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Sie soll einen adeligen Ehemann für die unschuldige Lucy finden? Die verwitwete Lady Alice ist ratlos. Nach ihrer eigenen unglücklichen Ehe kann sie keiner jungen Frau guten Gewissens empfehlen, den Bund fürs Leben zu schließen. Verzweifelt bittet Alice ihren jungen Neffen Gerald, Viscount Thorton, sich nach geeigneten Kandidaten umzusehen. Doch der umschwärmte Frauenheld präsentiert der heiratsunwilligen Lucy einen unzumutbaren Gentleman nach dem anderen! Allmählich fragt sich Lady Alice, ob sich hinter seinen harmlosen Flirts mit Lucy ernstere Absichten verbergen. Noch verwirrender wird die Lage, als Gerald ihr seinen Freund Lord Tarrant vorstellt, einen charmanten Helden und Witwer mit drei entzückenden kleinen Töchtern …
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Seitenzahl: 534
IMPRESSUM
HISTORICAL GOLD EXTRA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2021 by Anne Gracie Originaltitel: „The Scoundrel’s Daughter“ This edition is published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLD EXTRA, Band 153 08/2023 Übersetzung: Andrea Härtel
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751517928
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Er lag fantastisch im Rennen. Gerald Paton, Viscount Thornton, warf einen Blick zurück und grinste. Keine Spur von Brexton, seinem Konkurrenten. Sein Gespann verringerte kaum die Geschwindigkeit, als es die schmale Brücke mit den niedrigen Seitenmauern und die anschließende Kurve passierte. Es waren herrliche Tiere, die das viele Geld, das er für sie ausgegeben hatte, absolut wert waren.
Er zog seine Uhr hervor, klappte den Deckel auf und prüfte die Zeit. Dreieinhalb Stunden. Er würde nicht nur das Rennen und die zweihundert Guineas gewinnen, sondern vielleicht sogar den Rekord des Prince Regent brechen … Was zum Teufel?
Eine große weiße Gans stand mitten auf der Straße. Fluchend zog er die Zügel an. Seine Pferde wurden sofort langsamer, trotzdem sah es so aus, als würde der verdammte Vogel den nächsten Tag nicht mehr erleben. Um die Gans war es nicht sonderlich schade, aber seine Pferde würden es sicher schrecklich finden, über sie hinwegzupreschen.
Ein Mädchen rannte auf die Straße und hob den Vogel auf. Und blieb dann einfach stehen und sah ihm entgegen.
„Aus dem Weg!“, brüllte er.
Sie rührte sich nicht von der Stelle, hielt die Gans im Arm und sah ihn trotzig an.
Er zog die Zügel noch straffer an und stieg auf die Bremse. Das Gefährt schwenkte nach links aus. Staub wirbelte auf, die Gans schlug schnatternd mit den Flügeln, und seine Pferde scheuten und schnaubten. Die Wagenräder streiften die Mauer des nächststehenden Hauses und kamen nur wenige Zentimeter vor dem verdammten Mädchen mit seiner Gans zum Stehen.
„Gehen Sie von der Straße, verflucht noch mal!“, rief er zornig. „Begreifen Sie denn nicht, Sie törichte Frau, dass Sie jetzt tot sein könnten?“
„Doch, und wessen Schuld wäre das dann gewesen?“, konterte sie wütend. „Sie hatten gar nicht erst vor, zu bremsen, nicht wahr?“
„Unsinn. Ich bin sofort langsamer gefahren. Und wenn der verdammte Vogel nur einen Funken Verstand besäße, wäre er weggeflogen …“
„Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Das ist unser Dorf. Sie haben kein Recht, hier in so halsbrecherischem Tempo zu fahren. Wenn nun ein Kind auf die Straße gelaufen wäre, was dann? Hätten Sie es genauso bereitwillig überfahren?“
„Natürlich nicht! Es ist doch ganz offensichtlich, dass ich gebremst habe, sogar für diese dämliche Gans! Und jetzt – aus dem Weg!“
„Beleidigen Sie Ghislaine nicht.“
Ghislaine? Ein lächerlicher Name für eine Bedienstete, ein Bauernmädchen oder was sie sonst sein mochte. „Verdammt, Ghislaine, lassen Sie mich vorbei. Ich befinde mich mitten in einem Rennen.“ Schon konnte er die anderen Pferde hinter sich näher kommen hören.
„Ich pfeife auf Ihr albernes Rennen. Und Ghislaine heißt die Gans. Sie ist eine ganz besondere Gans, nicht wahr, Ghislaine?“ Sie kraulte der Gans liebevoll den Hals und sprach beruhigend auf sie ein.
„Es ist mir egal, was für eine Gans dieser Vogel oder Sie selbst sind!“, brüllte er. „Gehen Sie von der Straße und lassen Sie mich vorbei!“
Aber es war bereits zu spät. Brexton überholte ihn so knapp, dass seine Wagenräder fast die von Gerald streiften. „Flirtest du mit hübschen Dorfmädchen, Thornton? Dumm von dir. Wir sehen uns in Brighton!“, rief Brexton lachend im Vorbeifahren und war schon bald nicht mehr zu sehen.
Es war ein gekonntes Überholmanöver gewesen, wie Gerald eingestehen musste, und das verschlechterte seine Laune noch mehr. „Jetzt sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben!“, fuhr er die junge Frau an.
Sie schlenderte gemächlich davon. „Puh, so viel Aufhebens nur wegen eines albernen Rennens? Männer wie Sie sind einfach …“
Den Rest wollte Gerald sich nicht mehr anhören. Er schnalzte mit den Zügeln, und sein Gefährt setzte sich in Bewegung.
Lucy Bamber ging zurück zum Haus der Comtesse. Bei der Erinnerung an den entrüsteten Gesichtsausdruck des Mannes musste sie lächeln. „Dem haben wir es aber gezeigt, nicht wahr, Ghislaine?“ Sie hatte die Nase randvoll von Männern, vor allem von den arroganten Adeligen, die glaubten, sie regierten die Welt. Bei der Comtesse hatte sie genug von denen kennengelernt.
Sie bog um die Ecke und blieb wie angewurzelt stehen. Eine verstaubte Reisekutsche stand vor dem Haus der Comtesse. Noch einer! Ihr erster Impuls war, sich zu verstecken, bis, wer auch immer das sein mochte, wieder abgereist war, doch dann dachte sie nach. Die Besucher der Comtesse blieben manchmal tagelang; dann brauchte die Comtesse sie entweder als ma charmante invitée – mein reizender Gast – oder als Bedienstete, je nachdem, was die alte Dame gerade für angebracht hielt. So wie Lucy im Moment aussah, mit ihrem alten Kleid, der Schürze und der völlig aufgelösten Frisur, wies alles eher auf die Bedienstete hin.
Das bedeutete, dass sie sich während des gesamten Aufenthalts des Besuchers gegen allzu aufdringliche Hände wehren musste. Wenn sie den „reizenden Gast“ spielte, war das nicht viel anders, nur gingen dann die aufdringlichen Hände etwas subtiler vor. Vornehme Gentlemen – sie verabscheute sie alle.
Lucy öffnete das Tor und setzte Ghislaine auf den Boden. Sie nahm die Schürze ab, klopfte den Staub aus ihrem Kleid, entfernte ein oder zwei Gänsefedern und fasste ihr Haar zu einem ordentlichen Knoten zusammen, ehe sie das Haus betrat. Die Tür zum Salon stand offen, und Lucy blieb stehen, um einen Blick hineinzuwerfen. „Est-ce toi, Lucille?“, rief die Comtesse. „Viens ici.“ Oje. Die alte Dame war wieder einmal schlecht gelaunt.
Lucy gehorchte widerstrebend. Ein Gentleman stand mit dem Rücken zur Tür vor dem Kamin. Die Comtesse lag auf der Chaiselongue und presste ein parfumgetränktes Taschentuch – Lucy konnte es schon von Weitem riechen – an ihre Stirn. Kein gutes Zeichen.
Der Gentleman drehte sich um, und Lucy sperrte den Mund auf. „Papa?“ Sie hatte ihn seit über einem Jahr nicht gesehen und auch nichts von ihm gehört.
Er sagte eine Weile gar nichts und betrachtete sie nur stirnrunzelnd von Kopf bis Fuß, als missbilligte er ihr Aussehen. Dann schürzte er die Lippen und nickte knapp. „Es wird Zeit, dass du heiratest, Lucy. Pack deine Sachen, wir reisen ab.“
London, 1818
Endlich hatte sie eine Verwendung für den Tafelaufsatz gefunden.
Alice, Lady Charlton – die verwitwete Lady Charlton, obwohl sie das noch nicht sehr lange war und auch nicht die Vorteile einer sonstigen Witwenschaft genoss – rieb zufrieden ein letztes Mal über den großen silbernen Tafelaufsatz, der zwar ausgesprochen hässlich, aber ziemlich wertvoll war. Sie hatte ihn immer gehasst, nicht nur weil er so hässlich war, sondern weil sie ihn von ihrer Schwägerin Almeria, die von Anfang an gegen Alice gewesen war, zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte. Er war, so glaubte Alice, das hässlichste, aber ausreichend wertvolle Geschenk gewesen, das Almeria hatte auftreiben können.
