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Auf der Flucht vor einem skrupellosen Mitgiftjäger läuft Lady Lily ausgerechnet Edward Galbraith in die Arme. Gegen jede Vernunft fühlt die unschuldige junge Erbin sich unwiderstehlich zu dem berüchtigten Lebemann hingezogen. Wie im Rausch genießt sie seine leidenschaftlichen Küsse – und setzt bald mehr als nur ihre Reputation aufs Spiel. Denn um einen Skandal zu vermeiden, gibt es nur eine Lösung: Sie muss schnellstens Edwards Antrag annehmen! Während sie insgeheim längst ihr Herz an ihn verloren hat und von einer romantischen Liebesheirat träumt, spricht er allerdings bloß von einer Pflichtehe …
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Seitenzahl: 547
IMPRESSUM
HISTORICAL GOLD erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2018 by Anne Gracie Originaltitel: „Marry in Scandal“This edition is published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLD, Band 373 12/2021 Übersetzung: Nina Hawranke
Abbildungen: Harlequin Books S.A., MightyTravelier/Getty Images, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 12/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751500951
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Für alle, die mit Legasthenie zu kämpfen haben, darunter die zahlreichen Menschen, die ich im Laufe der Jahre in meinen Alphabetisierungskursen für Erwachsene unterrichtet habe.
Bestimmt hätten Sie nie damit gerechnet, dass Ihnen einmal ein Buch gewidmet werden würde, oder?
„Ich könnte nie irgendwem je wichtig sein.“
„Was steht dem im Wege?“
„Alles. Meine Situation, meine Torheit und meine Ungeschicklichkeit.“
Jane Austen, Mansfield Park
Ashendon Court, Oxfordshire, 1811
Was soll das heißen, das Kind sei nicht zu unterrichten?“ Lord Ashendon, Lily Rutherfords Vater, verengte die kühlen grauen Augen und richtete den Blick auf die Gouvernante, die steif vor ihm stand. Er sprach leise, aber jener seidenweiche Ton ging stets Wutausbrüchen voraus, die seine Kinder zu fürchten gelernt hatten.
Lily stand kerzengerade neben dem väterlichen Schreibtisch, den Kopf hoch erhoben, und biss sich fest auf die bebende Unterlippe. Vor ihrem Vater Angst zu zeigen, war verheerend. Ein Rutherford fürchtete sich vor nichts.
Ihre Schwester Rose gehörte zu diesen furchtlosen Rutherfords – sie wartete draußen vor der Tür und lauschte verbotenerweise. Eigentlich hätte sie oben im Klassenzimmer sein und lernen sollen, doch als Lily zu ihrem Vater zitiert worden war, hatte Rose ihr zugeflüstert: „Keine Bange, Lily, ich werde dich beschützen.“
Miss Glass, die Gouvernante, stand unbewegt vor Lilys Vater. Sie hatte soeben gekündigt, nach gerade einmal zwei Wochen, die für Lily beinahe schlimmer gewesen waren als die Zeit, da ihre Mutter im Sterben lag. Die Wochen waren voller Prüfungen und Tränen und Strafen gewesen, gefolgt von weiteren Prüfungen. Und weiteren Tränen.
„Ich werde meine Zeit nicht an ein Kind vergeuden, das nicht einmal lesen kann. Ich habe gewisse Prinzipien. Und ich werde mir nicht die Verantwortung dafür aufbürden lassen, dass dieses Kind nicht in der Lage ist, zu lernen.“
Lilys Vater schnaubte. „Natürlich kann sie lesen. Sie ist … wie alt? Zehn, nicht wahr?“
Elf, fast zwölf, dachte Lily, ohne ihm zu widersprechen. Niemand widersprach ihrem Vater, vor allem nicht, wenn er aufgebracht war. Ihre Hände zitterten. Sie verbarg sie in den Falten ihres schwarzen Kleides. Schwarz aus Trauer um ihre Mutter.
„Meine selige Frau hat beide Mädchen unterrichtet. Sie hat nie irgendwelche Schwierigkeiten mit Lily erwähnt.“
Miss Glass deutete ein Schulterzucken an. „Ich kann es nicht ändern. Lady Rose schlägt sich ganz ordentlich und beherrscht sämtliche Fertigkeiten, in denen eine Dame bewandert sein sollte. Allerdings neigt sie dazu, beim Sticken nicht genügend Sorgfalt an den Tag zu legen und …“
Bumm! Er ließ eine Faust auf den Schreibtisch krachen. „Sticken ist mir einerlei, und wir reden nicht über Rose! Wir reden über Lily.“
„Lady Lily ist Analphabetin.“ Miss Glass betonte jede Silbe, beinahe genüsslich. An-al-pha-be-tin. Sie hatte Lily das Wort hundertmal abschreiben lassen. Zusammen mit anderen wie ig-no-rant, un-wis-send und un-ge-bil-det.
Lily zogen sich die Eingeweide zusammen.
Bislang hatten ihre Mutter und Rose dieses schmachvolle Unvermögen für sich behalten und vor dem Vater verheimlicht. Doch ihre Mutter war tot, und an ihre Stelle war diese große, einschüchternde Gouvernante getreten, diese Frau mit ihren Tabellen und Prüfungen, ihren blassen Ziegenaugen und dem kurzen, biegsamen Rohrstock, den sie begriffsstutzige Schülerinnen – also Lily – spüren ließ, um deren Lernvermögen anzuregen.
Und nun das, vor ihrem Vater. Auch dies eine Form der Züchtigung – Lily vor ihrem Vater bloßzustellen. Sie fühlte sich wie ein wissenschaftliches Musterexemplar, wie sie es einst auf einer Ausstellung gesehen hatte. Exponiert, schutzlos, beschämt.
„Wollen Sie damit sagen, sie sei faul?“
„Sie ist durchaus folgsam und bemüht, aber ihr ist nichts beizubringen. Sie kann nicht lesen, sie kann nicht einmal die einfachsten Rechenaufgaben lösen, und immerzu verwechselt sie links und rechts. Wie gesagt, Lady Lily ist Analphabetin, und was ich auch versucht habe, es blieb erfolglos.“
„Analphabetin? Unfug! Komm her, Lily!“ Ihr Vater zog sie zu sich, nahm ein Buch vom Schreibtisch und schlug es wahllos auf. „Lies das.“ Er wartete.
Angestrengt starrte Lily auf die Seite, einen dicken Kloß im Hals, und suchte nach wenigstens einem Wort, das sie kannte. Wie stets, schienen sich die Buchstaben ihrem Blick zu entwinden wie Würmer, die versuchen, sich wieder in die Erde zu bohren.
„Nun?“ Seine Ungeduld zerrte an ihren Nerven.
Sie schluckte gegen den Kloß an und bemühte sich stärker. Doch alles, was dabei herauskam, war eine einzelne, langsam hervorquellende Träne.
Ihr Vater griff stirnrunzelnd nach einer Schreibfeder und schrieb etwas nieder. „Dann lies das.“
Inzwischen schlotterte sie am ganzen Leib. Die Tränen ließen alles vor ihren Augen verschwimmen, und so konnte sie das Wort, das er geschrieben hatte, kaum erkennen. Es war kurz, aber dennoch …
„K. A. T. Z. E. Katze!“, schrie er. „Lies es!“
„Katze“, hauchte Lily. Ihr krampfte sich der Magen zusammen, und sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.
„Und das hier?“ Er schrieb noch etwas auf, in fetten, schwarzen, bedrohlichen Buchstaben. „Lies es, na los. Das ist doch nicht schwer, Herrgott! Bloß drei verdammte Buchstaben! Drei!“ Tränen rannen ihr über die Wangen.
„Hör auf! Lass sie in Ruhe!“ Rose platzte ins Zimmer.
„Misch dich nicht ein, Rose.“ Seine Stimme klang sanft. Rose war sein Liebling.
„Doch, du regst sie auf.“
„Ich rege sie auf? Sie regt verflucht noch mal mich auf. Meine eigene Tochter – eine Rutherford – kann nicht einmal die einfachsten Wörter lesen!“
„Lily gibt ihr Bestes. Sie kann ein wenig lesen, aber dräuend vor ihr aufzuragen und sie anzufahren regt sie nur auf und macht alles schlimmer.“
Darauf folgte ein längeres Schweigen. „Es stimmt also. Deine Schwester kann nicht lesen. Und das mit zehn Jahren.“
„Sie ist fast zwölf“, erwiderte Rose leise und legte Lily einen Arm um die Schultern. „Es ist nicht ihre Schuld. Sie gibt sich wirklich die allergrößte Mühe beim Lernen. Das hat sie von Anfang an getan.“
Abermals zog sich die Stille in die Länge. „Eure Mutter wusste davon und hat es mir verschwiegen?“
Rose nickte. „Mutter sagte, es sei nicht Lily anzulasten, sondern entspreche Gottes Plan.“
„Es war Gottes Plan, sie mit Schwachsinn zu schlagen?“
„Sie ist nicht schwachsinnig“, entgegnete Rose hitzig. „Lily ist nicht dumm, sie kann schlicht nicht lesen.“
„Liegt es an ihren Augen?“ Er schaute Miss Glass an. „Vielleicht braucht sie eine Brille.“
„Ich habe ihre Sehkraft geprüft“, antwortete die Gouvernante lapidar. „Lily sieht alles klar und deutlich. Sie kann nur nicht lesen. Oder einfachste Rechenaufgaben bewältigen. Oder links von rechts unterscheiden.“
Langsam und bedächtig schob er Lily von sich. Er tat es nicht grob, doch sie spürte die Kälte, die von ihm ausging. „Eine Rutherford, die nicht lesen kann.“ Er schaute sie an, als hätte er sie nie zuvor gesehen, als hätte er nichts mit ihr zu tun. „Unbelehrbar.“
Lange sagte niemand etwas, bis er befahl: „Bring sie hinauf, Rose.“
Rose und Lily gingen, doch Rose schloss die Tür nicht ganz. „Pst“, flüsterte sie. „Ich will hören, was sie reden.“
Sie drängten sich so dicht an die Tür, wie sie sich trauten. Von drinnen hörten sie leises Gemurmel, das Lily nicht verstand, ehe sie ihren Vater sagen hörte: „Ich habe sie für normal gehalten. Sie reitet wie der Teufel …“
Ein Glas klimperte. Offenbar goss ihr Vater sich einen Drink ein. „Was soll ich mit dem Mädchen tun? Kein Mann will eine Ehefrau, die nicht lesen kann.“
„Keine Sorge, du kannst bei mir leben, wenn ich verheiratet bin“, raunte Rose. Lily blickte sie beklommen an. Sie liebte Rose, aber …
„Es gibt gewisse diskrete Einrichtungen …“, erwiderte Miss Glass gedämpft.
