Ein neues Jahr voller Wunder - Clemency Burton-Hill - E-Book

Ein neues Jahr voller Wunder E-Book

Clemency Burton-Hill

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Beschreibung

Die Wunder der klassischen Musik sind unerschöpflich. Das stellt die preisgekrönte Violinistin und Moderatorin Clemency Burton-Hill mit dem neuen Band ihres gefeierten Musikkalenders ein weiteres Mal unter Beweis. Auch diesmal dürfen wir Ruhe, Inspiration, Genuss und Kraft aus den einzigartigen und vielseitigen Musikstücken schöpfen, die sie uns in ihren kundigen, charmanten Texten ans Herz legt. Dieses Buch ist die beste Gesellschaft für jeden Tag im Jahr.

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Seitenzahl: 457

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Clemency Burton-Hill

Ein neues Jahr voller Wunder

Klassische Musik für jeden Tag

Aus dem Englischen von Barbara Neeb, Ulrike Schimming und Katharina Schmidt

Diogenes

Für Dr. Christopher Kellner, für alles

Die Musik, die große Verknüpferin, das Vergeistigtste und zugleich Sinnlichste, was es gibt, eine Göttin, aber doch ganz menschlich … in einem gewissen Bereich gibt sie, was nichts außer ihr zu geben vermag.

Walt Whitman (1818–1892)

Vorwort

Als 2017Ein Jahr voller Wunder erschien, habe ich das Buch fast allen Menschen geschenkt, die ich kannte. Darunter waren auch meine zehnjährige Patentochter und mein über siebzig Jahre alter Vater. Trotz des Altersunterschiedes von sechs Jahrzehnten und ihrer völlig unterschiedlichen Bildung und Vorlieben (die eine steht auf TikTok, der andere hört lieber Bach-Variationen auf Vinyl), stellte sich das Buch als das perfekte Geschenk für beide heraus.

Alle, die den ersten Band gelesen haben, und alle, die nun dieses wunderbare Buch in Händen halten, werden schnell den besonderen Vorzug der Jahr-voller-Wunder-Reihe erkennen: Es ist darin für jede und jeden etwas zu finden. Ganz gleich, wie Sie sich fühlen, ganz gleich, welche Zeit im Jahr gerade ist, Sie werden hier genau das finden, was Sie brauchen. Sie können das Buch in einem Rutsch durchlesen oder hierhin und dorthin springen, ganz wie Sie es möchten. Sie können sich von einem Komponisten oder einer Komponistin, von dem oder der Sie noch nie etwas gehört haben, inspirieren oder sich von Ihren vertrauten Lieblingen trösten lassen. In diesem Buch treffen Sie Menschen mit außergewöhnlichen Lebensläufen und erstaunlichen Begabungen. Es wird Sie aufmuntern. Sie werden Liebe entdecken. Sie werden Herzschmerz, Trauer, Mitgefühl und Verständnis erleben. Kurz gesagt, Sie werden all das finden, was das Menschsein ausmacht. Und Sie werden sich selbst finden.

Auf dieser Reise ist Clemency Burton-Hill der beste Tourguide: Wortgewandt vermittelt sie ihre eigene Leidenschaft für klassische Musik, macht sie uns allen zugänglich als etwas Beglückendes und nimmt uns mögliche Berührungsängste. Sie schreibt sowohl fundiert als auch verständlich, und ihre Begeisterung ist in jedem Satz zu spüren. Klassische Musik wirkt oft wie von einem elitären, geheimnisvollen Nimbus umgeben, so als könnten nur weiße Männer in Smokings sie verstehen, die sie im Scheinwerferlicht auf glänzenden Konzertflügeln vor einem elegant gekleideten Publikum spielen. Sie kann sich exklusiv und unnahbar anfühlen – vor allem wenn Sie so wie ich nur eine Handvoll Konzerte besucht und mit Ach und Krach die Sechstklässler-Trompetenprüfung bestanden haben.

Die Jahre voller Wunder machen Schluss damit. Diese Bücher erinnern uns daran, dass Musik eine der unmittelbarsten Formen der Verbindung ist und dass wir sie nicht zu analysieren brauchen, um sie zu fühlen. Sie ist nicht nur eine akademische Disziplin, sie lässt uns auch unsere Menschlichkeit erfahren – in all ihrer herrlichen, chaotischen Vielschichtigkeit. Ein neues Jahr voller Wunder macht da weiter, wo der erste Band aufgehört hat, und präsentiert uns ein überwältigendes Spektrum unterschiedlichster Stimmen.

Clemency kennt die Macht der klassischen Musik nur zu gut. Beruf‌lich hat sie auf vielerlei Arten ihr Leben der leidenschaftlichen Vermittlung dieser Kunst gewidmet – sie hat Radiosendungen gestaltet, Artikel geschrieben, Dokus, Bücher und Podcasts herausgebracht. Vielleicht haben Sie schon mal eine Folge ihres preisgekrönten Podcast »Classical Fix« auf BBC Sounds gehört, wo sie für einen wöchentlichen Gast, der nichts über klassische Musik weiß, eine persönliche Playlist zusammenstellt. Oder vielleicht kennen Sie »The Open Ears Project«, einen von der Kritik gefeierten Podcast für das New York Public Radio, in dem sie außergewöhnliche Gäste aus allen Lebensbereichen bat, ein klassisches Stück vorzustellen, das ihnen etwas bedeutet. Unter den Gästen waren sowohl Hollywoodstars als auch Feuerwehrleute vom 11. September. Mit ihrer Arbeit verfolgt sie oft dasselbe Ziel: Sie will die Hürden niederreißen und uns die einzigartige verbindende Kraft von Musik näherbringen.

Aber Clemencys Verständnis von der Musik, über die sie schreibt, ist nicht nur ein rein beruf‌liches. Am 20. Januar 2020, als sie kurz davor war, das Manuskript für das Buch, das Sie gerade in Händen halten, zu beenden, erlitt sie in New York eine schwere, lebensbedrohliche Hirnblutung. Ihre gesamte Welt wurde dunkel. Sie überlebte nur dank eines raschen Eingriffs und den heldenhaften Bemühungen ihres Hirnchirurgen Dr. Christopher Kellner. Siebzehn Tage lag sie im Koma.

Während dieser Zeit wussten ihre Familie und ihre Freunde nicht, ob sie es schaffen würde. Sollte sie überleben, wurden wir gewarnt, würde sie ein ganz anderer Mensch sein, nicht mehr die Clemmie, die wir kannten. Da wir nicht viel tun konnten, versuchten wir, unsere geliebte Freundin auf die Art zu erreichen, die sie uns zu schätzen gelehrt hat. Wir schickten ihr Musik. Neben ihrem Krankenbett lief also ständig eine bunte Mischung aus Hip-Hop, Soul, Jazz, Pop, Bach, Mozart, Beethoven und anderem.

Als Clemmie wieder zu Bewusstsein kam, straf‌te sie schon bald alle medizinischen Vorhersagen Lügen. Während sie sich einer qualvollen und unendlich schwierigen Therapie in einem neurologischen Rehabilitationszentrum unterzog, hörte sie weiterhin Musik, als ob ihr Leben davon abhing – und vielleicht tat es das auch. Im Februar 2020 besuchte ich sie für eine Woche und staunte jeden Tag über ihre Zuversicht, all dem unvorstellbaren Druck zum Trotz. Sprechen und Gehen musste sie neu lernen. Ihre Kommunikationsfähigkeit – wohl das Wichtigste in ihrem Leben – war fürchterlich eingeschränkt. Trotzdem versank sie nie in Selbstmitleid. Sie war unglaublich dankbar dafür, dass sie eine zweite Chance bekommen hatte. Sie war voller Liebe. Abends, wenn ich das Krankenhaus verließ, drückte sie oft Play auf ihrem Smartphone. Einmal schaute ich unauf‌fällig auf das Display, um zu erfahren, was sie hörte. Es war Max Richter.

Als Anfang März 2020 wegen der Pandemie alle Besuche verboten wurden – selbst Clemmies Ehemann und ihre beiden kleinen Söhne sowie die engsten Familienmitglieder und Freunde durf‌ten nicht zu ihr –, hörte sie noch intensiver Musik, auch als sie selbst an Covid erkrankte. So wie sie es getan hatte, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie stützte sich auf den täglichen Musikgenuss, auch wenn dieser sie manchmal schmerzlich daran erinnerte, was sie verloren hatte.

Mittlerweile hat Clemmie ihre Sprache teilweise zurückerlangt und viel an Beweglichkeit. Vermutlich würde sie es abstreiten (ihre Bescheidenheit hat sich vollständig erhalten), aber dass sie sich so gut erholt hat, ist ein Beweis ihres heldenhaften Mutes und ihrer Entschlossenheit. Ihr Heilungsprozess dauert immer noch an, aber zum großen Glück für die vielen Menschen, die sie lieben, ist Clemmie zweifellos immer noch und auf wunderbare Weise sie selbst. Gott sei Dank.

