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Ein Morgen ist eine Erzählung von Rainer Maria Rilke. Reinlesen: Zwischen dem Kastellfelsen von Arco und dem Dosso di Romarzolo, einem Bergrücken, der sich wie ein erwachender, durstiger Drache nach dem Gardasee schiebt, gibt es drei Ortschaften. Sie führen einen gemeinsamen Namen; so arm sind sie, daß keine von ihnen stark genug war, sich von der nachbarlichen dauernd zu unterscheiden. Am Rand der ersten Ortschaft ist eine Kirche, weiß und neu, aber doch schon im ersten Drittel ihrer Mauern schmutzig wie ein nachgeschleiftes Kleid. Sie ist allen drei Ortschaften zulieb gebaut, obwohl die Einwohner des entferntesten Dorfes lieber zu den Bettelbrüdern in das sehr alte Kloster Santa Maria delle Grazie beten und beichten gehen. Am Saume des zweiten Ortes ist ein Gasthaus, von den Gästen Arco's nachmittags gerne besucht, und deshalb auch schon von den Fremden beeinflußt: ein helles Haus mit Aufschriften, Terrassen und kleinen Kübel-Oleandern, manchmal sogar mit einer Fahne bezeichnet.
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Seitenzahl: 13
Veröffentlichungsjahr: 2022
Zwischen dem Kastellfelsen von Arco und dem Dosso di Romarzolo, einem Bergrücken, der sich wie ein erwachender, durstiger Drache nach dem Gardasee schiebt, gibt es drei Ortschaften. Sie führen einen gemeinsamen Namen; so arm sind sie, daß keine von ihnen stark genug war, sich von der nachbarlichen dauernd zu unterscheiden. Am Rand der ersten Ortschaft ist eine Kirche, weiß und neu, aber doch schon im ersten Drittel ihrer Mauern schmutzig wie ein nachgeschleiftes Kleid. Sie ist allen drei Ortschaften zulieb gebaut, obwohl die Einwohner des entferntesten Dorfes lieber zu den Bettelbrüdern in das sehr alte Kloster Santa Maria delle Grazie beten und beichten gehen. Am Saume des zweiten Ortes ist ein Gasthaus, von den Gästen Arco's nachmittags gerne besucht, und deshalb auch schon von den Fremden beeinflußt: ein helles Haus mit Aufschriften, Terrassen und kleinen Kübel-Oleandern, manchmal sogar mit einer Fahne bezeichnet. Und daneben ragt eine übergroße, vielfenstrige Dampfmühle und verdeckt die Häuschen und ihren Himmel. Sie gehört dem Wirte und ist nichts, als das häßliche Geld der Arceser Kurgäste, mit welchem sie ihm den sauern vino santo teuer bezahlen. Und jeder, der da kommt, trinkt, einen Witz in das fettige Fremdenbuch schreibt und die Kellnerin um ihren Namen fragt, legt, ohne daß er es weiß, einen Stein zu dieser ungeheueren Mühle hinzu, die überdies noch jedes Jahr ein junges Häuschen kriegt.