Jetzt hatte Alice vor, das schreckliche Ding zu verkaufen; ein passender Schlussstrich unter all ihre Sorgen. Achtzehn Monate nach dem Tod ihres Mannes Thaddeus war der Berg seiner Schulden weitgehend abgebaut, endlich! Alice hatte fast alles im Haus zu Geld gemacht, um sie bezahlen zu können, und nun war sie hoffnungsvoll, sogar beinahe glücklich. Wie es wohl sein mochte, ohne Verpflichtungen zu leben? Selbst zu entscheiden, ob sie den Erwartungen anderer gerecht werden wollte oder nicht?
Das hatte sie in den letzten achtzehn Jahren erfolglos zu tun versucht. Länger noch, eigentlich ihr ganzes Leben lang. Sie wusste nicht genau, was für ein Leben sie sich wünschte – doch, natürlich wusste sie das, aber Gott hatte ihr dieses Glück verweigert – nun jedoch musste sie nach vorn blicken und entscheiden, wie sie leben wollte. Wenigstens war sie abgesichert und hatte ein Zuhause, dank Granny, die ihr dieses Haus in London hinterlassen hatte.
Eine Bewegung in der offenen Tür ließ sie sich umdrehen. „Ja, Tweed, was ist?“
Der gequälte Blick des alten Butlers auf ihre Schürze und die fleckigen alten Handschuhe verriet seine tiefste Missbilligung. „Mylady, Mylady, Sie sollten sich wirklich nicht mit solch niederen Tätigkeiten abgeben. Silber zu putzen, ist eine schmutzige Angelegenheit.“
„Das ist es in der Tat“, stimmte sie fröhlich zu. Diese Diskussion hatten sie schon öfter gehabt, aber in der Not fraß der Teufel eben Fliegen. „Und ich bin froh, dass ich soeben damit fertig geworden bin.“ Sie stellte den Tafelaufsatz zu dem restlichen Silber, das sie verkaufen wollte, und lehnte sich zurück. „Wollten Sie etwas von mir, Tweed?“
„Da ist eine Person an der Tür, Mylady, die darauf beharrt, mit Ihnen sprechen zu wollen.“
Alice runzelte die Stirn. „Eine Person? Die auf etwas beharrt?“ Was Besuch anging, verfügte Tweed über ein sorgfältig aus Worten und Tonfall abgestimmtes Vokabular. Eine „Person“ stand ganz weit unten auf seiner Liste, die Art von Besuchern, die er für gewöhnlich sofort wieder wegschickte. „Haben Sie mich denn nicht verleugnet?“
Tweed machte ein leicht schuldbewusstes Gesicht. „Es ist das dritte Mal, dass dieser Mensch hier erscheint.“ Er reichte ihr ein Silbertablett mit einer Karte darauf. „Ein gewisser Octavius Bamber, Mylady.“
Sie griff nach der Karte. Octavius Bamber? Den Namen hatte sie noch nie gehört. „Doch nicht etwa ein weiterer Schuldeneintreiber?“ Sie hatte gehofft, keinen davon mehr zu Gesicht zu bekommen. Aber nein, Tweed wusste, dass er Gläubiger zum Verwalter ihres verstorbenen Ehemanns zu schicken hatte.
„Nein – zumindest glaube ich das nicht. Aber da ist etwas …“ Er zögerte. „Er ist kein Gentleman, Mylady, aber er hat etwas gesagt, das mich ein wenig beunruhigt. Ich denke, es wäre klug von Ihnen, sich anzuhören, was er zu sagen hat.“
Tweed hatte im Allgemeinen einen sehr guten Instinkt. Er war eine Ewigkeit Grannys Butler gewesen und kannte Alice seit ihrer Geburt. Wenn er fand, sie sollte diesen Mann empfangen – nachdem sie sich zweimal hatte verleugnen lassen –, dann würde sie das auch tun. „Also gut, ich spreche im vorderen Salon mit ihm.“ Sie zog die Handschuhe aus, nahm die Schürze ab und strich ordnend über ihre Frisur, ehe sie nach unten ging.
Sie trat leise in den Salon und blieb verblüfft stehen. Octavius Bamber wandte ihr den Rücken zu und begutachtete die Einrichtung des Salons wie ein … wie ein Gerichtsvollzieher. Oder ein Gläubiger. Er nahm Gegenstände hoch, prüfte sie, stellte sie wieder ab und ging weiter, als hätte er alles Recht der Welt, in ihrem Eigentum herumzuschnüffeln. Er betrachtete die Signatur auf einem ihrer Gemälde und kratzte an dem kunstvoll gearbeiteten Goldrahmen, als wolle er die Qualität des Goldes testen.
Sie räusperte sich, und er drehte sich um. Er bedachte sie mit dem gleichen abschätzenden Blick wie ihr Hab und Gut, als berechnete er ihren Wert. Eine verwitwete Countess mit leichten Gebrauchsspuren, nicht besonders hübsch. Sie nahm eine steife Haltung an.
„Ah, Lady Charlton, Sie lassen sich also endlich dazu herab, mich zu empfangen.“ Es schien ihm gar nicht peinlich zu sein, dass sie ihn beim Schnüffeln ertappt hatte. Er stellte die Jadefigur hin, die er gerade inspiziert hatte, kam auf Alice zu und streckte die Hand aus. „Das wurde aber auch Zeit. Octavius Bamber, zu Ihren Diensten.“
Alice ignorierte seine Hand und nickte nur knapp. Damen begrüßten nicht mit einem Händedruck, schon gar nicht unbekannte Gentlemen, und dieser Mann regte sie jetzt schon auf.
Wer war er und was mochte er von ihr wollen? Sie hatte ihn noch nie im Leben gesehen. Er war mittelgroß, vermutlich Ende vierzig und teuer, wenn auch nicht besonders geschmackvoll gekleidet – enge Hose, Weste mit Blumenmuster, Rüschenhemd und eng anliegender flaschengrüner Gehrock. Ein paar bunte Anhänger baumelten an seiner goldenen Uhrkette, und er trug mehrere protzige Ringe an den Fingern. Sein schütter werdendes graues Haar war gewollt und kunstvoll gekräuselt, und er roch nach Pomade.
„Leuten wie mir geben Sie wohl nicht gern die Hand, wie?“ Er zuckte die Achseln. „Das stört mich nicht. Ich habe nichts gegen ein bisschen Hochnäsigkeit – bei einem wahren Aristokraten, heißt das. Und Sie sind ja eine echte Aristokratin, nicht wahr, Mylady? Witwe eines Earl und Enkelin eines anderen.“
Alice antwortete nicht darauf. Er kannte offenbar ihren Hintergrund, aber das alles ging ihn nichts an, und, abgesehen davon, war es auch nicht von Bedeutung.
Unaufgefordert setzte er sich mitten auf das Sofa, streckte die Beine aus und legte die Arme entspannt auf die Rückenlehne. Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. „Wie ich sehe, haben Sie noch nicht alles von Ihren hübschen Kinkerlitzchen verkauft. Was glauben Sie, wie lange dauert es wohl noch, bis Ihnen das Geld ausgeht?“
Sie ging nicht auf seine Unverschämtheit ein und fragte stattdessen spitz: „Der Grund für Ihren Besuch, Sir?“
Zu ihrer Überraschung lachte er. „Sie kommen gern direkt zur Sache, wie, Mylady? Nun, dagegen habe ich nichts, und auch nicht dagegen, wie Sie mich von oben herab behandeln. Das wird sich bald ändern. Sie werden mir sogar dankbar sein, dass ich gekommen bin.“ Er bedachte sie mit einem wissenden Lächeln, das sich aber rasch abkühlte. „Ich muss über etwas Geschäftliches mit Ihnen reden.“
„Wenn es um Geschäftliches geht, wenden Sie sich an den Verwalter meines verstorbenen Manns.“
„Oh, es handelt sich nicht um diese Art von Geschäft, Mylady. Das hier ist eher …“, sein Lächeln vertiefte sich, „… privater Natur.“
„Dann kommen Sie schnell zur Sache, damit wir das Ganze beenden können.“ Sie hoffte, dass man ihr ihre Nervosität nicht anmerkte. Nach achtzehn Monaten hatte sie geglaubt, mit dem Chaos abgeschlossen zu haben, das Thaddeus ihr nach seinem Tod hinterlassen hatte. Das war offenbar nicht der Fall.
Er holte einen dicken Stapel zusammengefalteter und mit einem braunen Band verschnürter Briefe hervor, den er auf den niedrigen Tisch zwischen ihnen legte, bevor er sich selbstzufrieden lächelnd zurücklehnte.
Alice runzelte die Stirn. „Was ist das?“ Nach Rechnungen sah das nicht aus.
„Sie wissen ganz genau, was das ist. Das sind Briefe von Ihrem Mann.“
Sie zuckte gespielt gleichgültig die Achseln. „Mein Mann hat viele Briefe geschrieben.“
„Aber das hier sind Liebesbriefe. An Mrs. Jennings.“
Ein kalter Schauer lief Alice über den Rücken. „An wen?“, brachte sie hervor.
Doch Bamber ließ sich nicht täuschen. „Kommen Sie, Mylady, Sie brauchen nicht so zu tun, als würden Sie den Namen der Geliebten Ihres Mannes nicht kennen. Er war ihr wirklich treu ergeben, seit mehr als zwanzig Jahren, wie diese Briefe beweisen.“
Zwanzig Jahre; länger als ihre Ehe gedauert hatte.