Laut Dr. Kellner hatte die Musik einen überlebenswichtigen Anteil an ihrer Rehabilitation. Das Ausmaß, mit dem sie sowohl ihre Sprache als auch ihre kognitiven Fähigkeiten zurückerlangte, hat sie – seiner Meinung nach – dem musikalischen Training in ihrem früheren Leben zu verdanken, das sich positiv auf ihr Gehirn ausgewirkt hat. Obwohl die Hirnblutung Clemmie sehr viel genommen hat, hätte es weit schlimmer kommen können.

»Wenn es je einen Beweis für die außerordentlichen Fähigkeiten der Musik gibt, für ihre übernatürliche Kraft zu heilen, wiederherzustellen und zu trösten, dann ist es meine eigene Geschichte«, sagt Clemmie. »Die Musik war meine ständige Begleiterin in Zeiten größter Sorge und des Schmerzes. Und ganz allgemein beweist die Musik mit ihren wundersamen Schallwellen uns beharrlich, dass das Leben nicht nur lebenswert ist, sondern dass wir über sie immer wieder zu uns selbst zurückfinden können, ganz gleich, wer wir sind.«

Es könnte keinen größeren Beweis für das Wunder der Musik geben. Dieses Buch ist Ihr Tor zu dieser magischen Welt. Stellen Sie sich darauf ein, dass das Lesen dieses Buches Sie für immer verändern wird.

 

Elizabeth Day

Einleitung

Als ich 2017Ein Jahr voller Wunder schrieb, war meine Motivation ganz klar: Musik – jede Musik – ist eine potenzielle Quelle für Trost, Verbindung und Freude, und »klassische Musik«, die oft den sogenannten Eliten vorbehalten ist, sollte allen zugänglich gemacht werden, die sie hören wollen. Mir war bewusst, dass wir uns am Anfang eines technologischen Wandels befanden, der den Zugang zu dieser – im weitesten Sinne als »klassisch« bezeichneten – Musik für alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Altersgruppe und Kulturkreis, erleichtern würde. Dies war unglaublich aufregend für mich. Seit der Veröffentlichung war es das Wunder meines Lebens, dass mein Buch weltweit ein so aufgeschlossenes und großherziges Publikum gefunden hat. Ich genoss und genieße es, von meinen Lesern und Leserinnen – und Zuhörern und Zuhörerinnen – zu erfahren, wie ihnen mein Buch bei ihrer eigenen Reise durch das zuweilen verzwickte Menschsein geholfen hat.

Jetzt, fünf Jahre später, schreibe ich diese Einleitung in einer seltsam veränderten Post-2020-Welt. In den vergangenen zwei Jahren habe ich beobachtet – und am eigenen Leib erfahren –, wie sehr Musik in Zeiten extremer Trauer, Not und Isolierung Trost und Beistand bieten kann. Selbst wenn alles zusammenzubrechen scheint, hat die Musik Bestand.

Und auch wenn es lächerlich oder nichtssagend klingen mag, so als wollte man ein Pflaster auf eine Gehirnblutung kleben, glaube ich immer noch, dass Musik vor allem eine Quelle der Hoffnung ist. Einer radikalen und unverwüstlichen Hoffnung. Mir haben die vielen Geschichten von Komponistinnen und Komponisten in diesem Buch Hoffnung gegeben. Diese ganz normalen Menschen fühlten sich quasi gezwungen, etwas Schönes zu erschaffen, etwas Fantasievolles, Bedeutungsvolles, Suchendes – selbst wenn ihre Bemühungen zu jener Zeit oftmals keine Unterstützung fanden oder sie nicht dafür anerkannt wurden: Ihnen wurden Steine in den Weg gelegt, sie wurden ausgegrenzt oder noch schlimmer, Opfer unsäglicher Vorurteile. Mir macht zudem die Vorstellung Hoffnung, dass solche Musik in zukünftigen Generationen eine intensive Reaktion auslösen wird, vielleicht auf der anderen Seite der Erde oder unter anderen, noch undenkbaren Lebensumständen. Die Beständigkeit und Freigiebigkeit dieses menschlichen Austausches, der sich über Raum und Zeit hinweg entwickelt, macht mir Hoffnung. Denn dadurch wird völlig Fremden ein Soundtrack geboten, mit dem sie große Themen und große Gefühle im Privaten oder sogar in der Gemeinschaft so verarbeiten können, dass es Auswirkungen auf ihr eigenes Leben hat. Vor allem aber macht mir die Tatsache Hoffnung, dass Menschen dies schon seit sehr langer Zeit tun – oft angesichts von noch größerer Ungerechtigkeit, Armut oder Krankheit – und sie nie damit aufhören werden.

***

Während Musik in ihrer geschriebenen Form nur abstrakte Punkte und Linien auf Papier ist, verbindet sie diese über Zeit und Raum, über Kontinente und Lebensumstände hinweg in dem Moment, wo sie von lebenden, fühlenden Menschen aufgeführt und gehört wird. Es stimmt zwar, dass das Genre, das als »klassische Musik« bekannt ist, größtenteils in Westeuropa, im weitesten Sinn innerhalb der christlichen Tradition, entstanden ist, aber es ist nicht dort geblieben, zum Glück! Mit klassischer Musik verhält es sich ähnlich wie mit ansteckendem Gelächter oder mit unserem sich in alle Ewigkeit ausdehnenden Universum: Nichts hält sie auf.

In diesem Buch ist die klassische Musik eines ganzen Jahrtausends auf 366 Tage verteilt versammelt. Viele der ältesten Komponistinnen und Komponisten, die ich darin aufgenommen habe, wie Hildegard von Bingen oder Pérotin, haben ihre Musik höchstwahrscheinlich »zur Ehre Gottes« komponiert. Ich kann das natürlich nicht mit Gewissheit sagen, aber ich glaube, dass diese erstaunlich talentierten Menschen aus dem 12. Jahrhundert versuchten, ihr Staunen über ihr Hier-Sein zu beschreiben und mittels Musik auszudrücken. Durch einen besonderen alchemistischen Prozess verwandelt sich dieses Gefühl in Klang und physikalische Schwingungen und reist durch die Zeit zu ganz anderen Kulturen und Glaubensrichtungen (oder auch zu Nichtgläubigen). So ist der überzeugte Lutheraner Johann Sebastian Bach, der vor einigen Jahrhunderten starb, heute einfach »Johann Sebastian Bach«, die unsterbliche Legende. Denn seine Musik beinhaltet etwas Unbeschreibliches, das in den Menschen nachklingt, die seine Musik dann zu allen Zeiten auf der ganzen Welt voller Liebe zum Leben erwecken. Und je mehr ich über dieses unendliche Kontinuum menschlichen Teilens und Austauschens und über unsere Abhängigkeit von Musik und voneinander nachdenke, umso beeindruckter bin ich.

In diesem Sinne ist die Musik wie ein lebendiges Labor – ein nie endender Strom gemeinsamer Arbeit, von Musikern und Publikum aufgeführt und immer neu erschaffen, die Kompositionen zu bestimmten Zeiten mit ihren individuellen Empfindungen und Neigungen interpretieren oder für sich entdecken. Wenn Musik uns etwas »bedeutet«, ignorieren wir – ganz gleich, wer wir sind – meist alle intellektuellen Fragen und reagieren ganz unmittelbar, emotional wie physisch. Sie wissen sicher, was ich meine: Plötzlich bekommen Sie Gänsehaut, spüren ein unwillkürliches Prickeln oder haben das Gefühl, Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Etwas in diesem besonderen Lied, Stück oder in der Interpretation hat sich mit Ihnen und Ihren eigenen Erfahrungen, Gedanken, Überzeugungen, Traumata, Tragödien, Enttäuschungen, Geheimnissen, mit Ihrem Bedauern oder Ihrer Freude verbunden. Noch bevor wir es überhaupt realisieren, hat sich etwas mit uns verbunden.

Wissenschaftliche Forschung über klassische Musik hat natürlich ihre Berechtigung. Aber bei klassischer Musik, so wie sie momentan von der Mehrheit der Menschen gehört und erlebt wird, geht es vor allem um diese zufälligen Momente. Sie ist kein versteinertes Relikt, eingesperrt in einem verstaubten Museum oder einer funkelnden Konzerthalle. Der Zugang zu diesem Phänomen mit Namen »klassische Musik« ist nicht nur für die Menschen reserviert, die behaupten, sie zu »verstehen« – weil sie sich das aufgrund einer Mischung aus Glück, Privilegien und Geschichte leisten können und sich dort zu Hause fühlen. Dieser Trugschluss, nein, schlimmer noch, diese tatsächliche kulturelle Abgrenzung, dieses verachtenswerte Othering, hat in der heutigen Welt keinen Platz mehr.

Und dennoch. Ich verstehe, warum sich so viele Leute vom Begriff »klassische Musik« abschrecken lassen oder sich unwissend vorkommen – und mit den vermeintlich dazugehörigen Ritualen nichts anfangen können, die Grenzen zwischen Wohlstand, Bildung oder Herkunft ziehen. Über lange Zeit und in vielen Kulturen wurde Musikerziehung hinter »nützlichere« Aufgaben oder Betätigungen zurückgestellt, sodass der Zugang zur Musik in die Hände von wenigen geriet, die dafür zahlen konnten und wollten. So blieb die Wahrnehmung bestehen, dass »klassische Musik« nur etwas für vornehme, reiche, weiße Leute oder letztlich doch ein abgehobenes Museumsstück sei, ohne jegliche Relevanz für das reale Leben.