Lily lief es kalt über den Rücken. Sie hatte keine Ahnung, was eine solche „diskrete Einrichtung“ war, aber es klang schaurig. Sie liebte ihr Zuhause und wollte nicht fortgeschickt werden. Atemlos warteten sie beide auf die Antwort des Vaters.
„Nein.“ Er klang bedrückt. „Das kann ich ihr nicht antun. Sie mag ein Schandfleck für die Familie sein, aber sie ist eine reine kleine Seele.“
Ein Schandfleck für die Familie? Lilys Kehle war wie zugeschnürt.
Wieder ergriff er das Wort. „Nun, da ihre Mutter von uns gegangen ist, muss sich jemand der beiden annehmen. Ich habe keine Zeit für Kinder, schon gar nicht für Mädchen.“
„Keine Gouvernante, die etwas auf sich hält, wird sich mit einem solchen Kind abgeben“, erklärte Miss Glass. „Eine gute Schule würde sie vielleicht aufnehmen – Analphabetin oder nicht, die Tochter eines Earls würde ihrem Ruf Glanz verleihen.“
„Welchen Sinn sollte das haben?“
„Lesen und schreiben mag sie nicht lernen, aber zumindest könnte man ihr beibringen, eine Dame zu sein.“
Ihr Vater schwieg, vermutlich dachte er darüber nach. „Eine hervorragende Lösung. Ich werde sie beide auf eine Schule schicken – ich glaube, es gibt diverse in Bath, wo meine jüngere Schwester lebt. Sie ist ledig und könnte ein Auge auf die Mädchen haben.“
Lily zog sich der Magen zusammen. Sie sollten beide fortgeschickt werden? Auch Rose? Nur weil sie selbst nicht lesen konnte?
Das Rascheln von steifem Bombasin kündete davon, dass Miss Glass sich erhob. „Sofern das alles wäre, werde ich mich nun verabschieden, Mylord. Ich habe einiges zu arrangieren.“
Die beiden Mädchen eilten nach oben.
„Es tut mir so leid, Rose“, begann Lily, kaum dass sie außer Hörweite waren.
„Das braucht es nicht“, erwiderte Rose leidenschaftlich. „Ich bin lieber mit dir auf irgendeiner schrecklichen Schule, als ohne dich hier zurückzubleiben. Vater ist ein selbstsüchtiger Schuft. Keine Zeit für Mädchen, pah!“
„Es liegt nicht an dir, sondern an mir.“ Lily schluckte und zwang sich, die Worte auszusprechen. „Ich glaube, er liebt mich nicht mehr.“
Rose schloss sie in die Arme. „Ich bin sicher, tief in seinem Innern liebt er dich immer noch, mein Schatz. Es hat ihn unerwartet getroffen, das ist alles. Vater gibt sich gern der Illusion hin, alle Rutherfords wären perfekt.“
Doch Lily wusste es besser. Er hatte sie angesehen wie einen, einen … Gegenstand.
Als sie das Schlafzimmer betraten, das sie sich teilten, fiel Lilys Blick auf Arabella, ihre Brautpuppe, die auf ihrem Bett saß. Arabella hatte merkwürdige Augen – sie war einmal fallen gelassen worden, und dabei war ein Stück von einem ihrer geschnitzten Holzaugen abgesplittert. Mutter hatte das Auge neu bemalt, aber mit mäßigem Erfolg. Arabella schien immer ein wenig zu schielen, was Lilys Liebe keinen Abbruch tat.
Ein Schandfleck für die Familie. Kein Mann will eine Ehefrau, die nicht lesen kann.
Vor Tränen halb blind, zog Lily ihrer Puppe das kunstvolle Spitzenkleid aus, das ihre Mutter für sie genäht hatte. Der Miniaturschleier war mit kleinen Kügelchen besetzt, die Perlen darstellen sollten. Er riss, als sie ihn herunterzog. Sie warf die Kleider auf den Boden und stopfte die nackte Arabella in das Regal beim Fenster. Es war bloß eine Puppe, ein Machwerk aus Stoff und bemaltem Holz, eine dumme Illusion, ein Gegenstand.
An diesem Abend gingen Lily und Rose zeitig zu Bett. Rose hatte versucht, Lily zu trösten, doch sie war untröstlich. Alles war furchtbar; sie würden von zu Hause fortgeschickt werden, und das war allein ihre Schuld.
Sie konnte nicht schlafen. Unablässig wirbelten ihr die Worte ihres Vaters durch den Kopf.
Durch einen Spalt in den Vorhängen fiel ein Strahl Mondlicht ins Zimmer. Die Uhr auf dem Korridor schlug zwei. Lily glitt aus dem Bett, holte Arabella und kleidete sie sorgsam wieder an.
Sie strich ihr über das gemalte Holzhaar. „Sei unbesorgt, Arabella“, flüsterte sie. „Wir werden heiraten. Vater irrt sich. Irgendwer wird uns lieben, auch wenn wir nicht perfekt sind. Versprochen.“
Ach! Zu Hause hat man es doch am bequemsten.
Jane Austen, Emma
London, 1818
Ich habe uns für den heutigen Opernabend einen Duke beschaffen können“, verkündete Lady Agatha Salter triumphierend. Sie war hager und ungemein elegant, ihr stahlgraues Haar in kunstvolle Wellen gelegt und turbanförmig aufgetürmt. Während sie ihre drei Nichten kritisch beäugte, nestelte sie mit ihren langen Fingern an ihrer Lorgnette.
Lily Rutherford, Tante Agathas jüngste Nichte, schluckte. Sie saß zusammen mit ihrer Schwester Rose auf der Chaiselongue, der alten Dame gegenüber. George, die genau genommen nicht Agathas Nichte, sondern ihre Großnichte war, thronte lässig auf der Armlehne eines nahen Sessels.
„Singen Dukes etwa?“ Rose drehte träge ihren Fächer in den Fingern. „Das wusste ich gar nicht.“
„Spare dir deine Süffisanz, Rose“, erwiderte Tante Agatha scharf. „Du weißt genau, weshalb ich diese Gelegenheit arrangiert habe – vor allem deinetwegen.“ Sie fügte hinzu: „Zudem wird er zwei Freunde mitbringen, von denen einer …“
Sie brach ab und kniff die Augen zusammen. Lily versteifte sich, als die alte Dame ihre Lorgnette hob. Der Tag war warm, und Lily klebten die Oberschenkel aneinander, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Tante Agatha hasste es, wenn jemand herumzappelte.
Doch sie richtete die Lorgnette unheilschwanger auf George. Diese erwiderte den Blick der alten Witwe milde lächelnd und blieb sitzen, wobei sie wenig damenhaft ein Bein pendeln ließ.
„Georgiana! Trägst du etwa Breeches unter deinem Reitkostüm?“
George zuckte mit den Achseln, keinerlei Reue zeigend. „Wir sind gerade von unserem Morgenausritt zurückgekommen.“
Tante Agatha schloss die Augen. Dieser Gesichtsausdruck besagte, dass sie den Himmel stumm um Hilfe anflehte. Sie murmelte etwas Unverständliches, atmete tief durch und fuhr fort: „Wie gesagt, der Duke wird in Begleitung zweier Freunde erscheinen, und einer von ihnen könnte sich vielleicht für dich erwärmen, Georgiana – allerdings nicht, wenn du so dasitzt! Oder Breeches trägst. Kein kultivierter Gentleman …“
„Und einer von ihnen könnte sich vielleicht für Lily erwärmen.“ Rose lächelte Lily liebevoll an.
Tante Agatha streifte Lily mit einem flüchtigen Blick. „Vielleicht“, sagte sie beiläufig, ehe sie die Lorgnette hob und eingehend Lilys Figur musterte.
Lily, die wusste, was kommen würde, zog den Bauch ein und hielt den Atem an. Vergebens.
„Wie ich sehe, hast du meinen Rat bezüglich der Abmagerungskur, die bei Lord Byron Wunder gewirkt hat, nicht befolgt, Lily. Du bist so dick wie eh und je.“
„Lily ist nicht dick“, widersprach Rose erbost. „Sie ist allerliebst und kurvenreich und wunderbar drall, aber nicht dick!“
„Außerdem hat sie diese garstige Kur sehr wohl ausprobiert“, warf George ein. „Zwei ganze Wochen lang. Es hat rein gar nichts gebracht, außer dass sie krank wurde. In Essig eingelegte Kartoffeln? Widerlich.“
„Ein geringes Opfer für die Schönheit“, entgegnete Tante Agatha mit der geballten Selbstgefälligkeit einer Frau, die nie einen Gedanken ans Abnehmen hatte verschwenden müssen.