Er fuhr fort. „Den letzten hat er nur wenige Tage vor seinem Tod geschrieben.“ Er warf ihr den wissenden Blick von Leuten zu, die genau wussten, wo, wie und in wessen Bett ihr Mann gestorben war. Ihr Schwager Edmund, der neue Earl, hatte versucht, die Sache zu vertuschen, aber Alice sah es Menschen gewöhnlich an, wenn sie Bescheid wussten.
Bamber beugte sich nach vorn, löste das Band und blätterte die Briefe durch, bis er schließlich einen aus dem Stapel zog. „Hier ist einer der älteren Briefe, lesen Sie. Sie werden darin erwähnt, in vielen Briefen, übrigens. Vielleicht weckt er ja Erinnerungen.“ Er hielt ihr den Brief hin.
Alice wollte das verfluchte Ding nicht anfassen, sondern es am liebsten zusammen mit den anderen ungelesen ins Kaminfeuer werfen, aber das dumme, selbstzerstörerische Bedürfnis, zu wissen und das Messer in der Wunde zu drehen, war stärker. Mit nervösen Fingern nahm sie den Brief entgegen und faltete ihn langsam auf. Das war Thaddeus’ Handschrift, kühne, große Buchstaben. Einzelne Sätze stachen ihr ins Auge … meine langweilige jungfräuliche Braut … kalt wie ein Fisch und genauso reizvoll …
Bittere Galle stieg in ihrer Kehle auf. O Gott, das war eine Beschreibung ihrer Hochzeitsnacht, in allen schrecklichen Einzelheiten. Er machte sich über sie lustig. Er scherzte mit seiner Geliebten über die Dummheit und Unerfahrenheit seiner Braut. Sie knüllte den Brief zusammen. „Woher …“
Bamber legte ihr einen anderen Brief vor. Dann noch einen und noch einen, immer nur gerade so lange, dass sie einen flüchtigen, erschrockenen Blick auf den Inhalt werfen konnte, ehe er einen weiteren Brief auf den schnell wachsenden Stapel legte.
Boshafte, raffinierte, spöttische Bemerkungen, die ihr tief unter die Haut gingen; jeder weitere Brief riss ihre Wunden noch weiter auf. Die schmerzhaftesten, demütigendsten Augenblicke ihres Lebens, schwarz auf weiß für die Allgemeinheit festgehalten in Thaddeus’ unverwechselbarer, zynischer Ausdrucksweise. Der Stapel wurde immer höher, bis sie seinen Anblick nicht mehr ertragen konnte und ihn wegschob. Angeekelt lehnte sie sich zurück. „Woher haben Sie die?“, fragte sie mit erstickter Stimme.
„Ich habe sie von der Dame selbst gekauft. Sie haben mich eine Stange Geld gekostet.“
Alice schwieg. Sie war wie betäubt vor Entsetzen und Abscheu.
„Er hatte eine ganz eigene Art, sich auszudrücken, Ihr Ehemann.“ Bamber betrachtete sie nachdenklich. „Wie er ins Detail geht … ziemlich konkret. Pikant.“
Alice schluckte. Das konnte sie sich durchaus vorstellen.
Er klopfte munter auf den Briefstapel. „Ein scheußlicher Kerl, nicht wahr?“
Angewidert sah Alice auf den immer noch dicken restlichen Stapel unter Bambers fleischiger Hand. Noch so viele ungelesene Briefe … Thaddeus’ Meinung von ihr war mit der Zeit nur noch schlechter geworden. „Was wollen Sie?“ Geld, das stand fest, die Frage war nur, wie viel. Sie würde ihr Haus nun doch verkaufen müssen.
Er nickte und lächelte, als freute er sich über ihre Direktheit. „Ich möchte, dass Sie meine Tochter einführen.“
Das war so weit entfernt von allem, was sie eigentlich erwartet hatte, dass Alice einen Moment brauchte, den Sinn seiner Worte zu erfassen. „Einführen? Wohin?“
„In die gehobene Gesellschaft natürlich. Sie führen sie in die Gesellschaft ein, gehen mit ihr zu Bällen und stellen sie all den feinen Pinkeln vor.“
Alice starrte ihn verständnislos an. „Warum?“
„Ich möchte, dass sie einen Adeligen heiratet.“
„Wen genau?“
„Das ist mir egal, Hauptsache er ist von Adel. Ich möchte gern, dass mein Enkel einmal einen Titel trägt. Lucy ist keine Schönheit, aber hübsch genug, und unter Ihren Fittichen …“ Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und sah sie selbstzufrieden an.
Alice schüttelte benommen den Kopf, gleichzeitig überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf. Der Mann hatte ja keine Ahnung, was er da verlangte. „Es tut mir leid, aber …“
„Ich bin mir sicher, die Gesellschaft würde diese Briefe liebend gern lesen, Lady Charlton“, fiel er ihr mit samtweicher Stimme ins Wort. „Wenn ich sie veröffentliche, könnte ich eine Menge Geld damit verdienen. Sie sind ziemlich schlüpfrig, nicht nur dann, wenn er Mrs. Jennings’ zahlreiche Vorzüge schildert. Auch über Sie schreibt er sehr viel, nicht ganz so pikant, aber dennoch ebenfalls äußerst … faszinierend.“
Alice musste gegen Übelkeit ankämpfen.
Bamber fuhr fort. „Ihr Mann hat seine Geliebte ziemlich wohlsituiert zurückgelassen, nicht wahr?“ Er sah sich vielsagend im Zimmer um. „Sie muss ihre Gemälde und hübschen Kinkerlitzchen nicht verkaufen. Sie brauchte das Geld nicht und hatte nicht vor, die Briefe zu verkaufen … bis ich die Möglichkeit erwähnte, sie zu veröffentlichen. Da wurde sie dann doch recht aufgeregt.“ Er ließ Alice Zeit, das zu verdauen. „Sie hat Sie ziemlich auf dem Kieker, nicht wahr, Mylady?“
Das stimmte. Mrs. Jennings war die Tochter eines Fleischers und die Witwe eines Steinmetzen. Thaddeus hatte seine schöne Geliebte heiraten wollen, aber sein Vater, der alte Earl, hatte das strikt abgelehnt und ihn vor die Wahl gestellt – entweder er heiratete in den Adel ein, ein unschuldiges junges Mädchen, das ihm einen Erben schenkte, oder er würde Thaddeus den Geldhahn endgültig zudrehen.
Thaddeus hatte seine schöne Geliebte zwar geliebt, aber Geld liebte er noch mehr. Und deswegen hatte Mrs. Jennings Alice immer gehasst.
Ihr Mann hat seine Geliebte ziemlich wohlsituiert zurückgelassen. Unterdessen hatte sich Thaddeus’ rechtmäßige Ehefrau mit seinen Schulden, dem Ergebnis seiner finanziellen Verantwortungslosigkeit, abplagen müssen. Mehrere Male war Alice kurz vor dem Ruin gewesen, aber sie hatte sich immer wieder irgendwie zu helfen gewusst oder etwas gefunden, das sie verkaufen konnte. Und jetzt war sie endlich fast schuldenfrei.
Doch nun spielte das alles keine Rolle mehr. Dieser schreckliche Mann und sein Stapel bösartiger Briefe würde sie auf ganz andere Weise in den Ruin stürzen.
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie nachdenklich. „Wie Ihre feinen adeligen Freunde es genießen würden, all diese Briefe zu lesen; all diese faszinierenden, intimen und ausführlichen Einzelheiten.“
Ihr Magen zog sich zusammen. Ja, das würden sie. Unweigerlich. Sie würde niemandem mehr in die Augen sehen können, nie wieder.
„Wenn Sie jedoch einwilligen, meine Tochter in die Gesellschaft einzuführen und ihr zu helfen, einen Adeligen zum Heiraten zu finden, dann braucht niemand davon zu erfahren.“
Alice stockte der Atem. Konnte er das ernst meinen? Ihr einfach die Briefe auszuhändigen und sie nicht zu veröffentlichen? „Was wollen Sie damit sagen?“
„An dem Tag, an dem meine Tochter einen Adeligen heiratet, gebe ich Ihnen diese Briefe. Sie können sie dann verbrennen und mit ihnen machen, was Sie wollen.“
Sie verließ wieder der Mut. Sie wollte die Briefe haben, unbedingt, aber was er von ihr verlangte, war beim besten Willen unmöglich. Gerade wollte sie ihm erklären, warum, da verschlugen ihr seine nächsten Worte die Sprache.