Ich bin jedoch davon überzeugt (nach mehr als zwanzig Berufsjahren in der Musik, in unterschiedlichsten Formen und Formaten), dass jeder auf klassische Musik reagiert, von ihr berührt wird und sich in sie verlieben kann – ohne zu verstehen, »wie« sie auf den Menschen wirkt. Denn, Achtung, Spoiler: Das nämlich weiß niemand! Es gibt keine Neurowissenschaftler oder -wissenschaftlerinnen, Komponisten oder Musikerinnen, die wirklich wissen, wie Musik auf das Gehirn, das Bewusstsein eines Einzelnen oder auf diese so großartige Ansammlung von Atomen wirkt, aus dem sich ein menschliches Wesen zusammensetzt. Und ich wünsche mir, dass das auch noch lange so bleibt. Ich stelle mir die Musik gern wie eine ewige Flamme vor, die Licht in unsere Herzen bringt: in jegliches Herz, ganz gleich, wie alt es sein mag.

Ihre Lieblingsmusik mag vielleicht keine Klassik sein. Wenn Sie die Bangles, so um 1989, mögen, ist das großartig. (Übrigens liebe ich Eternal Flame.) Doch wenn Sie nur ein Quäntchen Neugierde für klassische Musik besitzen, will ich hier dafür sorgen, dass Sie sich nie dumm und/oder irgendwie ›weniger wert‹ fühlen, wenn Sie nichts darüber wissen. Ich will gegen die angehen, die auf subtile oder nicht ganz so subtile Art erklären: »Sorry, nur für alte weiße Männer« oder »Wenn Sie nicht reich genug für die Oper sind, verdienen Sie es auch nicht hier zu sein«. Diese Ansichten sind schlimm und tief verwurzelt, aber sie haben nichts mit der Musik an sich zu tun. Sie zählen überhaupt nicht. Sie können überwunden werden.

Denn Musik ist mächtig. Musik ist nicht nur klingende Luft. Millionen von Menschen haben über Jahrtausende unerschütterliche Hoffnung aus der Musik geschöpft. Hoffnung, die in andere Dinge fließen kann: unser Handeln, Aktivismus, Inspiration, Trost, sogar ins Überleben. Das, was der Dichter Seamus Heaney über das große Paradoxon in der Lyrik sagte, lässt sich auf die Musik übertragen, denn auch ihre Wirksamkeit ist in einem Punkt gleich null: »Keine Lyrik«, schrieb er, »hat je einen Panzer aufgehalten. In allen anderen Dingen ist sie grenzenlos.« Und der Dramatiker Bertolt Brecht fragte: »In den finsteren Zeiten, Wird da auch gesungen werden? Da wird auch gesungen werden. Von den finsteren Zeiten.« Wir Menschen reagieren immer auf Tyrannei, Schrecken oder Verzweif‌lung, indem wir Kunst schaffen, und oftmals stellen wir später fest, dass wir dadurch hoffen und irgendwie mit dem Unglück fertig werden konnten.

An einem Nachmittag spät im September im annus horribilis2020 war ich in New York von einem Krankenhaustermin auf dem Heimweg und kam an einem Quartett vorbei, dass dort auf der Straße spielte. Vier supertalentierte junge Menschen, die wahrscheinlich gerade das College abgeschlossen hatten. Vermutlich haben sie die meiste Zeit ihres Lebens daraufhin gearbeitet, ihren Lebensunterhalt als Musiker zu verdienen, haben zahlreiche Opfer gebracht und sicherlich Tausende Dollar Schulden angehäuft. Und jetzt – das: keine Konzerte; keine Tourneen; keine Perspektive. Sie machten Straßenmusik für kleines Geld, ihre Infos für den digitalen Venmo-Bezahldienst standen auf einem selbstgemalten Schild in einem ihrer Instrumentenkoffer. Schon bald blieben ein paar maskierte Leute stehen, zunächst noch mit pandemietypischem gequältem Gesichtsausdruck, hörten zu, lächelten und zückten dann ihre Handys, um diesen Moment festzuhalten (und hoffentlich elektronisch Geld zu senden). Das Quartett war großartig. Und wie es sich für New York gehört, war es ein Ensemble aus weißen, Schwarzen und asiatisch-amerikanischen Musiker und Musikerinnen. Zufällig spielten sie Beethoven: den späten Beethoven, ein Stück, das er 1826 geschrieben hatte, als er schon fast völlig taub war. Ich hörte ihnen eine Weile zu, spürte die Herbstsonne auf meinem Gesicht und war im Stillen beseelt – von der Musik, der Stadt, der Welt, von Geschichte, Zeit und Liebe und meiner anhaltenden Überzeugung, dass Schönheit, Kunst und Musik unser aller Leben einen unerschöpf‌lichen, unbeugsamen Mut verleihen. Sie machen uns widerstandsfähig. Sie schenken uns Hoffnung.

Und das ist doch etwas.

Januar

1. Januar

Johann Sebastian Bach (1685–1750) Jesu, nun sei gepreiset, Kantate BWV411: Chor

Los gehts! Wie schön es ist, eine neue Reise um die Sonne zu beginnen. Gleichzeitig wohl das Normalste und Vorhersehbarste auf der Welt. Und doch, wenn man genau darüber nachdenkt, ist es eine Art Wunder. Ich versuche, das Ganze jedenfalls nicht als selbstverständlich anzusehen.

Und wen sollte man als besten Begleiter für Tag eins eines neuen Jahres wählen? Bach natürlich! Das wird für alle, die mein vorheriges Buch gelesen oder gehört haben, keine Überraschung sein, da ich mich stolz und hemmungslos als Bachs größtes Fangirl geoutet habe: Für mich ist er Gottvater, das einzigartige Genie, der Ursprung von allem. Seine Musik leistet alles, sagt alles, enthält alles und kann eine Zuflucht vor allem sein.

Dieser mitreißende Chor stammt aus der Neujahrskantate, die Bach 1725 komponierte.

Für mich strotzt dieses Stück vor freudigem Optimismus, obwohl es gleichzeitig die Probleme des alten Jahres und die »Not und Gefahr« im Blick behält. Wo auch immer und wer auch immer Sie sind, ich hoffe von ganzem Herzen, dass diese Worte und die beglückende Tatsache, dass Menschen trotz ihrer unterschiedlichen Erfahrungen immer zum Singen zusammenkommen, Ihre Stimmung an diesem 1. Januar heben werden. Ein großes Jahr liegt vor uns: Stürzen wir uns gemeinsam in dieses Abenteuer!

2. Januar

Robert Schumann (1810–1856) Kinderscenen, op. 1512. »Kind im Einschlummern«

Klassische Musik leidet unter der, oft sogar von innen heraus kultivierten Vorstellung, dass ihre Akteure in fernen, abgehobenen Sphären schweben. Komponistinnen und Komponisten mögen vielleicht Sprachrohr der Götter sein, aber ganz gewiss keine real existierenden Menschen, in deren Köpfen es laut und chaotisch zugeht. Dabei gab es in der Geschichte der klassischen Musik sehr viele Menschen, deren Leben sich nicht besonders von unseren unterscheiden. Ich glaube, dass ihre Musik als Ausdruck dessen umso kraftvoller ist.

Meine Mission mit diesem Buch ist es also, nicht nur die Musik zu entmystifizieren, sondern auch die menschliche Seite ihrer Urheber hervorzuheben. Sie kennen solche Leute, das verspreche ich Ihnen, ganz bestimmt. Die Geschichte von Robert Schumann, einem der Titanen der deutschen Romantik, berührt mich dabei immer wieder aufs Neue. Er war sensationell talentiert und brillant in allem, was er anpackte – Spielen, Komponieren, Dichten, Herausgeben –, aber innerlich gebrochen: Er litt unter einer lähmenden psychischen Erkrankung, einer Form von manischer Depression, die ihn sein ganzes Leben lang quälte und schließlich, nach einem Suizidversuch, zu seinem viel zu frühen Tod mit sechsundvierzig Jahren führte.

Dieses Stück ist kaum länger als zwei Minuten, enthält aber alles, von nackter Verzweif‌lung bis zu einer fast unerträglichen Süße – um dann am Ende wieder zurück zur Verzweif‌lung zu taumeln. Mit seinen widerstreitenden Spannungen und wunderbaren Harmonien, seinem unermüdlichen Puls und der Weigerung, irgendetwas sauber abzuschließen, scheint es mir eine ziemlich perfekte Schilderung dessen zu sein, was sich manchmal wie die Unmöglichkeit des Menschseins anfühlt.

Und es ist schön. Wunderschön.

3. Januar

Olivier Messiaen (1908–1992) O sacrum convivium!

