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Ein Raubzug ist ihre letzte Chance! Mit dem Verkauf der Beute will die verzweifelte Abby der Armut entkommen. Doch als sie in das Anwesen einbricht, entdeckt sie dort eine vernachlässigte alte Dame. Voller Mitleid kümmert sie sich um Lady Davenham, die sie aufnimmt und als Nichte ausgibt. Bis aus dem fernen Indien deren Neffe Max, Lord Davenham, anreist. Der gefährlich attraktive Adlige scheint zu ahnen, dass Abby und seine Tante ihm etwas vorspielen. Er lässt Abby nicht aus den Augen - und trotzdem entflammt sie heiß für den maskulinen Gentleman! Dabei weiß sie doch, dass Max nach England zurückgekehrt ist, weil er bald heiraten wird …
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Seitenzahl: 550
IMPRESSUM
HISTORICAL GOLD erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2013 by Anne Gracie Originaltitel: „The Autumn Bride“ This edition published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLDBand 344 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Ira Panic
Abbildungen: Harlequin Books S.A., Luciano Mortula - LGM / shutterstock, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 09/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733736613
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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„Und was soll ich in dieser Angelegenheit tun? Es scheint mir ein hoffnungsloser Fall.“
Jane Austen, „Stolz und Vorurteil“
London, 1805
Ich bin untröstlich, Mylord, aber es ist nichts mehr vorhanden.“
Mylord. Max Davenham hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, auf diese Weise angesprochen zu werden. Lord Davenham war sein stattlicher, herzlicher, überlebensgroßer Onkel. Doch sein Onkel war tot und Max, der Erbe, nunmehr Lord Davenham.
Langsam begann durchzusickern, was Harcourt und Denton, ihres Zeichens Anwalt und Finanzverwalter seines Onkels, ihm da gerade mitteilten. „Was soll das heißen, nichts?“ Sein Onkel war ein reicher Mann, das wusste jeder.
Harcourt breitete bedauernd die Arme aus. „Nichts.“
„Weniger als nichts“, präzisierte Denton. „Ihr Onkel hat alles verkauft, was man verkaufen konnte, den Rest verpfändet und sich so viel geliehen, wie er kriegen konnte.“
Max konnte es nicht fassen. Sein Onkel war erst vor einer guten Woche verschieden – ein Jagdunfall –, und keiner, der den Mann je in Aktion gesehen hatte, wäre auf den Gedanken gekommen, dass es ihm an Geld mangelte. Zum Zeitpunkt seines Todes war er Gastgeber einer verschwenderisch opulenten Hausgesellschaft gewesen.
„Er ist verschuldet gestorben?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Seit Bekanntgabe des Todes war Max, der gerade sein letztes Schuljahr beendete, von einem nicht abreißenden Strom düpierter Ladeninhaber behelligt worden, die darauf pochten, dass er die Rechnungen beglich, die sein Onkel noch bei ihnen offen hatte. Es handelte sich um teilweise enorme Summen.
„Extrem verschuldet“, bekräftigte der Anwalt betrübt.
Max fuhr sich mit den Händen durchs Haar. „Was für ein verdammter, verfluchter Mist!“ Niemand tadelte ihn für seine unflätige Ausdrucksweise. Er war kein Schuljunge mehr. Er war Lord Davenham und hatte das Recht zu fluchen, seinen Sitz im House of Lords einzunehmen – und die Verantwortung für das gewaltige finanzielle Chaos zu tragen, das sein Onkel hinterlassen hatte.
„Gott sei Dank hat meine Tante ihre Leibrente. So wird sie wenigstens nicht mit in dieses heillose Durcheinander hineingezogen.“ Seine Tante war die einzige Tochter des Earl of Fenton. Der mittlerweile verstorbene Earl war nicht begeistert gewesen, dass sie einem schlichten Baron ihr Jawort gab, und hatte durch eine großzügige Treuhand-Anlage beizeiten für ihren potenziellen Witwenstand vorgesorgt.
Einen kurzen Moment lang sagte keiner etwas. Harcourt begutachtete angelegentlich seine Fingernägel. Denton zupfte an den Papieren, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Beide mieden Max’ Blick.
„Die ist ebenfalls weg?“, fragte Max ungläubig. Er verstand nicht viel von Treuhandvermögen, war aber stets der Meinung gewesen, dass eine solche Anlage verflucht unantastbar war, hatte sogar einmal eine entsprechende Bemerkung seines Onkels mitbekommen. Doch augenscheinlich hatte der Lord einen Weg gefunden, dieses Problem zu umgehen.
Max schaute die anderen Männer ratlos an. „Was soll ich jetzt machen?“
„Alles, was noch da ist, muss verkauft werden.“
„Alles?“
Beide nickten. „Alles“, bestätigte Denton. „Davenham Hall …“
„Der Familliensitz?“
„Alles“, wiederholte Denton. Er nahm eine Liste zur Hand. „Davenham Hall, die Minen in Cornwall, die Jagdhütte in Leicestershire, die Besitzungen in Sussex, das Landgut in Norfolk, das Haus in London …“
„Das Haus in London? Aber das ist das Zuhause meiner Tante.“ Tante Bea hasste das Land. Der Verlust der Landgüter würde ihr nicht das Geringste ausmachen, aber …
Max’ Gedanken überschlugen sich. Hatte denn niemand diese Katastrophe kommen sehen? Warum war keiner eingeschritten, um das Schlimmste zu verhindern?
