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«Ein Roman über neue Anfänge und alte Geheimnisse. Norton ist der König des irischen Kleinstadtkrimis.» ANNE GRIFFIN Carol hätte nie gedacht, dass sie sich noch einmal verliebt. Bis sie dem wesentlich älteren Declan begegnet. Bereits nach wenigen Monaten zieht sie bei ihm ein. In der irischen Kleinstadt tuschelt man über das Paar, und auch Declans erwachsene Kinder lehnen Carol ab. Als Declan erkrankt und in ein Pflegeheim umziehen muss, setzen seine Kinder sie einfach vor die Tür und wollen das Haus verkaufen, das für Carol zum Zuhause geworden ist. Und so muss sie mit fast fünfzig Jahren wieder bei ihren Eltern einziehen. Carols Mutter Moira erträgt es nicht, ihr Kind so leiden zu sehen. Kurzerhand kauft sie das Haus für ihre Tochter, nicht ahnend, welch dunkles Geheimnis sich dort verbirgt … Eine spannende Familiengeschichte von Graham Norton: mit so viel Herzenswärme, Witz und Melancholie erzählt, wie es nur der irische Bestsellerautor kann.
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Seitenzahl: 414
Graham Norton
Roman
Wo die Geheimnisse zu Hause sind
Carol, eine geschiedene Lehrerin, hätte nie gedacht, dass sie sich noch einmal verliebt. Bis sie dem wesentlich älteren Declan begegnet. Für beide ist es die große Liebe, nach wenigen Monaten zieht sie bei ihm ein. In der irischen Kleinstadt tuschelt man über das Paar, und auch Sally und Killian, Declans Kinder, lehnen die neue Frau an der Seite ihres Vaters ab. Doch das schweißt die beiden nur noch mehr zusammen. Dann wird Declan krank und muss in ein Pflegeheim. Sally und Killian beschließen, das Haus zum Verkauf anzubieten, das für Carol zum Zuhause geworden ist. Und so muss sie mit fast fünfzig Jahren wieder bei ihren Eltern einziehen. Carols Mutter Moira hat nie viel von Declan gehalten, aber sie erträgt es nicht, ihr Kind so leiden zu sehen. Kurzerhand kauft sie das Haus für ihre Tochter, nicht ahnend, welch dunkles Geheimnis sich dort verbirgt …
«Ein Roman über neue Anfänge und alte Geheimnisse. Norton ist der König des irischen Kleinstadtkrimis.» Anne Griffin
Graham Norton, Schauspieler, Comedian und Talkmaster, ist eine der bekanntesten Fernsehpersönlichkeiten der englischsprachigen Welt. Geboren wurde er in Clondalkin, einem Vorort von Dublin, aufgewachsen ist der Sohn einer protestantischen Familie aber im County Cork im Süden Irlands. Sein erster Roman «Ein irischer Dorfpolizist» überraschte viele durch seine Wärme und erzählerische Qualität, er avancierte in Irland und Großbritannien zum Bestseller, wurde mit dem Irish Book Award 2016 ausgezeichnet und wird nun auch zu einer Fernsehserie. «Möglicherweise war es Verschwendung, dass der Mann die ganzen Jahre im Fernsehen war», schrieb Bestsellerautor John Boyne in der «Irish Times».
Silke Jellinghaus, geboren 1975, ist Übersetzerin, Autorin und Lektorin und lebt in Hamburg. Unter anderem hat sie Jojo Moyes und Olivia Manning übersetzt.
Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Forever Home» bei Coronet, Hodder & Stoughton, an Hachette Company, UK.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg «Forever Home» Copyright © 2022 by Graham Norton
Redaktion Susann Rehlein
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg, nach dem Original von Hodder & Stoughton, UK
Coverabbildung Tom Haugomat/handsomefrank.com
ISBN 978-3-644-01755-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für John und Martha
Die Hintere Uferstraße war früher mal das Herz von Ballytoor gewesen. Das graue Gebäude hinten beim Krankenhaus, damals noch nicht zum Glas-Ziegel-Kasten aufgemotzt, war die Polizeikaserne gewesen. Außerdem hatte sich hier Keoghs Eisenwarenladen befunden, dessen Schriftzug noch immer quer über den zwei Schaufenstern zu lesen war, geheimnisvoll milchig übertüncht wie bei vielen leer stehenden Geschäften. Kaum einer wusste das, aber das hohe, schlanke Gebäude mit der schmalen Tür war der einzige Fahrradladen der Stadt gewesen, jetzt schien es nur noch auf seinen Einsturz zu warten. Clearys Autowerkstatt gab es noch, ein schillernder Fleck aus Öl und Schmierfett breitete sich auf der Straße davor aus, aber dieser Tage brachte man seinen Wagen zu einer der neueren Werkstätten weiter draußen an der Cork Road.
Die schäbigen Dächer entlang der Hinteren Uferstraße wurden von einer vornehmen Häuserreihe überragt, die seltsam fehl am Platz wirkte. Die Stable Row verlief zwischen der Twomeys Lane und Barrack Hill und hob sich durch eine gewisse Förmlichkeit von allen anderen Straßen der Stadt ab. Sie war nur sieben Häuser lang, deren kleine Vorgärten allesamt mit demselben schmiedeeisernen Gitter eingefasst waren, das eher elegant war als verschnörkelt. Die Menschen, die das Glück hatten, in einem dieser sieben Häuser zu wohnen, waren stolz auf ihr Heim und sich ihres Privilegs bewusst. Die Türen glänzten, die Fenster waren sauber, die Dachrinnen frei von Unkraut. Ja, das konnte man auch spießig finden. Da die Häuser ursprünglich für britische Offiziere gebaut worden waren, die als Teil einer kleinen Garnison in die Stadt gekommen waren, mutete die kurze Häuserreihe eher englisch an als irisch.
Um diese Zeit am Morgen war alles ruhig. Die Witwe Mrs. Buttimer aus der Nummer eins war bei ihrer Schwester in Dublin. Ein Zettel, mit dem nach einer vermissten Katze gesucht wurde, hing kaum noch lesbar am Tor von Haus Nummer zwei, alle Hoffnung vom Regen ausgewaschen. Auf dem Gartenweg der Nummer drei parkte ein leuchtend bunter Plastiktraktor, die Kinder dazu waren vor ein paar Stunden in die Schule verfrachtet worden. Das Morgenlicht brach sich glitzernd in den kleinen Kristallen, die im Fenster von Nummer vier hingen. Man konnte Jenny und Arthur Beamish wirklich nicht als Hippies bezeichnen – er war Buchhalter im Ruhestand – aber sie waren den Insignien einer bürgerlichen Boheme durchaus zugeneigt und hatten neben ihrer Haustür auch ein Windspiel hängen, bis sich Mrs. Buttimer über die Ruhestörung beschwerte. In der Nummer fünf saß die alte Miss Cronin mit einer Decke über den Beinen in der Küche und genoss die klassische Musik im Radio. Eine der Pflegekräfte würde später zurückkommen und ihr das Mittagessen warm machen. Das Haus Nummer sechs war gerade verkauft worden. Niemand konnte fassen, welcher aberwitzige Preis dafür erzielt worden war. Ein junges Paar angeblich. Sie waren noch nicht eingezogen. Er hatte irgendwas mit der Chemiefabrik draußen bei Creenor zu tun. Im Nachbarhaus Nummer sieben stand eine Frau am Fenster, die man auf den ersten Blick mit ihrer zierlichen Figur und dem locker sitzenden Jeansrock für jung hätte halten können. Ihr Haar war zu einem Dutt aufgesteckt, aus dem zwei Plastikstifte ragten. Ein näherer Blick hätte ihr erschöpftes Gesicht erfasst, die dunklen Ringe unter den Augen, die grauen Strähnen im Haar. Das war Carol Crottie, sie war beinahe fünfzig, und sie betrachtete nicht den Fluss oder die Dächer auf der anderen Seite der Stadt, sondern war über einen Ordner gebeugt und kaute auf dem Ende eines Kugelschreibers herum. Carol lebte noch keine zehn Jahre im Haus Nummer sieben und fühlte sich nicht bereit wegzuziehen.