Wahrscheinlich stammt der Text zu »O heiliges Gastmahl«, auf dem diese Motette fußt, von Thomas von Aquin, dem einflussreichsten Theologen des Mittelalters. Über die Jahrhunderte hat er auch andere Komponisten inspiriert, darunter Franz Liszt (31. Juli), Palestrina (2. Februar) und Pergolesi (16. März). Aber keine ihrer Kompositionen jagt mir solche Schauer über den Rücken wie das Werk des französischen Komponisten aus dem 20. Jahrhundert, Olivier Messiaen, dessen ganz eigene Stimme und Weltsicht ihm einen bedeutenden Platz in der Geschichte der klassischen Musik sichern. Seine Musik ist »voller neuer Harmonien, außergewöhnlich in ihren Nuancen«, wie jemand über ihn schrieb. Mit seinen unvergleichlichen Werken dringt er tief in das Wesen der Liebe und der Schöpfung ein. Er transkribierte sogar Aufnahmen von Vogelstimmen, um ihren Klang in seine Kompositionen zu integrieren. Er war eben etwas ganz Besonderes.

Dieses Werk ist der höchste Ausdruck seines tiefen persönlichen Glaubens. Es entstand 1937, sehr früh in seiner Laufbahn als Komponist, und bringt durch seine schillernde, manchmal changierende Chromatik des Chorsatzes den Rausch der spirituellen Erfüllung auf den Punkt, wie auch immer Sie diese erleben. Dieses Stück ist wirklich Gnade schenkende, lobpreisende Musik.

Mens impletur gratia,

Et futurae gloriae, nobis pignus datur.

Der Geist wird erfüllt mit Dankbarkeit

und uns ein Pfand der kommenden Herrlichkeit gegeben.

4. Januar

Kaija Saariaho (1952–2023) Asteroid 4179 – Toutatis

Himmelskörper üben seit jeher eine große Faszination auf Komponisten aus. Während Gustav Holst (29. Dezember) zum Beispiel das gesamte Planetensystem vertonte und Joseph Haydn mit Il mondo della luna(Die Welt auf dem Monde) eine Oper über einen Astronomen schrieb, der fälschlicherweise glaubt, er sei auf den Mond versetzt worden, fokussierte die finnische Komponistin Kaija Saariaho hier ihre grandiose musikalische Fantasie auf einen Asteroiden. Genauer gesagt, auf 4179 Toutatis, dessen Umlaufbahn der Erde von allen am nächsten kommt. Sie sagte, dieser Kleinplanet, der am heutigen Tag im Jahr 1989 entdeckt wurde, fasziniere sie, seit sie Bilder von seiner ungewöhnlichen Form gesehen und etwas über seine »komplizierte Rotation« erfahren hatte, nämlich, dass sich verschiedene Bereiche von ihm mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten drehen (oder, wenn Sie es technisch genau wissen wollen, dass er mit zwei verschiedenen Perioden von jeweils 5,4 und 7,3 Erdentagen um seine Längsachsen rotiert). »Eine Folge davon ist«, erklärte Kaija Saariaho, »dass Toutatis keinen festen Nordpol wie die Erde hat. Stattdessen wandert sein Nordpol im Laufe von etwa 5,4 Tagen auf einer gekrümmten Bahn über die Oberfläche. Von Toutatis aus gesehen würden die Sterne keinen kreisförmigen Bahnen folgen, sondern kreuz und quer durchs All ziehen und dabei nie zweimal derselben Bahn folgen.«

Folglich hat der langsam drehende Toutatis nichts, was man als »Tag« bezeichnen könnte, und seine Ausrichtung zum Sonnensystem wiederholt sich niemals. Ich liebe die Vorstellung, dass dieser mutige, eigenwillige Asteroid, unser nächster Nachbar, sein eigenes Ding macht und in seiner ganz eigenen Zeit über den Himmel eiert.

5. Januar

Ludwig van Beethoven (1770–1827) Tripelkonzert in C-Dur für Klavier, Violine und Violoncello, op. 563. Satz: Ronda alla polacca

Ein Konzert ist in der Regel ein Paradestück für ein Soloinstrument, dem das Orchester gegenübersteht. Viele Komponistinnen und Komponisten haben sich dennoch dafür entschieden, mehrere Solokünstler gleichzeitig in den Fokus ihrer Komposition zu rücken.

Beethoven hat diesen Kniff nur einmal angewandt, aber – natürlich ganz typisch für ihn – mit einem großartigen Ergebnis: Er verschmolz nämlich das Beste aus Kammer- und Orchestermusik zu einer Einheit. Möglicherweise hatte er beim Komponieren des Tripelkonzert einen seiner jungen Schüler im Sinn, Erzherzog Rudolph. Der spätere österreichische König sollte ein Leben lang Freund und Gönner Beethovens bleiben (dieser widmete ihm noch einige andere Musikstücke, darunter das wunderbare Erzherzogtrio). Doch damals war Rudolph erst sechzehn Jahre alt und benötigte vermutlich Unterstützung auf der Bühne durch zwei erfahrenere Solisten. Im Verhältnis zu Beethovens übrigem Schaffen ist der Klavierpart nämlich eher einfach gehalten.

Die Zusammenstellung von Klavier, Violine und Cello über einem begleitenden Orchester war auch Beethoven zufolge etwas ganz Neues. Und ich liebe daran, dass ihm das offensichtlich Freude bereitete: Die Grundstimmung im Stück ist wesentlich weniger dramatisch als in einigen seiner berühmtesten Werke, einschließlich der legendären Eroica, die er zur selben Zeit komponierte. Der dritte Satz im Stil einer Polonaise ist für mich ein ausgesprochen beschwingter Soundtrack für einen Januartag.

6. Januar

Frédéric Chopin (1810–1849) Andante spianato und Grande polonaise brillante

Gestern hörten wir, wie Beethoven mit einer Polonaise spielte, einem polnischen Tanz im Dreivierteltakt, der in der Romantik überaus angesagt war. Die Polonaise war auch die erste musikalische Form, in der der polnischstämmige Chopin sein Talent auslebte: Damals war er sieben Jahre alt. Als er seine Grande polonaise1830 komponierte, war er gerade mal zwanzig. Kurz danach verließ er seine geliebte Heimat, ging zunächst nach Wien und dann nach Paris, wo er den Rest seines allzu kurzen Lebens verbrachte. In Paris fügte er das verträumte Andante spianato ein, das der glänzenden Fanfare der Polonaise vorangeht.

Der hochbegabte und äußerst attraktive Chopin wurde sofort mit offenen Armen von der schillernden Pariser Künstlerszene aufgenommen und sozusagen über Nacht berühmt. Doch auch in seiner Wahlheimat Frankreich war er sich seiner Wurzeln immer bewusst. Die Polonaise, die verschiedene Schichten der polnischen Gesellschaft vom Bürgertum bis zum Adel vereint, war untrennbar mit den Traditionen seiner alten Heimat verknüpft, und Chopin blieb bis zu seinem Tod ein Patriot. Bevor er an Tuberkulose starb (und bis heute Generationen von Klavierliebhabern rätseln lässt, was er wohl noch zum Repertoire beigetragen hätte, wäre er nicht so früh gestorben), komponierte er noch Dutzende weitere Polonaisen, von denen allerdings nur achtzehn erhalten sind.

7. Januar

Francis Poulenc (1899–1963) Sonate für Violoncello und Klavier, op. 1432: Cavatina

Poulenc, der an diesem Tag Geburtstag hat, war der Sohn eines Industriellen, der von seinem Nachwuchs erwartete, dass er in das familieneigene Pharmaunternehmen eintreten würde. Trotz der Liebe seines begabten Sohnes zur Musik untersagte Vater Poulenc ihm den Besuch des Pariser Konservatoriums und bestand darauf, dass er stattdessen auf das Traditionsgymnasium Lycée Condorcet ging.

Poulenc war daher gezwungen, sich Klavierspiel und Komposition selbst anzueignen. Doch nachdem seine Eltern kurz nacheinander verstorben waren, und da er noch nicht volljährig war, wurde der Pianist Ricardo Viñes sein Mentor. Viñes förderte seine kompositorische Begabung tatkräftig. Poulenc lernte später Erik Satie (1. Juli) kennen, dessen Einfluss er als »unmittelbar und weitreichend, sowohl auf geistiger als auch auf musikalischer Ebene« beschrieb, und wurde in Paris Mitglied der avantgardistischen Komponistengruppe Les Six, zu der auch Germaine Tailleferre gehörte (10. Januar).

An Poulencs Musik scheiden sich die Geister: Manche halten sie für »unseriös« – als wäre sie zu melodisch und zu ohrenschmeichlerisch, um als progressiv zu gelten. Ich persönlich bevorzuge die Haltung von Igor Strawinsky. Der große russische Komponist schrieb 1931 an den Franzosen: »Sie sind wirklich gut, und genau das fällt mir auch immer wieder auf in Ihrer Musik.«

Poulenc führte ein pralles, schillerndes Leben: Er bekannte sich offen zu seiner Homosexualität, war möglicherweise im französischen Widerstand aktiv, und die ursprüngliche Leichtigkeit und Unbeschwertheit, die man in seinen frühen Werken hören kann, wurde später durch eine gewisse Ernsthaftigkeit gedämpft, vielleicht eine Folge der schwierigen Erfahrungen auf seinem Lebensweg. 1940 begann er mit ersten Entwürfen zu dieser sehr sinnlichen Cellosonate: Im Schatten des Krieges geschrieben, scheint dieses Stück von den dunkleren Modi getrieben zu sein, doch wie so oft bei seiner Musik findet sich auch hier ein gewisses inneres Leuchten. Ich finde es wunderschön.