Er schüttelte den Kopf. „Ich kann damit leben, die anderen Besitztümer zu veräußern, auch wenn es mir lieber wäre, wenn wir zumindest versuchten, den Familiensitz zu retten, aber ich lasse nicht zu, dass das Haus in London verkauft wird.“
„Ich fürchte, Sie haben keine andere Wahl, Mylord.“
Max runzelte die Stirn. „Aber wo soll meine Tante wohnen?“
„Vielleicht bei Angehörigen?“, schlug Harcourt vor.
Max war entsetzt. Tante Bea? Seine wunderbare, unverschämte Tante, die eine führende Rolle im ton spielte, sollte als arme Verwandte von der Gnade ihrer Familie leben? Unvorstellbar! Es würde sie umbringen.
„Ausgeschlossen. Es gibt nur noch ein paar entfernte Cousins“, hörte er sich sagen.
Denton beugte sich vor. „Sie haben nicht verstanden, Mylord.“ Sein Ton war bestimmt, wenngleich nicht ohne ein gewisses Mitgefühl. „Alles muss verkauft werden, und selbst dann bleiben noch Schulden – hohe Schulden.“
Max ließ sich schwer in seinen Stuhl zurückfallen. „Heißt das, ich bin ruiniert?“
„Komplett ruiniert.“
Wieder entstand eine kurze Pause.
„War meinem Onkel das denn nicht bewusst?“, fragte Max dann. Seines Wissens hatte der Mann mit Geld nur so um sich geworfen, bis zu dem Tag, an dem er starb. Einschließlich des Tages, an dem er starb. Nein, er hatte nicht mit Geld um sich geworfen – er hatte Schulden angehäuft.
Die Stille legte sich schwerer denn je über den Raum und wurde unbehaglich.
Schließlich brach Denton das Schweigen. „Oh, er wusste sehr wohl, dass er ruiniert war. Er wusste es seit Jahren. Wir haben wieder und wieder versucht, ihm den Ernst der Lage begreiflich zu machen, aber …“ Er schüttelte den Kopf.
Harcourt, der Anwalt, zögerte kurz, bevor er taktvoll anmerkte: „Ihr Onkel hat jedoch sichergestellt, dass all seine Spielschulden beglichen waren, bevor er … starb. Er starb als Gentleman.“
Max starrte ihn wortlos an, als ihm dämmerte, was der Mann ihm da gerade mitteilte, was ihm bis jetzt niemand offenbart hatte. Plötzlich war ihm klar, warum es die wilde, verschwenderische Hausgesellschaft gegeben hatte und diese letzte, rücksichtslose Jagd, obwohl die Saison vorbei war. Warum sein als ausgezeichneter Reiter bekannter Onkel immer verwegener losgeprescht war und sein Pferd unter Missachtung aller Risiken auf jedes noch so gefährliche Hindernis zugetrieben hatte, bis er schließlich an jenem letzten Gatter aus dem Sattel stürzte, kopfüber gegen eine Mauer prallte und sich das Genick brach.
Der Mistkerl hatte es gewusst und sich mit einem exzessiven Trinkgelage davongemacht, um dem Fiasko zu entkommen, das er selbst angerichtet hatte. Nur seine Spielschulden hatte er bezahlt, die sogenannten Ehrenschulden. Max schnaubte abfällig. Sehr ehrenhaft von dem Mann, die ganze Schweinerei seiner Frau und seinem achtzehnjährigen Erben zu hinterlassen.
Er merkte, dass er unwillkürlich die Hände zu Fäusten geballt hatte und zwang sich dazu, seine Finger zu entspannen. „Ist meine Tante im Bilde?“
Harcourt schüttelte den Kopf. „Sie hat keine Ahnung.“
„Ihr Schmuck könnte eine gewisse …“
„Die Steine sind nicht echt, Mylord“, fiel Denton ihm bekümmert ins Wort.
„Nicht echt?“ Sie hatte ein Vermögen an Juwelen mit in die Ehe gebracht.
„Lord Davenham hat alle Teile kopieren lassen, bis auf zwei Ringe, die sie niemals ablegt.“
„Weiß sie, dass ihre Schmuckstücke nur Imitationen sind?“
„Das bezweifle ich.“
„Dann sind wir also tatsächlich ruiniert.“ Erneut dehnte sich die Stille aus. Max schwirrte der Kopf. Noch vor ein paar Wochen waren seine größten Sorgen gewesen, ob er das Lateinexamen bestehen und ob seine Kricketmannschaft den Pokal holen würde. Und jetzt …
Er stand auf und ging im Raum auf und ab, während er sich das Gehirn zermarterte. Was sollte er bloß tun? Viele Optionen schien es nicht zu geben. Aber dem Rat von Harcourt und Denton würde er nicht folgen, jedenfalls nicht ohne Vorbehalte.