„Ich weiß, es ist sehr teuer, eine junge Dame in die Gesellschaft einzuführen, daher werde ich für alle Unkosten aufkommen.“ Er zog ein dickes Bündel Geldscheine aus seiner Tasche und legte es auf den Tisch. „Das ist für ihre Unterkunft und Verpflegung.“ Er legte ein weiteres Bündel darauf. „Das ist für ihre Kleider – angefertigt natürlich nur von einer erstklassigen Schneiderin. Das besondere Kleid für die Einführung bei Hofe …“
Eine Einführung bei Hofe? Das wurden nur die Mädchen von edelstem Geblüt. „Das ist völlig ausgeschl…“
„Das hier ist für Schuhe, Fächer, Schultertücher und was eine Dame sonst noch braucht.“ Noch mehr Geldscheine. „Und natürlich komme ich für Ihre eigenen Ausgaben auf.“ Mit einem geringschätzigen Blick auf ihr Kleid, legte er das letzte Geldbündel auf den Tisch. „Schließlich soll die Gönnerin meiner Tochter ja nicht schäbig aussehen, nicht wahr?“
Alice starrte auf den Tisch. Noch nie im Leben hatte sie so viel Geld gesehen. Doch was er verlangte, war völlig absurd. „Wie ich schon sagte …“
„Sobald sie verheiratet ist, bekommen Sie außer den Briefen natürlich noch einen Bonus von mir, je nachdem … Wissen Sie, ich will einen echten Lord. Ein Duke wäre noch besser, aber von denen gibt es nicht so viele, also gebe ich mich auch mit einem niedrigeren Titel zufrieden, aber auf keinen Fall niedriger als ein Baronet. Mein Enkel wird einen Titel tragen, so oder so.“ Er sah sie selbstzufrieden an. „Das hat Ihnen die Augen geöffnet, nicht wahr, Mylady?“
Das konnte Alice nicht abstreiten, aber er hörte sich an, als könne man einfach so einen Adeligen kaufen, wie Gemüse auf einem Markt. „Mr. Bamber, selbst wenn ich einwilligen würde – so funktioniert die Gesellschaft nicht.“
Er schnaubte. „Aber natürlich tut sie das. Geld überzeugt die feinen Pinkel genau wie jeden anderen.“
Alice betrachtete wehmütig die vielen Geldbündel. Was für eine Ironie des Schicksals – da hatte sie nach Thaddeus’ Tod so verzweifelt knausern und sparen müssen, und nun musste sie einen riesigen Geldbetrag zurückweisen. Aber das Geld war nicht alles, die Briefe waren jetzt das einzig Wichtige für sie, und sie hätte beinahe alles getan, um sie zu bekommen. Er jedoch hatte keine Ahnung, was er da verlangte.
Wie konnte sie ihm das nur verständlich machen? Die Londoner Gesellschaft war absolut exklusiv, ihre Mitglieder taten alles, damit das auch so blieb. Der Zutritt zu den höchsten Kreisen wurde Menschen mit Vermögen nicht einfach so gestattet – es ging einzig und allein um Geburt und Abstammung. Um Beziehungen. Um Dazugehörigkeit. Die Tochter eines armen Vikars von adeliger Abstammung war willkommen, die Tochter eines reichen Mannes ohne besonderen familiären Hintergrund hingegen nicht. Es gab Hunderte von unausgesprochenen Regeln, die vor allem dazu dienten, Leute wie diesen Mann und seine Tochter aus ihren Kreisen auszuschließen.
„Es tut mir leid“, sagte sie. „Aber es ist einfach nicht möglich.“
Sein jovialer Tonfall wurde kalt. „Ich denke, Sie werden einsehen, dass es absolut möglich ist, ja, sogar wünschenswert. Das heißt, wenn Sie sich je wieder mit erhobenem Kopf in der Gesellschaft bewegen wollen.“ Er verschnürte die Briefe wieder und steckte sie zurück in seine Tasche. Er zeigte auf den Brief, den sie noch immer zerknüllt in der Hand hielt. „Den können Sie behalten, als kleine Erinnerung daran, was für Sie auf dem Spiel steht.“
Sie wusste, damit besiegelte sie ihren Ruin, dennoch zwang sie sich zu einer Erklärung. „In der Gesellschaft – ich meine, in den Kreisen, in denen ich mich bewege – kennt jeder jeden, weiß jeder alles über den anderen. Normalerweise ist es die Mutter, Großmutter, Tante oder eine andere Verwandte, die eine junge Dame in die Gesellschaft einführt. Wie soll ich das plötzliche Auftreten Ihrer Tochter erklären?“
Er zuckte die Achseln. „Sagen Sie, sie wäre eine entfernte Cousine.“
Sie dachte kurz darüber nach und schüttelte dann den Kopf. „Nein, das würde nicht funktionieren.“ Er wollte widersprechen, doch sie fuhr bereits fort. „Meine eigenen Eltern waren arm, doch meine Abstammung kann auf beiden Seiten bis zu William dem Eroberer zurückverfolgt werden. Als Konsequenz daraus bin ich mit der einen Hälfte der Gesellschaft verwandt und mein verstorbener Mann mit der anderen Hälfte. Behaupte ich nun, mit Ihrer Tochter verwandt zu sein, macht sich gleich mindestens ein Dutzend älterer Damen daran, unsere Abstammung unter die Lupe zu nehmen, um herauszufinden, wie genau wir miteinander verwandt sind. Sie würden sie sofort als Betrügerin entlarven.“ Und damit würden seine Tochter und sie selbst in Ungnade fallen.
Allerdings nicht so folgenschwer wie in dem Fall, dass diese Briefe publik wurden.
Stirnrunzelnd stand er auf und ging im Zimmer auf und ab. Alice beobachtete ihn und nagte an ihrer Unterlippe. Sie musste unbedingt diese Briefe bekommen! Ihr Blick fiel auf den Schürhaken neben dem Kamin, und ihr kam kurz ein ganz verrückter Gedanke. Aber nein, das konnte sie nicht tun.
Er blieb stehen, betrachtete eingehend eine Schäferin aus Porzellan und drehte sich dann mit triumphierender Miene wieder zu Alice um. „Dann sagen Sie ihnen, sie wäre Ihr Patenkind!“
Alice starrte ihn an. „Aber das ist sie nicht!“
„Das brauchen die alten Schachteln ja nicht zu wissen.“
Sie dachte eine Weile nach und schüttelte schließlich bedauernd den Kopf. „Auch das würde nicht funktionieren. Ich bin eine schrecklich schlechte Lügnerin.“ Das stimmte sogar, und er schien ihr das anzusehen.
Schweigend und mit zusammengekniffenen Augen grübelte er über das Problem nach. Plötzlich hellte seine Miene sich auf, und er schnippte mit den Fingern. „Dann sorgen wir dafür, dass es keine Lüge ist.“
Alice zuckte zusammen. „Und wie?“
„Wir lassen sie taufen, und Sie werden ihre Patentante.“
„Sie ist nie getauft worden?“
Er zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Solche Dinge habe ich immer ihrer Mutter überlassen, Gott hab sie selig. Doch selbst wenn, so gibt es keinen Beweis dafür.“ Er nahm die Geldbündel und mischte sie wie ein Kartenspiel. „So, meine feine Dame, sagen Sie jetzt Ja? Oder stecke ich mein Geld wieder ein und lasse die Gesellschaft wegen der Briefe geifern und kichern?“
Seine eiskalte Skrupellosigkeit erschreckte sie. Konnte dieser verrückte Plan vielleicht aufgehen? Seine Worte brannten wie eine ätzende Säure in ihrem Innern. Ich lasse die Gesellschaft geifern und kichern. Hatte sie überhaupt eine Wahl? In der Hoffnung, sich damit etwas Zeit zu verschaffen, sagte sie: „Ich … ich müsste Ihre Tochter erst kennenlernen.“
„Kein Problem. Ich habe sie gleich mitgebracht.“ Er stand auf, öffnete die Tür und streckte den Kopf heraus. „He, Sie, Butler!“ Er schnippte ungeduldig mit den Fingern.
Tweed erschien. Seine ganze Haltung strahlte stumme Entrüstung aus. Er ignorierte Bamber geflissentlich und sah Alice an. „Haben Sie einen Wunsch, Mylady?“
Erneut schnippte Bamber mit den Fingern und behandelte ihren Butler wie einen Kellner in einer billigen Schänke. „In meiner Kutsche draußen sitzt meine Tochter. Bringen Sie sie her.“
Tweed tat, als habe er nichts gehört. Er sah weiterhin nur Alice an und wartete. Sie nickte. „Ja, bitte, holen Sie die junge Dame herein, Tweed.“
„Sehr wohl, Mylady.“ Er ging hocherhobenen Hauptes davon.
„Unverschämter Kerl“, bemerkte Bamber. „Wenn ich Sie wäre, würde ich ihm ein solches Benehmen nicht durchgehen lassen, Mylady.“
Alice unterdrückte ihren Ärger. „Tweed hat meiner Familie mein ganzes Leben lang treu gedient.“
Er schnaubte. „Und das merkt man. Sie müssen Ihre Bediensteten strenger behandeln, Mylady, ihnen zeigen, wer hier das Sagen hat. Wenn der Kerl mein Butler wäre …“
„Das ist er aber nicht“, fiel Alice ihm energisch ins Wort.
Sie saßen schweigend da, bis Tweed eine junge Frau von etwa achtzehn, neunzehn Jahren ins Zimmer führte. Ein wenig zu Fülligkeit neigend, trug sie ein teuer aussehendes pinkfarbenes Kleid mit lauter Rüschen und Volants, das ihr, Alice’ Meinung nach, überhaupt nicht stand. Das hellbraune Haar des Mädchens war zu einer Masse aus steifen Locken aufgetürmt, und um den Hals trug es eine mehrreihige, protzige Perlenkette.
Der Teint der jungen Frau war makellos, und ihre schönen nussbraunen Augen waren von einem Kranz langer dunkler Wimpern umgeben. Wie ihr Vater gesagt hatte, war sie keine Schönheit, aber trotzdem attraktiv – oder hätte es sein können, in vorteilhafterer Kleidung.
Sie blieb steif in der Tür stehen. Ihr Gesichtsausdruck wirkte hölzern, aber auch ein wenig … aufsässig vielleicht? Sie machte keine Anstalten, Alice zu grüßen, sah sie nicht einmal an, sondern starrte zum Fenster hinaus, als wünschte sie, sie wäre woanders. Für eine junge Frau, die wild entschlossen war, in die Gesellschaft eingeführt zu werden und einen Adeligen zu heiraten, wirkte sie nicht sehr bemüht.