8. Januar

David Lang (*1957) again (af‌ter ecclesiastes)

Alles Gute zum Geburtstag wünschen wir einem der ganz Großen der zeitgenössischen Musik, dem Pulitzerpreisträger David Lang. Mit der für ihn typischen Selbstironie beschreibt er sich als »Spinner … den größten Nerd der Welt«. Aber lassen Sie sich dadurch nicht täuschen. Seine Musik strahlt eine tiefe Menschlichkeit aus, und bei aller Intellektualität entsteht doch sofort eine direkte emotionale Verbindung. »Wenn Sie diese Stücke dafür nutzen zu erkunden, wer Sie sind und woran Sie glauben«, sagt er, »können Sie eine Menge Energie darauf verwenden herauszufinden, was stimmt.«

Und diese essenzielle Wahrheit, so glaube ich, kommt in seiner Musik zum Ausdruck. In diesem überwältigenden Chorstück aus dem Jahr 2005 adaptiert Lang einige Zeilen aus dem Buch Kohelet. »Kohelet«, so erklärt Lang, »spannt einen mächtigen Bogen vom Zyklus der Jahreszeiten zu anderen endlosen Zyklen der Natur und der Menschen und erschafft so ein seltsames Gleichgewicht aus Hoffnung und Hoffnungslosigkeit … Ich wollte ein Stück schreiben, das den Überdruss an all diesen endlosen Zyklen vermittelt und sich auf die Last der Dinge konzentriert, die sich ständig wiederholen.«

9. Januar

Johannes Brahms (1833–1897) Sonate für zwei Klaviere in f-Moll, op. 34b 2. Satz: Andante, un poco adagio

Klassische Musik wird oft als Kunstform wahrgenommen, die in der Vergangenheit verhaftet ist und nichts mit unserem heutigen Leben zu tun hat: als rückwärtsgewandte – oder zumindest konservative – Museumsstücke. Bei dieser Einordnung vergisst man jedoch zumeist, dass Komponisten im Laufe der Zeit oft die Speerspitze wissenschaftlichen Fortschritts bildeten. Nehmen wir nur mal das Klavier. Heute ist es für uns ein Instrument, das es so anscheinend schon immer gegeben hat. Dabei haben die neugierigsten Musiker ihrer Zeit, stets fasziniert von den neusten Technologien, es kontinuierlich weiterentwickelt.

Zu den ersten Komponisten, die mit den Möglichkeiten des heute üblichen »Klaviers« experimentiert haben, gehörten Haydn und Mozart. Besonders Mozart erforschte begeistert die Möglichkeiten, wie man auf diesem Instrument gleichzeitig mit mehr als zwei Händen spielen konnte. 1765, mit gerade mal neun Jahren, spielte er mit seiner Schwester bei einem Konzert in London vierhändig, was zu jener Zeit als revolutionär galt. Das Klavierduo als Musikgattung hat seit damals eine große Bandbreite an Variationen entwickelt: ob mit zwei Klavieren oder mit vier (oder mehr) Händen auf einem Klavier. Dies wäre auf den viel schmaleren Tastaturen des Cembalos und Clavichords, Instrumente, die dem Klavier vorausgingen, physisch unmöglich gewesen.

Johannes Brahms war in der Romantik sicher der entscheidende Vertreter dieser Musikgattung. Seine Sonate op. 34b komponierte er ursprünglich als Streichquintett, populär wurde sie jedoch erst durch seine Neubearbeitung als Klavierquintett. Mich aber fasziniert vor allem diese Fassung für zwei Klaviere: Gerade der hinreißende zweite Satz mit seiner leidenschaftlichen Intensität und der formalen Eleganz zeigt Brahms’ grenzenloses Genie.

10. Januar

Germaine Tailleferre (1892–1983) Violinsonate Nr. 21: Allegro non troppo

Heute gibt es eine frische, anmutige Violinsonate von einer der coolsten Frauen in der Musik des 20. Jahrhunderts. Geboren als Marcelle Germaine Taillefesse, änderte sie ihren Namen in einem bewussten Akt der Rebellion gegen den Vater. Dieser untersagte ihr nämlich – wie es wohl die meisten bürgerlichen Väter von Töchtern jener Zeit getan hätten –, ihrer großen Leidenschaft nachzugehen: der Musik. Sie ließ sich nicht beirren, nahm weiterhin Klavierunterricht bei ihrer aufgeklärten Mutter (Hut ab, Madame T.!) und ergatterte schließlich einen Platz am renommierten Pariser Konservatorium. Dort studierte sie zusammen mit vielen der interessantesten Musiktalente der damaligen Zeit, darunter Francis Poulenc (7. Januar) und Maurice Ravel (5. April), der sie besonders zum Komponieren ermunterte.

Tailleferre lebte lange und war sehr produktiv und komponierte alles, von Balletten für Sergei Djagilew, den bad boy der Tanzmoderne, bis hin zu Filmmusiken, die kühn afrikanische Themen aufgriffen, und Konzertwerke für ungewöhnliche Instrumente wie Saxofone. Als einziges weibliches Mitglied der avantgardistischen Pariser Gruppe Les Six war sie natürlich stark mit den vorherrschenden Vorurteilen gegenüber Komponistinnen konfrontiert, doch allem Vernehmen nach hat sie sich davon nicht in ihrem Schaffen beirren lassen. Ganz besonders liebe ich, dass sie anscheinend bis kurz vor ihrem Tod, mit Anfang neunzig, immer noch am Klavier saß und komponierte.

11. Januar

Morten Lauridsen (*1943) Ave, dulcissima Maria

Einer der merkwürdigsten Widersprüche in Bezug auf den Platz, den die klassische Musik im heutigen Leben einnimmt – oder eben gerade nicht einnimmt –, ist, dass es eine große und stets wachsende Sehnsucht nach spirituell geprägter Musik gibt, obwohl unsere westlichen Gesellschaften immer säkularer werden. Diese Musik scheint eine Leere zu füllen oder ein menschliches Grundbedürfnis zu befriedigen. Auf digitalen Musikplattformen wimmelt es nur so vor Playlists mit geistlicher Chormusik, die oft von denselben Menschen gestreamt werden, die sich keiner organisierten Religion mehr zugehörig fühlen.

Die Gründe für diesen merkwürdigen Umstand sind vielschichtig und zu verzwickt, um sie hier und heute tiefer zu ergründen, aber vielleicht genügt Folgendes: Ich bin überzeugt, dass die überwältigende Kraft des Klangs menschlicher Stimmen, die mal in Dissonanz, mal in Harmonie zusammenfinden, etwas Grundlegendes im Wesen unserer Spezies spiegelt. Es mag abgehoben klingen, aber ich glaube von ganzem Herzen, dass für Menschen, ob sie nun religiös sind oder nicht, Werke wie diese moderne Vertonung der uralten »Ave-Maria«-Verse aus der Feder des zeitgenössischen amerikanischen Komponisten Morten Lauridsen ein überlebenswichtiges Gut in schwierigen Zeiten wie diesen darstellen.

Und so hoffe ich, dass Sie sich etwa acht Minuten Zeit freischaufeln können, um diese Musik in Ihr Leben zu lassen. Ich verspreche Ihnen, Sie werden sich selbst dafür danken.

12. Januar

Anna Meredith (*1978) Anno»Solstice: Light Out«

Heute gibt es einen weiteren musikalischen Geburtstag zu feiern: den der Komponistin Anna Meredith, in London geboren, in Schottland aufgewachsen. Die vielfältige musikalische Sprache dieses Multitalents lässt sich nicht einordnen und ist deshalb umso aufregender. Mit ihrer klassischen Ausbildung fühlt sich Anna Meredith in dieser Welt vollkommen zu Hause: Sie arbeitet mit führenden Sinfonieorchestern zusammen, gewinnt Preise und tritt bei renommierten klassischen Veranstaltungen wie den BBC Proms auf. Doch ebenso sicher bewegt sie sich in den Klangwelten von elektronischer Musik, Pop, Film und sogar Avantgarde-Jazz. Mit anderen Worten: Sie ist eine großartige Verfechterin des Credos – das sich mit meiner eigenen tiefen Überzeugung deckt –, dass »Musik Musik ist«. Alles ist nämlich durch dieselbe klangliche DNA miteinander verbunden.