Er straffte die Schultern und setzte sich wieder hin. „Also gut, verkaufen Sie alles, außer dem Familiensitz und dem Londoner Haus meiner Tante.“
„Aber …“
Er hob eine Hand, um jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. „Ich lasse nicht zu, dass meine Tante obdachlos wird und auf die Wohltätigkeit ihrer Verwandten angewiesen ist. Ich betrachte es als meine oberste Priorität, ihr Zuhause in London zu erhalten und ihr ein Einkommen zu sichern.“
„Aber …“
„Und wenn es nur irgend möglich ist, werde ich an Davenham Hall festhalten. Vermieten Sie das komplette Anwesen, wenn es geht, und wenn nicht, schließen Sie das Haus und verpachten Sie das Land an die örtlichen Bauern.“
„Aber Mylord …“
„Mir ist der Ernst der Lage voll und ganz bewusst“, versicherte er seinen Beratern. „Aber der Besitz in Devon ist seit Generationen das Herzstück meiner Familie, und ich werde verdammt noch mal alles tun, um ihn nicht zu verlieren. Verkaufen Sie alles andere, stellen Sie sicher, dass sie den bestmöglichen Preis erzielen. Gehen Sie diskret vor; sobald die Geier Blut riechen, stürzen sie sich auf das Aas, um es zu zerfleischen. Bieten Sie den Gläubigern, die den meisten Lärm machen, Teilzahlungen an, das verschafft uns vielleicht etwas mehr Zeit.“
Die beiden älteren Herren wechselten einen Blick und schienen zu einer unausgesprochenen Verständigung zu gelangen. „Wie Sie wünschen, Mylord, aber die Veräußerung der übrigen Werte wird nicht einmal ansatzweise ausreichen, um sämtliche Schulden abzudecken. Wie gedenken Sie …“
„Ich werde mir was leihen.“
Denton stieß einen verärgerten Seufzer aus. „Mylord, die Banken werden Ihnen keinen Penny geben. Begreifen Sie denn nicht? Sie sind ruiniert.“
Max ballte seine Rechte zur Faust. „Ich bin noch nicht ruiniert! Und wenn die Banken mir die Summe verweigern, die ich benötige, um die Zukunft meiner Tante abzusichern, dann besorge ich mir das Geld eben woanders.“
„Tun Sie das nicht, Mylord“, bat Denton inständig. „Sie wissen nicht, auf was Sie sich da einlassen. Sie selbst erwähnten eben Aasgeier. Nun, die privaten Geldverleiher sind schlimmer als Aasgeier.“
„Er hat recht“, ergänzte Harcourt. „Erinnern Sie sich doch nur an Ihre Shakespeare-Lektüre, an den ‚Kaufmann von Venedig‘. Geldverleiher mögen Ihnen die benötigten Mittel zur Verfügung stellen, aber sie werden dafür ihr Pfund Fleisch verlangen.“
Max stand auf. „Wenn es nicht anders geht, dann sei’s drum.“
„Lassen Sie einem Mädchen eine Erziehung zukommen, führen Sie es angemessen in die Gesellschaft ein, dann stehen die Chancen zehn zu eins, dass es eine gute Partie machen wird, ohne dass jemandem noch weitere Kosten entstehen.“
Jane Austen, „Mansfield Park“
London, August 1816
Sie war spät dran. Abigail Chantry beschleunigte ihre Schritte. Es war ihr halber freier Tag und sie hatte sich trotz des stürmischen, nasskalten Wetters wie üblich auf den Weg gemacht, um ihre Erkundungstour durch London wiederaufzunehmen.
Ehrlich gesagt hätte Abby sich, selbst wenn ihre Arbeitgeber in der trostlosesten, einsamsten Ecke der Yorkshire Moors leben würden, an dem halben freien Tag, der ihr zweimal im Monat zustand, so weit wie möglich von ihnen entfernt. Mrs. Mason war der Meinung, dass eine Gouvernante nicht nur Wissen weitergeben, sondern sich auch anderweitig nützlich machen sollte, und sah nicht ein, warum Miss Chantry an ihrem halben Tag nicht ein paar Flickarbeiten für die Dame des Hauses erledigen oder, noch besser, die Kinder mit auf ihre Ausflüge nehmen könnte.
Wozu brauchte eine Gouvernante, schon gar, wenn sie Vollwaise war, überhaupt Freizeit?
Miss Chantry teilte diese Ansicht keineswegs und suchte selbst bei Regen, Hagel oder Schnee in dem Moment das Weite, in dem die Uhr in der Empfangshalle von Mason House zur Mittagsstunde schlug, um erst ein paar Minuten vor achtzehn Uhr zu ihren Pflichten zurückzukehren.
Abby, die den größten Teil ihrer Kindheit auf dem Land verbracht hatte, liebte diese Streifzüge durch die riesige Stadt, auf denen sie alle möglichen wundervollen Orte entdeckte. So war sie vor zwei Wochen auf einen Buchladen gestoßen, dessen Besitzer sie nach Herzenslust schmökern ließ, ohne sie zum Kauf aufzufordern. Natürlich galt das Angebot nur für die gebrauchten Bücher, nicht für die neuen, deren Seiten noch unbeschnitten waren. Sie war heute dorthin zurückgekehrt und hatte sich so sehr in eine Geschichte vertieft – „Der Mönch“, herrlich schaurig –, dass sie jetzt spät dran war.
Wenn sie auch nur eine Minute nach sechs zurückkehrte, würde Mr. Mason ihren Lohn um einen vollen Tag kürzen. Das war schon mal passiert, daher wusste sie, dass selbst noch so berechtigte Einwände bei ihm nichts ausrichten würden.
Sie bog hastig in die Straße ein, in der die Masons wohnten, und schaute zur nahen Turmuhr hoch. Oh Gott, nur noch drei Minuten. Abby lief noch schneller.
„Abby Chantry?“ Eine junge Frau, ihrer Kleidung nach ein Dienstmädchen, humpelte unsicheren Schrittes auf sie zu. Sie hatte gegenüber von Mason House gewartet.
Abby beäugte die Frau argwöhnisch. „Ja?“ Außer ihren Arbeitgebern kannte Abby niemanden in London. Und keiner hier nannte sie Abby.
„Ich habe eine Botschaft von Ihrer Schwester.“ Die Frau sprach einen derben Londoner Dialekt.
