Ein schwules Leben? - Gottfried Lorenz - E-Book

Ein schwules Leben? E-Book

Gottfried Lorenz

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Beschreibung

"Ich wünsche Ihnen kein leichtes Leben, sondern ein Leben, das Sie bestehen können!" Mit diesem Wunsch verabschiedete Gottfried Lorenz seine Abiturienten. In der vorliegenden Autobiographie lässt Lorenz sein Leben Revue passieren und geht der Frage nach, ob er selbst bisher sein Leben hat "bestehen können". Dieses Leben beginnt 1940 in Niederschlesien. Er und seine jüngere Schwester wachsen mit Mutter und Großmutter ohne Vater auf. Das bildungsbürgerliche Umfeld ist religiös geprägt. Auf der Flucht am Ende des Zweiten Weltkrieges landet die Familie 1945 in Thüringen. Mit der Pubertät erkennt der Verfasser, dass er sich sexuell von Jungen angezogen fühlt. Seine Homosexualität lässt sich weder durch Gebete noch durch zölibatäres Leben beseitigen, also söhnt er sich mit ihr aus. 1955 flieht die Familie erneut, diesmal nach West-Berlin und von dort in den Kreis Wesermünde. Dort macht er an der Niedersächsischen Heimschule Bederkesa Abitur. Seine Studien- und Lehrjahre (auch in sexueller Hinsicht) beginnen. Wie lebte es sich in seiner Jugend und in seinem Erwachsenenalter als Schwuler in Deutschland? Die Erfahrungen sind zwiespältig, denn homosexuelle Handlungen stehen unter Strafe; Schwulen drohen strafrechtliche Ahndung, universitäre und berufsständische Strafmaßnahmen, gesellschaftliche Diskriminierung. Der Verfasser findet jedoch ein erfülltes Berufsleben als Lehrer und Autor und entwickelt sich zu einem selbstbewussten schwulen Mann, der sich seit vielen Jahren für die Rechte queerer Menschen engagiert.

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„Nur wenigen gelingt es, sich unter dem ‚permanenten Angstdruck‘, unter ‚dem gefürchteten Peitschenriemen der öffentlichen Moral‘ ein Leben einzurichten, das annähernd im gleichen Maße angepaßt ist wie der durchschnittliche Lebenslauf eines heterosexuellen Mannes.“1

1 Vgl. Späte Milde. In: Der Spiegel Nr. 20. 1. Mai 1969. Die Wendungen „permanenter Angstdruck“ bzw. „unter dem gefürchteten Peitschenriemen der öffentlichen Moral“ stammen von Theodor W. Adorno bzw. James Baldwin.

Inhaltsverzeichnis

Ein schwules Leben? Erinnerungs- und Gedankensplitter

Anhang

„Der Roman“

Die Fernsehserie

Ein schwules Leben2? Erinnerungs- und Gedankensplitter

Eine Autobiographie schildert das Leben eines Menschen aus dessen Sicht. Es geht dabei um sein Erleben, sein Empfinden, sein Fühlen und Meinen, seine Erinnerung, und auch sein bewusstes Verschweigen, um das, was in seinem Gedächtnis gespeichert ist.

Jeder weiß, wie brüchig das Gedächtnis ist, wie unzuverlässig Erinnerungen sind oder sein können. So haben meine Schwester und ich vieles gemeinsam erlebt – und doch müssen ihre Kinder bisweilen den Eindruck haben, ihre Mutter und ihr Onkel seien in verschiedenen Familien aufgewachsen.

Bin ich in einem Ort, in dem ich längere Zeit gelebt habe, stürmen Erinnerungen auf mich ein, die geordnet werden müssen. Da habe ich zwanzig Jahre nicht an eine Person oder ein Ereignis gedacht, und auf einmal erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen – aber verhielt es sich gestern tatsächlich genau so, wie ich das heute meine?

Erinnerungsprozesse sind anstrengend: Sie müssen „angeschoben“ werden, sei es von außen durch Freunde, Verwandte, Bekannte oder Institutionen, sei es von innen, angetrieben von dem Wunsch, etwas weiterzugeben oder sich für etwas zu rechtfertigen. Die einzelnen Erinnerungssplitter oder Erinnerungselemente müssen auf ihre Plausibilität und ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden. Wieviele Einwohner hatte beispielsweise mein Geburtsort zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, wie hießen die Straßen oder die Schulen vor fünfzig Jahren? Vieles ist dank Wikipedia und anderer Online-Quellen einfach zu recherchieren, aber bei weitem nicht alles, je weiter man zurückgeht. In diesen Fällen ist es fair zu sagen, dass man etwas nicht habe klären können oder dass man zwar der Ansicht, sich aber doch nicht völlig sicher sei, dass sich etwas in der erwähnten Weise abgespielt habe. Denn seriöse Autobiographien sind bei aller Subjektivität nicht postfaktisch oder kontrafaktisch konzipiert.

Den Anstoß zu diesem Versuch, ein Leben Revue passieren zu lassen, gab einer meiner ehemaligen Schüler und jetziger Freund.

Es gibt wohl kein Sich-Erinnern, das nicht auch weh tut. Nun kann man Schmerzhaftes oder Peinliches ausklammern, aber dann belügt man sich und andere. Erinnerung verlangt auch, eigenes Fehlverhalten einzuräumen und zu benennen, sich eigenen problematischen Charakterzügen kritisch zu stellen, ist nicht einfach und kann bitter sein wie der Satz eines Schülers aus der Anfangsphase meiner Berufstätigkeit: „Sie können nur dann ein guter Lehrer sein, wenn Sie sich nicht von Stimmungen leiten lassen und nicht cholerisch reagieren. Dass wir von Ihrem Unterricht profitieren und Sie die Gabe haben, uns viel beizubringen, ist die eine Seite, Ihre Unbeherrschtheit die andere.“3

Von meiner Großmutter mütterlicherseits habe ich den Satz, man bereue weniger, was man getan hat, als das, was man nicht getan hat. Und das kann vieles sein: ein gutes Wort, eine liebevolle Geste, ein versprochener, aber immer wieder verschobener Besuch. Zumeist sind es keine schwerwiegenden Versäumnisse, aber doch Versäumnisse, Wunden, die sich nicht schließen.

Schmerzlich sind die die Erinnerungen an die Toten – an die Eltern, Großeltern, an nahe und ferne Verwandte, Freunde und Weggenossen aus den unterschiedlichen Phasen meines Lebens: Spielfreunde aus der Kindheit, Klassenkameraden, Menschen, denen man im Beruf begegnet ist.

Manche Todesnachrichten lösten ein kurzes Innehalten oder auch nur ein Achselzucken aus, andere erschreckten mich, wirkten nach und haben im Gedächtnis einen festen Platz.

Und wie ist das eigentlich? Spielen wir eine Rolle, oder werden wir gespielt als „arme Marionetten“, wie es in dem Gedicht Marionetterna4 des schwedischen Schriftstellers Bo Bergman (1869-1967) heißt:

Det sitter en herre i himlens sal,

och till hans åldriga händer

gå knippen av trådar i tusental

från vart människoliv han tänder.

Han samlar dem alla, och rycker han till,

så niga och bocka vi som han vill

och göra så lustiga piruetter,

vi stackars marionetter.

Vi äta och dricka och älska och slås

Och dö och stoppas i jorden.

Vi bära den lysande tankens bloss,

vi äro så stora i orden.