In einem alten Haus zu wohnen, war neu für sie gewesen. Sie hatte ihr Leben in einem adretten, modernen Neubaugebiet in einem Vorort von Cork begonnen. Ihre Eltern hatten sie Carol getauft. «Warst du ein Weihnachtsbaby?», erkundigten sich die Leute höflich, «christmas carol oder so?» Sie verneinte in dem vagen Bewusstsein, dass eine Erklärung von ihr erwartet wurde, die sie aber nie gab. Mit zehn war sie zusammen mit ihren älteren Geschwistern Brian und Linda auf den Rücksitz des Familienwagens verfrachtet und aus der Stadt hinausgefahren worden. Ihr neues Zuhause war ein ultramoderner Bungalow an der Küste westlich von Ballytoor gewesen. «Harte Arbeit, Kinder», hatte ihr Vater auf dem Fahrersitz stolz verkündet. «So sieht die Belohnung für harte Arbeit aus.» Er lehnte sich hinüber und gab seiner Frau einen unbeholfenen Kuss. Sie wurde rot, ihr Blick huschte zu den Kindern auf dem Rücksitz. Carol wusste, soweit Kinder so etwas wissen können, dass die Geschäfte ihres Vaters gut liefen. Ihre Mutter rief ihnen regelmäßig in Erinnerung, dass Daddy arbeiten müsse, so gern er jetzt auch bei ihnen wäre. Seine kleine Café-Kette mit Sitz in Cork hatte erst in Bahnhöfe expandiert, dann nach Dublin und schließlich in die Flughäfen. Crottie’s Cafés waren wahnsinnig beliebt. Carol wurde ihre gesamte Schulzeit lang grottige Crottie genannt, selbst von ihren Freundinnen und Freunden.
Während des Studiums in Dublin war eine kleine, moderne Wohnung, die ihr Vater als Geldanlage gekauft hatte, ihr Zuhause gewesen. Insbesondere in Gegenwart ihrer Geschwister erinnerte er sie gern daran, dass sie sich nicht einbilden solle, die Wohnung gehöre ihr. «Ja, Dad», seufzte sie dann. «Ich hab’s kapiert.»
«Nur damit es keine Missverständnisse gibt», murmelte er.
Unausgesprochen blieb, dass Carol tatsächlich sein Liebling war. Weder Linda noch Brian hatte studiert, und die Tatsache, dass seine Jüngste einen Uni-Abschluss hatte, machte Carol in den Augen ihres Vaters zum Star. Aber er hatte ihr keine Wohnung gekauft. Gerechtigkeit ging ihm über alles. Seinem Testament zufolge sollte gedrittelt werden, aber von seiner Liebe hatte sie mehr bekommen als die beiden anderen.
Zu Anfang ihres Berufslebens als Englischlehrerin wohnte sie zusammen mit zwei Krankenschwestern in einer WG. Die Wohnung lag im nördlichen Teil der Stadt und protzte mit ihren modernen Features. Es gab hell erleuchtete Flure und graubraune Teppichfliesen. Die Haustür zur Straße hatte einen Türsummer und eine kleine Sicherheitskamera. Das gefiel Carols Vater. Die beiden Krankenschwestern teilten sich das eine Zimmer, Carol hatte das andere. Sie kamen gut miteinander aus, bis die beiden herausfanden, dass sie die Tochter des Crottie war, dem die Café-Kette gehörte. Danach war es nicht mehr dasselbe.
Carol verliebte sich. Alex unterrichtete Geografie und trainierte mehrere Sportmannschaften. Er trug auf dem Sportplatz und auch sonst Trainingsanzug und hatte einen dunklen Bart. Von einem Mann wie ihm hätte Carol nie erwartet, dass er sich für einen Bücherwurm wie sie begeistern könnte. Was nicht hieß, dass sie ihn nicht attraktiv fand, im Gegenteil, im Lehrerzimmer sah sie oft unwillkürlich zu ihm hinüber. Hinter einem Stapel von unkorrigierten Hausaufgaben hervor beobachtete sie, wie er mit der blonden Geschichtslehrerin flirtete und lachte. Carol war aufgefallen, dass die älteren Schülerinnen gern mal in der Hoffnung bemerkt zu werden mit Fragen zu Gletschern oder Altwasserseen vor seiner Tür herumlungerten. Dann rief er ihr eines Abends auf dem Lehrerparkplatz lässig zu, ob sie Lust habe, mit ihm auszugehen. Er klang so ungezwungen, dass sie nicht davon auszugehen wagte, es handle sich um ein erstes Date. Dennoch hatte sie so ein Gefühl, als hätte sie eine Folge ihrer derzeitigen Lieblingsserie verpasst, sodass die Geschichte eine ihr unerklärliche Wendung genommen hatte. Alex lud Carol zum Abendessen ein, bestellte Wein, machte ihr Komplimente. Ihre Eltern mochten ihn. Was konnte sie mehr wollen? Sie heiratete ihn.
Nachdem sie sich verlobt hatten, kauften sie spontan ein Reihenhaus. Die großen Schilder, die rund um die im Bau befindlichen Gebäude aufgestellt waren, verkündeten, es handle sich um «Architektenhäuser», so als kämen die meisten Häuser einfach nur mit Glück und Maurerwaage zustande. «Sag deinem Bruder und deiner Schwester nichts», warnte ihr Vater sie, als er ihr den Scheck gab, der bei der Anzahlung helfen sollte.
Sie waren wirklich, wirklich glücklich und hatten sämtliche Möbel ohne Streit ausgesucht und gekauft. Beim Putzen oder Hereintragen der Einkäufe hielt sie manchmal inne und bewunderte, was sie sich aufgebaut hatten. Es war ein echtes Zuhause. Sie lachten, erzählten einander Anekdoten von ihren Schülerinnen und Schülern oder machten sich über Filme lustig, die sie aneinandergekuschelt auf dem Sofa ansahen, das sie gemeinsam ausgesucht hatten. «Das ist perfekt», hatten sie wie aus einem Munde gesagt, als sie es bei Casey’s in Cork entdeckt hatten. Carol wurde schwanger. Ein Kinderbettchen musste ausgesucht und das kleine Zimmer umgestaltet werden. Sie bekamen einen Sohn, Craig. Er war sechs, als Alex sie verließ. Es war nicht die blonde Geschichtslehrerin, sondern eine neue blonde Französischlehrerin. Als er aus der Tür ging, war Carol nicht ganz so untröstlich, wie sie erwartet hätte, sondern sogar ein bisschen erleichtert – das, wovor sie sich so viele Jahre lang gefürchtet und was sie stets irgendwie erwartet hatte, war endlich eingetreten. Natürlich flossen Tränen und es gab Momente wilder Wut, in denen sie hinfahren und ihm schreckliche, verheerende körperliche Schmerzen zufügen wollte, aber sie hatte wenigstens den süßen, sorglosen Craig und das schicke Reihenhaus. Carols Vater zahlte Alex aus, und die Neuigkeit, dass die Französischlehrerin Alex nach nicht einmal einem Jahr vor die Tür gesetzt hatte und er nun in Drimoleague mit einer Physiotherapeutin zusammenlebte, brachte einiges an Genugtuung mit sich.