Ihre Lippen waren geschwollen, und auf ihrer Wange prangte ein großer Bluterguss.
„Meine Schwester?“ Das konnte nicht sein. Jane befand sich Hunderte Meilen entfernt. Sie hatte gerade erst das Pillbury-Heim für Töchter in Not geratener Damen in der Nähe von Cheltenham verlassen, um sich in Hereford bei der Mutter eines Pfarrers als Gesellschafterin zu verdingen.
„Sie hat mir gesagt, wo ich Sie finde. Ich heiße Daisy.“ Sie packte Abbys Arm und zog daran. „Sie müssen mit mir kommen. Jane steckt in Schwierigkeiten – großen Schwierigkeiten –, und Sie müssen jetzt mitkommen.“
Abby zögerte. Das übel zugerichtete Gesicht der jungen Frau wirkte nicht besonders vertrauenerweckend. Die Zeitungen waren voll von den grässlichen Verbrechen, die in London offenbar zum Alltag gehörten: Mord, Mädchenhandel, Taschendiebstahl und Einbruch. Sie hatte sogar über Leute gelesen, die in dunklen Gassen zusammengeschlagen und tot liegen gelassen wurden, nur, um an ihre Kleidung zu gelangen.
Doch Abby trug ein selbst genähtes graues Gewand, das praktisch „Gouvernante“ schrie. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es bei irgendwem Begehrlichkeiten weckte. Und sie war dünn, unscheinbar und eher klug als hübsch, das schloss Mädchenhändler ebenfalls aus. Sie besaß weder Geld noch Wertsachen und kannte, von den Masons abgesehen, keine Menschenseele in der Stadt, daher war sie wohl kaum als Mordopfer prädestiniert.
Außerdem kannte die junge Frau Abbys und Janes Namen. Und Abbys Adresse. Sie schaute wieder zur Uhr. Eine Minute vor sechs. Aber was zählte der Verlust eines Tageslohns, wenn ihre kleine Schwester in London und in Schwierigkeiten war? Jane war noch nicht mal achtzehn.
„Na schön, ich komme ja schon.“ Sie ließ sich von Daisy mitzerren und hastete neben ihr her die Straße entlang. „Wo ist meine Schwester?“
„An einem schlimmen Ort“, erwiderte Daisy kryptisch und stapfte ungelenk weiter. Abby fragte sich, ob sie von Natur aus hinkte oder weil man sie verprügelt hatte. Egal, woran es lag, es schien sie nicht weiter aufzuhalten.
„An welcher Art schlimmem Ort?“
Daisy antwortete nicht. Sie führte Abby durch ein Labyrinth von Straßen und finsteren Hinterhöfen in eine Gegend, die Abby noch nie zu einem ihrer Streifzüge verlockt hatte.
„An welcher Art schlimmem Ort?“, wiederholte sie.
Daisy warf ihr einen Seitenblick zu. „Ein Puff, Miss!“
„Ein Puff …“ Abby riss entsetzt die Augen auf. „Du meinst ein Bordell?“
„Sagte ich doch, Miss. Ein Puff.“
Abby blieb abrupt stehen. „Dann kann es sich nicht um meine Schwester handeln. Jane würde niemals ein Bordell betreten.“ Doch noch während sie sprach, wusste sie, dass Daisy die Wahrheit sagte. Ihre kleine Schwester war in einem Bordell.
„Na ja, ist nich’ so, als hätt’ sie es sich ausgesucht. Sie kam direkt aus irgend so einem Waisenhaus auf dem Land hierher. Vollgepumpt mit Drogen. Sie hat mir Ihre Adresse gegeben und mich bearbeitet, dass ich Ihnen ’ne Botschaft bringe. Und wir ha’m nich’ viel Zeit, also legen Sie mal besser ’nen Schritt zu.“
Wie betäubt eilte Abby nun an Daisys Seite durch heruntergekommene Seitenstraßen und Gassen. Vor Schreck war ihr ganz übel. Jane hätte sich jetzt eigentlich in einem Pfarrhaus in Hereford aufhalten sollen. Wie um alles in der Welt konnte sie in einem Londoner Bordell gelandet sein? Vollgepumpt mit Drogen. Wie?
Sie erreichten eine schmale, von schäbigen Häusern gesäumte Straße, und Daisy blieb stehen.
„Das ist es.“ Sie deutete auf ein hohes Gebäude, das deutlich besser in Schuss war als die anderen Behausungen, mit schwarzer, offenbar frisch gestrichener Tür und karminroten Vorhängen. Die Fenster im Erdgeschoss waren nicht vergittert, alle anderen schon. Es ging also eher darum, Leute hier festzuhalten, als Eindringlinge abzuwehren. Ist nich’ so, als hätt’ sie es sich ausgesucht.
Abby starrte auf die Fassade und bemerkte eine Bewegung an einem der höchstgelegenen Fenster. Sie konnte einen Blick auf goldblonde Haare erhaschen, zwei Handflächen pressten sich an die Scheibe, dahinter tauchte, wie ein gerahmtes Porträt, eine junge Frau auf, die das Ebenbild von Abbys Mutter war.
Abby hatte ihre Schwester seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, dennoch trübte kein Zweifel ihre Gewissheit. Jane!
Jemand zog Jane ins Zimmer zurück und schloss die Vorhänge.
Ihre Schwester wurde in diesem Haus gefangen gehalten.
Abby rannte über die Straße und machte Anstalten, die Stufen zur Haustür hochzustürmen. Daisy packte sie am Rock und zerrte sie zurück.