„Lily ist schön so, wie sie ist.“ Rose drückte ihr aufmunternd die Hand. „Das finden wir alle.“
Tante Agatha schnaubte.
„Lieber gutmütig und drall als ein ungenießbares, modisch gewandetes Skelett.“ George warf Tante Agatha einen beredten Blick zu.
Lily hatte alle Mühe, sich nicht zu winden. Sie hasste es, wenn sich die Leute ihretwegen stritten, hasste es, wenn Tante Agatha sie durch diese schreckliche Lorgnette hindurch begutachtete – und das tat sie, wann immer sie hier aufkreuzte. Unter diesem kalten, gnadenlosen starren Blick kam sie sich wie ein Wurm vor – wie ein fetter, hässlicher, dummer Wurm. Noch einen solchen Abend würde sie nicht überstehen.
„Es tut mir leid, aber ich kann heute nicht in die Oper mitkommen“, hörte sie sich sagen. „Ich … ich bin bereits verabredet.“
Darauf folgte ein kurzes verblüfftes Schweigen. Rose und George blinzelten und versuchten sichtlich, ihre Verwirrung zu verbergen.
Tante Agatha, deren Augen durch die Waffe ihrer Wahl grotesk vergrößert erschienen, durchbohrte Lily förmlich mit dem Blick. „Was hast du gesagt, Mädchen?“
Lily schluckte, gab jedoch nicht klein bei. „Ich sagte, ich bin bereits verabredet.“ Sie presste die Lippen aufeinander. Bei Streitereien zog sie stets den Kürzeren, weil sie letztlich einlenkte. Daher hielt sie lieber den Mund.
Tante Agatha umklammerte ihren Elfenbeinstock mit einer ihrer knochigen Klauen und ließ ihn auf den Boden niederfahren, was aufgrund des dicken türkischen Läufers wenig Effekt hatte. „Hast du mich nicht verstanden, du törichtes Ding? Ein Duke und zwei seiner Freunde werden sich heute Abend in der Oper zu uns gesellen. Ein Duke! Und zwei weitere heiratswürdige Herren. Und du sagst, du könntest nicht kommen? So ein Unsinn! Selbstredend wirst du mitkommen!“
Behutsam entzog sich Lily dem Griff ihrer Schwester. Inzwischen waren ihre Hände genauso schweißnass wie ihre Oberschenkel. Verstohlen wischte sie sie an ihrem Rock ab, bevor sie so hoheitsvoll wie möglich sagte: „Ich hatte den Eindruck, Sie hätten eine Einladung geäußert, Tante Agatha, keinen Befehl.“
Neben ihr schnappte Rose nach Luft. Für gewöhnlich waren es entweder Rose oder George, die Tante Agatha die Stirn boten. Lily galt als die Sanftmütige, Gefügige. Doch sie würde sich nicht gängeln lassen, nicht dieses Mal. Tante Agatha legte im Grunde keinen Wert darauf, dass sie heute Abend mit von der Partie war – sie hasste bloß Widerworte.
Ohnehin machte sich Lily nicht viel aus der Oper – sie hatte kein Gespür für Musik, konnte nichts damit anfangen und neigte dazu, einzuschlafen. Und die Männer, die Tante Agatha gemeinhin als Begleiter auftat, fand sie, ehrlich gesagt, einschüchternd – zynisch, des Lebens überdrüssig und viel zu weltgewandt.
Ein verkniffener Zug legte sich um Tante Agathas Mund. „Ahnst du auch nur, wie viel Mühe es mich gekostet hat, diesen Duke dazu zu bewegen, mich und euch drei heute Abend in die Oper zu begleiten? Und zwei seiner heiß begehrten Freunde für dich und Georgiana mitzubringen?“
„Vermutlich haben Sie seine Mutter erpresst“, kommentierte George, die Musik liebte, es jedoch verabscheute, Georgiana genannt zu werden. Wäre Lily nicht so angespannt gewesen, hätte ihr dies vielleicht ein Lächeln entlockt. Wahrscheinlich stimmte es. Der halbe ton fürchtete Tante Agatha; die andere Hälfte war lediglich nervös. Doch die gute George fürchtete nichts und niemanden und ganz gewiss nicht Tante Agatha.
Tante Agatha versteifte sich und richtete die Lorgnette der Verdammnis auf ihre Großnichte. „Entschuldigung?“
„Entschuldigung akzeptiert“, entgegnete George so provokativ wie gespielt arglos. „Ist das nicht Ihre übliche Methode? Die Leute zu erpressen oder zu schikanieren, bis sie sich Ihrem Willen beugen?“ Anscheinend blind gegenüber Tante Agathas aufbrodelnden Zorn, schlenderte sie zum Kamin, nahm einen Veilchenstrauß vom Sims und roch daran. „Herrlich. Sind Veilchen nicht wunderbar? So klein, und doch duften sie so herrlich. Bei Willowbank Farm wachsen sie wild.“ Ihrem alten Zuhause.
Lily beneidete George um ihre kühle Selbstsicherheit. Obwohl sie entschlossen war, sich von Tante Agatha nicht in die Knie zwingen zu lassen, bebte sie am ganzen Körper. Und sie versuchte fieberhaft, es zu verhehlen.
„Wie findig von Ihnen, einen Duke für uns zu gewinnen, Tante Agatha“, sagte Rose rasch. „Welcher ist es denn?“ Bemüht, die Wogen zu glätten. Ungewöhnlich für Rose.
Tante Agatha schoss einen letzten giftigen Blick auf George ab und bedachte auch Lily mit einem solchen, ehe sie sich Rose zuwandte. „Wenigstens eine von euch weiß zu schätzen, was ich auf mich nehme, um euch gute Partien zu verschaffen. Der aristokratische Gentleman, der uns heute Abend in meiner Loge Gesellschaft leisten wird, ist … der Duke of Everingham.“ Sie wartete, als rechne sie mit Applaus.
Lily schwieg. Sie hatte noch nie vom Duke of Everingham gehört, doch sie wusste, wie er sein würde. Seit Saisonbeginn war Tante Agatha damit beschäftigt, ihnen heiratswürdige Herren aufzudrängen, und nicht einer von ihnen hatte Lily Beachtung geschenkt. Worauf sie auch gar keinen Wert legte.
Tante Agatha hegte eine Vorliebe für mondäne, daseinsmüde, extravagante Gentlemen, die immerzu angeödet wirkten und die Art von Bonmots äußerten, deren hintergründige Bedeutung sich jedem außer Lily zu erschließen schien. In Gegenwart von Tante Agathas „heiratswürdigen Herren“ fühlte sie sich hoffnungslos überfordert, und sie war überzeugt davon, dass dieser Duke und dessen Freunde genauso sein würden.
Natürlich war er für Rose gedacht, die Älteste und Schönste von ihnen dreien. Tante Agatha war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass wenigstens aus Rose eine Duchess würde. Ob sie wollte oder nicht. Rose selbst hatte kein Interesse daran, zu heiraten, und wollte es möglichst lange vor sich herschieben. Das indes wusste Tante Agatha nicht.
Lily schwieg beharrlich, und George drehte die Veilchen unter ihrer Nase und schnupperte verzückt daran. Somit blieb es Rose überlassen – die keinerlei Ambitionen hegte, eine Duchess zu werden –, einen vagen Laut der Bewunderung von sich zu geben.
Offenbar ärgerte dieser Mangel an Würdigung Tante Agatha, denn sie erklärte: „Alle sind ganz versessen darauf, Everingham auf ihren Bällen und Geselligkeiten zu sehen. Eine Gastgeberin gerät schon aus dem Häuschen, wenn er sich nur dazu herablässt, eine Einladung anzunehmen – ohne die Garantie, dass er erscheinen wird. Aber seine Mutter – deren Taufpatin ich übrigens bin, Georgiana, und die meinen Rat zu schätzen weiß – hat mir zugesichert, dass er die Oper heute Abend auf jedenFall beehren und zu uns in die Loge kommen und einige Freunde mitbringen wird.“
„Wie überaus erfreulich“, erwiderte Rose munter. „Ich bewundere Männer, die tun, was ihre Mutter ihnen befiehlt.“ George unterdrückte hörbar ein Schnauben. „Wie schade, dass Lily schon verabredet ist“, fügte Rose hastig hinzu. „Aber Sie legen solch großen Wert auf korrekte Umgangsformen, Tante Agatha, dass Sie Lily gewiss nicht davon abhalten wollen, eine bereits akzeptierte Einladung abzusagen.“
Unwillig presste die alte Dame ihre Lippen aufeinander. Ihre Miene besagte, dass sie keineswegs so dachte. Ihrer Meinung nach stach die Chance auf einen Duke alles andere aus, und korrekte Umgangsformen interpretierte sie situationsabhängig.
Sie richtete ihren bohrenden Blick auf Lily. „Was ist das für eine Einladung, die du auf keinen Fall versäumen möchtest?“
„Ich begleite Emm und Cal zu einer Geselligkeit.“
Tante Agatha hob die zu dünnen Strichen zurechtgezupften Brauen. „Etwa zur Abendgesellschaft der Mainwarings?“ Sie schnaubte verächtlich. „Eine fade Schar farb- und bedeutungsloser Gestalten.“
„Emm und Cal gehen auch hin“, gab Lily zurück. Der Earl und die Countess of Ashendon, Lilys Bruder und dessen Frau, waren wohl kaum „bedeutungslos“. Und was das „farblos“ anging … nun, Cal war höchst ruhmreich – ein Kriegsheld. Und Emm hatte ein Herz aus Gold – und konnte Tante Agathas gemeine Sticheleien parieren, ohne mit der Wimper zu zucken. Leider waren Emm und Cal zu einem Spaziergang aufgebrochen, bevor Tante Agatha heute hier eingefallen war.