Single zu sein war nicht so schlimm, wie andere Leute, insbesondere ihre Eltern, zu glauben schienen. Carol stellte fest, dass sie es sogar schöner fand, mit Craig zusammen zu sein, ohne dass Alex da war. Dann, vor gut zehn Jahren, nachdem ihr kleiner Junge ausgezogen war, um als Makler in London zu arbeiten, begegnete sie der zweiten Liebe ihres Lebens, Declan, und konnte ihr Glück kaum glauben. Bald schon zog sie bei ihm ein. 1811 war auf der Regenrinne eingraviert, die an der Backsteinfassade des alten Hauses mit seinen welligen Wänden und abfallenden Böden hinunterführte. Mit den zwei Stockwerken, auf denen sich jeweils zwei kleine Zimmer befanden, war es nur ein besseres Cottage, aber die hohen Decken mit dem filigranen Stuck und die imposanten Kamine schienen darauf hinzudeuten, dass es, wie übrigens alle Häuser in der Straße, seinen Wert kannte. Im obersten Stockwerk befanden sich Schlafzimmer und Bad, das Wohnzimmer im ersten Stock war ursprünglich das Schlafzimmer gewesen, aber Carol hatte Declan überredet, nach oben zu ziehen. Sie wollte mit ihm nicht im selben Zimmer schlafen wie er vorher mit seiner Ex. Aus dem kleinen Wohnzimmer im Erdgeschoss machte sie ein Esszimmer, sodass sie nicht mehr in der Küche aßen. Sie wusste, dass diese Veränderungen ihn nervten, fand es aber wichtig, dem Haus ihren Stempel aufzudrücken. Es gehörte jetzt ihnen beiden.
Das Wohnzimmer wurde zu ihrem Lieblingszimmer. Es ging zur Straße hinaus. Zwei lange, bodentiefe Sprossenfenster überblickten die Stadt, vor beiden war ein schlichter schmiedeeiserner französischer Balkon. Carol genoss es, in diesem Raum zu sitzen, während die Nachmittagssonne den Gitterschatten des Fensters über die ausgetretenen Eichendielen wandern ließ. Sie stellte sich gern die anderen vor, die vor ihr hier gesessen und das Licht auf seiner langsamen Reise zu den Bücherregalen an der gegenüberliegenden Wand beobachtet hatten. Manchmal, wenn sie ein neues Schuljahr vorbereitete und vielleicht in einem Jane-Austen-Roman blätterte oder einem Buch von Dickens, fragte sie sich, ob diese Geschichten früher schon einmal in diesem Zimmer gelesen worden waren. Das fand sie nicht unheimlich oder verstörend, im Gegenteil: Der Gedanke an all die Leben, die in diesen Räumen gelebt worden waren, hatte für sie etwas Tröstliches. Ob sie nun viel zu tun hatte oder nicht, spielte am Ende nicht wirklich eine Rolle. So oder so warf die Sonne ihren Schatten, es sei denn, die schweren Fensterläden sperrten sie aus, die Treppe knarrte, egal, wessen Gewicht sie belastete. Dieses alte Haus war viel mehr als die Summe der Leben, die es im Laufe der Jahre beherbergt hatte. Niemand konnte es wirklich besitzen, und ganz sicher nicht Carol.
Spätestens jetzt war das sehr deutlich geworden.
In jedem Zimmer stapelten sich beschriftete Kisten: Esszimmer. Gläser. Bücher. Töpfe. Diverses. Sie hatte einen Ordner mit einer Inhaltsliste für jede Kiste. Declans Kinder würden sie nicht beschuldigen können, etwas entwendet zu haben. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es sein konnte, dass sie Declan so sehr liebte und gegen seine Kinder eine solch tief sitzende Abneigung empfand. Sie warf einen Blick auf ihr Telefon. 10:45 Uhr. Sie würden bald da sein. Carol wäre nicht überrascht, wenn sie zu früh kämen in der Hoffnung, sie bei irgendetwas zu ertappen. Was, dachten sie, würde sie tun? Mit dem Silberbesteck in ihren Mantelsaum eingenäht aus dem Haus scheppern?
Das Wohnzimmer, in dem sie nun stand, war leer, aber wenn Carol auf die dunklen Flecken auf der Tapete blickte, konnte sie die Bilder, die dort gehangen hatten, noch immer sehen. Die Abdrücke auf dem Boden, wo sich die beiden kleinen Sofas gegenübergestanden hatten. Sie konnte auch ihn sehen. Die Beine überschlagen, die Irish Times aufgeblättert in den Händen, sodass sie einen Großteil seines Körpers bedeckte. Ein Grunzen, wenn sie ihm Tee anbot. Wie konnte es sein, dass er nicht mehr hier war? Der eigenartige chemische Geruch seines Anti-Schuppen-Shampoos lag noch immer in der Luft. Wie konnte Declan, ihr starker Ochse von einem Mann, fort sein und sein Geruch immer noch da? Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und wischte hastig mit der Hand darüber. Die Kinder würden sie nicht weinen sehen.
Sie hörte, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass es Killian war. Er blickte nach oben. Carol wandte sich schnell ab, wusste aber, dass er sie vermutlich gesehen hatte. Typisch, dass er einen Parkplatz direkt vor dem Haus bekommen hatte, wo sie die meisten Abende nach der Arbeit in fruchtloser Suche immer wieder den Block umrunden musste. Sie riskierte einen weiteren Blick aus dem Fenster. Killian sah nun die Straße hinunter. Sein langer Mantel flatterte pompös im Wind, aber seine gestylten Haare saßen fest wie Zement. Für Carol sah Declans Ältester, der inzwischen Mitte dreißig war, noch immer aus wie ein Junge, der in einem Schultheaterstück einen Geschäftsmann spielt. Er hob die Hand und winkte jemandem zu. Sally, seine jüngere Schwester, kam in Sicht. Sie trug eine leuchtend bunte Plastiktüte, aus der Sprühflaschen und Lappen herausschauten. Ging sie davon aus, dass sie das Haus putzen würde? War Carol dazu etwa nicht in der Lage? Sally mit den ungekämmten aschblonden Haaren und in dieser öden Aufmachung – war das eine Strickjacke oder ein Strickmantel? – war sicher nicht reinlicher als sie selbst. Carol beobachtete, wie die Geschwister sich kurz umarmten. Sie unterhielten sich gedämpft, zweifellos über sie, dann kamen sie über die Straße. Carol eilte die Treppe hinunter, ihre Schritte hallten durch das teppichlose Haus. Sie würde ihnen öffnen, bevor sie die Gelegenheit hatten, ihren Schlüssel zu benutzen.
Declan war an der Schule ein beliebtes Gesprächsthema gewesen. Alleinstehend und auch noch alleinerziehend – sprach man von ihm üblicherweise als dem armen Mr. Barry. Carol kannte ihn vom Sehen. Groß und breitschultrig und mit grauen Haaren, die er etwas länger trug als die meisten anderen Väter, drückte er sich unbehaglich am Rand von Schulveranstaltungen wie Sporttagen oder Elternabenden herum. Er sah aus wie jemand, der so viel Kraft hatte, dass er versehentlich Tasse und Untertasse zerdrücken könnte. Sie wusste, dass ihm die Drogerie mit der gelben Fassade gehörte, die zwischen der Post und dem The Cat and Fiddle Pub eingeklemmt war, aber Carol kaufte woanders ein.
Zum ersten Mal sprachen sie auf der Straße miteinander. Carol stand vor Gallaghers Schuhladen und versuchte herauszufinden, auf welche der Paare sich die heftig beworbene Rabattaktion erstreckte, als ein Schatten über das Schaufenster fiel. Sie wandte sich um und erblickte den armen Mr. Barry. Er hielt eine aufgerollte Zeitung in der Hand. Später erfuhr sie, dass es eine Angewohnheit von ihm war, nach Ladenschluss bei Cassidy die Irish Times zu kaufen.