„Nein, Miss!“ Das klang so eindringlich, dass Abby jäh aufhörte, sich zu wehren. „Wenn Sie jetzt reingeh’n und die da drinnen mit Fragen beackern, dann macht das alles noch schlimmer. Dann sehen Sie Ihre Schwester vielleicht nie wieder!“
„Dann hole ich eben einen Konstabler oder Friedensrichter, um die Angelegenheit zu klären.“
„Wenn Sie das machen, sehen Sie Ihre Schwester ganz sicher nich’ wieder. Er – Mort –, dem wo dieser Laden jetzt gehört mit allen Mädchen da oben“, sie deutete mit dem Kinn auf die höheren Etagen, „bezahlt Typen, damit die ihn warnen. Bevor irgendein Konstabler hier aufschlägt, ist Ihre Schwester längst weg.“
Abbys Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Aber was kann ich denn tun? Ich muss sie da rausholen.“
„Hab’ ich doch gesagt, Miss. Wir haben einen Plan.“ Das Rattern von sich nähernden Kutschrädern ließ sie herumfahren. Sie erbleichte. „Oh, mein Gott, das ist Mort! Sie müssen schnell verschwinden! Wenn er mich dabei erwischt, wie ich hier draußen mit jemandem rede, setzt es noch ’ne Tracht Prügel! Wir treffen uns in der Gasse hinter dem Haus. Das sechste Haus in der Reihe. Großes Tor mit Zaunspitzen. Los, gehen Sie schon!“ Sie versetzte Abby einen Stoß und flüchtete über die Seitentreppe zum Kellereingang.
Abby, die immer noch vor Entsetzen innerlich wie erstarrt war – Jane in einem Bordell! – ging eiligen Schrittes die Straße entlang und zwang sich dazu, nicht zurückzuschauen, auch nicht, als sie hörte, wie die Kutsche vor dem Haus mit der schwarzen Tür anhielt.
Sie bog um die Straßenecke und stieß auf die von Daisy erwähnte Gasse hinter den Häusern: schmal, düster und von Schmutz aller Art bedeckt. Die Steine waren glitschig, der feuchte Gestank widerwärtig. Abby bedeckte ihre Nase und schritt grimmig über das abstoßende Pflaster. Hin und wieder erzeugten ihre Sohlen dabei ein schmatzendes Geräusch, aber sie blickte nicht nach unten. Sie wollte gar nicht wissen, in was sie hineingetreten war. Sie hatte nur eine einzige Priorität: Jane aus diesem grässlichen Etablissement zu holen.
Abby zählte die Häuser, bis sie bei Nummer sechs angekommen war. Das Gebäude wurde von einer hohen, mit Glasscherben bestückten Ziegelmauer abgeschirmt. In der Mitte befand sich ein stabiles Holztor mit schmiedeeisernen Zaunspitzen.
Die unheilvolle Reihe der Zaunspitzen glänzte matt im schwächer werdenden Licht. Abby spürte, wie ihr eine eisige Kälte durch die Adern kroch. Mama hatte ihr mit ihrem letzten Atemzug das Versprechen abgenommen, auf Jane aufzupassen, dafür zu sorgen, dass sie beide in Sicherheit waren. Es war nicht einfach gewesen – Janes Schönheit hatte schon immer Aufmerksamkeit erregt, auch als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Doch Abby hatte ihr Versprechen gehalten.
Bis jetzt. Jane wurde in einem Bordell gefangen gehalten. Abby presste sich eine Hand vor den Mund und stellte fest, dass ihre Finger zitterten.
Ihr ganzer Körper zitterte.
Wie lange war Jane schon in diesem Haus? Sie überlegte angestrengt, versuchte, sich an das zu erinnern, was Jane in ihrem letzten Brief geschrieben hatte, aber ihr wollte einfach nichts einfallen. Wieder und wieder hämmerte ihr die entscheidende Frage durch den Kopf: Wie war Jane in einem Bordell gelandet?
Schließlich schob Abby die unergiebige Grübelei beiseite. Sie musste nachdenken, einen Plan entwickeln, wie sie Jane befreien könnte. Was wäre, wenn Daisy nicht kommen würde? Dann hätte Abby keine andere Wahl, als einen Konstabler zu holen.
Wenn Sie das machen, sehen Sie Ihre Schwester ganz sicher nich’ wieder. Abby erschauderte. Sie war komplett vom guten Willen – und den Fähigkeiten – eines Mädchens abhängig, das sie erst seit ein paar Minuten kannte.
Wenn weder Konstabler noch Friedensrichter helfen konnten, wie sollte dann eine kleine, verkrüppelte Bedienstete irgendetwas ausrichten? Und wo blieb sie überhaupt?
Die Minuten krochen quälend langsam dahin.
Abby war kurz davor aufzugeben, als sie etwas auf der anderen Seite des Tores hörte. Sie atmete erleichtert auf, doch dann wurde ihr klar, dass es sonst wer sein könnte. Sie zog sich tiefer in die Schatten zurück und wartete.
Das Tor wurde zwei Zentimeter geöffnet. „Sind Sie noch da, Miss?“, flüsterte Daisy.