Für ihr 2018 erschienenes Album Anno/Four Seasons konnte Anna Meredith, wie viele andere Komponistinnen und Komponisten vor ihr, der Versuchung nicht widerstehen, sich mit einem der berühmtesten Stücke der klassischen Musik zu beschäftigen: Vivaldis Vier Jahreszeiten. Und erwartungsgemäß bringt sie dabei ihren ganz eigenen Schwung und Witz ins Spiel. Das angesehene Musik-Rezensionsportal Pitchfork schrieb, dass ihre Musik »lauter interessante kleine Sachen vollbringe – sie verwischt die Grenzen zwischen den Sätzen, bietet ambivalente Gefühlsschattierungen, kommentiert die eigenen Themen«. Das Resümee: »Wenn das keine geistige Verschmelzung ist, so ist es zumindest so vergnüglich wie ein Face Swap auf Instagram.«

Puristen sollten vielleicht lieber weghören. Allen anderen wünsche ich viel Vergnügen!

13. Januar

Claude Debussy (1862–1918) Deux Arabesques, L. 661: Andantino con moto in E-Dur

Debussy ist eines der größten Genies in der französischen Musik: ein Freigeist, der althergebrachte Regeln der Harmonielehre aufbrach und paradoxerweise durch den Rückgriff auf vergangene Formsprachen die moderne europäische Musik mutig und bahnbrechend weiterentwickelte.

Wegen seiner geradezu wellenartigen, sehr lyrischen Passagen, die mich unweigerlich an französische Landschaften in flirrendem Sonnenlicht oder auch an verrauchte Pariser Cafés erinnern, in denen eine einsame Frau am Tresen sitzt und Absinth trinkt, ist Debussy für mich der Inbegriff des musikalischen »Impressionismus«, obwohl er sich immer gegen diese Bezeichnung gewehrt hat. Er war noch keine dreißig, als er diese beiden Arabesques schrieb. Sie zeigen sein Interesse für eine frühere musikalische Epoche, in der, wie er es beschreibt, »Musik den Gesetzen der Schönheit unterlag, die in den Bewegungen der Natur verankert sind«. Diese äußerst filigrane Miniatur ist etwa vier Minuten lang, ein kurzer Moment nur, dennoch bringt sie es fertig, meine Welt sofort zu entschleunigen und alles in warmes Licht zu tauchen. Und wenn das keine wertvolle Fähigkeit für einen kalten Wintertag ist, dann weiß ich auch nicht.

(Übrigens: Wenn es hier Fans von Alicia Keys gibt, erkennen Sie hier vielleicht das Eingangsriff des Songs Like the Sea aus ihrem Album The Element of Freedom von 2009 wieder. Noch ein Beweis, dass klassische Musik der Unterhaltungsmusik mehr zu geben hat, als wir ihr normalerweise zutrauen.)

14. Januar

Angela Morley (1924–2009) Reverie1: Allegro moderato

Angela Morleys musikalische Laufbahn hätte vielleicht ganz anders verlaufen können, wäre ihr Großvater nicht so ein Spaßvogel gewesen. Nachdem sie sich schon an Banjo, Ukulele und Klavier ausprobiert hatte, verliebte sie sich mit zehn in die Geige. Aber es dauerte nicht lang: Nach einer »einmonatigen Liebesgeschichte«, so beschrieb sie es, griff ihr Großvater ein. Er »beschmierte meinen Bogen mit Butter und beendete damit erfolgreich meine Karriere als Geigerin«.

Ein Verlust für die Geigerwelt, aber ein Gewinn für die des Komponierens: Angela Morley (1924 als Walter Stott auf die Welt gekommen, unterzog sich 1972 einer geschlechtsangleichenden Operation) wurde zu einer bedeutenden Protagonistin der britischen Musik des 20. Jahrhunderts, und zwar über viele Genres hinweg. Sie schrieb Stücke für Fernsehshows und Filme sowie Orchester- und »Easy-Listening«-Musik. Sie war eine begabte Dirigentin, aber auch eine Meisterin des Arrangements, komponierte hervorragende Orchesterbegleitungen und verstand es vorzüglich, eine Melodie effektvoll von einer Bühne für eine andere zu adaptieren. Kein Wunder, dass die größten Showstars ihrer Zeit, darunter Shirley Bassey und Dusty Springf‌ield, ihre Songs bevorzugt von ihr arrangieren ließen.

Morley schrieb Geschichte, als sie 1975 als erste transgender Person für einen Oscar nominiert wurde (da hatte sie schon zwei Emmys gewonnen). 1979 folgte die zweite Oscarnominierung. Der Begriff »Pionierin« wird zwar leicht überstrapaziert, aber hier dürfen wir die Tatsachen für sich sprechen lassen. Angela Morley starb am 14. Januar 2009.

15. Januar

Joseph Haydn (1732–1809) Streichquartett in D-Dur, op. 64 Nr. 5(Lerchenquartett)1: Allegro moderato

Musiker war schon immer ein unsicherer Beruf. Für die meisten Komponisten bestand die beste Chance auf finanzielle Sicherheit darin, einen wohlhabenden Gönner, eine Mäzenin zu haben oder vielleicht – der Jackpot – einen Posten als Hofkomponist mit entsprechenden Vorteilen zu ergattern. Das mochte natürlich bedeuten, dass man Abstriche bei seiner künstlerischen Freiheit machen und Auf‌tragswerke schreiben musste. Man musste sich den Launen desjenigen beugen, der die Rechnungen bezahlte. Aber das war der Preis für den Schutz vor einem Leben in Armut.

Haydn ist als Komponist eng mit dem Hof der ungarischen Familie Esterházy verbunden, an dem er dreißig Jahre lang wirkte. Für ihn als Komponist war es eine fruchtbare Zeit. Er schrieb ein großartiges Werk nach dem anderen, in den verschiedensten Gattungen: Sinfonie, Oratorium, Oper, Konzert und – vielleicht am bedeutendsten – das Streichquartett, als dessen Vater er allgemein gilt. (Sein Spitzname bei den Komponistenkollegen, darunter Mozart, war übrigens »Papa Haydn«.)

Interessanterweise entließ man Haydn 1790, nachdem er ein besonders erhebendes Beispiel für die von ihm geprägte Gattung geschrieben hatte, nach dem Tod seines Gönners Graf Nikolaus aus seinem Vertrag. Nun war er freischaffender Künstler. Während einer Reise nach London lernte er ganz neue Möglichkeiten kennen, zum Beispiel wie er für ein wesentlich größeres Publikum als das einer Hofgesellschaft schreiben konnte. Man kann fast hören, wie diese neue Erfahrung auf seine musikalische Sprache abfärbt, wie sich Grenzen öffnen, wie er Fesseln abschüttelt und alles sich weitet. Einfach großartig!

16. Januar

Maria Szymanowska (1789–1831) 20 Exercices et PréludesPrélude Nr. 1 in F-Dur: Vivace

Eine der größten Freuden für mich bei diesem Projekt ist das Entdecken vieler inspirierender musikalischer Menschen, die ich wirklich gern im richtigen Leben kennengelernt hätte. Maria Szymanowska, die Tochter eines polnischen Gastwirts und Brauers, ist so ein Fall. Sie war eine der ersten professionellen Konzertpianistinnen überhaupt (sie hat diesen Beruf sozusagen erfunden) und feierte zu einer Zeit, als sich Musikerinnen noch mit großen Vorurteilen konfrontiert sahen, riesige Erfolge. Sie tourte ausgiebig durch Europa und verblüffte ihr Publikum, indem sie die Stücke aus dem Gedächtnis spielte (was damals sehr selten, wenn nicht beispiellos war). Zudem war sie eine hoch angesehene Lehrerin, die eine ganze Generation romantischer Komponisten unmittelbar beeinflusste, darunter auch Frédéric Chopin. In Sankt Petersburg unterhielt sie ihren eigenen Salon, in dem so manche Berühmtheit der zeitgenössischen Kunstszene wie der russische Starkomponist Michail Glinka (6. Mai) oder der große Dichter Alexander Puschkin ein und aus gingen. Johann Wolfgang von Goethe widmete ihr ein Gedicht und soll unsterblich in Maria Szymanowska verliebt gewesen sein. Nach ihrer Scheidung 1820 war sie alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Uf‌f, das alles unter einen Hut zu bekommen muss hart gewesen sein. Maria Szymanowska fand sogar irgendwie noch die Zeit, mindestens einhundert Stücke zu komponieren, zumeist für ihr eigenes Instrument. Für mich ist dieses spritzige, kleine Prélude ein perfekter Muntermacher: eine schnelle musikalische Aufmunterung, durch die ich mich sofort von Marias Tatendrang anstecken lasse und all meine anstehenden Aufgaben im Handumdrehen erledige.

17. Januar

Francisco Tárrega (1852–1909) Adelita

Also, manchmal brauche ich im Leben eine epische Sinfonie mit allem Drum und Dran, und manchmal brauche ich nur eine winzige Prise musikalischer Perfektion, klein, aber perfekt geformt, wie diese Miniatur von einem der Gründerväter klassischer Gitarrenmusik. Lyrisch, bittersüß, berührend erfüllt sie ihren Zweck in weniger als zwei Minuten und ist dafür umso köstlicher.