Er senkte leicht den Kopf und fragte: «Mrs. Lawlor?»
«Miss Crottie», korrigierte Carol ihn.
«Oh.» Declan sah verwirrt aus.
«Ich habe meinen Mädchennamen wieder angenommen. Davor war ich Mrs. Lawlor.» Sie lächelte, damit er nicht dachte, sie fühle sich angegriffen, und fügte dann hinzu: «Eine Weile lang jedenfalls.» Sie stieß ein kleines Lachen aus.
«Ich bin Declan Barry. Sallys Vater.» Er streckte ihr seine Hand hin.
«Carol. Schön, Sie zu treffen.»
An dieser Begegnung war nichts ungewöhnlich. Eltern sprachen sie oft an. Carol unterrichtete sowohl Killian als auch Sally, allerdings fand sie beide nicht spannend.
«Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche», Declan sah mit kaum verhüllter Geringschätzung auf die Schaufensterauslage, «aber ich wollte Sie etwas fragen.»
«Bitte, schießen Sie los.»
«Es geht um Sally. Sie möchte im letzten Jahr Englisch nicht als Vertiefungsfach belegen. Ich habe mich gefragt, was Sie denken. Ich möchte sie nicht drängen, wenn Sie glauben, dass sie der Sache nicht gewachsen ist.»
Carol war unsicher, was sie sagen sollte. Sally saß ungefähr auf der Mitte des Klassenzimmers am Fenster. Sie hatte dickes, irgendwie struppiges Haar und war davon abgesehen lediglich eine Schülerin von vielen. Carol hatte Mühe, sich irgendetwas ins Gedächtnis zu rufen, das Sally jemals mündlich zum Unterricht beigetragen oder in einem Aufsatz geschrieben hatte. Vielleicht hatte man sie geschont, weil sie mutterlos aufwuchs.
«Ich finde ja immer, dass es keinen Zweck hat, jemanden zu zwingen, aber sie muss sich ja auch nicht jetzt entscheiden. Sie hat noch den ganzen Sommer Zeit. Ich sage Ihnen, was ich machen würde: Kaufen Sie ihr eine Ausgabe von Sturmhöhe von Emily Brontë. Das steht nächstes Jahr auf dem Lehrplan. Wenn sie es über den Sommer liest und mag, würde ich sagen, sie bekommt keine Probleme mit dem höheren Niveau.»
Declan hob die Zeitung in die Luft. «Das ist ein Plan. Gefällt mir. Vielen Dank Mrs., Entschuldigung, Miss …»
«Einfach Carol, bitte», unterbrach sie ihn. Sie schüttelten sich noch einmal die Hände, und er schlenderte in Richtung der Uferstraße davon, der Körper steif und schwankend wie ein Metronom.
Danach bemerkten sie einander öfter. Winkten. Sie sagte: «Wie kommt Sally voran?», wenn sie im Supermarkt aneinander vorübergingen. Carol bewunderte, wie Declan mit seiner Situation umging. Die meisten Männer, wenn es sie in den Supermarkt verschlug, taten, als wäre Einkaufen vollkommen unter ihrer Würde, oder aber sie schritten mit übersteigertem Selbstbewusstsein durch die Gänge, arbeiteten eine akribisch geplante Runde durch den Laden ab und agierten an der Kasse, als wollten sie demonstrieren, dass diese chaotische Welt der Lebensmittel unter der Führung von Männern optimiert werden könnte.
Sally hatte am Ende des Sommers Brontë durch, und obwohl sie niemals zugegeben hätte, dass das Buch ihr gefallen hatte, schien die Tatsache, dass sie es zu Ende gelesen hatte, ihr das Selbstvertrauen zu geben, sich für den anspruchsvolleren Kurs anzumelden. Carol achtete im Unterricht auf sie und freute sich an dem Gedanken, dass ihr Ratschlag vielleicht geholfen hatte. Eines Nachmittags nach dem Läuten blieb Sally steif neben der Tür des Klassenzimmers stehen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, und die langen Arme, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, hingen an ihren Seiten herab.
«Sally. Kann ich dir helfen?»
«Ähm, Dad lässt fragen, ob Sie mir zu Hause Nachhilfe geben könnten? Donnerstags wäre es am besten.» Sally reihte die Worte scheinbar rein phonetisch aneinander, als könnte sie ihre Bedeutung nicht erfassen.
Carol bot ihren Schülern außerhalb des Unterrichts keine zusätzlichen Stunden an, das hatte sie sich zur Regel gemacht. Sie war schon von vielen Eltern gefragt worden, von denen einige ein verlockendes Honorar angeboten hatten, und sie wusste, dass ein paar Kollegen Nachhilfe gaben, aber sie hatte immer das Gefühl, als wäre das ein Eingeständnis, im Klassenzimmer versagt oder absichtlich Informationen zurückgehalten zu haben, weil sie sich was dazuverdienen wollte. Warum hörte sich Carol dann nun antworten: «Ich würde sagen, so etwas ließe sich vermutlich arrangieren. Gibst du deinem Vater meine Nummer?» Sie kritzelte sie auf einen Zettel und reichte ihn Sally. «Du wirst mich bald nicht mehr sehen können.»
Sally nahm die Nummer entgegen, unsicher, ob Carol einen Witz gemacht hatte oder nicht.
«Danke, Miss.»
Donnerstags um acht saßen Sally und Carol am Küchentisch der Barrys und besprachen die Rolle des Narren in König Lear oder die Beziehung zwischen Schönheit und Wahrheit in Keats’ Ode auf eine griechische Urne. Inwieweit das alles das Mädchen erreichte, dessen Atem noch immer nach Shepherd’s Pie aus der Tiefkühltruhe roch, konnte Carol nicht sagen. Im Laufe der Wochen jedoch war Sally immer weniger das mürrische Mädchen aus dem Klassenzimmer. Wie sie sich öffnete, wenn Carol Interesse an ihrer Meinung zeigte oder sie ermutigte, einen Gedanken auszuführen, war herzzerreißend. Sie sah Carol an wie ein Streuner, dem man ein Leckerli hinhält. Als Carol ihr ein schmales Notizbuch mit einem Bild von Emily Brontë darauf schenkte, war Sally so erbärmlich dankbar und begeistert, dass Carol ihre Geste beinahe bereute.
Um neun packte Sally ihre Bücher zusammen und verschwand nach oben. Zuerst hatte sie noch Anstalten gemacht, bei den Erwachsenen sitzen zu bleiben, wenn Declan in die Küche kam, um diskret einen Umschlag mit Bargeld zu übergeben. Doch Declan hatte Sally mit einer Strenge, die Carol etwas einschüchternd fand, auf ihr Zimmer beordert. Am ersten Abend lehnte sie das ihr angebotene Glas Wein ab. Nach ihrer dritten Stunde bot er ihr erneut Wein an. Dieses Mal nahm Carol an. Es wurde zu ihrer üblichen Routine: der Umschlag, ein Glas Rotwein, dann ging sie. Während der Weihnachtsferien stellte sie fest, dass sie die Abende am Küchentisch mit Declan vermisste, ihre Unterhaltung, die mit unerwarteter Leichtigkeit dahinplätscherte. Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, vermieden sie es, ihre ehemaligen Ehepartner zu erwähnen, aber sie plauderten bereitwillig über Ereignisse bei der Arbeit oder tauschten sich über Fernsehsendungen aus, die sie zufällig beide gesehen hatten. Zuerst hatte Carol in der Befürchtung, dass Declans Ansichten mit ihren kollidieren könnten, absichtlich nicht über die Nachrichten oder aktuelle Ereignisse gesprochen, aber er erwies sich als überraschend liberal. Nachdem er gestanden hatte, Leonard-Cohen-Fan zu sein, hörten sie seine CDs und tranken Wein. Declan kam ihr offen vor und neugierig auf die Welt, manchmal war er sogar witzig oder zumindest schnodderig, und er wollte stets wissen, was Carol dachte. Ihre Einschätzung des armen Mr. Barry änderte sich allmählich. Unterhaltungen mit ihm hatten etwas Jugendliches, eine Leichtigkeit, die sie möglicherweise sogar als Flirten bezeichnet hätte.