„Dein Bruder und deine Schwägerin haben sich verpflichtet gefühlt, die Einladung anzunehmen“, wies Tante Agatha sie zurecht. „Sir George war einst der befehlshabende Offizier deines Bruders. Angesichts der besonderen Verfassung, in der sich Emmaline befindet, könnten sie der Höflichkeit halber kurz erscheinen und bald wieder gehen. Wenn du sie allerdings begleitest, werden sie sich genötigt fühlen, länger zu bleiben.“ Ihr Tonfall suggerierte, dass dadurch die Erbfolge derer zu Ashendon gefährdet sei. Und sollte Emm den Erben verlieren, so wüsste Tante Agatha ganz genau, wem sie das vorzuwerfen hätte.
„Es macht mir nichts aus, früh zu gehen.“
Tante Agatha schniefte. „Deine Schwester und Georgiana, so frivol sie auch sein mögen, erkennen eine einmalige Gelegenheit, wenn sie sich ihnen darbietet. Sie hatten keine Hemmungen, Lady Mainwaring zu schreiben und sich für heute Abend zu entschuldigen. Wieso kannst du nicht genauso sein?“ Sie verzog den Mund. „Abgesehen vom Offensichtlichen.“
„Das ist ungerecht …“, fuhr Rose auf.
„Weil ich jemandem versprochen habe, dort zu sein“, erklärte Lily, bevor ein weiterer Streit über ihre Unzulänglichkeiten losbrechen konnte. „Einem Mädchen, das ich von der Schule kenne.“ Rose schaute sie fragend an, doch Lily wich ihrem Blick aus. „Sie ist neu in London, und ich habe ihr zugesichert, sie einigen unserer Freunde vorzustellen. Ich möchte sie nicht im Stich lassen.“
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie hatte nichts versprochen, aber als Sylvia sie gefragt hatte, ob sie auf der Abendgesellschaft der Mainwarings sein würde, hatte Lily zugesagt. Um einen Abend lang Tante Agathas giftigen Seitenhieben zu entgehen, genügte der Vorwand allemal.
Tante Agatha hob die Brauen umso höher. „Du lässt dir einen Duke und dessen Freunde wegen einer alten Schulfreundin entgehen? Pff! Wer ist sie und woher stammt sie?“
„Sie ist niemand von Belang. Wahrscheinlich haben Sie noch nie von ihr gehört.“ Lily warf Rose einen warnenden Blick zu, eine stumme Bitte, den Mund zu halten.
Rose runzelte die Stirn, schwieg aber.
Tante Agatha schniefte abermals. „Wieso überrascht mich das nicht? Du besitzt keinerlei Ehrgeiz, nicht wahr, Mädchen?“
„Nicht viel“, räumte Lily ein. „Ich möchte einfach nur glücklich sein.“
„Pah! Damit meinst du wahrscheinlich, dass du dich verlieben willst! Kitschige kleinbürgerliche Gefühlsduselei! Wann werdet ihr es endlich begreifen? Eine Ehe dient der Mehrung von Ansehen, Privilegien und Ländereien.“ Die alte Dame erhob sich. „Da du entschlossen bist, die Gelegenheit, die ich dir biete, ungenutzt verstreichen zu lassen, Lily, kann ich dir nicht helfen. Rose, Georgiana, meine Kutsche wird euch um sieben abholen.“
„Gut gemacht, Lily. Es war sehr mutig von dir, dich Tante Agatha zu widersetzen“, sagte Rose, während die Mädchen gemeinsam nach oben gingen.
„Regelrecht heldenhaft“, pflichtete George ihr bei. „Ich dachte schon, der alte Drache würde vor Wut platzen, als du gemeint hast, es sei doch eine Einladung und kein Befehl gewesen.“
Lily lachte zittrig. „Ich hatte eine Heidenangst.“
„Nach außen hin hast du aber nicht so gewirkt, Küken.“ George öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. „Hallo, mein Liebling. Hast du auf mich gewartet?“ Finn, der riesige zottelige Wolfshund, sprang ihnen entgegen, und sie zauste ihm die Ohren.
„Küken?“, wiederholte Lily mit vorgetäuschter Empörung. „Du bist gerade einmal elf Tage älter als ich.“
George lächelte breit. „Und daher älter und weiser. Nicht wahr, Finn? Ja, viel älter und weiser.“ Finn wand sich freudig und wedelte wild mit dem Schwanz.
„Ah, aber ich bin deine Tante, und daher schuldest dumir Respekt.“ Lily verpasste George im Vorbeigehen einen spielerischen Klaps. Sie hatte sich gegen Tante Agatha behauptet, und nicht nur überlebt – sondern gewonnen. Sie ließ sich aufs Bett fallen.
Rose betätigte den Glockenzug. Sie hatte die Anweisung gegeben, ihnen Tee und Hefegebäck heraufzubringen, sobald Tante Agatha gegangen war, und dies war das vereinbarte Zeichen. Danach setzte sie sich aufs Bett und schlug die Beine unter. „Also, wer ist diese Schulfreundin, derentwegen du es mit der Tödlichen Lorgnette aufgenommen hast?“
Lily verzog das Gesicht. „Es ging gar nicht um sie“, gestand sie. „Sie hat mir nur als Ausrede gedient. In Wahrheit kann ich schlicht keinen weiteren Abend mit Tante Agatha ertragen. Wie sie mich ansieht …“
Rose beugte sich vor und umarmte sie. „Ich weiß. Es ist furchtbar. Ignoriere die alte Hexe einfach – du bist nicht dick, sondern kurvenreich. Tante Agatha gehört zu den dünnen Rutherfords! George und ich schlagen nach ihr – nur körperlich, George, glücklicherweise nicht in anderer Hinsicht. Du dagegen bist wie die gute Tante Dottie.“
„Die nie geheiratet hat“, gab Lily zu bedenken. „Wohingegen Tante Agatha dreimal verheiratet war.“
„Ich weiß. Unbegreiflich.“
George schnaubte. „Ja, aber alle drei Gatten haben das Zeitliche gesegnet – was ich absolut verständlich finde. Was bleibt einem anderes übrig, wenn man feststellt, dass man mit einem bissigen Drachen vermählt ist?“
Sie lachten. „Aber warum haben diese Männer sie überhaupt geheiratet?“, fragte Lily.
„Vermutlich haben sie sich nicht getraut, Nein zu sagen.“
Es klopfte an der Tür, und George ging, um zu öffnen. Ein Dienstmädchen kam mit einem Tablett herein, auf dem sich eine Teekanne, drei Tassen sowie ein Teller mit Gebäck befanden. Das Gebäck bestand aus sechs weichen, mit Zuckerguss überzogenen und mit Obst gefüllten Hefeteilchen sowie zwei dünnen, trockenen Waffeln. George goss Tee ein, verteilte die Tassen und stellte den Gebäckteller aufs Bett zwischen Lily und Rose. Rose nahm sich eines der Teilchen und biss hinein, einen seligen Ausdruck auf dem Gesicht.
Lily bemühte sich, es nicht zu beachten. Sie schob den Teller von sich und nippte an ihrem Tee ohne Milch und Zucker. Für den Fall, dass sie etwas essen wollte, hatte sie die Waffeln. Sie war ausgehungert, doch die Erinnerung an Tante Agathas Lorgnette stärkte ihre Entschlossenheit.
Rose gab einen entnervten Laut von sich. „Oh, hör auf, dich wegen deiner Figur zu sorgen, Lily. Du bist wunderbar so, wie du bist. Für die Suche nach einem Mann macht es keinen Unterschied, ob du hungerst oder nicht, und du fühlst dich nur elend dadurch!“ Rose schob ihr den Teller zu. „Als Erbinnen werden wir auf dem Heiratsmarkt ohnehin keine Schwierigkeiten haben. Wir könnten schielen, schiefe Zähne haben und buckelig daherkommen und würden trotzdem Männer finden, die uns heiraten wollen.“
„Ja, unseres Geldes wegen“, erwiderte Lily. „Einen solchen Ehemann will ich nicht.“
„Ich weiß, aber wir sind nicht gerade Vogelscheuchen“, fuhr Rose fort. „Jede von uns ist absolut liebenswert.“ Als George schnaubte, streckte Rose ihr die Zunge heraus. „Daher eilt es nicht. Wir können uns Zeit lassen und uns aus einem erlesenen Angebot an Herren die Besten aussuchen.“
„Nein, danke“, sagte George. „Letztes Jahr noch war ich arm wie eine Kirchenmaus, und jetzt bin ich reich. Weshalb sollte ich mein Geld irgendeinem Mann übereignen, der damit – und mit mir – nach Gutdünken verfährt? Weshalb sollte ich mich abermals abhängig vom Ehrgefühl eines Mannes machen? Nein, vielen Dank.“
„Nicht alle Männer sind wie dein Vater“, wandte Lily leise ein.
George schüttelte den Kopf. „Hunde und Pferde sind viel besser und bei Weitem vertrauenswürdiger. Ich suche mir lieber ein schönes Plätzchen auf dem Land, wo ich glücklich bis ans Ende meiner Tage mit meinem Geld und meinen Hunden leben kann. So wie die Duchess of York, nur dass ich auch noch Pferde halten werde.“
„Die Arme, ein Jammer, dass sie nie Kinder bekommen hat. Bestimmt hat sie deshalb so viele Hunde. Möchtest du keine Kinder haben, George?“, fragte Lily.