I härlighet leva vi och i skam,

men allt som vår lycka och ofärd bådar

är bara ryck på trådar.

Du åldrige herre i himlens sal,

när skall du tröttna omsider?

Se dansen på dockornas karneval

Är lik sig i alla tider.

Ett ryck i tråden – och allting tar slut

Och människosläktet får sova ut,

och sorgen och ondskan vila sig båda

i din stora leksakslåda5

Oder sorgt ein Vater für uns, der manchmal nah und oft so fern ist? Gibt es Zufälle, oder ist alles vorherbestimmt?

Ein gelungenes Leben? Sind bei mir die Wünsche in Erfüllung gegangen, die ich in Abiturreden ausgesprochen habe: „Ich wünsche Ihnen kein leichtes Leben, sondern ein Leben, das Sie bestehen können!“?

Geboren wurde ich im Haus der Eltern meiner Mutter am 27. Januar 1940, einem gemäßigt kalten Wintertag, zu den 17.00-Uhr-Nachrichten von Radio Breslau, wie ungezählte Male erzählt worden ist. Bis in die 1950er-Jahre hinein hörte ich: Du hast ja mit dem Kaiser Geburtstag und hättest früher schulfrei gehabt. Der Kaiser war das Synonym für „die gute alte Zeit“, in der viele Menschen, die mir vertraut waren und die ich kannte, aufgewachsen waren. Dass diese Zeit nicht so gut war, wie oft erzählt wurde, begriff ich später. Aber für Menschen, die den Ersten Weltkrieg, die Niederlage Deutschlands, die revolutionären Ereignisse zwischen 1918 und 1923, den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, Flucht oder Vertreibung erlebt hatten und in der SBZ und der neugegründeten DDR lebten, war die positive Bewertung der Kaiserzeit mehr als nur verklärte Erinnerung: Es war eine rückwärtsgewandte Zukunftsutopie.

In meiner Kindheit und Jugend wurde das Lied „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben – aber den mit dem Bart, mit dem langen Bart“ bei Festen oft gespielt und gesungen. Nimmt man den Text ernst und ging es nicht nur um den Marschfoxtrott beim Tanzen, wird deutlich, dass diesen Kaiser Wilhelm, um den es in dem Fehrbelliner Marsch ging, damals nur noch recht alte Sänger gekannt haben konnten. Die „gute alte Kaiserzeit“ war allein mit Wilhelm I. und Bismarck verbunden. Was danach kam und das, was existierte – Schwamm drüber …

Mein Geburtsort ist Steinau an der Oder (heute Sćinawa nad Odrą)6, eine kleine Stadt im niederschlesischen Flachland, rund siebzig Kilometer nordwestlich von Breslau und vierzig Kilometer südöstlich von Glogau (heute Głogów). Steinau hatte 1940 rund 6500 Einwohner. Die Stadtmitte bestimmten das ursprünglich klassizistische Rathaus und die gotische Backsteinkirche St. Johannes, deren bedeutendste Kunstwerke, das Steinauer Retabel von 1514 und der Altar mit der Darstellung der Heiligen Familie aus dem 16. Jahrhundert, sich heute in der Kirche des Klosters Mogiła im Krakauer Vorort Nowa Huta bzw. im Breslauer Muzeum Narodowe we Wrocławiu befinden7. Es gab eine Aufbauschule, die zum Abitur führte. Steinau war Bahnstation der Hauptstrecke von Berlin nach Breslau sowie der Nebenstrecke von Liegnitz (heute Legnica) in das nach dem Ersten Weltkrieg polnisch gewordene Rawicz (Rawitsch). Im Unterschied zu früher halten in Steinau auf der Hauptstrecke heute mit wenigen Ausnahmen nur noch Regionalzüge zwischen den niederschlesischen Städten Głogów und Wrocław (Breslau) bzw. Brzeg (Brieg). Der Betrieb auf der Nebenstrecke ist eingestellt worden. Steinau hatte weiterhin einen Oderhafen mit Bahnanschluss und ein Schloss. Wichtiger als Letzteres waren zwei Oderbrücken – eine Straßenbrücke, die seit 1858 in Betrieb war, und drei nahe beieinander liegende Eisenbahnbrücken, die von weitem wie ein dreigleisiges Brücken-Bauwerk aussahen, aus dem Jahr 1873. Zwei der Gleise gehörten zur Hauptstrecke, das dritte Gleis zur Kleinbahnstrecke nach Rawicz. Die Lage an einem wichtigen Oderübergang führte für die Stadt zweimal zur Katastrophe: Am 12. Oktober 1633 wurde es von Wallensteins Truppen fast völlig zerstört; dasselbe geschah, wenn auch „nur“ zu 75%, als die Rote Armee Ende Januar/Anfang Februar 1945 den Brückenkopf Steinau eroberte.

Die Familie meines Vaters Herbert Lorenz war in der Riesengebirgsregion Niederschlesiens ansässig. Geboren wurde er am 20. November 1910 in Landeshut (heute Kamienna Góra); am 28. März 1942 ist er in der Nähe von Smolensk gefallen. Erinnerungen an meinen Vater habe ich nicht. Alles, was ich weiß, beruht auf Erzählungen meiner Großeltern, meiner Mutter und von Cousinen meines Vaters. Danach war er ein unternehmenslustiger, sportlicher und zugewandter Mensch, der andere für sich gewinnen konnte. Er leitete in seiner Heimatstadt einen Bibelkreis (BK) und unternahm mit seiner Gruppe viele Gebirgswanderungen. Er war militärbegeistert und brachte es in jungen Jahren rasch zum Leutnant, kurz danach zum Oberleutnant. Leider scheint er beim Geldausgeben recht großzügig gewesen zu sein, denn meine Mutter musste noch weit über seinen Tod hinaus Schulden abtragen. Dass ich in dieser Hinsicht nicht „ganz der Vater“ bin, war für sie eine große Beruhigung.

Nach seinem Abitur in Hirschberg (heute Jelenia Góra) und dem Militärdienst (u. a. in Baumholder im Westrich) studierte mein Vater in Breslau und Greifswald Theologie. Am 22. Oktober 1937 wurde er in Breslau ordiniert, war Pfarrvikar und anschließend „Pfarrverweser“ in Steinau an der Oder und seit dem 1. März 1939 Pastor in Seebnitz (heute Trzebnice) im Kreis Lüben (heute Lubin), einem Straßendorf mit 1939 etwa 940 Einwohnern und einer eindrucksvollen großen Kirche, deren Patronatsherr ein Graf von der Recke war8.

Während eines kurzen Urlaubs konnte mich mein Vater am 17. März 1940 taufen. Dies geschah aber in der Steinauer Kirche. Meine Paten waren die Schwester meines Vaters, Tante Gretel, und die Apothekerin Roswitha Knoff; der Steinauer Schuldirektor Dr. Franz war es nicht „offiziell“, aber „informell“.