Carol erwähnte die Nachhilfestunden Craig gegenüber, als er über Weihnachten nach Hause kam. Sie war sich nicht sicher, warum. Versuchte sie ihn auf etwas vorzubereiten? Pflanzte sie einen Samen, damit er, falls die Dinge sich entwickelten, nicht zu schockiert wäre? Die Dinge? Hatte sie den Verstand verloren? Declan war deutlich älter als sie. Hatte die Einsamkeit sie bescheiden werden lassen? Craig blickte kaum auf. «Wozu machst du das?», lautete seine desinteressierte Antwort. Da ihr keine Erwiderung einfiel, wechselte sie das Thema.
Die Dinge entwickelten sich tatsächlich. Hatte es jemals einen echten Zweifel daran gegeben, dass es so kommen würde? Eines Abends, als Declan Carol zur Tür brachte, blieb er stehen und gab ihr einen trockenen Kuss auf die Wange. Augenblicklich wich er zurück und entschuldigte sich.
«Es tut mir leid. Das hätte ich nicht tun sollen.»
Das fand Carol einen schlauen Schachzug von ihm. Er hatte nichts getan, was er nicht einfach bleiben lassen konnte, und doch war es nun an Carol zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Wenn sie kratzbürstig wurde und sich wieder in Miss Crottie zurückverwandelte, wäre die Sache erledigt, doch wenn sie sich entschied, etwas Sanfteres zu sagen, etwa «Nein, sei nicht albern, das macht doch nichts», dann war das auf alle Fälle eine Einladung, den nächsten Schritt zu tun. Sie wählte Letzteres und wartete, dass er auf sie zutrat, sie in die Arme nahm und ihr einen Kuss auf den Mund gab. Stattdessen streckte Declan den Arm aus und öffnete für sie die Tür.
«Danke», sagte er.
Sie spürte, wie ihre Wangen brannten. Wie konnte sie seine Signale nur falsch verstehen? Oder hatte er seine Absichten geändert? Sie stolperte die Treppenstufen hinunter und eilte über die Straße zu ihrem Wagen.
Am darauffolgenden Donnerstag lehnte sie den Wein ab und rannte praktisch zur Haustür, verabschiedete sich mit einem lediglich angemessenen Maß an Freundlichkeit. Als Sally in der nächsten Woche auf ihr Zimmer gegangen war, kam Declan in die Küche und drehte den Umschlag mit dem Bargeld in den Händen.
«Vorletzte Woche», setzte er an. Sie spürte, wie sie nervös wurde. Etwas würde passieren. Wochenlang hatte sie versucht, sich einzureden, dass sie an dem Mann kein Interesse habe, dass er zu alt für sie sei, außerdem war er der Vater einer Schülerin, aber in diesem Augenblick waren alle Argumente fruchtlos.
«Ja», sagte sie leise und wartete darauf, dass er fortfuhr.
«Die Sache ist die …» Er setzte sich Carol gegenüber an den Küchentisch. «Es ist so lange her. Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.» Er fuhr sich mit der Hand durch sein dickes, silbernes Haar. «Joan hat uns vor fast zwölf Jahren verlassen.» Er blickte zu Carol auf. Wollte er Hilfe? Wollte er, dass sie das Reden übernahm? Wie sollte sie das tun, wo sie doch keine Ahnung hatte, worauf er hinauswollte. Auf alle Fälle spürte sie ihre Hoffnung schwinden, als er Joan Barry erwähnte. War das alles ein hochnotpeinliches Vorgeplänkel zu einem Gespräch über seine Frau?
«Weißt du …»
Carol wusste gar nichts.
«Letzte Woche hatte ich den Eindruck, dass du verärgert bist. Und das wollte ich nicht. Ich glaube, ich … Ich schätze …» Schließlich verstummte er und sah sie direkt an. Das hier konnte so oder so enden. Sie hielt den Atem an.
«Carol, darf ich dich küssen?»
Selbst wenn sie es nicht gewollt hätte, sie hätte womöglich zugestimmt, nur damit der peinliche Moment endete.
«Ja», sagte sie schnell. Declan stand auf, ging um den Tisch herum, kniete sich vor sie, legte seine Lippen auf ihre. Eine Anthologie mit Gedichten fiel vom Tisch und landete mit einem Klatschen auf dem Boden.
«Falls wir uns nicht mehr sehen.» Sally schwenkte eine schmale Geschenktüte, auf der sich wie ein Geschwür lachende Weihnachtsmänner ausbreiteten und die eindeutig eine Flasche Wein enthielt. Carols erster Impuls war, sie ihr aus der Hand zu schlagen. Wie konnte sie es wagen, hier hereinzuspazieren und zu glauben, dass eine mittelpreisige Flasche Rioja alles wiedergutmachen würde?
«Danke.» Sie zwang sich zu einem ruhigen, gelassenen Ton und stellte die Flasche neben die beiden großen Koffer am Fuß der Treppe. Als Gegengabe hielt ihnen Carol ihren Ringordner hin.
«Ich glaube, hier drin findet ihr alles. Ich hab alles nummeriert. Für wann habt ihr das Umzugsunternehmen bestellt?»
Killian streckte die Hand aus und nahm den Ordner. «Danke. Danke für das alles.» Er zeigte auf die Kisten. «Das meiste davon ist letztlich Müll.»
Carol zuckte zusammen.
«Killian!», rief Sally ihren Bruder zur Ordnung.
«Tut mir leid.» Killian hob die Schultern. «Schlechte Wortwahl.»
Sally stellt ihre Plastiktüte voller Putzmittel auf dem Boden ab, und sie traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, als wäre ihnen allen gleichzeitig Declans Abwesenheit bewusst geworden.
«Habt ihr heute Morgen euren Vater gesehen?», fragte Carol.
«Ich habe auf dem Weg bei ihm vorbeigeschaut», entgegnete Killian.
«Und wie ging es ihm?»
«Gut. Er war in guter Verfassung.»
«Hat er dich erkannt?»
«Ja, hat mich direkt erkannt und sogar nach Colin gefragt.»
Das war eine Lüge. Die Wahrheit war, dass sein Vater die ganze Zeit den Blick nicht vom Fernseher abgewandt hatte. Killian hatte versucht, sich mit ihm zu unterhalten, sich aber schnell geschlagen gegeben. Es war zu schwer. Das war der Grund, aus dem er ihn gern allein besuchte. Wenn Carol oder Sally mit im Zimmer waren und mühelos plapperten, fühlte er sich oft schuldig oder als Versager. Was es noch schlimmer machte: Das Schweigen zwischen ihm und seinem Vater konnte man nicht dessen Zustand zuschreiben, es war schon immer da gewesen. Autofahrten, Frühstücke, Kirchgänge, alles war wortlos gewesen. Killian erinnerte sich an die vielen Worte in seinem Kopf damals, alles, was er seinem Vater hatte sagen, ihm entgegenschleudern wollen. Declans ausdruckslose Miene hatte ihn wütend gemacht, ohne dass er diese Wut hätte artikulieren dürfen. Wenigstens diese Qual war nun vorüber. Alle Antworten waren ausgelöscht, also gab es auch keinen Anlass mehr für Fragen.