„Ich bin hier.“
Die Öffnung wurde etwas breiter, und das Mädchen streckte den Kopf durch den Spalt. „Ich hab’ keine Zeit zum Erklären, Miss, aber kommen Sie in einer Stunde wieder her, mit einem warmen Mantel und einem extra Paar Schuhe.“
„Schuhe, aber …“
„Ich wollt’ versuchen, Ihre Schwester jetzt rauszubringen, aber das klappt nicht, solange Mort da ist. Aber der haut gleich wieder ab.“
Sie wandte sich zum Gehen, doch Abby packte sie beim Arm. „Warum? Warum tust du das für uns? Für Jane und mich?“ Das Unterfangen war offensichtlich gefährlich. Warum sollte dieses Mädchen, eine Wildfremde, ein derartiges Risiko eingehen? Erwartete sie, dafür bezahlt zu werden? Abby würde ihr mit Freuden alles geben, was sie hatte, um ihre Schwester zu retten, aber sie besaß nicht viel.
Daisy schüttelte den Kopf. „Weil’s verkehrt ist, was Mort macht. Früher war es nie so wie jetzt, mit Mädchen stehlen und einsperren …“ Sie unterbrach sich. „Schau’n Sie, ich hab’ keine Zeit zum Erklären, Miss, nicht so, dass Sie’s verstehen würden. Sie müssen mir einfach vertrauen. Kommen Sie in einer Stunde wieder, mit einem warmen Mantel und Schuhen.“
„Warum?“ War das als eine Art Belohnung für geleistete Dienste gedacht?
„Weil sie nichts für draußen zum Anziehen hat, natürlich.“ Sie zeigte mit dem Kinn auf die verdreckte Gasse. „Wollen Sie, dass sie mit nackten Füßen durch das da läuft? Ich muss jetzt los.“ Und damit verschwand sie, das Tor fiel hinter ihr zu. Abby hörte, wie ein Riegel vorgeschoben wurde.
Wie betäubt machte Abby sich auf den Rückweg nach Mason House.
Eine Stunde.
In einer Stunde konnte viel passieren.
„Was glauben Sie eigentlich, wie spät es ist?“
Abby, einen Fuß schon auf der untersten Stufe, drehte sich um. Mr. Mason stand in der Eingangshalle, die Taschenuhr demonstrativ aufgeklappt, und funkelte Abby gereizt an. „Sie sind überfällig!“
„Ich weiß, und es tut mir schrecklich leid, Mr. Mason, aber ich habe gerade erst erfahren, dass …“
„Ich werde Ihnen selbstverständlich einen vollen Tag vom Lohn abziehen.“ Er blies sich auf wie eine besonders selbstzufriedene Kröte.
„Es war ein familiärer Notfall …“
Er schnaubte geringschätzig. „Sie haben keine Familie.“
„Doch, ich habe eine Schwester, und sie ist unerwartet nach London gekommen und …“
„Keine Ausflüchte, Sie kennen die Regeln.“
„Das sind keine Ausflüchte. Es stimmt, und ich hoffte … Ich fragte mich, ob …“ Sie schluckte, und ihr wurde zu spät klar, dass sie nicht hätte versuchen sollen, mit ihm zu diskutieren.
„Was fragten Sie sich, Miss Chantry?“ Mrs. Mason kam die Treppe herunter geschwebt, in einer prächtigen rotbraunen Seidenrobe und einem pelzbesetzten Mantel. Ihre aufwendige Frisur war mit Federn geschmückt. „Mr. Mason, hast du vergessen, dass wir heute Abend in die Oper gehen? Ich möchte nicht zu spät kommen.“
„Es ist vornehm, zu spät zu kommen“, erwiderte ihr Ehemann.
„Das ist mir sehr wohl klar, mein Lieber.“ Mrs. Masons Stimme knirschte förmlich vor überzuckerter Verärgerung. „Aber wir werden mehr als vornehm zu spät kommen. Du hast ja noch nicht mal deinen Mantel an.“
Der Butler, der soeben die Halle betreten hatte, hörte die Bemerkung und machte auf dem Absatz kehrt, um Mr. Masons Mantel zu holen.
Mrs. Mason zog einen ihrer langen Abendhandschuhe an und warf Abby einen kurzen Blick zu. „Nun, was ist es, Miss Chantry?“
Abby holte tief Luft. Die Masons waren sehr streng bezüglich jeglicher Art von Besuchern. Abby hatte nicht die Erlaubnis, jemanden zu empfangen. „Meine jüngere Schwester ist in London, Madam, und ich fragte mich, ob sie eventuell bei mir bleiben könnte, nur für eine Nacht …“
Die Frau hob ihre sorgfältig gezupften Brauen. „Hier? Was für eine absurde Idee. Natürlich nicht. Nun komm endlich, Mr. Mason …“
„Aber ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Sie hat gerade erst das Waisenhaus verlassen und ist noch nicht mal achtzehn. Ich kann sie in London nicht sich selbst überlassen.“
„Das ist nicht unser Problem.“ Mrs. Mason sah stirnrunzelnd in den Spiegel und richtete ihren Haarschmuck. „Eine Fremde, die im selben Haus schläft wie meine heißgeliebten Babys?“ Sie schnaubte indigniert.
„Sie ist keine Fremde. Sie ist meine Schwester.“
„Völlig indiskutabel.“ Mr. Mason ließ sich vom Butler in seinen Mantel helfen. „Blake, ist die Kutsche schon vorgefahren?“
Der Butler öffnete die Haustür und spähte nach draußen. „Sie kommt gerade aus den Stallungen, Sir.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“, fragte Abby.
Mrs. Mason drehte sich zu ihr um. „Warum lungern Sie noch immer hier herum? Sie haben meinen Gatten gehört; die Antwort lautet Nein! Nun gehen Sie endlich noch oben und kümmern sich um die Kinder.“
Jeder Widerspruch wäre sinnlos gewesen, daher wandte sich Abby zur Treppe. Sie hatte ohnehin nicht die Absicht, zu gehorchen.