18. Januar

Emmanuel Chabrier (1841–1894) Habanera

Dieses Stück ist für alle, die sich je durch einen unliebsamen Job gekämpft haben und daneben alles tun, um ihren kreativen Traum am Leben zu erhalten. Ich verstehe euch. Und wahrscheinlich hätte der französische Komponist der Romantik, Emmanuel Chabrier, es ebenso verstanden, der an diesem Tag geboren wurde. Von seiner bürgerlichen Familie und seinem Vater, einem Anwalt, entmutigt, verfolgte er nicht sein Herzensprojekt Musik, sondern studierte pflichtbewusst Jura und arbeitete viele Jahre als Beamter im französischen Innenministerium. Nebenher beschäftigte er sich jedoch weiterhin intensiv mit Musik und komponierte in seiner Freizeit so viel wie möglich. An der Schwelle zu seinem vierzigsten Lebensjahr beschloss er schließlich (salopp von mir zusammengefasst), dass das Leben zu kurz ist.

Der Januar kann manchmal eine heikle Zeit des Jahres sein, weil wir uns dann besinnen und über unseren Platz und unsere Bestimmung in der Welt nachdenken. Deshalb hoffe ich, dass Sie sich von Chabriers unerschütterlicher Entschlossenheit inspirieren lassen. Er tat das, was er liebte, und zwar kompromisslos. Nachdem er endlich den Absprung gewagt hatte, schrieb er oft überschwängliche Musik, und arbeitete für den Rest seines Lebens als Vollzeitkomponist. (Befreit von den bürokratischen Verpflichtungen seines Brotjobs brachen er und seine Frau übrigens unverzüglich zu einem sechsmonatigen Trip durch Spanien auf, der ihn zu einigen seiner fruchtbarsten Einfälle inspirierte, darunter die temperamentvollen Rhythmen dieser Habanera.)

Mit anderen Worten: Chabrier blickte nie zurück. Und so etwas wie das Hochstaplersyndrom war ihm fremd. »Ich bin Autodidakt«, meinte er einmal. »Ich gehöre keiner Schule an. Ich lebe und atme die Musik, ich schreibe, was ich fühle, mehr mit Temperament als mit Technik, aber wo ist der Unterschied – ich denke, ich bin ein ehrlicher und aufrichtiger Künstler.« Einige Kritiker meinen, dass ihm gerade das Fehlen einer formalen Ausbildung geholfen habe, eine innovative musikalische Sprache zu entwickeln, die den Weg für die nachfolgende Generation der französischen Moderne ebnete. Das ist doch mal eine Rehabilitation!

19. Januar

Jessie Montgomery (*1981) Strum

Jessie Montgomery ist eine hoch talentierte amerikanische Komponistin, Violinistin und Musikpädagogin, die nicht nur unverwechselbare Musik schreibt, sondern ein Mensch wie du und ich ist. Das mag sich völlig unspektakulär anhören, aber es ist bezeichnend für ein Genre, dessen puristische Hüter oftmals die Vorstellung verbreiten, dass klassische Künstler irgendwie anders seien als wir Normalos, und damit anscheinend aktiv neues Publikum abschrecken wollen. Jessie Montgomery jedoch lebt ein stinknormales Leben wie alle anderen auch – sie postet ihre Cocktails auf Instagram und schwärmt in den sozialen Medien in höchsten Tönen von der Hausmannskost ihrer Mutter. Sie glaubt an die Kraft der Musik als Motor für sozialen Wandel und engagiert sich in Bildungsinitiativen für benachteiligte Menschen, die sich diesen Wandel wünschen.

Ihre Musik ist schwer zu beschreiben, und das meine ich absolut positiv: Sie hat ihre eigene Sprache und eine dynamische Energie. Beides hat diesen herrlichen Effekt, dass wir denken, wir würden die Welt kennen. Doch schon im nächsten Moment führt sie uns musikalisch ganz woanders hin. Dieses Stück, so erklärt sie, »schöpft aus der Musiksprache des amerikanischen Folk und aus dem Geist von Tanz und Musik. Strum besitzt ein gewisses Narrativ, das mit flüchtiger Sehnsucht beginnt und sich dann in ein ekstatisches Feiern wandelt.«

Hey, wir haben Mitte Januar, und wir alle können sicher ein wenig ekstatisches Feiern gebrauchen, oder nicht?

20. Januar

Max Richter (*1966) On the Nature of Daylight

»Eine Mediation über Gewalt und ihre Folgen«, so beschreibt der Komponist Max Richter sein herzergreifend schönes Werk aus dem wegweisenden Album The Blue Notebooks (2004). Es ist ein »Protest« gegen die ein Jahr zuvor erfolgte amerikanische Invasion im Irak. Und es dürf‌te nicht überraschen, dass Filmemacher aller Stilrichtungen, darunter Denis Villeneuve (in Arrival,2016) und Martin Scorsese (in Shutter Island,2010) dieses Stück übernommen haben. Seine lang gehaltenen Streichertöne und die geradezu schmerzhaften Harmonien bieten eine einzigartige, melancholische und doch strahlende Klangfläche für visuelle Höhenflüge der Fantasie.

In einem Video zum fünfzehnjährigen Jubiläum des Werks ist Elisabeth Moss zu sehen, bekannt aus The Handmaids Tale. Sie erklärt: »Seine Musik ist seit vielen Jahren eine Inspirationsquelle für meine Arbeit. Es vergeht kein Tag am Set, an dem ich Max’ Musik nicht im Ohr habe, bevor ich einen Take drehe.« Elisabeth Moss hat natürlich einen außergewöhnlichen Beruf, aber diese Musik könnte der Soundtrack für jede Lebenssituation, jede Aktivität sein, und das ist für mich das größtmögliche Kompliment. Wie alle bedeutenden Kunstwerke beinhaltet sie viele verschiedene Facetten: Schönheit und Trauer, Liebe und Verlust, Innerlichkeit und Gegenwart. Alles.

21. Januar

Amy Beach (1867–1944) Berceuse

Heute steht eine typische Pionierin im Fokus, die sich von beiläufigen, aber unmissverständlichen Vorurteilen gegenüber ihrem Geschlecht nicht aufhalten ließ. Amy Beach hat als erste amerikanische Komponistin so etwas wie öffentliche Anerkennung erlangt. Sie war die erste Frau, die eine Sinfonie herausbrachte – eine wirkliche Leistung –, obwohl die Aufarbeitung des jahrhundertelangen Sexismus in der klassischen Musik langsam dazu beiträgt, auch andere Komponistinnen und ihre Werke ans Licht zu holen, die lange vor ihrer Zeit gelebt haben.

Diesem großen Talent und dieser begabten Pianistin wurde von ihrem Ehemann, einem wesentlich älteren Arzt, verboten, öffentlich aufzutreten oder ihre Kompositionen zu publizieren. Das hielt Amy Beach jedoch nicht davon ab, jede Menge Stücke zu schreiben – dieses Wiegenlied ist ein herrliches Beispiel dafür.

22. Januar

Henri Dutilleux (1916–2013) Klaviersonate: II. Lied

Falls Sie nicht gerade hinterm Mond leben, dann ist Ihnen wahrscheinlich bekannt, wie angesagt die uralte Praxis der Meditation heutzutage ist. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ihre fast wundertätige Wirkung auf unser Gehirn beschworen wird. Ich würde ja eigentlich gern auf diesen Meditationszug aufspringen. Wirklich. Aber die Wahrheit ist: Ich habe so meine Probleme damit. In meinem Kopf ist die Hölle los, und obwohl ich weiß, dass mich das zu einer idealen Kandidatin für die positive Wirkung machen würde, fühle ich mich am Ende eines Meditationsversuches noch schlimmer als zuvor.

Einsatz: Dutilleux.

Seine Klaviersonate ist für mich das Geheimmittel, um meinen Kopf frei zu bekommen. Ich muss einfach nur die Ohren aufmachen und die Töne auf mich wirken lassen. Das Ergebnis ist ähnlich wie das einer Meditation, und es kostet nichts. Unglaublich.

23. Januar

Samuel Barber (1910–1981) Sure on this shining night

Heute kommen wir zu einem Titanen der amerikanischen Kunst. Samuel Barber war ein professioneller Baritonsänger, ein hoch angesehener Dirigent und, wohl am wichtigsten, ein bereits zu Lebzeiten hochgelobter, ikonischer Komponist.

Mögen sich auch einige von Barbers progressiven Zeitgenossen über seine Neigung zu »altmodischen« oder an die Romantik angelehnten Charakteristika (so was wie, o mein Gott, Tonalität) lustig gemacht haben, Fakt ist: Er war ein wunderbarer Komponist mit einem Talent für unmittelbare und gefühlvolle Melodien. (Wenn Sie mir nicht glauben, sehen Sie sich Oliver Stones Film Platoon aus dem Jahr 1986 über den Vietnam-Krieg an, dessen Soundtrack Barbers zeitloses Adagio for Strings enthält … Genau!)