«Also, ich bin dann weg.» Carol biss sich von innen auf die Lippe. Sie würde nicht weinen. Diese grässlichen Kinder hatten ihr alles genommen, aber sie würde dieses Haus würdevoll verlassen.
«Okay, na dann.» Sally klang so, als könnte sie nicht erwarten, diese Situation zu beenden.
«Diese Kiste da ist für euren Vater. Die, auf der ‹Persönliches› steht. Es sind nur ein paar Sachen drin, von denen ich dachte, dass er sie vielleicht gern in seinem Zimmer hätte.» Sie zeigte in die Ecke. Der Karton sah so unbedeutend aus. Ein Leben, ein gesamtes Haus, reduziert auf ein Foto von Declan mit Joan und ihren kleinen Kindern, einen sehr rustikalen Aschenbecher, den Sally gebastelt hatte, und ein gerahmtes Bild von Declan und ihr selbst auf einem Kliff unweit des Bungalows ihrer Eltern, auf dem Declan windzerzaust und sorglos aussah.
Killian nickte. «Danke.»
Carol starrte ihn an, seine dünnen, zusammengepressten Lippen. Sie fragte sich, wie er noch in den Spiegel blicken konnte, wie er es fertigbrachte, die Frau auf die Straße zu setzen, die den eigenen Vater beinahe ein Jahrzehnt lang geliebt und umsorgt hatte. In seinen Augen war das wohl gerechtfertigt. Sie war beinahe froh darüber, dass Declan nun so krank war und niemals erfahren würde, wie seine Kinder sie behandelt hatten.
Carol zog ihre Koffer zur Tür. Die Rollen klackerten über die Dielenbretter und betonten das unbehagliche Schweigen noch. Sie hatte vorgehabt, einfach zu gehen, es machte ja keinen Sinn, noch etwas zu sagen, aber irgendwie konnte sie nicht anders, sie musste es ein letztes Mal probieren. Sie wandte sich zu den beiden um.
«Es geht nicht um mich, ich gehe, aber ihr beide wisst, dass euer Vater diesbezüglich ganz klar war. Er wollte nie, dass dieses Haus verkauft wird.» Sie hielt inne und wartete auf ein Aufflackern von Verständnis. «Das wisst ihr.»
Sally sah ihren Bruder an. Killian hielt die Mappe an seine Brust gedrückt und sagte: «Solche Entscheidungen sind nicht leicht, aber das ist jetzt eine Familienangelegenheit.» Er schämte sich nicht, das Wort Familie zu betonen.
Carol spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie griff nach dem Türriegel.
«Carol», sagte er in ihrem Rücken, und sie gestattete sich einen Funken Hoffnung. Ein freundliches Wort zum Schluss? Ein Friedensangebot? Sie wandte sich erneut zu ihm um.
«Die Schlüssel. Wir brauchen die Schlüssel.» Er streckte die Hand aus.
Da verlor sie die Fassung. Ihr Kinn zitterte und Tränen liefen ihr über die Wangen. Wütend wischte sie sie weg. So wütend sie auf Declans Kinder war, auf sich selbst war sie noch wütender, weil sie ihnen erlaubt hatte, sie so zu sehen. Tränenblind fummelte sie an ihrem Schlüsselbund herum. Killian bot seine Hilfe an, aber sie blaffte ihm ein «Nein» entgegen, und irgendwie gelang es ihr, den Hausschlüssel aus dem Metallring zu lösen. Sie pfefferte ihn auf den Boden, öffnete die Tür und zerrte ihre zwei Koffer die drei niedrigen Steinstufen hinunter. Als sie den kurzen Gartenweg hinunterging, hörte sie Sallys Stimme.
«Du hast deinen Wein vergessen!»
Carol ging weiter und hörte, wie sich die Haustür mit einem Klicken schloss.
Immerhin hatte sie ihre Erinnerungen an die letzten zehn Jahre, die sie hortete wie einen Schatz. Es war verlockend, sich lediglich auf ihre besten Momente zu konzentrieren, aber Carol erinnerte sich auch an die schwierigeren Zeiten, den Anfang zum Beispiel, da war es nicht einfach gewesen. Nach diesem ersten Scharren von Stuhlbeinen auf dem Küchenfußboden und ihrer linkischen Fummelei, hatten sie in dringlichem, aufgeregtem Flüsterton miteinander gesprochen. Es musste ein Geheimnis bleiben. Sally durfte es nicht wissen – sie hing an ihrer Mutter, und die wichtigen Prüfungen standen bevor … Declan wollte sie nicht kränken, solange es nicht sein musste. Carol pflichtete ihm bereitwillig bei. Wenn sie es Killian und Sally nicht sagten, musste sie ihr Liebesleben auch Craig gegenüber nicht erwähnen.
Meist trafen sie sich am späten Nachmittag oder frühen Abend bei Carol zu Hause. Declan parkte am Rand der Siedlung, kam über die uneinsehbare, schmale Fahrbahn für Service-Fahrzeuge auf der Rückseite der Häuser und klopfte an Carols Küchentür. Wenn sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass die Geheimniskrämerei dieser Anfangszeit sie wohl beide hatte glauben lassen, die große Liebe gefunden zu haben, obwohl sie in Wirklichkeit nur zwei einsame Menschen gewesen waren, die jemanden – irgendjemanden – brauchten, an den sie sich klammern konnten. Sie errötete, wenn sie an den Sex in ihrem alten Schlafzimmer dachte. Sie beide hatten ein Schauspiel für ein unsichtbares Publikum aufgeführt, jeder von ihnen hatte den anderen zu überzeugen versucht, dass er sich im Sinnestaumel befand. Hatte sie wirklich wie irgendein übereifriges junges Ding den Kopf in den Nacken geworfen und seinen Namen geknurrt? Später hatte sich die körperliche Seite ihrer Beziehung zu etwas Authentischerem entwickelt, nämlich eher zu einem Mittel, sich gegenseitig ihre Verbundenheit zu versichern, als zu einem Akt der ungezügelten Lust. Befriedigte Seufzer ersetzten die ekstatischen Schreie.
Im darauffolgenden September, als Sally ausgezogen war, um an der Technischen Hochschule in Waterford Gastronomie zu studieren, beschloss Declan, dass sie es öffentlich machen sollten. Es fühlte sich eher wie seine Entscheidung an als wie ihre, aber er war ja auch derjenige gewesen, der die Sache hatte geheim halten wollen. Carol leuchtete nicht ein, warum sich irgendwer für ihr Liebesleben besonders interessieren sollte. Sie waren zwei alleinstehende Erwachsene, die eine zweite Chance ergriffen hatten, glücklich zu sein, was war da schon groß dabei? Wie man vielleicht hätte vorhersehen können, hatte der Rest von Ballytoor durchaus Vorbehalte.
Der Altersunterschied.
Die Tatsache, dass sie die Lehrerin seiner Kinder war.
Dass sie geschieden war.
Dass sich seine Frau aus dem Staub gemacht hatte.
Wie es schien, war Carols Leben für die Leute von größtem Interesse. Doch all die Aufmerksamkeit, das Geschwätz und die Aburteilung vertieften Declans und Carols Verbundenheit nur. Ihre heimlichen Stunden der Zweisamkeit wurden zu einem Wir gegen den Rest der Welt. Carol verbrachte mehr und mehr Zeit bei ihm, bis sie sich schließlich eingestehen mussten, dass sie praktisch eingezogen war.