Sie sah nach den Kindern, wie jeden Abend. Sie schliefen tief und fest und sahen aus wie kleine Engel, was sie definitiv nicht waren. Die beiden Älteren hatten nichts als Unfug im Kopf. Das machte Abby nichts aus. Sie liebte sie trotzdem.
Susan, die gerade erst Laufen gelernt hatte, schlief wie immer auf dem Bauch, den kleinen Po hoch in die Luft gereckt. Sie war wirklich entzückend. Abby drehte sie sanft auf die Seite, und das kleine Mädchen kuschelte sich lächelnd und immer noch tief schlummernd ein. Abby deckte sie liebevoll zu.
Ihre Schutzbefohlenen waren die Freude und gleichzeitig der Fluch ihres Berufs. Abby liebte all diese Kinder, als wären es ihre eigenen. Sie konnte nicht anders, obwohl sie wusste, dass es töricht war und ihr eines Tages das Herz brechen würde. Sie wusste, dass man ihr die Kleinen wegnehmen würde. Oder sie würden ihr entwachsen, und dann müsste sie gehen, weil man sie nicht mehr gebrauchen konnte – so wenig wie ein altes Paar Schuhe, das zu klein geworden war.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Herzschmerz kam, wenn man anderer Leute Kinder liebte.
Das hatte sie auf die harte Tour bei den Taylors gelernt, in ihrer ersten Stellung als Gouvernante. Zwei Jahre lang war sie bei ihnen gewesen, hatte die Kleinen mit aller Kraft ihres hungrigen Herzens geliebt und nicht einen Gedanken an die Zukunft verschwendet. Hatte niemals auch nur in Betracht gezogen, dass man sie irgendwann entlassen, dass sie die Kinder niemals wiedersehen würde.
Sie lebten jetzt auf Jamaika.
Und nun würde sie die Mason-Kinder ebenfalls verlieren, aber sie wollte und konnte ihre Schwester nicht in einem Londoner Hotel allein lassen, nicht nach allem, was Jane durchgemacht hatte. Und selbst wenn das nicht der Fall gewesen und Jane einfach nur unerwartet in London aufgetaucht wäre, hätte das nichts geändert: Sie mussten, wie sie den Masons gegenüber erwähnt hatte, sechs Jahre aufholen. Jane war noch ein Kind gewesen, gerade mal zwölf, als Abby sie zum letzten Mal gesehen hatte.
Jane.
Sie beugte sich zu jedem der schlafenden Kinder herunter und küsste es. Danach beeilte sie sich, den Mantel und die Schuhe für ihre Schwester zusammenzupacken und schnürte, für alle Fälle, auch noch ein Schultertuch in das Bündel.
Die Gasbeleuchtung war noch nicht in den schäbigeren Teilen der Stadt angekommen. Im Dunkeln wirkte die Gasse noch widerlicher und voll von bedrohlichen Schatten. Abby tastete sich vorsichtig voran und zählte die Häuser, bis sie die hohe Steinmauer mit dem spitzenbewehrten Holztor erreichte.
Sie bezog gegenüber dem Tor Stellung und wartete. Dabei beobachtete sie die Fenster wie ein Habicht; ließ sich kein flackerndes Licht und keine noch so unauffällige Bewegung entgehen. War das Jane? Oder das?
Die Zeit verging nur zäh. Eine entfernte Turmuhr schlug die volle Stunde. Das Ganze dauerte viel länger, als sie erwartet hatte. War etwas schiefgegangen?
Sie spürte, wie irgendetwas über ihre Füße rannte, und erhaschte einen kurzen Blick auf winzige feuchte Krallen und einen schlüpfrigen Schwanz. Abby sprang zur Seite, einen Aufschrei unterdrückend. Sie verabscheute Ratten.
Sie konzentrierte sich so angestrengt auf die Fenster, dass das Geräusch des zurückgleitenden Riegels auf der anderen Seite des Tors sie eiskalt erwischte und ängstlich zusammenzucken ließ.
Das Tor öffnete sich knarzend. Ein Kopf schob sich um den Pfosten. Jemand flüsterte kaum hörbar: „Abby?“
„Jane?“
Eine bleiche, gespenstische Form schlüpfte durch den Torspalt, und dann lag ihre Schwester in Abbys Armen, klammerte sich an ihr fest, zitternd, weinend und lachend. „Abby, oh, Abby!“
„Janey!“ Tränen ließen Abbys Blick verschwimmen, als sie ihre kleine Schwester umarmte. Die, wie ihr sofort auffiel, gar nicht mehr so klein war. Jane war inzwischen genau so groß wie sie selbst. Sie drückte sie noch etwas fester an sich. „Liebste Jane! Geht es dir gut? Wie kommst du bloß nach London? Ich dachte, Hereford …“
Ein harter kleiner Finger stach ihr zwischen die Rippen. „Hey! Wir sind noch nich’ in Sicherheit, alles klar? Flucht jetzt, glückliches Wiedersehen später!“ Es war Daisy. „Los, schnell, wo sind die Schuhe?“
„Natürlich.“ Abby gab Jane frei und trat einen Schritt zurück. Die Kinnlade klappte ihr herunter. Jane trug nichts als ein dünnes Nachthemd am Leib, ansonsten war sie nackt. „Guter Gott, wo ist denn deine Kleidung?“ Sie zog den Mantel aus dem Bündel und warf ihn um die Schultern ihrer zitternden Schwester.