Barber war gerade mal zehn Jahre alt, als er seine erste Operette komponierte, The Rose Tree. Später schuf er in fast jedem Musikgenre mindestens eine bedeutende Komposition – wobei er mit vielen von Amerikas berühmtesten Künstlerinnen und Künstlern der 20. Jahrhunderts zusammenarbeitete, unter anderem mit den Songwritern Irving Berlin und Richard Rodgers sowie der Choreografin Martha Graham.

Doch Barber – der am heutigen Tag starb – hatte mit Depressionen und Alkoholismus zu kämpfen, zudem war sein kreatives Leben von vielen Schreibblockaden unterbrochen. Vielleicht fühlte er sich aus diesem Grund besonders zu kurzen, kleinformatigen Kunstliedern hingezogen. Er vertonte Dutzende Gedichte von James Joyce, Emily Dickinson, Rainer Maria Rilke, Stephen Spender und, wie wir heute hören, von Barbers Zeitgenossen James Agee – der zufälligerweise meine absolute Lieblingsverszeile schrieb: »Ich weine vor Staunen.«

Sure on this shining night

Sicher in dieser Mondscheinnacht

Of starmade shadows round,

Mit Sternenschatten rings umher

Kindness must watch for me

Hat Freundlichkeit noch einmal mehr

This side the ground …

Die Erd mir dieser Seits bewacht …

24. Januar

Ola Gjeilo (*1978) Ubi caritas

Als Gymnasiast sang der norwegische Komponist Ola Gjeilo zum ersten Mal in einem Chor – eine Erfahrung, die ihn sofort tief beeindruckt hat. »Ich habe es von der allerersten Probe an geliebt«, erinnert er sich und erzählt, dass das erste Stück, das sie sangen, eine Vertonung der lateinischen Motette Ubi caritas et amor von Maurice Duruf‌lé war. Es war Liebe auf die erste Note: Gjeilo war unmittelbar von tiefer Ehrfurcht erfasst. »Es wird immer eines meiner Lieblingschorwerke aller Zeiten bleiben«, gesteht er. »Für mich ist es das perfekte A-cappella-Stück.«

Duruf‌lés unvergleichliche Vertonung des Textes, die auf einem ikonischen Schnipsel alten gregorianischen Gesangs basiert, war eine mächtige Inspirationsquelle für Gjeilo. Seine Interpretation spiegelt Duruf‌lés elegante Form und seine besonders ausdrucksstarke dynamische Bandbreite. Ich empfinde diese Version von 2009 mit ihrer fast schwerelosen Tiefe als zeitlos. Als solche belegt sie einen wohlverdienten Platz im Kanon und Kontinuum der menschlichen Musikgeschichte.

25. Januar

Max Bruch (1838–1920) Schottische Fantasie, op. 464: Finale (Allegro guerriero)

Um die heutige Burns Night zu Ehren des schottischen Dichters Robert Burns zu feiern, gibt es Musik von einem deutschen Komponisten, der keinen offensichtlichen Bezug zum schönen Schottland hatte. Bruch war aber so angetan vom Reichtum und von der Vitalität der schottischen Volksmusik, dass er eine gesamte Fantasie auf Grundlage einiger ihrer schönsten Lieder komponierte. In diesem Satz bezieht er sich unter anderem auf »Hey Tuttie Tatie« aus der inoffiziellen schottischen Nationalhymne Scots wha hae, zu der Robert Burns (1759–1796) den Text schrieb.

Als ich das Stück als junge Violinistin kennenlernte, hatte ich sofort Bilder des großen romantischen Komponisten Bruch im Kopf, wie er Schottland durchquerte, dessen Berge, tiefe Täler und glitzernde Lochs in sich aufnahm und sie dann zu Papier brachte. Später habe ich herausgefunden, dass er einen Großteil seiner Inspiration aus einer Sammlung schottischer Volkslieder um 1780 bezog, die er in einer Münchener Bibliothek entdeckt hatte. Er komponierte die Schottische Fantasie ausschließlich zu Hause.

Ich mag das irgendwie. Selbst wenn Sie keine Verbindung zu Schottland haben und sich nichts Ekligeres als Haggis und Tatties zum Abendessen vorstellen können, hoffe ich, dass Bruchs musikalische Hommage an Robert Burns Ihre Füße zum Wippen bringt und in Ihnen vielleicht Bewunderung auslöst, wie sehr uns Musik über Raum, Ort und Zeit hinweg miteinander verbinden kann.

26. Januar

Napoléon-Henri Reber (1807–1880) Sinfonie Nr. 4 in G-Dur, op. 331: Allegro

Ähnlich wie bei Poulenc (7. Januar) und Chabrier (18. Januar), die wir bereits kennengelernt haben, sollte dieser Komponist auf Wunsch seiner Familie eine anständige Berufslaufbahn einschlagen. Er sollte in die Industrie gehen, und zu diesem Zweck studierte er Naturwissenschaften. Aber seine eigentliche Berufung war die Musik, und gegen alle Widerstände brachte er sich selbst Flöte, Klavier und Komposition bei. Mit einundzwanzig erhielt er einen Platz am Pariser Konservatorium, musste aber mit einem mäßigen Zeugnis von dort abgehen. Armer Kerl.

Reber ließ sich jedoch nicht abschrecken und zeigte es schließlich allen: 1851 wurde er zum Dozenten für Harmonielehre am Konservatorium ernannt, 1862 zum Professor für Komposition und 1871 zum Leiter aller Abteilungen dieses Instituts.

Trotz seines Ehrgeizes und seines, wie ich glaube, wirklichen Talents blieb ihm der Erfolg sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern versagt. Heute kennt man seinen Namen kaum noch. Vielleicht passte Reber nicht in seine Zeit. Sein weitaus berühmterer Freund, Camille Saint-Saëns (3. Februar), schrieb über ihn:

»Mit seiner Vorliebe für die Vergangenheit und seiner exquisiten Höf‌lichkeit erinnerte er an alte Zeiten. Sein weißes Haar sah aus, als wäre es gepudert, sein Gehrock wirkte altmodisch und er wie ein verlorener Mann aus dem 18. Jahrhundert, der jetzt durch das 19. wandelte, wie etwa ein Zeitgenosse Mozarts, überrascht und ein wenig schockiert über unsere Musik und unser Benehmen.«

27. Januar

Anna Clyne (*1980) The Violin6: Resting in the Green

Die Musik der in London geborenen, in New York lebenden und Grammy-nominierten Komponistin Anna Clyne lässt sich schwer einordnen. Sie arbeitet häufig mit Künstlerinnen und Künstlern aus anderen Disziplinen wie Film, bildender Kunst und Tanz zusammen. Damit will sie Musik schaffen, die andere Kunstformen ergänzt, mit ihnen interagiert und Interpreten und Publikum gleichermaßen berührt.

Dieses atmosphärische Stück stammt aus ihrer Albumsuite The Violin. Kurz nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 2008 stieß Anna Clyne zufällig in einem Laden der britischen Wohltätigkeitsorganisation Oxfam auf eine Violine. »Sie befand sich in einem verstaubten, alten Geigenkasten, der im Keller an einem Stapel Schallplatten lehnte«, erzählt sie. Für den Preis von 5,99 Pfund war die Geige im europäischen Barockstil aus dem späten 18. Jahrhundert mit handgeschnitzter Löwenkopfschnecke ein echtes Schnäppchen. Gut, an dem Instrument war einiges zu tun, daher ließ sie es von einem Geigenbauer im Tausch gegen Kompositionsunterricht restaurieren. Wieder zurück in Brooklyn handelte sie mit zwei befreundeten Violinisten einen weiteren cleveren Deal aus: Sie würde ihnen ein Duett mit dem Titel Blue Hour schreiben, wenn sie im Gegenzug dafür Geigenunterricht bekommen würde.

Eins von Anna Clynes Lieblingsstücken für Violine ist das Presto aus Bachs Violinsonate Nr. 1 in g-Moll. »Als sich der Todestag meiner Mutter jährte«, erklärt sie, »habe ich sechs weitere Stücke für eine Suite komponiert, und Blue Hour sollte der Eröffnungssatz für The Violin werden – ich komponierte ein Stück pro Abend … und beendete das Werk genau zum Jahrestag.« Bachs Musik wird in dem gesamten Album fortlaufend zitiert.

Später arbeitete Clyne mit dem bildenden Künstler Josh Dorman zusammen, und es entstanden sieben Stop-Motion-Filme für die einzelnen Sätze des Werks. Wenn Sie Spaß an so etwas haben, können Sie sich diese online ansehen.

28. Januar

Henry Purcell (1659–1695) King Arthur»What power art thou« (»Cold Song«)

Also, ich weiß ja nicht, wie Sie reagieren, wenn Sie rüde aus dem Tiefschlaf gerissen werden, aber falls Sie damit tatsächlich Schwierigkeiten haben sollten, denken Sie mal an Purcells Figur Cold Genius. In dieser Arie aus dem dritten Akt von King Arthur (1691) wird er von Cupido geweckt und ist darüber so erbost, dass er sofort wieder in die Tiefe zurückwill, in den Schlaf (und um sich zu Tode zu frieren, was wirklich ein etwas extremer Wunsch ist).