Carol stellte fest, dass sie sich immer mehr auf Declan bezog. Abgesehen von ein paar Lehrerkolleginnen und -kollegen hatte sie nicht wirklich viele Freunde, und die, die sie hatte, waren nicht begeistert von Declan oder umgekehrt. Die meisten ihrer alten Freunde waren aus Ballytoor weggezogen. Eine der wenigen, die geblieben waren und von Declan gemocht wurden, war Eimear. Sie hatte Jura studiert und Carol war deswegen davon ausgegangen, sie nie wiederzusehen – sie wirkte zu schnittig und intellektuell fürs Kleinstadtleben. Doch Eimear hatte Carol überrascht und war nach Ballytoor zurückgekehrt, um in die Kanzlei ihrer Familie einzutreten. Sie schien weit und breit die Einzige zu sein, die Carols und Declans junge Liebe befürwortete.
«Hör nicht auf die Leute. Die haben einfach nur zu viel Zeit, wenn sie sich so über euch beide aufregen.»
«Weiß ich ja.» Bei Eimear sah alles so leicht aus. Carol spürte, dass ihrer Freundin tatsächlich egal war, was andere von ihr dachten, und beneidete sie ein wenig darum.
«Die kriegen sich auch wieder ein. Und ihr habt doch auch eure Familien …»
Tatsächlich reagierte keine der Familien positiv. Sally trat in eine Art Streik und weigerte sich, in den Ferien nach Hause zu kommen, während Killian darauf bestand, ein «Gespräch von Mann zu Mann» mit Declan zu führen. Declan ließ seinen Sohn auflaufen, indem er sich schweigend dessen Kritik anhörte und ihn dann fragte, wie es ihm ging. Machtlos zog Killian ab und gestand ihnen eine widerwillige Akzeptanz zu. Carols Sohn Craig reagierte auf die Mitteilung seiner Mutter lediglich dadurch, dass er ihr eröffnete, Weihnachten nicht nach Hause zu kommen. Er benutzte den Satz: «Ich glaube nicht, dass es das Richtige wäre.» Carol wusste nicht genau, was nicht das Richtige wäre, beruhigte sich aber mit dem Gedanken, dass Craig sich keine Sorgen mehr machen würde, sobald er begriffen hätte, dass die Beziehung seiner Mutter sich nicht negativ auf ihn persönlich auswirken würde.
Nach dem Drama ihrer Scheidung von Alex und dem Abschiedsschmerz rund um Craigs Umzug nach London hatte Carol sich erlaubt anzunehmen, dass ihre Eltern sich freuen würden zu hören, dass sie sich ein zweites Mal verliebt hatte.
«Wer?», blaffte ihre Mutter, als hätte ihre Tochter ihr gerade mitgeteilt, sie würde mit Donald Duck zusammenziehen. «Declan Barry? Von der Drogerie Barry? Wie alt ist der denn jetzt? Oh Carol, weißt du auch, was du da tust?»
«Mammy, ich liebe ihn.»
Moira errötete. Gespräche über Gefühle, insbesondere über etwas so Intimes wie Liebe, fand sie unangemessen.
«Ich meine, was weißt du schon über ihn? Die erste Frau ist ihm weggelaufen. Wie hieß sie noch?», fragte Moira sich selbst und setzte dann lauter nach: «Dave, wie hieß sie?»
Ihr Mann, der fernsah, drehte sich in seinem Sessel zu ihnen um.
«Wer?»
«Diese Barry. Die mit dem aus der Drogerie verheiratet war. Ist durchgebrannt, hat die Kinder zurückgelassen.»
«Ich weiß nicht», antwortete Dave, aber die Antwort kam zu schnell. Moira hatte das Gefühl, dass er gar nicht nachgedacht hatte.
«Doch, tust du. Dunkle Haare. Trug nie Strumpfhosen. Der Bruder hat sich umgebracht. Ist hinter Harbour View ins Meer gegangen.»
«Ich bin der Frau nie begegnet.»
Das war zu viel für Moira. «Natürlich bist du ihr begegnet! Sie war hier in diesem Haus, Herrgott noch mal, um Geld zu sammeln oder so was. War es für neue Umkleiden für die Gaelic Athletic Association?»
«Ich weiß es nicht. Ich kenne weder sie noch ihren Namen und weiß auch nichts über die Umkleiden.» Das war ein ausgetretener Pfad in ihren Unterhaltungen.
Moira gab sich geschlagen und wandte sich wieder ihrer Tochter zu. «Na ja, jedenfalls muss sie ja einen Grund gehabt haben dafür, dass sie weg ist. Vielleicht trinkt er, oder er hat sie verprügelt.» Moira warf urplötzlich die Hände in die Luft. «Dave Crottie. Was redest du da? Hast du nicht jahrelang zusammen mit Declan Barry in der Handelskammer gesessen? Ihr seid doch nach Limerick gefahren, um zu golfen oder so was, stimmt’s?»
Dave wuchtete sich aus dem Sessel hoch. «Ach so, der.» Weder sein Ton, noch sein Gesichtsausdruck legten nahe, dass er Declan Barry besonders schätzte.
«Ich finde, das geht alles zu schnell.» Moira verschränkte die Arme, um zu unterstreichen, dass dies nun eben ihre Meinung war und auch nicht damit gerechnet werden konnte, dass sie diese ändern würde.
«Mammy, ich werde nicht jünger. Kannst du dich nicht für mich freuen? Das ist meine zweite Chance, und ich glaube, ich sollte sie ergreifen.»
Moiras gespitzte Lippen sagten mehr als Worte.
Selbst Alex machte sich die Mühe, sie per Textnachricht davor zu warnen, sich zum Gespött zu machen. Nach allem, was er getan hatte, fühlte sich die Nachricht beinahe wie Lob an.
Carol kam auf den Gedanken, dass sie es sich auch leichter machen konnten. Sie probierte ihre Idee an Declan aus.
«Könnten wir nicht weg?», flüsterte sie ihm eines Abends ins Ohr, nachdem er sich über all die ungebetenen Ratschläge und Kommentare beklagt hatte, die er den ganzen Tag über in der Drogerie hatte entgegennehmen müssen.
«Weg? Wo sollen wir denn hin?»
«Irgendwohin. Dublin? Irgendwo nach Norden. An einen Ort, an dem wir neu anfangen können.» Carol erschien das ein recht simpler Plan zu sein.
Declan runzelte irritiert die Stirn. «Was wird aus dem Geschäft?»
Carol zuckte mit den Schultern. «Das verkaufen wir!», antwortete sie mit einem atemlosen Lachen.
Noch während sie das Wort aussprach, konnte sie sehen, wie sich Declans Stimmung veränderte. Er wurde ernst, jede Spur von Neckerei und Geplänkel war wie weggewischt.
«Carol, ich werde dieses Haus niemals verkaufen.» Er hielt inne. «Das meine ich genauso. Ich werde nie verkaufen, könnte das auch gar nicht.»
«Okay, verstehe. Es war nur so eine Idee.» Carol wollte zu der vorherigen Leichtigkeit zurückfinden.
«Nein. Das muss ich erklären.» Er nahm Carols Hand und sah ihr in die Augen. «Ich bin glücklich, dass wir zusammen sind, und wenn irgendwer was dagegen hat, ist mir das scheißegal.» Er wirkte jetzt gelöster, beinahe heiter. «Scheißegal», wiederholte er, und Carol lächelte und drückte seine Hände. «Es ist nur so, nachdem Joan schon gegangen ist, also, da kann ich nicht auch noch weggehen. Ich muss hierbleiben. Ich weiß, dass die Kinder schwierig sein können, aber sie haben viel durchgemacht, deswegen musst du einsehen, dass ich sie nicht auch noch verlassen kann. Dieses Haus sollen sie immer als ihr Zuhause betrachten können. Verstehst du das?» Er atmete aus, erleichtert, dass er sich ihr erklärt hatte.