Lily selbst wollte unbedingt heiraten. Sie war keineswegs ambitioniert; Titel interessierten sie ebenso wenig wie die kultivierten, einschüchternden Gentlemen, die Tante Agatha ihnen ständig aufdrängte. Sie wollte sich einfach in einen netten, umgänglichen Herrn verlieben, der ihre Liebe erwiderte. Und sie wünschte sich Kinder.
George dachte nach. „Keine Ahnung. Ich hatte nie etwas mit Kindern zu tun. Mit Welpen und Fohlen kann ich wahrscheinlich besser umgehen.“ Sie nahm sich noch ein Hefeteilchen und biss hinein. Lily knurrte der Magen. Sie trank einen Schluck von ihrem schwarzen, ungesüßten Tee.
„Wer ist denn nun diese Schulfreundin, mit der du dich bei den Mainwarings triffst?“, hakte Rose nach.
Schlagartig fühlte sich Lilys Magengrube noch hohler an. „Sylvia Gorrie.“
Rose runzelte die Stirn. „Wer ist Sylvia Gorrie? Ich kann mich an keine Sylvia Gorrie auf der Schule erinnern.“
„Gorrie ist ihr Ehename. Früher hieß sie Sylvia Banty.“ Lily wartete darauf, dass Rose in die Luft gehen würde, und sie wurde nicht enttäuscht.
„Sylvia Banty?“ Rose starrte sie an. „Diese verschlagene Hündin?“ Sie wandte sich an George. „Sie wurde beim Stehlen erwischt – und sie hat ausgerechnet die Mädchen bestohlen, die sie dreisterweise als Freundinnen bezeichnete. Sie hat auch Lily um Mutters Medaillon erleichtert – dieses Medaillon ist alles, was Lily von Mutter geblieben war!“ Sie schnaubte. „Ich habe Sylvia nie ausstehen können. Sie tat so, als könnte sie kein Wässerchen trüben, diese hinterhältige kleine Kuh!“
„Das ist ein wenig ungerecht, findest du nicht?“, wandte George ein.
Rose blinzelte überrascht. „Kennst du Sylvia?“
George schüttelte den Kopf. „Ich bin ihr nie begegnet. Aber ich mag Kühe. Liebenswerte, sanftmütige Geschöpfe. Wunderschöne Augen. Diese Sylvia als Kuh zu bezeichnen – oder als Hündin – ist Kühen gegenüber ungerecht. Und Hündinnen. Einige meiner besten Freunde sind Hunde.“
„Also gut, nennen wir sie eine elende kleine Schabe.“ Rose drehte sich wieder zu Lily um. „Wieso um alles in der Welt möchtest du dich mit Sylvia Ba …? Wie heißt sie gleich? Gorrie?“
Lily nickte. „Ich bin ihr neulich im Park begegnet, und sie hat sich für ihr Verhalten entschuldigt. Sie sei auf der Schule todunglücklich gewesen, hat sie mir erzählt. Genau wie wir anfangs, weißt du noch, Rose?“
„Ja, nur dass wir nicht unsere Freundinnen bestohlen haben.“
Lily zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben in jungen Jahren Dinge getan, die wir später bereuten. Es ist vier Jahre her – seitdem ist viel Wasser den Bach heruntergeflossen. Inzwischen sind wir älter und klüger – oder sollten es zumindest sein. Sie sagte, nachdem sie die Schule verlassen hat …“
„Sie hat die Schule nicht verlassen, sie wurde verwiesen.“
„Stimmt, sie musste in Schimpf und Schande gehen und hat daher nie debütiert. Ihre Eltern haben sie in aller Eile verheiratet, mit einem sehr viel älteren Mann, obwohl sie erst sechzehn war. Nach allem, was ich erfahren habe, ist er ein kühler, wenig umgänglicher Zeitgenosse, und sie ist kreuzunglücklich. Sie wirkte vollkommen aufrichtig, Rose, und hat das Vergangene bereut. Sie ist einsam und kennt kaum jemanden in London. Daher habe ich ihr angeboten, sie einigen Leuten vorzustellen. Was kann das schon schaden?“
Rose schüttelte den Kopf. „Du hast ein viel zu weiches Herz. Sie ist eine gemeine kleine Diebin!“
Lily sah das anders. „Menschen können sich ändern. Jeder sollte die Chance erhalten, sich von begangenen Fehlern reinzuwaschen. Außerdem hat sie nur kleine, unbedeutende Dinge gestohlen – sie wusste nicht, wie wichtig mir Mutters Medaillon ist. Sie sollte nicht ewig dafür bestraft werden.“
Rose schaute sie einen Augenblick lang schweigend an, ehe sie sich seufzend George zuwandte. „Also gut. Bitte entschuldige mich bei Tante Agatha, George, und sag ihr …“
„Wie bitte? Was hast du vor?“, fragte Lily.
„Dich begleiten, natürlich. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich es dich allein mit einer sterbenslangweiligen Veranstaltung und der widerwärtigen Sylvia Gorrie aufnehmen lasse, oder? Sie könnte dir in einem unbeobachteten Moment die Perlen stibitzen.“
„Das ist lächerlich“, entgegnete Lily bestimmt. „Ich brauche niemanden, der mir die Hand hält. Im Gegenteil, ich würde dich vor Ärger bewahren müssen.“
Rose lachte. „Wohl wahr. Der Abend mit Tante Agatha und ihrem Duke wird mir einiges abverlangen. Womöglich werde ich gezwungen sein, eine Verzweiflungstat zu begehen – einen Duke zu erschießen, beispielsweise. Im Ernst, Lily, bist du sicher, dass du allein zurechtkommst?“
Lily umarmte sie. „Absolut sicher. Und ich werde nicht allein sein, sondern in Gesellschaft von Emm und Cal und hundert anderen.“
„Ich weiß, nur …“
„Nur bist du meine große Schwester und hast mein Leben lang auf mich achtgegeben. Aber inzwischen bin ich erwachsen.“
„Du bist erst achtzehn.“
„George ist auch erst achtzehn.“
„Ja, aber George hat von Kindesbeinen an selbst auf sich aufpassen müssen.“
„Dann sollte sich vielleicht ausnahmsweise einmal jemand um sie kümmern“, erwiderte Lily leise. „Mach dir keine Sorgen um mich. Mir wird nichts passieren. Ich sorge mich eher um dich.“
„Um mich?“
Lily lachte. „Ich kenne diesen Blick. Du führst etwas im Schilde. Dir gefällt die Oper genauso wenig wie mir. Also, was ist es? Triffst du dich mit einem Mann?“
„Ja, mit einem Duke. Hast du Tante Agathas Triumph etwa schon vergessen?“
„Du weißt, was ich meine.“ Bei ihren unerlaubten Abenteuern in Bath war Rose stets die Anstifterin und Lily die Stimme der Vernunft gewesen. Rose war schnell gelangweilt, und die Beschränkungen, die ihnen von der Gesellschaft auferlegt wurden, machten sie rastlos.
In Roses Augen blitzte es. „Was, wenn es so wäre?“ Sie reichte Lily das letzte Hefeteilchen.
Lily schaute auf das Gebäck in ihrer Hand, das so saftig und verführerisch war. Sie hätte es zurück auf den Teller legen sollen. Zitronenglasur. „Sei bloß vorsichtig, Rose. Wir sind nämlich nicht mehr in Bath.“
„Und dafür danke ich Gott jeden Tag aufs Neue. Obwohl ich Tante Dottie vermisse.“
„Ich auch.“ Lily versuchte, nicht den köstlichen, süßen Hefeduft einzuatmen. Sie musste widerstehen. Finn beäugte das Teilchen mit der kläglichen Miene eines Hundes, der seit Wochen nicht gefüttert worden ist. „Aber wer weiß, vielleicht gefällt dir dieser Duke oder einer seiner Freunde sogar.“
„Oh, gewiss.“ Rose verdrehte die Augen. „Wie viele grauenhafte verstaubte Dukes hat Tante Agatha mir bislang auf den Hals gehetzt? Mir ist schleierhaft, wo sie die immer ausgräbt. Ich habe nicht gewusst, dass es in diesem Land vor ledigen Dukes nur so wimmelt.“
„Den letzten dürfte sie tatsächlich exhumiert haben“, kommentierte George.
Rose lachte. „Stimmt. Und wenn dieser hier kein einschläfernder Methusalem ist, wird er ein Junggeselle mit einer ganzen Reihe betörender Mätressen sein. Er sucht eine ehrbare junge Braut, um einen Erben zu zeugen, gedenkt seinen Lebenswandel aber keineswegs aufzugeben. Er wird sich weiterhin die eine oder andere Mätresse halten, von seiner Frau jedoch erwarten, wie die Gattin Cäsars zu sein – ohne Tadel.“
„Männer sind schrecklich“, pflichtete George ihr bei.
„Cal hat keine Mätresse“, gab Lily zu bedenken. Bestimmt waren nicht alle Männer schrecklich. Sie kratzte ein wenig Glasur von ihrem Hefeteilchen.
„Der Fall ist anders gelagert“, meinte Rose. „Cal und Emm lieben einander. Oh, um Himmels willen, Lily, hör auf, dieses Gebäckstück anzuschmachten, und iss es endlich. Betrachte es als Frühstück.“ Sie nahm die Waffeln und warf sie Finn zu, der sie in zwei Bissen verschlang.
Wo blieb Sylvia? Zum wiederholten Mal ließ Lily den Blick suchend durch den belebten Ballsaal schweifen. Da hatte sie eigens Tante Agathas Missfallen in Kauf genommen – nun, um ihrer selbst willen ebenso sehr wie Sylvia zuliebe –, und jetzt sah es so aus, als würde ihre alte Schulkameradin gar nicht auftauchen.