Während seiner Vikariatszeit in Steinau hatte mein Vater Ingeborg Fräger, meine Mutter, kennengelernt. Sie war die Adoptivtochter des Studienrates Paul Fräger und seiner Ehefrau Josefa, geb. Balber. Geboren war sie am 26. Mai 1912 in Stralsund. Meine Großeltern sorgten dafür (was seinerzeit alles andere als üblich war), dass sie in Breslau eine solide Berufsausbildung als Krankenschwester und Fürsorgerin erhielt. Meine Mutter ist von Ende 1945 bis zum 1. Oktober 1973 ununterbrochen berufstätig gewesen. Die kirchliche Trauung meiner Eltern fand am 16. April 1939 durch Pastor Kaiser9 in Steinau statt. Ihr Trauspruch lautet: „Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4, 16) In der Liebe sind meine Eltern geblieben, wenn ihnen auch nur eine kurze Zeit gemeinsamen Lebens vergönnt war. Letzte Briefe meines Vaters kurz vor seinem Tod zeugen davon, ebenso die tiefe Traurigkeit meiner Mutter. Dass sie immer an die Liebe, die Gott zu uns hat, geglaubt hat, ist zu bezweifeln.

Am 30. Juni 1942, also drei Monate nach dem Tod meines Vaters, wurde meine Schwester geboren. Sie wurde am 19. Juli 1942 ebenfalls in Steinau getauft und erhielt den Namen Christa-Maria. Mein Vater hätte sie wohl lieber Angelika genannt. Warum anders entschieden wurde, ist ein Familiengeheimnis geblieben. Ihre Paten wurden: der beste Freund meines Vaters, Erich Wiese – er war nach dem Krieg Pfarrer der Braunschweigischen Landeskirche in Liebenburg am Harz –, Lore Franz, Tochter des Steinauer Schuldirektors und später Studienrätin in Wunstorf, Ursel Kaiser, Tochter des Kunzendorfer Pastors, der meine Eltern getraut hatte und nun meine Schwester taufte, und Hanna Rönsch, die nach der Flucht in Braunschweig ansässig war.

Meine Schwester und ich hatten mit unseren Paten Glück. Die Verbindung zu meinen Patentanten und „Onkel Franz“ und diejenige meiner Schwester zu Erich Wiese und insbesondere Lore Franz war bis zu deren Tod eng.

Das Paten-Amt bedeutet im kirchlichen Kontext geistliche Wegbegleitung. In früheren Zeiten standen Paten in zivilrechtlicher Hinsicht in Notlagen, beispielsweise dem Tod der Eltern, auch in materieller Hinsicht ein. Ich verstehe mich als mehrfacher Pate als Mensch, der mit Rat und Tat hilft, wenn Patensohn oder Patentochter das wollen. Und so wurde ich als Pate oft zu einem Zeitpunkt wichtig, als die Paten„kinder“ schön längst keine Kinder mehr waren.

Wie damals nicht ungewöhnlich, erhielten wir Kinder drei Vornamen. Neben Gottfried heiße ich noch nach meinen Großvätern Paul und Wilhelm, und meine Schwester bekam nach den beiden Großmüttern die Namen Maria und Bertha.

Meine Eltern und Großeltern wählten bewusst Namen, die während der NS-Zeit nicht hoch im Kurs standen und die Herkunft aus einer christlichen Familie signalisierten. Sowohl meine Schwester als auch ich haben als Kinder häufig unter unseren Vornamen gelitten – und dies wahrhaftig nicht nur in der DDR; denn als Pastorenkinder hörten wir von Ost- wie West-Lehrkräften ständig den „als Spaß“ deklarierten, aber hämisch gemeinten Satz „Pastors Kinder, Müllers Vieh gedeihen selten oder nie“.

Der Vater meiner Großmutter väterlicherseits war in Weißbach (heute Stara Białka, 11 km südwestlich von Landeshut) Schmied, Landwirt und hatte darüber hinaus in Breslau ein Heilpraktikerdiplom erworben. Seine Tochter Bertha Alt ging ihm in Haus und Hof zur Hand und heiratete als Siebzehnjährige den von ihrem Vater ausgebildeten Schmiedegesellen Wilhelm Lorenz, nachdem dieser standesgemäß auf der Walz quer durch Deutschland gewesen war. Später arbeitete Großvater Lorenz als Postbote im Riesengebirge und war als „Oberpostschaffner“ pensionsberechtigt. Sein Vater, also mein Urgroßvater väterlicherseits, wurde 1848 in Hartau (Grafschaft Glatz; heute Bystra) geboren. 1878 kam er durch seine Eheschließung nach Haselbach im Riesengebirge (heute Leszczyniec), 12 km westlich von Landeshut, und wurde Landwirt mit einem 30 Morgen großen Hof (Haselbach Nr. 42)10. Anlässlich seines 88. Geburtstages im Jahr 1936 widmete ihm der Redakteur Ewald Schwandt im „Landeshuter Beobachter“ einen umfangreichen Artikel (mit Foto), in dem er vor allem die Frömmigkeit und Verbundenheit meines Urgroßvaters mit der evangelischen Kirche hervorhob.

Nach meinen Beobachtungen war die Ehe der Großeltern Lorenz glücklich. Meine Tante Margarethe (genannt Gretel) wurde 1907, mein Vater 1910 und mein Onkel Willi 1920 geboren. Beide Söhne fielen 1942.

Über die politische Einstellung der Großeltern Lorenz weiß ich wenig. Sie scheinen keine Hitleranhänger gewesen zu sein. Anders meine Eltern. Mein Vater soll die einzige Ohrfeige von seiner durchsetzungsfähigen Mutter erhalten haben, als er zusammen mit seinem Freund Wiese nach Breslau fahren wollte, um dort Hitler zu hören. Später vertrat er die Positionen der Bekennenden Kirche und ließ bewusst lutherisch während kirchlicher Handlungen den Reformations- und Bekenntnischoral „Ein feste Burg ist unser Gott“ singen. Meine Mutter war wohl (ähnlich wie viele ihrer Freundinnen) am stärksten vom Nationalsozialismus beeinflusst – vielleicht als Ergebnis ihres gespannten Verhältnisses zur Adoptivmutter (während sie ihren Adoptivvater mochte und verehrte).

Dass meine Mutter adoptiert worden war, erfuhren meine Schwester und ich versehentlich – sie von einer meiner Patentanten und ich durch Blättern im Stammbuch. Beide hielten wir unser Wissen bis nach dem Tod unserer Mutter voreinander geheim. Während ich dieses Faktum zur Kenntnis nahm und Oma und Opa Fräger nach wie vor als Großeltern sehe, tat sich meine Schwester schwerer. Da ich an Familienforschung kein Interesse habe und (abgesehen von Mutter, Schwester, Großeltern, Neffen und Nichte mit deren Familien) Verwandtschaftsbeziehungen nicht pflege, kann ich über die leiblichen Großeltern mütterlicherseits nur wiedergeben, was meine Schwester in Erfahrung gebracht hat: Der Großvater soll Hansen geheißen haben und in Breslau Handelsschullehrer gewesen sein. Nach dem Tode seiner Frau habe er die jüngste Tochter zur Adoption freigegeben. Erfolgreich verlaufene Versuche meiner Mutter, Kontakt zu ihrem leiblichen Vater zu halten, wurden von ihrer Adoptivmutter unterbunden. Fakten über Leben und Tod von Großmutter Hansen besitzen wir nicht. Urgroßvater Hansen soll in Hamburg Opernsänger gewesen sein. Die Musikalität und schöne Stimme meiner Mutter könnten ein Indiz für den Wahrheitsgehalt dieses Gerüchtes sein.

Wie sich auch alles verhalten haben mag, mein Leben wurde durch Großmutter Fräger maßgeblich bestimmt. Und in einem sind sich meine Schwester und ich einig: Ohne sie wären wir verkommen.