«Ja. Doch, das verstehe ich.» Jede Erwähnung von Joan brachte sie dazu, sich zu verkrampfen. Sie vermieden nach Möglichkeit beide, über sie zu sprechen. Sie räusperte sich. Wenn sie ihm Fragen stellen wollte, war jetzt, das wusste sie, der richtige Zeitpunkt dafür.
«Hoffst du …» Sie wandte den Blick von ihm ab. «Hoffst du immer noch, dass sie zurückkommt?»
Declan beugte sich zu ihr vor. «Nein, natürlich nicht. Was sie uns angetan hat, könnte ich ihr nie verzeihen. Und dann ist da noch das hier: Ich liebe dich.» Seine Lippen fanden Carols zu einem langen, sinnlichen Kuss. Als er sich von ihr löste, fügte er sanft hinzu: «Es geht mir um die Kinder, nicht um Joan.»
Natürlich hatte Carol sämtliche Gerüchte über Joan Barry gehört. Man habe sie wegen psychischer Probleme in eine Klinik gesteckt wie ihren Bruder. Ein attraktiver Mann habe sie Declan ausgespannt. Declan habe sie geschlagen. Nun schien der Moment gekommen, an dem sie hätte herausfinden können, was wirklich passiert war, aber keine der Fragen erschien ihr angemessen. Sie hatte das Gefühl, sie würden sie wie eine Tratschtante dastehen lassen. Also blieb sie still. Declan würde ihr zu gegebener Zeit alles erzählen. Doch die Zeit selbst wurde zum Problem.
Es passierte langsam und rasend schnell zugleich. Erst drei Jahre war es her, dass sich die ersten Anzeichen von Declans Krankheit gezeigt hatten. Das waren Kleinigkeiten gewesen. Er nannte sie im Streit Joan. Er beschuldigte die Angestellten in der Drogerie des Diebstahls, weil Abend für Abend die Kassenabrechnung nicht aufging. Er wusste nicht, wo er den Wagen geparkt hatte – all das scheinbar unbedeutende Vorfälle. Es dauerte über ein Jahr, bis Carol und Declan sich eingestanden, dass sich ein Muster herausbildete, das man nicht länger ignorieren konnte. Die Diagnose bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen, und zu allem Überfluss hatte es den Anschein, als würde Declans Hirn die Tatsache, dass es eine Bezeichnung für seinen Zustand gab, als Erlaubnis begreifen, sich diesem Zustand voll und ganz hinzugeben.
«Wer hätte gedacht, dass ich so ende?»
Sie robbten auf Händen und Knien durchs Bad und wischten mit alten Duschtüchern Wasser auf. Declan hatte die Badewanne überlaufen lassen. Wenn so etwas passierte, schimpfte er normalerweise auf seine Krankheit oder ärgerte sich über sich selbst, aber an diesem Abend wirkte er einfach nur vom Schicksal geschlagen.
«Das war nicht der Plan», sagte er sanft und streckte die Hand aus, um Carol über den Arm zu streichen.
«Pst.» Sie glitt über den nassen Boden zu ihm hinüber und schloss ihn in die Arme. «Alles gut. Ist doch nichts weiter passiert.»
Sie hielten sich ein paar Minuten lang fest, dann drehte Declan den Kopf und sah Carol in die Augen.
«Du darfst nicht das Gefühl haben, bleiben zu müssen.»
«Was?» Carol war sich nicht sicher, wie er das meinte. Hier im Bad bleiben?
«Verlass mich. Dieser Mist muss nicht auch noch dein Leben kaputtmachen. Ich meine es ernst. Geh weg, solange du noch kannst.»
Tränen standen ihm in den Augen. Carol umfasste ihn fester und begann ebenfalls zu weinen.
«Nein. Niemals. Ich haue nicht ab, das hier ist mein Leben, du bist mein Leben – dieser Mist passiert uns beiden, Declan. Ich bin hier, für immer.»
Beinahe eine halbe Stunde lang blieben sie auf dem Boden sitzen, umarmten einander und weinten. Anscheinend waren ihre Worte das gewesen, was Declan hatte hören müssen, denn er brachte nie wieder die Sprache darauf, dass sie ihn verlassen sollte. Carol zog ihn von den Fliesen hoch und brachte ihn über den Flur in ihr Schlafzimmer. Als sie ihn umgezogen und er seinen trockenen Pyjama anhatte, bezweifelte sie, dass er sich noch an die Überschwemmung oder ihre Unterhaltung erinnerte.
Nachdem der Arzt sie über Declans Krankheit in Kenntnis gesetzt hatte, drängte Carol ihn, es den Kindern zu sagen. Zuerst widersetzte er sich, weil er nicht wollte, dass sie sich Sorgen machten, aber Carol blieb hartnäckig. Killian und Sally hätten ein Recht, Bescheid zu wissen. Sie würden Zeit mit ihrem Vater verbringen wollen. Widerwillig stimmte Declan ihr zu, doch sie müsse diejenige sein, die es ihnen sagte. Er würde vielleicht die Beherrschung verlieren und alles nur noch schlimmer machen. Carol rief beide an. Sie hörten zu. Danach beglückwünschte sie sich dazu, ihre Aufgabe gut erledigt zu haben. Sie hatte ihnen die Fakten mitgeteilt und die Prognose ihres Vaters, ohne zu lügen, so positiv wie möglich dargestellt. «Wir dürfen ihn noch eine ganze Weile behalten, macht euch keine Sorgen.»
Aus Tagen wurden Wochen, und sie begann sich zu sorgen, ob sie in ihrem Versuch, die Nachricht etwas zu beschönigen, den Ernst der Lage nicht ausreichend betont hatte. Keines der Kinder lebte allzu weit entfernt, und trotzdem nahmen sie sich nicht die Zeit für einen Besuch. Sie riefen nicht einmal an, um sich nach ihrem Vater zu erkundigen. Carol wusste, dass ihr Auftauchen einen Keil zwischen Declan und seine Kinder getrieben hatte, aber die Krankheit würde das doch bestimmt ändern? Sie versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie nah Sally ihrem Vater gestanden hatte, als Carol sie kennengelernt hatte, aber dabei wurde ihr klar, dass sie damals ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Declan gerichtet hatte. Als Mädchen hatte Sally Carol, so vermutete sie, anfangs angehimmelt, um sie, sobald sie von der Beziehung wusste, nur umso vehementer abzulehnen. Was Killian anging, so konnte sie sich nicht daran erinnern, ihn viel zu Gesicht bekommen zu haben, bevor Declan ihre Beziehung öffentlich gemacht hatte. In ihr wuchs der Verdacht, dass die Barrys sich als Familie nie besonders nah gewesen waren. Wie sollte man das mangelnde Interesse der Kinder sonst erklären? Carol fiel auf, dass Declan und sie in den letzten Jahren absichtlich vermieden hatten, über die Kinder zu sprechen. Sich über ihren Nachwuchs zu unterhalten hätte bedeutet, die Existenz ihrer früheren Partner anzuerkennen, und Declan hatte sehr deutlich gemacht, dass Joan und Alex nicht Thema sein sollten, außer es war absolut notwendig. Jetzt hätte Carol ihn gern nach seiner Beziehung zu seinen Kindern gefragt, aber es war wohl zu spät dafür. Declan war zu sehr damit beschäftigt, sich verloren zu gehen. Dass seine eigenen Kinder ihn ebenfalls aufgegeben zu haben schienen, war da sicher nicht hilfreich.
Weihnachten war die erste Gelegenheit, bei der die Kinder vor Augen geführt bekamen, was aus ihrem Vater geworden war. Sally war Single, wie sie es immer gewesen zu sein schien, und Killian brachte seinen Ehemann Colin mit. Sie würden nicht lange bleiben.