„Würden Sie mir diesen Tanz zugestehen, Lady Lily?“ Mr. Frome, ein freundlicher Herr mittleren Alters, verneigte sich vor ihr.
Lily schaute zu Emm hinüber, die durch ein Nicken ihre Erlaubnis gab. Während Mr. Frome sie auf die Tanzfläche führte, dachte sie bei sich, dass sie sich hier – mit oder ohne Sylvia – weit besser amüsierte, als sie es in der Oper getan hätte. Sie hatte jeden Tanz wahrgenommen, und obgleich ihre Tanzpartner zumeist ältere Gentlemen waren, gaben sie sich aufmerksam und flirteten auf charmante Weise, indem sie sie mit ausgefallenen Komplimenten bedachten und ihr versicherten, wie hübsch sie aussehe – natürlich war nichts davon ernst gemeint, aber sie genoss es dennoch.
Jedenfalls war dies viel besser, als von einem Drachen belauert zu werden und mit einem Duke und dessen Freunden Konversation machen zu müssen. Sie fragte sich, wie Rose sich schlug. George interessierte sich nicht für Dukes – für sie zählte bei der Oper allein die Musik.
Rose hingegen … Vielleicht hätte ich doch mit in die Oper gehen sollen, anstatt nur an mich zu denken. Ihre Schwester war wie der Korken in einer Flasche, der jederzeit herausschießen konnte, wenn sie den erstickenden gesellschaftlichen Konventionen nicht dann und wann zu entfliehen vermochte. Dieses Rendezvous, das Rose plante … Lily hoffte, sie würde nichts Törichtes tun.
„Lily?“
Lily drehte sich um. „Oh, Sylvia, da bist du ja. Ich hatte dich beinahe aufgegeben.“
Sylvia verzog das Gesicht. „Es tut mir leid, Lily, meine Liebe. Mein Mann ist schuld. Er heißt ausgelassene Geselligkeiten nicht gut. Ich musste warten, bis er eingeschlafen war.“
„Oh, aber …“ Lilys Blick fiel auf den elegant gekleideten jungen Gentleman neben Sylvia.
Sylvia lachte. „Ach, du meine Güte, das ist nicht mein Mann. Das ist mein Cousin Victor Nixon, der zu Besuch in London weilt. Er lebt in Paris. Victor, das ist Lily, meine gute Freundin aus Schultagen – oh, nein, inzwischen sollte ich wohl deinen korrekten Titel verwenden, nicht wahr? Wir sind keine Schulmädchen mehr.“ Sie kicherte mädchenhaft. „Lady Lily Rutherford.“
Mr. Nixon verbeugte sich tief über Lilys Hand. „Hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Lady Lily.“
„Victor war so freundlich, mich herzubegleiten“, sagte Sylvia. „Mein Mann geht nur selten aus. Er ist ein furchtbarer Langweiler. Also …“, sie ließ den Blick durch den Saal schweifen, „… wen haben wir denn da? Wie ich sehe, ist die ehemalige Miss Westwood hier. Zweifellos spielt sie die Anstandsdame – sie war Lehrerin an Miss Mallards Schule“, erklärte sie ihrem Cousin. „Sie hat Lilys Halbbruder geheiratet und es dadurch gut getroffen. Von der armen, unscheinbaren alten Jungfer zur Countess of Ashendon.“
„Emm ist nicht unscheinbar …“, protestierte Lily ungehalten, doch Sylvia redete einfach weiter.
„Oh, und dort ist die ehemalige Sally Destry und tanzt mit ihrem Mann, Lord Maldon. Wer hätte gedacht, dass ein solch pickeliges, schmächtiges Ding mal einen gutaussehenden jungen Lord heiraten würde? Und ist das da etwa …? Ja, es ist … Jenny Ferris, sieh an! Grundgütiger, ist sie nicht entsetzlich fett geworden?“
„Sie hat kürzlich ein Kind zur Welt gebracht“, murmelte Lily.
Sylvia schnaubte. „Sie ist völlig unförmig! Du solltest ihr deine Schneiderin empfehlen, Lily – Lady Lily, meine ich. Dein Kleid lässt dich schlanker erscheinen.“
Mr. Nixon schaute auf Lily herab. „Ich mag Frauen mit Kurven“, raunte er und sondierte mit dem Blick ihren Ausschnitt.
Lily spürte sich erröten.
Sylvia lachte. „Benimm dich, Cousin.“ Sie lächelte Lily an. „Ich fürchte, Victor ist ein alter Schwerenöter.“
„Ich dachte, du würdest niemanden in London kennen“, bemerkte Lily. „Aber offenbar kennst du doch den einen oder anderen.“
Sylvia wurde ernst. „War ich gemein? Vermutlich. Tut mir leid, ich bin einfach … enttäuscht. Die einstigen Mallard-Mädchen schneiden mich. Nur, weil ich die Schule unter unschönen Umständen verlassen habe und keine von ihnen bereit ist, es zu vergessen.“ Sie hakte sich bei Lily unter. „Du bist die Einzige, die so großmütig ist, mir meine jugendliche Torheit nachzusehen.“ Sie schaute sich um. „Ich schätze, es wäre vermessen zu erwarten, dass Rose mir freundlich gesinnt ist. Sie hat mich einmal geschlagen, wegen einer Lappalie.“
„Rose kann aufbrausend sein, aber …“
„Ich sehe sie nirgends. Ich hoffe, sie ist nicht unpässlich.“
„Nein, sie ist mit unserer Tante in der Oper.“
„Verflixt“, rief Mr. Nixon jäh. „Ich habe etwas Wichtiges in meiner Kutsche vergessen. Sofern die Damen mich entschuldigen wollen, werde ich es holen.“
„Bring uns etwas zu trinken mit, wenn du zurückkommst, ja, Victor?“, bat Sylvia. „Es ist furchtbar stickig hier durch all die brennenden Kerzen, ganz zu schweigen von den verschwitzten Menschen.“
„Wird gemacht.“ Er eilte davon.
Nach zehn Minuten war er zurück, zwei Gläser mit Fruchtpunsch in den Händen. Lily trank durstig. Mr. Nixon flüsterte Sylvia etwas zu, woraufhin diese stirnrunzelnd Lily anschaute. „Bist du sicher?“, fragte sie leise.
Er nickte.
„Dann sag es ihr.“
Sie wandten sich Lily zu. „Als ich nach draußen ging“, erzählte Mr. Nixon, „versuchte ein zerlumpter Junge, ins Haus zu gelangen. Natürlich hat der Butler ihn abgewiesen, aber ich bekam zufällig mit, dass der Junge behauptete, er hätte eine dringende Nachricht für Lady Lily Rutherford.“
„Dringend? Für mich?“
Mr. Nixon nickte. „Ich hoffe, Sie nehmen keinen Anstoß, aber ich habe mir erlaubt … ich habe ihm einen Shilling zugesteckt und ihm versprochen, die Botschaft zu überbringen.“ Er zog einen zusammengefalteten Zettel hervor. „Er sagte, es sei eine dringende Nachricht von Ihrer Schwester … Rose, richtig?“
„Ja, Rose“, erwiderte Lily zerstreut. Eine Nachricht. Eine dringende Nachricht von Rose. Oh, sie hatte gewusst, dass Rose heute Abend etwas Törichtes anstellen würde. Was war bloß geschehen? Mit bebenden Fingern faltete sie den Zettel auseinander und starrte mit leerem Blick auf die Schrift. Wie immer, schienen sich die Buchstaben vor ihren Augen zu winden. Sie atmete tief durch – wenn Leute zusahen, war es umso schlimmer; dann fühlte sie sich befangen und minderbemittelt. Aber dies hier stammte von Rose und war wichtig, und deshalb musste sie es entziffern, sie musste einfach. Eindringlich starrte sie aufs Papier und versuchte, die Worte mit schierer Willenskraft zu zwingen, ihre Bedeutung preiszugeben.
Sylvia und deren Cousin drängten sich näher. „Und?“, fragte der Cousin.
Lily schluckte. In ihr rang die Angst um Rose gegen Scham. Sie hatte keine Ahnung, was da stand, und schaute sich hektisch um, in der Hoffnung, Emm oder Cal zu entdecken.
„Oh, Himmel, wie dumm von mir!“, rief Sylvia.
Lily zuckte zusammen, doch anstatt Lilys schändlichen Makel in die Welt hinauszuposaunen, sagte Sylvia: „Kurz war es mir entfallen – Lady Lily kann ohne ihre Brille kein Wort lesen. Gib her.“ Zwinkernd nahm sie Lily die Nachricht aus den kraftlosen Fingern und überflog den Inhalt rasch.
Lily hielt den Atem an.
„Es ist von Rose. Sie schreibt, sie sei in Schwierigkeiten und brauche deine Hilfe. Sie wartet in einer Kutsche vor dem Haus, und du sollst sofort zu ihr kommen.“
„Natürlich“, erwiderte Lily. Ihr war leicht schwindelig. „Ich werde nur rasch Emm und Cal verständigen.“ Sie schaute sich suchend im Saal um, konnte jedoch keinen der beiden sehen.
Zögerlich legte Sylvia ihr eine Hand auf den Arm und flüsterte ihr diskret zu: „Ich will mich ja nicht einmischen, aber sie hat dir und nicht deinem Bruder oder dessen Frau die Nachricht zukommen lassen, Lily. Für mich klingt das so, als wollte sie nicht, dass sie es erfahren.“
„Oh, natürlich“, stimmte Lily nervös zu. Das sähe Rose ähnlich, etwas Unbesonnenes zu tun und es anschließend verhehlen zu wollen, vor allem gegenüber Cal. Was hatte sie bloß angestellt? Manchmal war Rose ein rechter Hitzkopf.