Wie Bertha Alt, so heiratete auch Josefa Maria Balber (von Freunden „Tante Mieze“ genannt) mit 17 Jahren. Wo und wie sie Paul Fräger kennengelernt hatte, haben wir nie erfahren. Sie stammte aus Michelbach bei St. Pölten in Niederösterreich. Ihr Vater Johann Balber war als nachgeborener Bruder Knecht auf dem Hof des viele Jahre schwerkranken Bauern. Nachdem dieser völlig unerwartet gesund wurde, mussten er und seine Frau Maria den Hof verlassen; er wurde „Taglöhner“ im nur wenige Kilometer entfernten Hainfeld N/Ö unweit St. Pölten. Dennoch genoss seine Tochter nach der Volksschule dank einer adligen Patin vom 4. November 1902 bis zum 2. November 1903 eine gute Schulausbildung in der Landwirtschaftlichen Haushaltungsschule Kloster Hochstrass11. Bei einem Besuch dort in den 1970er-Jahren stellte ich fest, dass sie ein fast reines Einserzeugnis hatte. Lediglich in Kochen war sie mit „gut“ benotet worden, was sie bis in ihr hohes Alter hinein der Küchenschwester Gualberta nicht verziehen hat; Großmutter Fräger war für ihre gute Küche im Freundes- und Bekanntenkreis berühmt und nahm noch als verheiratete Frau in führenden Breslauer Hotels an weiterführenden Kochkursen teil. Ursprünglich war sie katholisch, konvertierte aber in den 1920er-Jahren zum Protestantismus. „Das Gute an Eurem Glauben ist die Gnade“, hat sie immer wieder betont. Sie war eine kritische fromme Christin mit nicht unerheblichen Zweifeln.

Von ihrer Kindheit und der Zeit in der Klosterschule sprach Oma Fräger oft. Die „Zöglinge“ wurden streng gehalten. Die regelmäßigen Beichten wurden von ihr als unsinnig und quälend empfunden. Und was wusste schon ein Kind von Unkeuschheit, die regelmäßig zu beichten war? Also erfand man „Sünden“. Ihren Ehemann schockierte sie mit der Behauptung, Luther habe Selbstmord verübt und sich wie Judas erhängt. Sie war ganz überrascht zu hören, dass Luther eines natürlichen Todes gestorben sei. Zur Ehrenrettung der Schulschwestern sagte sie, dass diese nicht bewusst gelogen hätten, sondern davon überzeugt gewesen seien, dass sie die Wahrheit sagten. Gute Erinnerungen hatte sie an so manche Mitschülerinnen. Einige hatte sie besucht, z. B. in Krakau. Das war in der Habsburgischen Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg leicht möglich. So sehr sie die polnischen Mitzöglinge schätzte, die böhmischen waren ihr verhasst – und dennoch schenkte sie mir nach dem Krieg als eines der ersten Bücher, die ich bekam, einen opulenten Bildband über Prag mit dem Vermerk, dass ich dorthin wohl nie käme. Was für ein Glück, dass sie sich darin geirrt hat.

Bis zu ihrem Tod überwies Großmutter Fräger zu jedem Weihnachtsfest ihrer alten Schule eine Geldspende.

Ihr älterer Bruder sei Atheist und Sozialdemokrat oder Sozialist geworden, er habe in Wien gelebt, sei verheiratet gewesen und im Ersten Weltkrieg an der Isonzofront gefallen. Zu ihrer Schwägerin hatte sie Kontakt gehalten.

Von Schlesien aus hat Großmutter Fräger regelmäßig ihre Heimat besucht „mit dem Schnellzug über Oderberg“ [heute Bohumín] – nach wie vor die schnellste umsteigefreie Zugverbindung zwischen der schlesischen Metropole und der österreichischen Hauptstadt.

Von der letzten Reise nach Wien vor dem Krieg berichtete sie immer wieder, wie begeistert die Österreicher von Hitler gewesen seien. Sie selbst stand ihm distanziert gegenüber, doch war sie vom österreichisch, katholisch geprägten Antisemitismus geprägt, was sie nicht abhielt, nach dem Krieg regelmäßig die Sendungen zum Sabbat zu hören. Nach dem Krieg hat sie mehrere „Persilscheine“ für befreundete Personen ausgestellt, die ein Spruchkammerverfahren zu durchlaufen hatten.

Abgerissen ist die Verbindung zu ihrer Heimat nie. Als es nach dem Krieg wieder möglich war und sie wieder über Geld verfügte, reiste sie einmal im Jahr nach Baden bei Wien. Sie erzählte dann oft, dass die Menschen, mit denen sie dort zusammenkam, sie als Einheimische betrachteten. Vermutlich sprach sie in Baden Hochdeutsch mit österreichischem Akzent. Mir schenkte sie zum Abitur eine Reise nach Wien, die ich in bester Erinnerung habe. Wenn mir ein letzter Wunsch erfüllt werden sollte, dann eine Reise nach Wien und Prag.

Mein Großvater mütterlicherseits stammte aus Langenbielau (heute Bielawa) im Eulengebirge (heute Góry Sowie). Er hatte zunächst eine Seminarausbildung zum Volksschullehrer gemacht und anschließend – schon als Ehemann – Deutsch, Geschichte, Französisch und evangelische Theologie in Münster und Nancy studiert. Anschließend war er Studienrat in Brieg (heute Brzeg), arbeitete von 1926 bis 1931 als Leiter des deutschen Lehrer- und Predigerseminars in Porto Alegre in Brasilien und wurde anschließend Studienrat an der Aufbauschule in Steinau an der Oder, nachdem er eine leitende Stellung im oberschlesischen Oppeln (heute Opole) abgelehnt hatte. Großvater Fräger wäre zu Beginn der NS-Zeit gerne einer Aufforderung nachgekommen, erneut die Leitung des brasilianischen Seminars zu übernehmen, doch war dies nicht mehr möglich. Deutscherseits sollte ein Parteimitglied entsandt werden, was wiederum von brasilianischer Seite abgelehnt wurde. Mein Großvater ist trotz mehrfacher Aufforderung nicht der NSDAP beigetreten, war bekennender Christ und Freimaurer. In der Weimarer Republik hatte er der konservativ-liberalen DVP angehört. Opa war kein Widerstandskämpfer. Nach dem Tode meines Vaters setzte er alles daran, seine Tochter und deren zwei Kinder zu schützen. Aber er hielt Kontakt zu Kollegen, die während der NS-Zeit als Sozialdemokraten oder Kommunisten aus dem Schuldienst entlassen worden waren. Er selbst durfte nur noch in den 7. und 8. Klassen Deutsch-Grammatik und Religion unterrichten. Einen Verbündeten hatte er im Steinauer Schulleiter Dr. Alfred Franz, der ihm die Leitung der umfangreichen Schulbibliothek übertragen hatte. Im „Steinauer Heimatboten“12 ist folgender Bericht des mir unbekannten Autors Manfred Hanisch zu lesen:

„Ein glücklicher Zufall hatte es gefügt, daß ich zum ‚Kriegserlebnis‘ nicht nur die in der NS-Zeit verordnete Pflichtlektüre wie Zöberlein: ‚Der Glaube an Deutschland‘ gelesen hatte. Der an unserer Schule (Aufbauschule in Steinau a. O.) mit der Betreuung der Büchereien beauftragte Studienrat Fräger hatte viele der 1933 zur Ausmusterung bestimmten Bücher nicht verbrannt oder anderweitig vernichtet. Ich fand einen Teil dieser Bücher in der 2. Reihe der obersten Fächer der Regale in der Lehrerbücherei wieder, als ich hier einmal mit Katalogisierungsarbeiten beauftragt war. Aus reiner Neugier ‚stahl‘ ich den Band Remarque ‚Im Westen nichts Neues‘. Nach Gesprächen im Elternhaus bestand für mich kein Zweifel daran, daß kaum ein anderer Schriftsteller die Realität des Ersten Weltkrieges so wahr und ehrlich darstellt wie Remarque. Nun, da ich Frontsoldat geworden war und vor der sog. Feuertaufe stand, dachte ich an die sehr unterschiedlichen Darstellungen des Kriegserlebnisses. Mein Grundgefühl war Angst. War das feige? Mußte ich nicht den sog. inneren Schweinehund überwinden? Mußte sich nicht die Bereitschaft zum Heldentod einstellen? Nein, ich wollte leben! Vor wenigen Monaten erst hatte ich mich verlobt.“

Zwei von meinem Großvater verfasste schmale Bücher sind heute antiquarisch für recht viel Geld zu erhalten: „Der Deutsche in Brasilien. I. Rio Grande do Sul. Für Jugend und Volk zusammengestellt“, 2. Auflage, Julius Beltz Verlag Langensalza/ Berlin/Leipzig [1930] und „Sagen aus Stadt und Kreis Brieg“, Verlag Hugo Süßmann, Brieg 1922. Vermutlich hätte sich „niemiecki nauczyciel Paul Fräger“ darüber gefreut, dass seine Brieger Sagen 2008 im Verlag NOWIK, der in Opole (früher Oppeln) ansässig ist, in polnischer Übersetzung mit dem Titel „Legendy Brzegu i okolic“ herausgebracht worden sind. 1912 war im „Pädagogischen Magazin“ des Langensalzaer Verlages Hermann Beyer & Söhne seine 51 Seiten umfassende „psychologisch-didaktische Studie“ „Was ist geistbildender Unterricht, und wie erteilt man ihn?“ veröffentlicht worden.

Der Lebenszuschnitt meiner Großeltern Fräger war (bildungs-) bürgerlich. Eine umfangreiche Bibliothek war selbstverständlich; ebenso „hatte man“ ein „Mädchen vom Lande“, in der Regel eine Bauerntochter, die Hauswirtschaft und Kochen lernen sollte. Mit einigen von ihnen war man auch nach dieser Zeit in Verbindung, was in Notzeiten wie im und nach dem Ersten Weltkrieg von unschätzbarem Vorteil war. Ins Theater oder Konzert, aber auch zum Einkaufen fuhr man von Brieg und später von Steinau aus (und in diesem Fall im eigenen Wagen; beide Ehepartner besaßen den Führerschein) nach Breslau, wo die Familie meines Großvaters bis zur Inflation auch begütert war. Die einst schöne Stadt Breslau war der unumstrittene kulturelle Mittelpunkt Schlesiens. Der Schriftsteller Hugo Hartung bezeichnet sie als Stadt „mit ihrer einmaligen Atmosphäre, die aus nordisch gotischer Herbe, südlich barocker Weltfreude und östlicher Weite und Gastlichkeit anziehend gemischt war“13.

Was ihre Ehe anbelangt, kann ich mir kein Urteil erlauben, da mein Großvater 1946 starb und ich nur bruchstückhafte Erinnerungen an ihn habe. Seine Frau war hauswirtschaftlich perfekt, intelligent, belesen, handwerklich vom Kunststicken und Stricken über Gartenarbeiten jeder Art, Tapezier- und Malerarbeiten bis zur Elektromontage begabt. Sie war eine österreichische Preußin, mit der nicht gut Kirschen essen war, wenn etwas nicht genau so funktionierte, wie sie es sich vorgestellt hatte. Der Erfolg meines Großvaters in Brasilien war zu großen Teilen auch ihr geschuldet, da sie die Wirtschaftsführung im Internat des Seminars übernommen hatte, wofür sie hohe Anerkennung erhielt. Aber sie hatte eine schlimme Eigenart, die ihrem Mann, meiner Mutter und uns Enkeln das Zusammenleben nicht selten vergällte: Sie konnte wochenlang beleidigt sein, ohne dass man zumeist den Grund dafür kannte oder auch nur ahnte. Dennoch gehört ihr meine Liebe, sie war der Orientierungspunkt meiner Kindheit und Jugend – und dieser Satz ist für mich reale und nicht „nachgetragene“ Liebe.

Beide Großmütter waren starke Frauen, „hatten die Hosen an“, waren Autoritätspersonen nicht nur im engsten Familienkreis. Sie hätten im 21. Jahrhundert beruflich Karriere gemacht. Wie selbstverständlich hatten sie die Wirtschaftsführung inne; ihre Männer bekamen ein Taschengeld für die selten ausgehenden Zigarren. In beiden Familien herrschte eine präzise Arbeitsteilung. Kinder, Küche, Kirche – ja, aber dazu Finanzen, Garten, häusliche Handwerksarbeiten. Auch Geschäftstüchtigkeit war ihnen eigen.

Sowohl das österreichische als auch das schlesisch-preußische Volksschulsystem hatte erreicht, dass beide Großmütter fehlerfrei schrieben und das kleine und große Einmaleins im Schlaf beherrschten; Rechenfehler – sei es mündlich oder schriftlich – bei Kindern und Enkeln riefen höhnische Bemerkungen hervor. Das Ergebnis meiner Einkaufsabrechnung lag bei Großmutter Fräger mit einem einzigen Blick auf die von den Verkäuferinnen und Ladeninhabern auf schmalen Zetteln hingeklierten Preise in Sekundenschnelle vor, während ich als Kind noch die einzelnen Positionen addierte.

Heute positiv von Heimat zu sprechen, ja, diesen Begriff überhaupt zu verwenden, ist verpönt. Wer es dennoch tut, gilt als reaktionär. Für mich ist Heimat der Ort, in dem man nicht diskriminiert wird, wenn man sagt, von dort zu stammen, dort geboren zu sein und seine Wurzeln zu haben. Und dieser Ort ist für mich Schlesien, wenn auch das heutige Schlesien – Śląnsk – mit dem Schlesien der Zeit meiner Geburt nur das Territorium gemeinsam hat. Dennoch, ich bin Schlesier wie die Menschen, die heute dort leben oder die in Slezsko zu Hause sind.

Wer Schlesien nur mit dem Riesengebirge, der Schneekoppe und Rübezahl verbindet, wird diesem großen Territorium und dessen Geschichte und Kultur nicht gerecht.