„Meine Tochter, Miss Lucille Bamber, Mylady.“ Bamber schnippte erneut mit den Fingern. „Los, Mädchen, mach einen Knicks vor Mylady.“
Entdeckte sie da ein Aufblitzen in den Augen von dieser Lucille? Alice war sich nicht ganz sicher. Das Mädchen sank in einen anmutigen Knicks. „Wie geht es Ihnen, Lady Charlton?“, fragte es leise.
Alice nickte anerkennend. Wenigstens hatte jemand dem Mädchen Manieren beigebracht. Und seine Aussprache war gut, besser als die seines Vaters.
„Gut gemacht. Jetzt steh da nicht so herum wie ein Tollpatsch, Mädchen. Komm und setz dich.“ Er klopfte auf den freien Platz neben ihm auf dem Sofa.
Alice presste die Lippen aufeinander. Die Art, wie er mit seiner Tochter sprach, ärgerte sie, aber hier ging es um mehr als um schlechte Manieren.
Miss Bamber durchquerte das Zimmer und nahm auf einem Stuhl Platz – nicht neben ihrem Vater auf dem Sofa. Interessant.
„Soweit ich verstanden habe, möchten Sie gern in die Gesellschaft eingeführt werden, Miss Bamber“, sagte Alice.
Das Mädchen zuckte nur gleichgültig die Achseln und sah Alice nicht einmal an.
„Natürlich möchte sie das. Sie kann es gar nicht erwarten, mit all den feinen Damen und Herren zu verkehren“, mischte Bamber sich mit honigsüßer Stimme ein, die allerdings nicht über seine Verärgerung hinwegtäuschen konnte. „Los, sag Lady Charlton das, Kätzchen.“
„Ich kann es gar nicht erwarten, mit all den feinen Damen und Herren zu verkehren“, wiederholte Miss Bamber steif.
„Da – sehen Sie?“ Bamber lehnte sich zurück.
Alice sah in der Tat. Man mochte dem Mädchen beigebracht haben, einen ordentlichen Knicks zu machen, aber sonst waren seine Manieren erschreckend. „Haben Sie schon Erfahrungen bei Festlichkeiten und Bällen gemacht, Miss Bamber?“
„Nein.“
„Aber sie kann tanzen“, erklärte ihr Vater. „Sie bewegt sich leicht wie eine Feder, und wie Sie sehen können, hat sie auch gelernt, sich hübsch zu machen.“
Sich hübsch zu machen? Wohl kaum. Trotzdem fuhr Alice mit der Befragung fort; das Ganze war ohnehin eine Farce. Wenn sie keinen anderen Ausweg aus diesem Dilemma fand, würde sie dieses schlecht angezogene, mürrische Mädchen in die Gesellschaft einführen müssen. Thaddeus’ schreckliche Briefe hingen wie ein Damoklesschwert über ihr. Ein Erfolg wurde allerdings immer unwahrscheinlicher, denn wenn das Mädchen nicht voller Begeisterung bei der Sache war … „Und Sie suchen nach einem Ehemann?“, fragte Alice nach.
Zum ersten Mal sah das Mädchen Alice in die Augen – ein kurzer, undefinierbarer Blick –, aber es antwortete nicht.
„Natürlich, das ist ihr Herzenswunsch“, behauptete Bamber. „Verzeihen Sie meinem Kätzchen, Lady Charlton. Sie ist schüchtern und etwas überwältigt, sich in so illusterer Gesellschaft zu befinden. Aber das wird sich geben, nicht wahr, Lucy?“ Ein leicht drohender Unterton war nicht zu überhören.
„Wie du meinst, Papa.“
„Gut, dann warte jetzt draußen, Liebes, ich habe mit Lady Charlton noch etwas unter vier Augen zu besprechen.“ Lucy verließ das Zimmer. „Nun? Was sagen Sie, Lady Charlton? Sind wir im Geschäft?“
Alice sah ihn hilflos an. Sie wusste, sie hatte keine andere Wahl – der Gedanke, diese Briefe könnten an die Öffentlichkeit gelangen, war zu schrecklich –, aber wie sollte sie dieses steife, griesgrämige Geschöpf in die Gesellschaft einführen? Es würde ohnehin schwer genug werden, einen Ehemann für die junge Frau zu finden, von einem Adeligen ganz zu schweigen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das gehen sollte. Sie öffnete den Mund, aber ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie schaffte es nicht, einzuwilligen, ja, nicht einmal zu sprechen. Es kam alles zu schnell, zu plötzlich.
Lange Zeitz schwiegen sie beide. Dann schürzte Bamber die Lippen. „Vielleicht brauchen Sie noch etwas Zeit zum Nachdenken.“ Er zeigte auf Thaddeus’ Brief, den sie noch immer zerknüllt in der Hand hielt. „Lesen Sie ihn noch einmal, Lady Charlton, und bedenken Sie, welche Folgen eine Absage hätte. Ich spreche morgen um zehn wieder vor. Bereiten Sie sich auf eine Taufe vor.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er.
Als sie die Haustür unten ins Schloss fallen hörte, ließ Alice sich wieder matt auf ihren Stuhl fallen.
„Ist alles in Ordnung, Mylady?“, fragte Tweed von der Tür her, er sah besorgt aus. Sein Blick fiel auf den Brief in ihrer Hand.
Sie widerstand der Versuchung, den Brief in den Kamin zu werfen, faltete ihn stattdessen zusammen und steckte ihn in ihre Tasche. „Ich hätte nichts gegen eine Tasse Tee“, brachte sie mühsam hervor.
Tweed zögerte. „War es richtig von mir, ihn hereinzulassen, Mylady?“
Großer Gott, wenn er das nicht getan hätte, wer wusste schon, wie Bamber dann reagiert hätte? Wenn er nun direkt zu einem Verleger gegangen wäre … Ich lasse die Gesellschaft geifern und kichern über die Briefe Ihres Ehemanns. Sie unterdrückte ein Erschauern. „Ja, Tweed, Sie haben alles richtig gemacht.“
Er runzelte besorgt die Stirn. „Bekommen wir ihn noch einmal zu sehen, Mylady?“
„Ich fürchte, ja. Er kommt morgen Vormittag wieder.“ Mit etwas Glück fiel Octavius Bamber ja in der Nacht in die Themse und ertrank. Aber so gütig würde das Schicksal wohl nicht sein.
Am Abend ging Alice zu Bett und las wieder Thaddeus’ Brief, bestimmt zum zwölften Mal. Die Verachtung und der Spott in seinen Worten, als er den intimen Akt der Hochzeitnacht beschrieb – ihrer Hochzeitsnacht! –, brachte alle Erinnerungen daran zurück. Jene Nacht …
Sie war so jung und so nervös gewesen. Schließlich hatte sie ihn kaum gekannt; die Brautwerbung hatte nur wenige Wochen gedauert, und sie waren nie miteinander allein gewesen. Trotzdem hatte sie geglaubt, sich in ihn verlieben zu können, in ihren Ehemann, der zwar nicht gerade attraktiv, aber so groß und beeindruckend war. So weltgewandt und belesen im Vergleich zu ihrer Naivität eines Mädchens vom Land. Sie war erst achtzehn gewesen. Unschuldig, unwissend, zögerlich, schüchtern.
Er war betrunken gewesen. Grob. Gefühllos. Voller Hast. Er hatte ihr Nachthemd aufgerissen, das, das sie so sorgfältig bestickt hatte in ihrer Vorfreude auf die Nacht, in der sie endlich zur Frau, zu einer Ehefrau werden würde. Er hatte ihren nackten Körper angestarrt, eine herablassende Bemerkung über die Größe ihrer Brüste gemacht und war sofort grob in sie eingedrungen.
Sie hatte keine Ahnung gehabt, was da auf sie zukam. Sie war nicht auf den Schmerz vorbereitet gewesen, auf das grobe Kneten ihrer Brüste und sein brutales Eindringen in ihren Körper. So gut sie konnte, hatte sie alles über sich ergehen lassen, bis er sich schließlich von ihr wälzte und aus dem Zimmer wankte – er hatte sich noch nicht einmal vorher ausgezogen, sondern nur seine Breeches aufgeknöpft.
Lange Zeit hatte sie reglos dagelegen – ein Schockzustand, wie ihr jetzt im Nachhinein klar wurde –, bis sie in der kühlen Nachtluft zu frieren begonnen, sich zusammengerollt und in ihre Bettdecke gewickelt hatte. Und dann waren endlich die Tränen gekommen, ganz langsam zuerst, dann in Strömen.
Vor der Hochzeit hatte Mama ihr sagt, dass es beim ersten Mal nicht angenehm sein, mit der Zeit aber wahrscheinlich besser werden würde.
Das war es nie geworden. Ihre Hochzeitsnacht wurde zur Gewohnheit in Alice’ ganzem Eheleben. Sie wusste nie, wann Thaddeus es sich in den Kopf setzte, seinen Erben zeugen zu wollen – so nannte er das. Sie war dankbar, dass sie es keinen „Liebesakt“ nennen musste.
Er kam ohne Vorwarnung in ihr Schlafzimmer – manchmal mitten in der Nacht, manchmal ganz früh am Morgen und meist betrunken –, öffnete seine Breeches und nahm sie. Und ging fort, sobald er fertig war.