„Draußen habe ich eine goldblonde junge Dame in einer Kutsche sitzen sehen“, warf Mr. Nixon ein. „Bildschöne Frau. Könnte das Ihre Schwester gewesen sein?“
„Ja, ja, gewiss.“ Lily biss sich auf die Unterlippe. Dass Rose die Oper allein verlassen hatte, überraschte sie nicht im Mindesten. Ihre Schwester hatte immer schon nach ihren eigenen Regeln gelebt. Abermals ließ sie bang den Blick durch den Saal wandern. „Aber ich muss Bescheid sagen …“
„In Ermangelung Ihres Bruders erbiete ich mich gern, Sie hinauszugeleiten.“ Mr. Nixon bot ihr seinen Arm.
Sylvia nickte. „Geh und sieh nach, was Rose will. Und solltest du deinen Bruder oder dessen Frau benötigen, komm wieder herein und hole sie. Das dauert nur eine Minute.“
Lily zauderte. Sie sollte nicht mit diesem Mann hinausgehen, das war ihr bewusst. Andererseits war er Sylvias Cousin und damit im Grunde kein Fremder. Und ihre Schwester brauchte sie.
Erneut bot Mr. Nixon ihr seinen Arm. Ein letztes Mal sah sich Lily gequält im Saal um, ehe sie nickte. „In Ordnung.“ Sie legte ihm eine Hand auf den Arm.
„Haben Sie einen Umhang?“, erkundigte er sich, während er sie Richtung Ausgang führte.
„Wie bitte?“ Sie blickte ihn geistesabwesend an.
„Draußen ist es kalt, Ihre Schwester hat gezittert. Ich werde ihn für Sie holen.“ Er hastete auf die Garderobe zu.
Lily stürzte vor die Tür und rannte die Treppe hinab, nur um abrupt zu verharren. Auf der Straße reihte sich Kutsche an Kutsche. In welcher saß Rose? Sie zögerte und spürte, wie sie leicht schwankte. Der Schwindel nahm zu. Sie hätte etwas zu Abend essen sollen.
„Hier.“ Mr. Nixon legte ihr den Umhang über die nackten Schultern. Sie fröstelte. Er hatte recht. Draußen war es kalt. „Die Kutsche Ihrer Schwester steht dort drüben. Kommen Sie.“ Er führte sie um eine Ecke, hinter der eine einsame Kutsche wartete.
Er öffnete den Schlag. Im Innern herrschte bleierne Schwärze. „Rose?“ Lily spähte hinein. In der gegenüberliegenden Ecke saß zusammengekauert eine schattenhafte Gestalt. „Bist du das, Rose? Was ist denn nur …?“ Urplötzlich wurde sie von hinten gestoßen, sodass sie vornüber in die Kutsche fiel, und ehe sie sich besinnen konnte, wurde sie bei den Beinen gepackt und landete auf dem Kutschenboden.
Sie versuchte zu schreien, doch irgendwer packte sie grob am Kinn und stopfte ihr einen Lappen in den Mund, der sie zu ersticken drohte. Ein schweres Stück Stoff wurde ihr über den Kopf gestülpt. Sie schlug wild um sich, aber jemand hielt ihre Arme fest und legte ihr straffe Fesseln an. Sie konnte weder sehen noch sich regen. Zwei schwere Stiefel drückten sie auf den Boden nieder.
„Los!“, hörte sie Mr. Nixon rufen. Ruckelnd rollte die Kutsche an, und die Räder ratterten über das Kopfsteinpflaster.
Nichts geht verloren, das nicht gefunden werden kann, wenn man danach sucht.
Edmund Spenser, Die Feenkönigin
Du siehst hundeelend wahrlich, beschied Cal seine Frau.
„Du verstehst es wahrlich zu schmeicheln“, erwiderte Emm und lächelte trotz der Übelkeit, die sie jäh überkommen hatte. In ihrem gegenwärtigen Zustand reagierte sie überempfindlich auf Gerüche, und von der stickigen Luft im Saal, die nach heißem Kerzenwachs, penetranten Parfümen und Körperschweiß stank, wurde ihr regelrecht schlecht.
Cal legte ihr einen Arm um die Taille. „Selbst grünlich und schlaff bist du schön. Aber du solltest im Bett liegen, weshalb wir jetzt gehen werden.“ Er schaute sich um. „Wo steckt Lily?“ Er runzelte die Stirn. „Warte hier, ich werde sie suchen.“
Fürsorglich half er Emm, sich auf einem Stuhl niederzulassen, ein Glas Wasser in Reichweite, und bat die Countess of Maldon, eine von Emms ehemaligen Schülerinnen, bei ihr zu bleiben.
Er spähte in jedes Zimmer des Hauses und schickte gar eine Bekannte in den Damensalon, doch Lily blieb spurlos verschwunden.
„Vielleicht weiß Sylvia, wo sie ist“, schlug Emm vor, als er erfolglos zurückkehrte. „Ich glaube, sie hat sich mit Lily unterhalten, als wir nach draußen gegangen sind.“
„Sylvia?“
„Die Frau dort drüben. Hilf mir hoch.“ Cal gehorchte, und gemeinsam gingen sie zu Sylvia.
„Oh, ja, wir haben geplaudert“, erklärte Sylvia unverbindlich nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln, „doch das ist schon eine Weile her. Sie hat eine Nachricht erhalten, eine Botschaft von ihrer Schwester, soviel ich weiß.“
„Von Rose?“ Emm runzelte die Stirn. „Was für eine Nachricht?“
Sylvia schaute sie besorgt an. „Das weiß ich nicht. Aber sie wirkte ein wenig beunruhigt.“ Unsicher blickte sie sich um. „Vielleicht ist sie kurz hinausgegangen. Es ist ziemlich drückend hier drinnen, finden Sie nicht?“
„Könnte sie hinaus in den Garten gegangen sein?“ Emm wechselte einen Blick mit Cal.
„Ich werde nachsehen.“ Er verließ den Saal mit langen Schritten.
„Ich muss Ihnen noch zu Ihrer Hochzeit gratulieren, Lady Ashendon“, sagte Sylvia. „Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, seit wir alle an Miss Mallards Schule waren. Wie ich sehe, sind mehrere Ihrer ehemaligen Schülerinnen hier. Die kleine Sally Destry – heute ist sie eine Countess! Und Sie, auch Sie gehören inzwischen dem Hochadel an. Eine Heirat ändert alles, nicht wahr? Mein Leben hat sich jedenfalls gründlich geändert.“
Emm hörte ihr nicht zu. Sie ließ die Tür zum Garten nicht aus den Augen. Wenige Minuten darauf erschien Cal auf der Schwelle und schüttelte den Kopf.
„Sylvia, bist du sicher, dass sie hinaus in den Garten gegangen ist?“
Die Frage schien Sylvia zu überraschen. „Nein, ich habe nicht gesehen, wohin sie gegangen ist. Sie hat mit meinem Cousin geredet, und ehrlich gesagt kam ich mir überflüssig vor, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Mit Ihrem Cousin?“, hakte Cal nach.
„Ja, Mr. Victor Nixon. Er lebt in Frankreich und ist zu Besuch hier. Er und Lily haben miteinander geflirtet, und ich habe mich taktvoll entfernt, um die beiden in Ruhe zu lassen, wissen Sie? Dann jedoch erhielt sie diese Nachricht, und Victor und sie haben sich darüber unterhalten. Aber ich muss gestehen, dass ich nicht weiter auf die beiden geachtet habe. Ich hatte jemanden entdeckt, mit dem ich sprechen wollte, und, tja, dieser Saal ist dermaßen überfüllt, dass es unmöglich ist, irgendwen im Auge zu behalten, nicht wahr?“
„Wo ist Ihr Cousin jetzt?“, fragte Cal scharf.
Sylvia zuckte mit den Achseln. „Vermutlich in einem der Kartenspielzimmer. Dort endet er für gewöhnlich. Er ist unverbesserlich, aber da mein Gatte sich weigert, mich auszuführen, muss ich mit Victor vorliebnehmen.“
„Du glaubst doch nicht, dass sie ohne uns heimgegangen ist, oder?“ Emm sah Cal an. „Falls sie eine Nachricht von Rose erhalten hat und uns nicht finden konnte, ist sie womöglich allein aufgebrochen.“
Cal presste die Lippen aufeinander. „Es wäre nicht das erste Mal, dass sie und Rose allein durch die Nacht streifen. Verdammt, ich dachte, diese Dummheiten hätten wir hinter uns.“
„Ich auch“, erwiderte Emm. „Hast du den Butler befragt? Oder wer immer an der Tür steht?“
Er schüttelte den Kopf. „Gehen wir.“ Er nickte Sylvia knapp zu, fasste Emm am Arm und eilte auf den Ausgang zu.
Die Befragung des Butlers ergab, dass Lady Lily das Haus der Mainwarings in der Tat vor etwa zwanzig Minuten verlassen habe, in Begleitung eines hochgewachsenen jungen Herrn, der ihren Umhang geholt hätte.
Cal schickte einen Lakaien, seine Kutsche vorfahren zu lassen.