Ich habe Schlesien bereist von Glogau (Głogów) über Breslau bis nach Kattowitz (Katowice), Oświęcim (Auschwitz), Cieszyn (Teschen) und Český Těšín sowie Slezská Ostrava. Und ich habe später in Niederschlesien erfahren, dass es allem Anschein nach dort einen Genius loci gibt: Bei einer Reise nach Schlesien unmittelbar nach der politischen Wende im östlichen Mitteleuropa war südöstlich von Brieg (Brzeg) ständig die Bezeichnung Górny Śląsk (Oberschlesien) zu finden und in Aufschriften zu lesen. Entsprechendes in Niederschlesien (Dolný Śląsk) war mir nicht aufgefallen. Und dies erschien mir auch verständlich, da die deutschevangelische Bevölkerung Niederschlesiens 1945 nahezu vollständig geflohen oder aber nach dem Krieg ausgewiesen und vertrieben worden war. Anders im katholisch geprägten Oberschlesien, wo ein großer Teil der einheimischen Bevölkerung, die oft auch Slonsakisch (Wasserpolnisch) sprach, in ihrer Heimat bleiben durfte und auch blieb. Nur wenige Jahre später, als ich mehrfach in Breslau war, fiel mir der häufige Gebrauch des Begriffs Dolný Śląsk auf. Allem Anschein nach hatte sich ein polnisch-niederschlesisches Bewusstsein gebildet, das wie „früher“ auf Wrocław/Breslau konzentriert oder fixiert ist und das „ferne Warschau“ recht kritisch sieht. Polnische Bekannte haben mir diese Entwicklung bei einer Bevölkerung, deren Wurzeln häufig im Gebiet von Lwów (L’viv/Lvov/Lemberg) liegen, bestätigt, aber nicht erklären können.

Dass ich Schlesien als meine Heimat betrachte, bedeutet nicht, dass ich dort leben möchte. Doch interessieren mich dieses Land, seine Geschichte und Kultur. So enthält meine umfangreiche Bibliothek zahlreiche Bücher zu diesen Themen – zumeist auf Deutsch, aber auch in polnischer und tschechischer Sprache. Selbstverständlich sind mir die schlesischen Dichter Jacob Böhm, Angelus Silesius, Andreas Gryphius, Friedrich von Logau, Martin Opitz, Joseph von Eichendorff, Gerhart Hauptmann, Horst Bienek (dessen Tetralogie ich verschlungen habe), August Scholtis, aber auch Petr Bezruč (Vladimír Vašek) und Ondřej Boleslav Petr mit den „Slezské písně“ vertraut. Eine schöne Studienerfahrung war der Vortrag des polnischen Germanisten Marian Szyrocki (1928-1992) von der Universytet Wrocławski (Universität Breslau) über die schlesische Barockdichtung, dem ich im Jahr 1964 (falls ich mich in der Datierung nicht irre) an der Georg-August Universität in Göttingen beiwohnen konnte.

Ich spreche Hochdeutsch ohne Dialekt-Akzent, sodass ich oft gefragt werde, woher ich stammte. Einmal aber sagte vor knapp 20 Jahren in Görlitz ein Taxifahrer zu mir: „Sie sind aber auch von hier.“ Ich erwiderte: „Ja, rund 110 km östlich bin ich geboren.“ Woran der Mann das gemerkt hatte, weiß ich nicht. Vermutlich war es der Gebrauch bestimmter landesüblicher Wörter. Wenn ich umgangssprachlich spreche, sage ich bisweilen dreiviertel acht, n’ bissel, Tunke (Soße), Gemotsche (nicht zu Potte kommen), Mostrich, Mohbabe (Mohnstollen), einen Zieps auf etwas haben (Appetit auf etwas haben), spickig (spaßig), Stinkerkäse (Harzer Käse), verkud(d)elt (strubbeliges, ungekämmtes Haar), Potschen (Hausschuhe) usw. – aber das alles in hochdeutscher Lautung. Nun ja: In Schlesien und Thüringen hält man mich bisweilen für einen Hamburger, womit ich gut leben kann. In Süd- und Südwestdeutschland, in Österreich und der deutschsprachigen Schweiz kommt mir meine exakte Aussprache bisweilen selbst arg manieriert vor.

In Schlesien habe ich die ersten fünf Jahre gelebt. Zuverlässig eigene Erinnerungen an diese Zeit habe ich kaum. An Seebnitz, wo mein Vater nur kurze Zeit tätig sein konnte, fehlen sie völlig, an Steinau, wo wir nach dem Tod meines Vaters und der Geburt meiner Schwester im Sommer 1942 im Haus der Großeltern wohnten, sind sie dunkel und unzusammenhängend. Als ich Mitte der 1990er-Jahre das erste und einzige Mal nach dem Krieg in meiner Geburtsstadt war, fand ich mich gleich zurecht – allerdings kann ich mich generell gut orientieren, und Kirche und Fluss sind leicht zu erahnende oder ausfindig zu machende Orientierungspunkte auch in einer fremden Stadt. Eine Straßenverengung, bei der ich Angst vor Fuhrwerken und Lastwagen gehabt hatte, gab es in ähnlicher Form in meinem späteren Wohnort. Dennoch gibt es Fragmente, an die ich mich erinnere: Am Steinauer Bahnhof war ich häufig mit meinem Großvater gewesen – doch wurde das später auch oft erzählt14. Auf Anhieb gefunden habe ich den Weg zur Oder, den Fluss, der bei Steinau ein Strom ist, und die Oderbrücke, über die wir zu der befreundeten Pastorenfamilie Kaiser nach Kunzendorf (heute Małowice Wołowskie) gegangen waren. So vertraut mir Saale, Spree, Havel, Weser, Elbe, Rhein, Main, Nahe, Neiße und Saar sind: Die Oder ist „mein“ Fluss, und wenn ich etwas Zeit habe, fahre ich gerne von Berlin aus nach Frankfurt an der Oder, nach Küstrin (Kostrzyn) oder Neuzelle, um auf das Wasser zu schauen und am Ufer und in den Oder-Auen zu wandern. In Breslau sind wir wohl einmal im Zoo gewesen – ich erinnere mich an Käfigstäbe und den Geruch sowie an kleine Tiere, die auf dem Steinfußboden umherliefen. Und auch negative Erlebnisse aus dieser Zeit sind mir im Gedächtnis geblieben: Angst hatte ich beispielsweise, bei meinem Patenonkel auf einer steilen Treppe in den Keller hinunterzugehen. Ich blieb dann oben sitzen, bis mich jemand fand und mit Grießbrei tröstete. Den esse ich – gut gemacht – bis heute gerne.

Aus den ersten fünf Lebensjahren sind ein paar Fotos erhalten geblieben und ein „Impfschein über eine der gesetzlichen Pflicht genügende Pockenschutz-Erstimpfung“. Diese fand in Seebnitz, Kreis Lüben (Schles.), am 23. Mai 1941 statt. „Durch diese Impfung ist der gesetzliche Pflicht (gemäß Impfgesetz vom 8. April 1874) genügt.“ Denselben Satz enthält die Bescheinigung der „Wiederimpfung“ am 30. Juli 1953, die in Neustadt an der Orla erfolgte. Dort war ich im Dezember 1950 auch dreimal im Abstand von jeweils sieben Tagen gegen Typhus geimpft worden. Dass sich damals jemand nicht hatte impfen lassen, davon habe ich auch auf Nachfragen nichts gehört. Meine Mutter berichtete immer wieder von Kindern, die am Typhus, Diphtherie, Scharlach, Masern usw. gestorben seien. Und die Folgen von Kinderlähmung habe ich später oft an schwer deformierten Menschen beobachten können. Traten in dem Thüringer Ort, in dem ich nach dem Krieg lebte, Poliofälle auf, griffen sofort Quarantänemaßnahmen: Die Haustüren von Familien, in denen jemand erkrankt war, wurden verbarrikadiert und die Bewohner „städtisch“ versorgt. Geimpft werden zu können, galt als medizinischer Fortschritt und wurde nicht als Beraubung von Freiheitsrechten interpretiert, wogegen man lautstark protestieren müsse.