Es kam so weit, dass sie die halbe Nacht wach lag und darauf wartete, dass er es endlich hinter sich brachte, damit sie schlafen konnte. Bisweilen döste sie ein, doch beim kleinsten Geräusch war sie sofort wieder hellwach. Das war sehr erschöpfend.
Die Ringe unter ihren Augen waren nicht zu übersehen, aber die wenigen, die es wagten, sie darauf anzusprechen, taten das im Scherz mit der Andeutung, dass der eifrige Ehemann seine hübsche neue Frau wohl die ganze Nacht wach hielt. Alice hatte es nie abgestritten. Schließlich stimmte das ja auch. In gewisser Weise.
Einmal, als sie völlig erschöpft gewesen und nicht wieder eine vor Furcht schlaflose Nacht verbringen wollte, hatte sie ihre Tür abgeschlossen, um wenigstens etwas Schlaf zu bekommen. Wütend hatte er die Tür eingetreten, und als er wieder gegangen war, war sie übel zugerichtet gewesen und hatte noch tagelang Schmerzen gehabt.
Doch ganz gleich wie oft – und wie grob – er zu ihr kam, er schaffte es nie, sie zu schwängern. „Nutzloser, unfruchtbarer, kalter Fisch“, hatte er sie genannt.
Sie hatte niemanden gehabt, mit dem sie darüber reden konnte, wie schwierig – genauer gesagt, unerträglich – sie ihre Ehe fand. Nur wenige Tage nach der Hochzeit waren ihre Eltern in den Fernen Osten aufgebrochen – der Traum ihres Vaters, den „Heiden Erleuchtung“ zu bringen. Dann, nicht einmal einen Monat nach ihrer Ankunft dort, wurde Mama krank und starb nach kurzer Zeit. Kurz darauf verstarb auch Papa.
Grandma war aufgrund ihrer schmerzhaften Arthritis buchstäblich zur Einsiedlerin geworden, und Alice hatte sie nicht mit Dingen belasten wollen, an denen sie ohnehin nichts ändern konnte. Wozu auch? Ehe bedeutete „bis dass der Tod uns scheidet“.
Außerdem, auch wenn sie wusste, dass das unlogisch war, schämte sie sich zu sehr. Als Ehefrau war sie eine Versagerin; sie konnte ihrem Ehemann keine Freude machen und sie konnte kein Kind empfangen.
So blieb ihr nichts anderes übrig, als alles zu ertragen. Und da sie in der Öffentlichkeit nicht als Opfer dastehen wollte, gab sie sich alle Mühe, den Eindruck zu erwecken, dass sie zufrieden mit ihrer Ehe war – es hätte ihr ohnehin niemand geglaubt, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte; in der Öffentlichkeit konnte Thaddeus sehr charmant sein.
Achtzehn Jahre lang. Ihr halbes Leben hatte sie versucht, einem Mann zu gefallen, dem sie partout nicht gefiel.
Nun war Thaddeus tot, und auch wenn die Art seines Sterbens eine weitere Schande war, die sie zu ertragen hatte, so war ihre Ehe jetzt wenigstens zu Ende. Er hatte ihr nichts hinterlassen als Schulden; der Besitz ging an seinen Bruder, und für seine Witwe hatte er nicht vorgesorgt, nur für seine Geliebte und seinen unehelichen Sohn. Der sein Erbe hätte sein können, wenn Alice nicht gewesen wäre.
Dann war Grandma gestorben – Gott hab sie selig – und hatte Alice dieses Haus vermacht. Ein eigenes Zuhause. Sicherheit.
Alice sah auf den Brief in ihrer Hand. Das letzte schändliche Vermächtnis ihres liebenden Ehemanns.
Sie legte den Brief weg, blies die Kerze aus und lag nachdenklich im Dunkeln. Sie fühlte sich nicht mehr krank und verängstigt, sie war wütend.
Sie hatte nicht achtzehn Jahre Ehe ertragen und in der Öffentlichkeit heiter Haltung gezeigt – obwohl es weiß Gott Zeiten gegeben hatte, in der ihr das kaum gelungen war –, um jetzt die Wahrheit über ihre Ehe ans Licht kommen zu lassen.
Bambers Forderung war absurd, aber das hatte Alice nicht zu interessieren. Sie musste um jeden Preis die Veröffentlichung dieser Briefe verhindern.
Wenn sie doch nur so geistesgegenwärtig gewesen wäre, ihm die Briefe zu entreißen und sie ins Feuer zu werfen, als er sie aus seiner Tasche gezogen hatte, aber sie war zu schockiert gewesen und hatte nicht schnell genug denken können. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als seine Forderung zu erfüllen, seine schreckliche Tochter in die Gesellschaft einzuführen und zu versuchen, einen heiratswilligen Adeligen für sie zu finden.
Erst dann war sie frei, und ihr neues Leben konnte beginnen.
Weil Alice einen Großteil der Nacht schlaflos über einen Ausweg aus dem Dilemma gegrübelt hatte, verspürte sie beim Frühstück keinen Hunger. „Ach, und noch etwas, Tweed“, sagte sie, als der Butler ihren nicht angerührten Teller abräumen und gehen wollte. „Die junge Dame, die uns gestern besucht hat, wird auf unbestimmte Zeit bei uns wohnen. Bitte lassen Sie ein Zimmer für sie vorbereiten. Das blaue Zimmer, denke ich.“
„Ja, Mylady.“ Tweed verneigte sich. Seine Miene wirkte zwar vollkommen gelassen, aber Alice kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er fast vor Neugier platzte, aber sie niemals fragen würde, warum sie ausgerechnet die Tochter eines solchen Mannes in ihr Haus holte. Ganz zu schweigen davon, diese im blauen Zimmer unterbringen wollte!
Bamber erschien pünktlich um zehn, und Alice teilte ihm steif mit, dass sie bereit war, Lucy Bamber in die Gesellschaft einzuführen.
Zu ihrer Überraschung hatte er noch für denselben Vormittag die Taufe seiner Tochter in einer Kirche etwas außerhalb von London anberaumt. Offensichtlich hatte er nicht an Alice’ Einwilligung gezweifelt, denn kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, ließ er seine Kutsche vorfahren und forderte Alice auf, ihren Mantel anzuziehen und ihren Hut aufzusetzen, denn der Vikar erwarte sie bereits.
Im letzten Moment fiel ihr ein, dass sie als Patentante – wenn auch keine echte – Lucy etwas schenken sollte zur Erinnerung an dieses Ereignis. Auf der Suche nach etwas Passendem fiel ihr die Bibel ein, die Thaddeus ihr anlässlich ihrer Verlobung geschenkt hatte. Sie war wunderhübsch, mit einem Einband aus Ziegenleder und Perlmuttverzierungen und sah noch aus wie neu. Damals war Alice ganz entzückt darüber gewesen, aber sobald sie verheiratet gewesen war, hatte die Assoziation mit Thaddeus ihr die Bibel gründlich verleidet. Jetzt schien sie ihr das ideale Geschenk zu sein, denn die Bibel befreite sie von den unguten Erinnerungen und konnte einen Neuanfang bei einer neuen Besitzerin machen.
Alice wickelte sie in ein hübsches Tuch und übereichte sie Lucy in der Kutsche auf dem Weg zur Kirche. Das Mädchen bedankte sich widerwillig – auf die Aufforderung seines Vaters hin – und stopfte das Geschenk in sein Retikül, ohne es sich auch nur einmal angesehen zu haben. Für den Rest der Fahrt, die fast eine Stunde dauerte, ignorierte Lucy Alice völlig und sagte kein einziges Wort mehr.
Alice kochte innerlich. Miss Lucy Bamber brauchte eindeutig eine Lektion in gutem Benehmen.
Es war seltsam, an der Taufe eines Erwachsenen teilzunehmen. Natürlich wusste Alice, dass auch Erwachsene getauft wurden – ihr Vater war schließlich Vikar gewesen –, aber so etwas geschah für gewöhnlich nur, wenn jemand aus einer anderen Religion konvertierte. Alice war eher die Taufe von Babys gewohnt.
Als sie jetzt am Taufbecken der kleinen Dorfkirche stand und den Worten des Geistlichen lauschte, fühlte sie sich etwas unbehaglich, aber es führte nun einmal kein Weg darum herum. Wenn sie das Mädchen als ihre Patentochter vorstellen sollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als diese Zeremonie über sich ergehen zu lassen.
Sie war bereits zweimal Patin gewesen, und immer wenn sie das winzige, warme Bündel im Arm gehalten hatte, war ihre Sehnsucht nach einem eigenen Baby übermächtig geworden. Aber es hatte nicht sollen sein.
Der Geistliche vollzog die Zeremonie kurz und knapp, fast wie eine geschäftliche Angelegenheit. Miss Bamber beugte sich unbeholfen nach vorn, um sich das heilige Wasser über den Kopf gießen zu lassen, und der Vikar und Alice sagten ihren Text auf. Nach wenigen Minuten war alles vorbei.
Als sie aus dem Dämmerlicht der Kirche in den hellen Sonnenschein traten, fuhr eine weitere Kutsche vor und hielt hinter der, mit der sie gekommen waren.
„Die ist für mich“, erklärte Octavius Bamber. „Ich habe noch woanders etwas zu erledigen. Auf dem Rückweg nach London brauchen Sie meine Begleitung nicht.“ Er half seiner Tochter in die erste Kutsche. „Und jetzt sei schön brav zu Lady Charlton, Kätzchen.“
Seine Tochter sah ihn nur an. Während der ganzen Fahrt von London hierher hatte sie kein Wort mit ihm gewechselt und stumm aus dem Fenster gestarrt. Nun wandte sie den Blick ab, ohne sich von ihm zu verabschieden.
