast schon unangenehm wurde und sie sich fragten, ob die Tochter überhaupt verstanden hatte, was ihr eben mitgeteilt worden war.
»Hat ihn jemand getötet?«, fragte sie dann so plötzlich, dass beide erschraken. »Ich meine, mein Vater war noch keine fünfundvierzig Jahre alt, und sicherlich war er nicht unbedingt der Fitteste. Aber er war fast jeden Tag im Wald unterwegs, immer zu Fuß, immer an der frischen Luft. Er rauchte nicht, er trank nicht. Der stirbt doch nicht einfach so. Oder ist er gestürzt? Aber nein, mein Vater stürzt nicht. Er ist immer vorsichtig!« Jetzt war es mit ihrer Selbstdisziplin vorbei, und sie fing an zu weinen.
Häberle schaute sie betroffen an und wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. In dem Moment wurde er von Julia Specht zur Seite geschoben. Sie setzte sich zu Heike Schwamm auf die Sessellehne und nahm sie in den Arm.