Als am 23. Januar 1945 die schweren Kämpfe um die Stadt Steinau an der Oder, die zur Festung ernannt worden war, begannen und die Sprengung der wichtigen Oderbrücken bevorstand, flohen meine Großeltern, meine Mutter und wir beiden Kinder zunächst zu den Großeltern Lorenz nach Landeshut und von dort weiter auf einem Militärlastwagen, dessen Fahrer uns auf Bitten von Großvater Fräger, der im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen war, nach Görlitz mitnahm. Von dort fuhren noch mehr oder weniger fahrplanmäßig Züge nach Westen.

Von der Flucht aus Steinau, dem Aufenthalt in Landeshut und der Lastwagenfahrt nach Görlitz hat mein Gedächtnis nichts bewahrt; möglicherweise hatte man uns Kindern eine halbe Schlaftablette gegeben. Anders verhält es sich mit der Weiterfahrt: Hier setzt meine erste zusammenhängende Erinnerung ein. Als wir eine Woche nach der am 13. und 14. Februar 1945 erfolgten Zerstörung Dresdens den Bahnhof Dresden-Neustadt passierten, sah ich die brennende Stadt. Auf die Frage, was hier passiert sei, stieß ich im Abteil entweder auf Schweigen oder ein deutliches „Pssst!“.

In Leipzig gerieten wir in einen schweren Bombenangriff, den wir im Hauptbahnhofbunker knapp überlebten: Meine Schwester wurde ohnmächtig und vom Großvater mit Mühe an die „frische Luft“ gebracht. Ein Bombensplitter flog haarscharf am Kopf meiner Mutter vorbei und zerstörte einen wesentlichen Teil des Fluchtgepäcks. Dieses Stück Metall wurde noch lange aufbewahrt. Und noch immer sehe ich meinen Opa und uns durch trümmerübersäte Straßenzüge bis zum Bahnhof Leipzig-Leutzsch hetzen, von dem aus wir mit dem Zug über Gera nach Neustadt an der Orla, unseren Zielort, fahren konnten.

Das war meine erste Begegnung mit Leipzig; viele weitere sollten folgen. Und so wurde Leipzig trotz der Kriegserfahrung zu einer meiner Lieblingsstädte. Von Berlin aus bin ich mit dem Zug heute in einer reichlichen Stunde mitten in dieser geschichtsträchtigen und lebendigen Stadt.

Was unmittelbar nach der Ankunft in Neustadt geschah, weiß ich nicht mehr, bis mit Schulbeginn die Erinnerungen stabil werden.

Wir waren aus Schlesien geflohen, und seit dieser Zeit bin ich ein Flüchtling. Hier sei ein Blick auf die identitätspolitische Diskussion gestattet: Nach Ansicht von Menschen, die schon das Wort „Heimat“ aus der deutschen Sprache entfernen wollen, soll dies nun auch mit dem Begriff „Flüchtling“ geschehen, der durch „Geflüchtete“ zu ersetzen sei. Die beiden Verben „fliehen“ und „flüchten“ bezeichnen etwas Temporäres, während das Substantiv „Flüchtling“ etwas Bleibendes, Fortdauerndes meint. Das „Fliehen“ endet über kurz oder lang. Flüchtling aber ist man zeitlebens. Über dieses Thema sollte ganz im Sinne der modernen Identitätspolitik am besten niemand reden, der nie fliehen musste vor Krieg oder politischer Unterdrückung oder auch vor wirtschaftlicher Not und Hunger.

Auch 77 Jahre nach der Flucht bin ich und fühle ich mich als Flüchtling – und damit als Mensch zweiter Klasse. Flüchtlingen begegnet man in den Aufnahmegebieten alles andere als freundlich. So war es den Menschen ergangen, die vor dem Bombenkrieg in den Osten Deutschlands geflohen oder evakuiert worden waren, so denen, deren Gebiet Front wurde, so erging es den Ostflüchtlingen und den später Vertriebenen am Ende des Zweiten Weltkrieges und bis weit in die 1950er-Jahre hinein und noch später den SBZ- bzw. DDR-Flüchtlingen. Sie störten, nahmen Wohnraum und Arbeitsplätze weg, waren Konkurrenten auf dem Heiratsmarkt, sprachen anders, aßen anders, glaubten anders. Und diese Abneigung ist verbunden mit einer sprachlich-begrifflichen Euphemisierung des Flüchtlingsschicksals: Flüchtlinge und Vertriebene wurden „Emigranten“ und „Auswanderer“ genannt, als ob sie freiwillig ihre Heimat verlassen hätten; man bezeichnete sie als „Aussiedler“; in der DDR hießen sie „Umsiedler“ und in Deutschland seit 2015 lediglich „Geflüchtete“, die allem Anschein nach schon „angekommen“ sind, obwohl bekannt ist, welche Probleme eine Integration dieser Menschen aufwirft und wie lange sie dauert.

Zurück in das Jahr 1945: Als wir bei den Großeltern Lorenz in Landeshut waren, muss es zwischen den beiden Großmüttern zu erheblichen Spannungen gekommen sein, die das Verhältnis zwischen ihnen vergiftete. So soll die Landeshuter Großmutter bei unserer Abreise ihre silbernen Löffel gezählt haben, denn wie man ja weiß, klaut „hergelaufenes Volk“.

Und natürlich waren wir auch bei einer Cousine meines Vaters im ostthüringischen Neustadt an der Orla nicht sehr willkommen. Sie war die Tochter des Bruders von Großvater Lorenz. Dieser Familienzweig war in Sachsen ansässig (Zwickau, Großenhain) und sprach bis in ihr hohes Alter, auch als sie schon Jahrzehnte im Rheinland, in der Nähe von Hamburg und schließlich im Saarland gelebt hatte, ein unverfälschtes Sächsisch. Ihre Familie lebte am Neustädter Marktplatz. Mit ihrer Tochter Sabine, die etwas älter als ich war, habe ich mich sehr gut verstanden, und ich habe getrauert, als sie als junge Frau starb.

Unsere Familie war durch die Flucht bitterarm und deklassiert. Als Flüchtlinge erlebten wir die Not der Nachkriegszeit mit Hunger, Kälte, Wohnungsnot, Konkurrenz um Nahrungsmittel und Brennmaterial stärker als die Einheimischen, die oft ihre „Verbindungen“ und Vorräte hatten. Wir waren verhasste oder misstrauisch beäugte Eindringlinge, Fremde, wurden als Polacken bezeichnet, obwohl wir Deutsch sprachen und noch dazu als Evangelische in das häufig reklamierte „Kernland der Reformation“ gepasst hätten.

Getreidestoppeln (Ährenlesen) auf den abgeernteten Feldern, Kartoffelnachlese, Holzklau in den Wäldern und gelegentlich Kohlenklau am Neustädter Bahnhof lösten einander ab. Wir Kinder waren beschäftigt! Und als kleiner Junge lernte ich beim Betteln bei den Bauern nicht so sehr die Hof-Hunde, sondern die Ganter hassen. Das Verhalten vieler Bauern in der unmittelbaren Nachkriegszeit ließ später das Mitleid mit ihnen vielfach nicht allzu groß sein, als die Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR einsetzte.