Kein sehr vielversprechender Anfang.
Bamber wollte jetzt auch Alice beim Einsteigen behilflich sein, aber sie sah zu dem Mädchen in der Kutsche und ging ein paar Schritte außer Hörweite. „Da gibt es noch Dinge, über die wir reden müssen“, sagte sie.
„Unsinn. Sie wissen, was Sie zu tun haben, und was passiert, wenn Sie es nicht tun. Am besten fangen Sie gleich damit an.“ Er gab ihr ein Bündel Geldscheine. „Das wird für den Anfang reichen. Den Rest schicke ich Ihnen später.“
„Aber …“
„Jetzt fahren Sie schon. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann.“ Er machte sich auf den Weg zu der zweiten Kutsche.
„Mr. Bamber!“ Eins musste sie ihm unbedingt klarmachen.
Er drehte sich um. „Was ist?“
„Haben Sie vor, Ihre Tochter und mich in London zu besuchen? Wenn ja, dann muss ich Ihnen sagen …“
„Sie besuchen? Großer Gott, nein! Warum sollte ich sie besuchen? Wir haben ein Abkommen getroffen, und damit ist die Sache erledigt. Alles Weitere bleibt jetzt Ihnen überlassen.“
Es war genau das, was sie ihm hatte sagen wollen – wenn er wollte, dass seine Tochter von der Gesellschaft akzeptiert wurde, würde er sich am besten fernhalten müssen – und doch schockierte es sie, dass er seine einzige Tochter einfach so einer vollkommen Fremden überließ. „Aber Ihre Tochter …“
Er zuckte die Achseln. „Sie ist achtzehn, eine erwachsene Frau. Natürlich werde ich Sie im Auge behalten, um sicher zu sein, dass Sie sich an Ihren Teil unseres Abkommens halten, aber das nur aus der Ferne. Selbstverständlich komme ich zur Hochzeit, um die Braut dem Bräutigam zuzuführen, aber das ist auch alles. Ach, und Lady Charlton, Sie haben bis zum Ende der Saison Zeit. Wenn sie bis dahin nicht verheiratet oder wenigstens verlobt ist, lasse ich diese Briefe veröffentlichen.“
„Bis zum Ende der Saison? Aber das ist …“
„Noch reichlich Zeit. Und nun … guten Tag, Mylady.“ Er stieg in seine Kutsche, klopfte gegen das Dach und fuhr davon. Alice starrte ihm mit offenem Mund nach.
Kein letzter Blick, kein letztes Wort zu Lucy. Er ließ seine Tochter in der Obhut einer Frau zurück, die allen Grund hatte, das Mädchen zu verachten.
Was für ein Mann tat so etwas? Dumme Frage – Bamber war ein Erpresser. Ein Schurke mit Größenwahn. Und ganz offensichtlich auch ein herzloser Vater.
Sie steckte das Geld in ihr Retikül, stieg in die Kutsche und empfand erstmals einen Hauch von Mitgefühl für Lucy. Doch das Mädchen machte ein finsteres Gesicht, drückte sich in die Ecke der Kutsche und starrte zum Fenster hinaus. Dreiste Unverschämtheit oder Nervosität? Schwer zu sagen.
Die Rückfahrt nach London verlief schweigend. Alice ging in Gedanken ihre Optionen durch. Wenn sie jemals wieder Frieden finden wollte, musste sie Lucy so schnell wie möglich verheiraten, mit einem Adeligen und das auch noch bis zum Ende der Saison. Aber wer würde sie schon haben wollen?
Sie hatte keine wünschenswerten familiären Beziehungen. Ihr Vater war völlig indiskutabel, aber er schien sehr viel Geld zu haben. Lucy sah auch nicht schlecht aus; wenn man ihr beibringen konnte, etwas liebenswürdiger zu sein – und sich besser zu kleiden –, hatte sie vielleicht eine Chance.
Doch wer kam infrage? Alice stellte in Gedanken eine Liste mit unverheirateten Adeligen zusammen. Es hatte keinen Zweck, an die Gentlemen zu denken, die gerade auf der Suche nach der Partie des Jahres waren. Dadurch blieben nur die weniger erstrebenswerten übrig – die Mitgiftjäger, die eingefleischten Junggesellen, die Witwer …
Alice kannte sehr viele Witwer; ihre Schwägerin Almeria präsentierte ihr ständig welche. Sie war fest entschlossen, Alice aus der Familie zu vertreiben und überhörte geflissentlich Alice’ wiederholte Aussagen, sie hätte nicht vor, jemals wieder zu heiraten.
Aber Lucy war noch sehr jung. Alice widerstrebte es, ein junges Mädchen mit einem viel älteren Mann zu verkuppeln. Sie mochte Lucy zwar nicht besonders, aber Alice wollte auch nicht, dass sie in ihrer Ehe unglücklich war. Ach, warum musste es unbedingt ein Adeliger sein? Es gab so viele äußerst nette und durchaus vorzeigbare Gentlemen, die eine Braut suchten.
Alice’ Blick fiel auf das orangefarbene Rüschenkleid, das Lucy anhatte. Als Erstes würde sie ihr wohl ein paar elegante neue Kleider anfertigen lassen. Dieses Thema musste Alice sehr taktvoll anschneiden, denn Geschmack war etwas so ungemein Persönliches.
Während der Fahrt versuchte sie ein paarmal, ein Gespräch anzufangen, aber Lucy reagierte entweder mit einem Achselzucken oder einem aufsässigen Blick – oder überhaupt nicht.
Alice schwankte immer wieder zwischen Zorn und Verzweiflung. Wie um alles in der Welt sollte es ihr gelingen, dass dieses schlecht gekleidete, unerzogene Geschöpf von der Gesellschaft akzeptiert wurde? Am liebsten hätte sie Lucy zu ihrem Vater zurückgeschickt, aber die Folgen wären grauenvoll gewesen.
Mitgehangen, mitgefangen.
Schließlich hielt die Kutsche vor Alice’ Haus an. Der Kutscher fing an, Lucys Gepäck auf die Stufen zum Eingang zu stellen. Für eine angehende Debütantin gab es nicht viel davon. Lucy griff nach einer abgenutzten alten Reisetasche und einer Hutschachtel. Tweed erschien an der Tür, und nachdem er Alice und Lucy ins Haus geführt hatte, sammelte er das restliche Gepäck ein.
Mrs. Tweed, die Köchin und Haushälterin, wartete bereits im Eingangsbereich. Alice begrüßte sie erleichtert. „Mrs. Tweed, das ist Miss Bamber, die eine Zeit lang bei uns wohnen wird. Würden Sie ihr bitte ihr Zimmer zeigen?“
„Sehr gern, Mylady. Willkommen in Bellaire Gardens, Miss. Tweed und ich hoffen, dass Sie sich hier wohlfühlen werden.“ Mrs. Tweed schenkte Lucy ein mütterliches Lächeln und nahm ihr die Hutschachtel ab, aber als sie auch nach der Reisetasche greifen wollte, presste Lucy diese fest an sich.
„Ja, herzlich willkommen, Lucy“, sagte Alice knapp. „Jetzt ab nach oben. Mrs. Tweed wird dir deine Fragen bezüglich des Hauses beantworten“, ging sie unwillkürlich zum Du über. „Mach dich etwas frisch, und in einer halben Stunde werden wir eine Kleinigkeit essen. Danach hilft dir meine Zofe Mary beim Auspacken. Leider werden wir sie uns teilen müssen, ich habe gerade … nicht sehr viel Personal.“
Lucy runzelte die Stirn. „Ich packe selbst aus!“
„Wie du willst“, erwiderte Alice gleichgültig. Umso weniger Arbeit für Mary. Zusammen mit dem Haus hatte sie auch die Bediensteten von ihrer Großmutter geerbt. Keiner von ihnen war mehr jung, und Alice kannte sie schon ihr Leben lang. Grandma hatte ihr auch eine Summe Geld hinterlassen für die Gehälter der Bediensteten und anfallende Kosten für den Haushalt. Damit kam sie aus, wenn sie einigermaßen sparsam war. Sie hoffte nur, dass Octavius Bamber die Kosten für das Debüt einer jungen Dame nicht unterschätzt hatte. „Jeweils zehn Minuten vor den Mahlzeiten schlägt Tweed einen Gong, damit du weißt, wann du herunterkommen sollst. Mrs. Tweed zeigt dir, wo wir essen.“
Lucy ging mit den Tweeds die Treppe hinauf, und Alice widerstand dem Bedürfnis, sich in einen Sessel fallen zu lassen und sich irgendein starkes Getränk einzuschenken. Inzwischen bereute sie, dass sie das blaue Zimmer für Lucy hatte herrichten lassen. Sie hatte das in einem dummen Anflug von Mitgefühl entschieden, als Reaktion auf ihre eigene Antipathie gegen den Vater und seine krankhaft ehrgeizigen Pläne für seine Tochter. Aber nun, nachdem sie ein paar Stunden mit Lucy in der Kutsche verbracht hatte und ihrer mürrischen, wortkargen Art ausgesetzt gewesen war – nicht, weil sie schüchtern war, wie ihr Vater behauptete! –, hatte sie beschlossen, dass Mitgefühl die reinste Verschwendung war.