„Ich werde Rose erwürgen“, raunte er, während sie warteten. „Ich hatte geglaubt, sie hätte ihren Kapriolen abgeschworen.“
„Ich ebenfalls.“ Rose und ihren Eskapaden war es zu verdanken, dass Cal und Emm überhaupt geheiratet hatten. „Dennoch, wenn Rose in Schwierigkeiten steckt, verstehe ich nicht, weshalb Lily sich nicht an uns gewandt hat.“
„Ach, nein?“ Cal schaute sie grimmig an. „Lily ist ihr mit Haut und Haar ergeben. Was immer Rose im Schilde führt, Lily würde sie unter keinen Umständen verraten.“
Emm lächelte betrübt. Das stimmte. „Wo also ist sie deiner Meinung nach?“
Cal zuckte mit den Schultern. „Ich werde dich erst nach Hause bringen, und anschließend …“
„Oh, nein, es geht mir schon viel besser.“
Er schnaubte. „Sagt die Frau, die weiß wie ein Laken ist und so aussieht, als würde sie jeden Augenblick ihren Mageninhalt von sich geben.“ Er schlang ihr einen Arm um die Taille und fuhr sanfter fort: „Zuerst bringen wir dich heim, Liebste, damit du die Füße hochlegen und dich ausruhen kannst. Und sorge dich nicht um meine vermaledeiten Schwestern. Ich werde sie im Nu dingfest machen.“ Er sah ihr ins Gesicht und fügte hinzu: „Und wenn ich sie erwische, werde ich sie erdrosseln dafür, dass du ihretwegen umso mehr leidest.“
Geknebelt und in schweres Tuch gehüllt, lag Lily auf dem Boden der Kutsche. Sie konnte nichts erkennen. Das Atmen fiel ihr schwer. Schwindel überkam sie in Wellen, und eine seltsame Lethargie verstärkte ihre Angst und ihre Verwirrung. Sie versuchte, die Beine zu bewegen, doch es war, als hingen Gewichte daran.
Das Tuch, das sie bedeckte, roch modrig und nach Pferd. Eine Pferdedecke? Sie versuchte, sie fortzuschieben. „Du da, lieg still!“, blaffte ein Mann. Nicht Mr. Nixon; diese Stimme klang rau und ungehobelt. Etwas drückte ihr ins Genick – ein Fuß? Ihr Herz hämmerte heftig, und sie konnte so schon kaum atmen. Sollte er den Fuß noch fester in ihren Nacken stemmen …
Nach einem Augenblick hörte sie Mr. Nixon sagen: „Sachte. Mit gebrochenem Genick nützt sie mir nichts.“
„Hab nicht vor, ihr das Genick zu brechen.“
„Nein, aber eine Unebenheit oder ein Schlagloch, und dir rutscht der Fuß aus, und dann? Dann muss ich eine nutzlose Leiche entsorgen. Dafür habe ich dich nicht bezahlt.“
Eine Leiche? Die unmissverständliche Gleichgültigkeit, mit der die Männer sprachen, erschreckte sie, und ihr Herz pochte umso wilder.
Der Druck auf ihren Nacken ließ nach. Sie lag still, um Atem ringend. Sinnlose Fragen wirbelten ihr durch den Kopf. Was wollten diese Unholde von ihr? Offenbar hatte Sylvias Cousin Mr. Nixon das Sagen. Gehörte Sylvia dazu? Wusste sie, was gerade mit Lily geschah? Und wer war der andere Kerl? Allem Anschein nach irgendein ruppiger Mietling. Die drängendste Frage lautete indes, warum man sie entführt hatte. Zu welchem Zweck?
Und wieso fiel es ihr so schwer, ihre Gedanken zu ordnen? Hatte sie einen Schlag gegen den Kopf erhalten, dass ihr so schwindelig war und sie sich derart schwerfällig fühlte? Sie spürte in ihren Kopf hinein. Er tat nicht weh – zumindest nicht so, als hätte man sie geschlagen.
Sie hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund und das Gefühl, er wäre voller Spinnweben. Durch den vielen Stoff, der ihr in den Mund gestopft worden war, wurde ihr der Kiefer auseinandergezwungen, und allmählich schmerzte er. Ihre Zunge wurde von dem Stoff zur Seite und unangenehm gegen einen spitzen Zahn gepresst. Jedes Ruckeln und Holpern und Schlingern der Kutsche war qualvoll.
Was wollten sie von ihr? Hatten sie vor, sie zu ermorden? Nein, er hatte gesagt, eine Leiche nütze ihm nichts. Was dann? Ein Lösegeld? Sie erinnerte sich an etwas, das ihr Bruder Cal ihr und Rose vor einer halben Ewigkeit in Bath eingeschärft hatte, nachdem sie allein durch die Nacht gestreift waren. Etwas über Mädchen, die entführt und in eine Art Sklaverei verkauft wurden. Ja, das war es. Mädchenhandel – wisst ihr, was das bedeutet? Ihr hättet in einem türkischen Harem oder einem Bordell in irgendeiner schäbigen Stadt in der Fremde landen können. Um nie wieder aufzutauchen.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Steckte so etwas dahinter? Würde sie in einem türkischen Serail verschwinden und ihre Familie nie wiedersehen? Tränen quollen zwischen ihren fest zusammengepressten Lidern hervor.
Sie durfte nicht verzweifeln. Sie würde nicht verzweifeln. Sie musste dies hier durchstehen. Irgendwie. Als sie krampfhaft schluckte, musste sie sogleich gegen einen Würgereiz ankämpfen.
Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie auf dem kalten Kutschenboden lag, übermannt von Hilflosigkeit und Übelkeit, doch irgendwann merkte sie, dass das Gefährt langsamer wurde und hielt. Was jetzt? Sie blinzelte heftig, bemüht, langsam zu atmen, und zwang sich nachzudenken. Es war, als müsste sie sich durch dichten Nebel kämpfen.
„Wie viel von dem Zeug hast du ihr gegeben?“
Zeug? Was für Zeug?
„Nur ein bisschen, gerade genug, damit sie still ist. Eine größere Menge hätte sie geschmeckt.“
„Dann gib ihr lieber einen Nachschlag, bevor ich verschwinde.“
Sie klammerte sich an einen Gedanken, der aus dem Strudel ihrer Verwirrtheit auftauchte. Der Fruchtpunsch auf der Abendgesellschaft. Er musste mit etwas versetzt worden sein. Kein Wunder, dass sie benommen war.
Sie hörte, wie die Männer sich in der Kutsche zu schaffen machten und Dinge bewegten. Abrupt wurde sie bei den Schultern gepackt und hochgerissen, sodass sie aufrecht dasaß. Die Decke wurde ihr vom Gesicht genommen und der Knebel aus dem Mund gezogen. Sie schluckte und schnappte erleichtert nach Luft, doch bevor sie sich sammeln konnte, packte jemand sie bei den Haaren und zwang ihr unsanft den Kopf in den Nacken.
Grob schloss sich eine Hand um ihr Kinn, und der Hals einer kleinen Flasche wurde ihr zwischen die Lippen geschoben. Lily würgte und spuckte, als ihr eine abscheulich schmeckende Flüssigkeit den Rachen hinabrann. Sie wehrte sich mit all ihrer schwindenden Kraft, aber vergebens. Wer immer die Flasche hielt – sie konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht erkennen –, presste sie ihr rücksichtslos gegen die Zähne, während der andere ihr Haar umso fester umkrampfte und ihr den Kopf so weit nach hinten zerrte, dass sie fürchtete, er könnte ihr das Genick brechen.
„Gib acht, nicht zu viel. Eine tote Braut ist wertlos.“
Eine tote Braut? Eine Braut?
Die schauderhafte Flasche wurde fortgenommen, und Lily hustete, von Schwäche übermannt. Sie versuchte, sich zu wehren, aber es war, als würde sie durch Schlamm waten. Schwindel und Benommenheit nahmen zu.
„Gut. Sorg dafür, dass sie betäubt ist, bis du Schottland erreichst.“
Schottland?
Derbe Hände knebelten sie erneut mit dem Tuch, das noch feucht von ihrem Speichel war, aber wenigstens wurde es ihr diesmal nicht in den Mund gestopft, sondern nur umgebunden. Kleine Gnaden.
Sie lag auf dem Kutschenboden, während Nixon den anderen Mann bezahlte. Anschließend wurde sie hochgehoben und grob in etwas verstaut, das sich ausnahm wie … eine Kiste? Ein Sarg? Panik drohte sie zu übermannen. Sie atmete tief durch – so tief, wie das mit dem Knebel möglich war. Bleib ruhig, Lily. Kein Sarg. Einen Sarg hätte sie gesehen. Sie befanden sich nach wie vor in der Kutsche. Denk nach, Lily, denk nach.
Es war irgendein Behältnis – nein, der Stauraum unterhalb der Bank. Genau, der Raum, in dem Kissen, Decken und zusätzliches Gepäck gelagert werden konnten. Und entführte Frauen. Noch während diese Erkenntnis sie traf, wurde über ihr der Deckel geschlossen, und aus der Nacht, jenem grauenvollen Dunkel voller Schatten, wurde undurchdringliche Schwärze.
Langsam, aber beharrlich kämpfte sie sich durch den wabernden Nebel des Betäubungsmittels und setzte die Puzzleteile zusammen. Sie wurde nach Schottland gebracht. Als Braut.
„Spare dir deine Worte, Cal, ich werde nicht hinaufgehen und schlafen – nicht, solange Lily und Rose vermisst werden! Ich könnte ohnehin kein Auge zutun.“
„Aber …“
„Ich werde unten warten, bis du alle drei Mädchen wohlbehalten zurückbringst – denn wenn Rose und Lily etwas aushecken, kannst du dich darauf verlassen, dass George mit von der Partie ist. Ich werde es mir hier im vorderen Salon auf der Chaiselongue bequem machen und die Beine hochlegen. Hör auf, so ein Gewese um mich zu machen, Liebling – geh und finde Lily!“
„Also schön, aber läute, wenn du etwas brauchst …“
„Geh! Ich fühle mich blendend, abgesehen von meiner Sorge um Lily.“