In meiner Familie und deren Bekanntenkreis herrschte tiefe Trauer ohne Selbstmitleid, aber mit dem Niobe-Effekt einer inneren und äußeren Erstarrung. Eigentlich müsste meine Generation nach all dem, was sie am Ende des Krieges und in der frühen Nachkriegszeit, in Bombenangriffen, auf und nach der Flucht, in der ständigen Begegnung mit dem Tod in Familie und Nachbarschaft erlebt hat, „traumatisiert“ sein. Aber sie ist es nicht – vermutlich, weil unzählige Menschen das Gleiche erlebt haben: Kollektives Erleben, kollektives „Damit-fertig-Werden“ ist möglicherweise der Grund für das fehlende generelle Trauma. Mit dem Modewort „traumatisiert sein“, das schon benutzt wird, wenn die Eltern einem Kind nicht die gerade „angesagten“ Schuhe, Schulranzen oder Kleidungsstücke kaufen wollen oder können, wenn ein Lehrer Leistung oder der Staat eine Impfung gegen Masern verlangt, kann ich nichts anfangen. Überlebt haben die Zähesten, die Widerstandsfähigsten – und das waren oft nicht die scheinbar Starken. Psychologische Hilfe hätten ohnehin nur wenige erhalten können, da die ärztliche Versorgung nach dem Krieg mit derjenigen im Jahr 2022 nicht zu vergleichen ist.

Allen, die sich mit der Situation von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen möchten, sei das 1947 erschienene Buch „Tysk Höst“ (Deutscher Herbst) des schwedischen Schriftstellers und Journalisten Stig Dagerman, der mit Schwedens syndikalistischer Arbetares Centralorganisation verbunden war, empfohlen. Es vereinigt Dagermans Berichte und Reportagen von einer Reise, die er im Herbst 1946 im Auftrag der Zeitung „Expressen“ in die amerikanische und britische Zone des ehemaligen Deutschen Reiches (insbesondere auch nach Hamburg) gemacht hatte. Das schmale Büchlein hat mehrere skandinavische und drei deutschsprachige Auflagen (1979, 1987, 2021) erlebt.

Dagermans Blick auf die damalige Realität deckt sich vielfach mit meinen bruchstückhaften Erinnerungen und denen von älteren vertrauenswürdigen Zeitgenossen. In Dagermans Text sehe ich einen „Anti-Mitscherlich“. Er ist in Deutschland in politischer Hinsicht wenig rezipiert worden – vermutlich aufgrund seiner differenzierten Betrachtungsweise, die konträr zur politisch erwünschten Auffassung der tonangebenden 1968er-Generation steht.

So schlimm die Flüchtlingserfahrungen waren, hatte meine Familie Glück, nicht in einem Flüchtlingslager gelandet zu sein. Anderen Menschen erging es viel schlechter. Für zehn Jahre wurde Neustadt an der Orla15 mein Wohnort. Immer wenn ich später mit dem Zug nach Neustadt fuhr und aus Richtung Gera zuerst den Adolf-Elle-Turm (heute wieder Bismarckturm) und aus Richtung Saalfeld die mächtige Stadtkirche St. Johannis erblickte, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen, wo ich nicht zu Hause war, aber dennoch Wurzeln ausgebildet hatte, die mich die Zeit in Neustadt und Thüringen nicht vergessen lassen. Es waren wichtige Jahre, die ich nicht missen möchte.

Als wir nach Neustadt kamen, war noch Krieg. Am 9. und 10. April 1945 fielen in der bis zu diesem Zeitpunkt unzerstörten Stadt fast dreißig Menschen Bombenangriffen zum Opfer. Getroffen und zerstört worden war insbesondere die „Bürgerschule“, die als Lazarett gedient hatte. Vier Tage später besetzten amerikanische Truppen Neustadt, und am 1. Juli 1945 übernahmen vereinbarungsgemäß sowjetische Truppen den Ort.

Neustadt an der Orla hatte 1939 knapp 8000 Einwohner, 1946 dagegen durch Flüchtlinge und Vertriebene fast 10.500. Heute leben rund 9200 Menschen dort.

Ich erinnere mich, als Kind dort 32 „Essen“, d. h. hohe, schlanke Industrieschornsteine, gezählt zu haben. Textil- und Metallindustrie sowie Gerbereien und Ziegeleien bestimmten den Ort, der seinen historischen Kern bis heute im Wesentlichen hat bewahren können mit dem fein gegliederten spätgotischen Rathaus, der für die kleine Stadt mächtigen spätgotischen Kirche St. Johannis, die einen großartigen Altar aus der Werkstadt von Lucas Cranach dem Älteren enthält, den Resten der Klosterkirche und eines Schlossgebäudes, der Hospitalkirche außerhalb der alten Stadtmauern, den einzigen in Deutschland noch original erhaltenen frühneuzeitlichen Fleischbänken und einem eindrucksvollen Bürgerhaus am Markt. Im Scherz habe ich einmal übertreibend gesagt: In Neustadt gebe es mehr Kunstschätze als im gesamten Kreis Stormarn, in dem ich seit Jahrzehnten lebe.

Neustadt ist von Luther und Goethe besucht worden – wie fast jeder größere Ort in Thüringen. Ihrer wird gebührend gedacht. Und nach dem Krieg lebte dort bis 1947 der Schriftsteller Hugo Hartung (1902-1972). Seine Erlebnisse in den Kämpfen um die Festung Breslau verdichtete er in seiner in Neustadt geschriebenen Novelle „Die große belmontische Musik“16. Und aus Neustadt stammt wohl auch der Name „Meisegeier“, der in seinen Romanen „Wir Wunderkinder“ (1957) bzw. „Wir Meisegeiers“ (1972) sowie in dem Kurt-Hoffmann-Film „Wir Wunderkinder“ (1958) eine Rolle spielt. Knapp 20 km nordöstlich von Neustadt entfernt, in Renthendorf, war der Zoologe Alfred Brehm (1829-1884) zu Hause, dessen „Tierleben“ ich „verschlungen“ habe.

Die Orla ist ein kleiner Fluss, der rund 20 km westlich von Neustadt bei Orlamünde in die Saale fließt. Wegen der Industrieabwässer, die sie aufnehmen musste, stank sie zu meiner Zeit erbärmlich, doch habe ich auch einmal einen Eisvogel an ihren Ufern beobachten können.

Die Stadt selbst liegt in der Orlasenke, geht aber in nördlicher Richtung sofort in ein umfangreiches zusammenhängendes Waldgebiet über. Kreisstadt war 1945 Gera, 1952 wurde es die wenig geliebte Nachbarstadt Pößneck, heute ist Schleiz die Hauptstadt des Saale-Orla-Kreises. In Neustadt kreuzen sich die DB-Strecke Gera–Saalfeld und die regionale Busverbindung Jena–Schleiz. Zwischen diesen Städten habe ich zwar nicht jeden Stein umgedreht, doch kenne ich mich aus, bin dort mit Zug, Bus, Fahrrad oder zu Fuß unterwegs gewesen. Es ist das Land meiner späten Kindheit und frühen Jugend.

Trotz bevorstehender militärischer Niederlage, amerikanischer und sowjetischer Besatzung muss die Verwaltung der Stadt zumindest rudimentär funktioniert haben, denn es gab eine zentrale notdürftige Essensversorgung mit der sogenannten „Volksküche“, und meine Großeltern und meine Mutter mit den beiden Kindern bekamen getrennten Wohnraum zugewiesen – die Großeltern bei einem Ehepaar in der Wimmlerstaße, meine Mutter in der Böttcherstraße 7 (heute Schleizer Straße)/Ecke Weltwitzer Weg. (Das Gebäude steht nicht mehr. Es befand sich unmittelbar hinter dem Neustädter Bahnhof.)