Lucy Bamber war verschlossen, schwierig und widerborstig. Dazu hatte sie einen grauenvollen Geschmack, was ihre Kleidung betraf. Alles nicht sehr vielversprechend. Irgendwie musste Alice einen adeligen Gentleman finden, der gewillt war, dieses schlecht erzogene, verwöhnte Mädchen zu heiraten.
Lucy folgte der Haushälterin die Treppe hinauf, vorbei am ersten Stock – „Die Empfangssalons“, wie die alte Frau erklärte. Vorbei am zweiten Stock – „Hier befinden sich Lady Charltons Schlafzimmer und ihr Lieblingssalon.“ Sie führte Lucy die schmalere Treppe zum dritten Stock hinauf und einen Flur entlang bis zu einem Zimmer im hinteren Teil des Hauses. Lucy verzog das Gesicht. Typisch. Die Unterkünfte für die Bediensteten, zweifellos.
Mrs. Tweed öffnete die Tür und winkte Lucy ins Zimmer. Der uralte Butler stellte einen Koffer und zwei Hutschachteln ab und ging wieder hinunter zum Eingang, um das restliche Gepäck zu holen. Unterdessen wuselte seine Frau im Zimmer herum, rückte Gegenstände zurecht und gab in vertraulichem Plauderton Erklärungen ab. Lucy hörte gar nicht richtig zu.
Papa hatte betont, sie müsse lernen, Bedienstete richtig zu behandeln, feste Anweisungen zu erteilen, wenn sie etwas wollte, und sie ansonsten zu ignorieren, als wären sie gar nicht da. Denn genau so verhielten sich Adelige.
Wichtiger noch, sie sollte keine frechen oder allzu persönlichen Bemerkungen zulassen. Er hatte Lucy erklärt, Lady Charlton hätte keine Ahnung, wie man mit Bediensteten umging, und infolgedessen hätten die sich ein paar ganz schlechte Angewohnheiten angeeignet. Ihr Butler wäre ein ziemlich unverschämter Kerl, der dringend einmal einen gehörigen Dämpfer benötigte.
Lucy hielt den Butler in keiner Weise für unverschämt. Sie fand seine ernste, würdevolle Art eher etwas einschüchternd. Und die Frau des Butlers war freundlich und mütterlich. Wie sollte sie darauf reagieren?
Außerdem waren beide bestimmt hundert Jahre alt. Ihre Gesichter waren runzlig wie die Haut, die sich auf warmer Milch bildete; das Haar der Haushälterin war schneeweiß und der Butler hatte fast gar keine Haare mehr, nur einen dünnen weißen Kranz um eine rosig glänzende Glatze. Sie war rundlich, er dünn und gebückt, und er ächzte leise, als er das letzte Gepäckstück vor dem Kleiderschrank abstellte.
Es bereitete Lucy ein wenig Unbehagen, weil sie einen alten Mann ihr Gepäck all die Treppen hinaufschleppen ließ. Sie wusste, wie der Adel seine Bediensteten behandelte. Das hatte sie auf die harte Tour gelernt, und es gefiel ihr ganz und gar nicht.
„Gut, Miss, lassen Sie es uns wissen, wenn Sie noch etwas brauchen. Tweed und ich sind Ihnen jederzeit gern behilflich, damit Sie sich hier gut eingewöhnen. Es ist schön, eine junge Dame zu Besuch zu haben“, fügte sie warmherzig hinzu und tätschelte Lucys Arm.
Lucy murmelte ein Dankeschön und fragte sich, ob sie die Frau für dieses Tätscheln hätte tadeln müssen. Papa hätte das ganz sicher getan und gesagt, das wäre übergriffig und plumpvertraulich gewesen. Sie sollte nicht zulassen, dass eine Bedienstete sie so behandelte.
Aber es fühlte sich … nett an. Ganz und gar nicht übergriffig.
O Gott, wie sollte sie das bloß alles schaffen? Einen Adeligen heiraten … sie konnte ja noch nicht einmal mit Bediensteten umgehen! Was hatte Papa sich nur dabei gedacht?
Die Comtesse hatte Lucy behandelt wie eine Mischung aus Schülerin und Dienstmädchen. Sie war hochmütig, arrogant und unmöglich zufriedenzustellen. Jeden Morgen piesackte sie Lucy gnadenlos ein oder zwei Stunden lang und brachte ihr auf Französisch bei, welchen Knicks man vor welchem Adeligen machte, wies sie in andere undurchsichtige Rituale des ancien régime ein, korrigierte ihre Aussprache und lehrte sie, sich wie ma charmante invitée zu benehmen. Anschließend schickte sie sie fort, damit sie die Möbel abstaubte, den Fußboden schrubbte, Eier einsammelte und in der Küche Zwiebeln hackte. Wie ein Dienstmädchen. Frau Steiner war genauso gewesen, nur ging es bei ihr um Musik, nicht um Manieren. Und das Ganze dann auf Deutsch.
Ob Lady Charlton besser sein würde? Sie bezweifelte es.
Kaum hatte Tweed die Tür hinter sich ins Schloss gezogen, ließ Lucy sich auf das Bett fallen. Sie ballte die Hände frustriert zu Fäusten und war sich nicht sicher, ob sie schreien oder weinen wollte – oder beides. Doch wozu? Papa hatte das getan, was er immer tat; er erschien aus heiterem Himmel, entführte sie nach Gott-weiß-wohin, aus welchem Grund auch immer, setzte sie an einem fremden Ort bei einer fremden Frau ab, ohne eine Erklärung abzugeben, und verschwand dann wieder.
Der Himmel wusste, wann sie ihn wiedersehen würde.
Die Comtesse war außer sich gewesen, weil er ihr nicht vorher Bescheid gesagt hatte, doch Papa hatte das Gezeter der alten Dame ignoriert. Sein Verhalten war vollkommen anders als damals, als er Lucy zur Comtesse gebracht hatte – da war er um die alte Dame herumscharwenzelt, charmant und unterwürfig. Doch er hatte erreicht, was er von ihr wollte, jetzt brauchte er nicht mehr höflich zu sein. Er war mit Lucy so überstürzt abgereist, dass sie gar keine Zeit gehabt hatte, sich von den anderen zu verabschieden, aber richtige Freunde hatte sie dort ohnehin nicht gehabt.
Sie hatten ein paar Tage in Epsom Halt gemacht – wegen der Pferderennen, natürlich – und danach hatte er ihr ein paar neue Kleider gegeben, einschließlich des hässlichen pinkfarbenen, das sie am Vortag getragen hatte, und des orangenfarbenen Dings, das sie jetzt trug. Sie hatte den wenig zurückhaltenden Geschmack einer von Papas „Damen“ wiedererkannt – er mochte sie bunt und ein wenig vulgär – und hatte ihm das auch offen ins Gesicht gesagt.
Papa meinte, das spiele keine Rolle, schließlich ginge sie nach London zu ihrem Debüt und um einen Adeligen zu heiraten. Die Dame, die sie in die Gesellschaft einführte, würde sie zur besten Schneiderin bringen und eine ganz neue Garderobe für sie anfertigen lassen. Bis dahin solle Lucy sich gefälligst mit dem zufriedengeben, was er für sie besorgt hatte.
Es war immer zwecklos, mit Papa zu streiten, denn er hörte nie zu. Und da ihre alten Kleider ausgeblichen und etwas zu eng waren – sie hatte seit Jahren keine neuen mehr bekommen –, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu gehorchen, auch wenn ihr das überhaupt nicht gefiel.
Sie legte sich auf ihr neues Bett und hätte am liebsten mit den Hacken die Tagesdecke malträtiert, um sich abzureagieren, aber die Decke war sehr hübsch und Lucy trug noch immer ihre neuen Stiefeletten mit den hohen Absätzen. Es war keine gute Idee, sich gleich zu Beginn mit Vandalismus in diesen Haushalt einzuführen. Außerdem hatte die Erfahrung sie gelehrt, dass Wutanfälle alles nur noch schlimmer machten.
Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Es hatte keinen Zweck, sich aufzuregen – sie saß hier fest in diesem Haus mit dieser Frau, die sie laut Papa mit einem Adeligen verheiraten würde.
Einem Adeligen! Papa war wirklich unglaublich. Als ob irgendein Adeliger sich für Lucy Bamber interessieren würde, ein nicht besonders hübsches Mädchen ohne Vermögen, ohne nennenswerten familiären Hintergrund und ohne besondere Begabungen. Noch ein weiterer von Papas Plänen, der mit einer Demütigung enden würde – Lucys Demütigung.
Sie hatte gebettelt und ihn angefleht, seine Meinung zu ändern, aber sie war bei ihm auf taube Ohren gestoßen und so kam es wie immer – jetzt war sie hier gelandet, an der Tür abgegeben wie ein Paket und sich selbst überlassen.
Am liebsten wäre sie weggerannt, aber sie hatte erstens kein Geld und zweitens, wo hätte sie hingehen sollen? Sie hatte niemanden sonst und sie war auch nicht so blauäugig, eine Flucht zu versuchen. Einmal hatte sie es gewagt, und danach hatte Papa sie gezwungen, durch eine enge, schmutzige Gasse zu sehen, in der spärlich bekleidete Mädchen und Frauen – manche in ihrem Alter oder sogar noch jünger – ihre Körper verkauften und ihre „Ware“ anpriesen. Es war ein grauenvolles Lehrstück über das Schicksal nicht behüteter Mädchen gewesen, das sie nie mehr vergessen hatte.