„Das machen sie, um uns davon abzuhalten, das Haus zu verlassen“, stieß Jane zwischen klappernden Zähnen hervor. „Wir können uns schließlich so nicht auf der Straße blicken lassen.“
Abby kauerte sich hin, um Janes kalte Füße in die Schuhe zu stecken, die bereits schmutzig vom Stehen in der Gasse waren. Sie wischte sie sauber, so gut es mit einem Taschentuch ging. Ihre Hände bebten vor Wut und Verzweiflung darüber, dass ihre Schwester gezwungen war, so ungehörig herumzulaufen, sie nicht mal die nötigsten Kleider hatte, um ihre Blöße zu bedecken! Und das auch noch bei dieser Kälte!
„Hier, leg dir das ebenfalls um.“ Sie reichte Jane das Schultertuch.
„Nein, das kann Damaris nehmen.“
„Damaris?“ Abby schaute hoch und sah ein Mädchen, das unsicher neben dem Tor stand, die Arme um den zitternden Leib geschlungen. Sie war ebenfalls höchst spärlich bekleidet, sah aber, im Unterschied zu Jane, exakt so aus, wie man sich eine Frau in einem Bordell vorstellt.
Sie trug einen hauchdünnen, durchscheinenden rotgoldenen Kaftan, der ihr kaum bis zu den Oberschenkeln reichte. Ihr dunkles Haar türmte sich zu einem hohen Dutt, der mit zwei Stäbchen fixiert war. Ihr eindeutig geschminktes Gesicht glich einem toten weißen Oval. Die Lippen und Wangen waren grellrot geschminkt, die Lider dunkel, die Augenwinkel durch einen schwarzen Strich verlängert.
„Damaris ist meine Freundin.“ Jane nahm Abbys Schultertuch und legte es um das schlotternde Mädchen. „Sie kommt mit uns.“
Abby runzelte unmutig die Stirn. Sie sollte sich dieses angepinselte Bordellwesen aufbürden?
Jane sah ihr Zögern und legte beschützend den Arm um das andere Mädchen. „Sie muss mit uns kommen, Abby. Sie hat mich gerettet. Ich verdanke ihr alles.“
„Mit uns kommen? Aber …“ Es war schon schwierig genug, Jane in das Haus der Masons zu schmuggeln, geschweige denn, diese … diese Person.
„Damaris hat ganz allein dafür gesorgt, dass ich nicht vergewaltigt wurde“, erklärte Jane ängstlich. „Sie muss mit uns kommen, Abby!“
Entsetzt starrte Abby das aufdringlich geschminkte Mädchen an. Sie hat ganz allein dafür gesorgt, dass Jane nicht vergewaltigt wurde? Plötzlich war ihr völlig egal, wie Damaris aussah, wie viel Farbe sie im Gesicht trug, wie skandalös ihre Garderobe oder wie anrüchig ihre Vergangenheit war. Was auch immer sie vor diesem Augenblick getan haben mochte, sie hatte Jane vor einer Vergewaltigung bewahrt.
Daisy trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Wollt ihr die ganze Nacht hier rumstehen und quatschen?“
Ihre Worte brachten Abby schlagartig wieder zur Vernunft. „Nein, auf keinen Fall. Hier, Damaris.“ Sie schlüpfte aus ihrem eigenen Mantel und wickelte das bebende Mädchen darin ein. Dann zog sie ihr die Kapuze über den Kopf, um ihr Gesicht und ihr Haar zu verstecken.
Sie schaute auf Damaris’ schmale Füße, die im dunklen Matsch der Gasse sehr bleich wirkten. „Ich habe kein zweites Paar Schuhe dabei, aber hier, nimm das.“ Sie reichte Damaris ihre Handschuhe. „Zieh die über deine Füße, das ist das Beste, was ich für dich tun kann.“
„Danke“, sagte Damaris leise. „Ich möchte keine Belastung sein.“
Sie klang so dankbar, dass Abby sich ihres Zögerns von eben schämte. „Du bist keine Belastung“, log sie. „Du hast meiner Schwester geholfen, und dafür bin ich dir etwas schuldig. Außerdem würde ich niemanden in dieses grässliche Haus zurückschicken wollen.“ Sie würden es schon hinkriegen. Irgendwie.
Sie wandte sich Daisy zu. „Ich kann dir gar nicht genug für das danken, was du getan hast. Ich habe ein bisschen Geld. Es ist nicht viel, aber …“ Sie holte einen kleinen Geldbeutel hervor.
„Ich will Ihr Geld nich’!“, wehrte Daisy beleidigt ab und trat einen Schritt zurück.
„Aber du hast so viel riskiert …“
„Das hab’ ich nich’ für Geld getan. Ich hab’ außerdem mein eigenes Geld. So, und wollt ihr jetzt endlich abhauen oder was?“
Abby umarmte sie. „Danke, Daisy.“ Auch Jane und Damaris dankten Daisy und umarmten sie, und nach ein paar geflüsterten Abschiedsworten eilten die drei davon.
Fast unmittelbar darauf hörte Abby Schritte hinter ihnen. Hatte man sie etwa entdeckt? Sie wirbelte herum. Es war Daisy, die ein kleines Bündel bei sich trug.
„Sind das Janes Sachen?“
Daisy drückte das Bündel fest an ihre Brust. „Nein, das is’ mein Kram. Ich haue auch ab.“
„Du?“, rief Abby verblüfft. „Aber warum denn?“
„Mort häutet mich bei lebendigem Leib, wenn er rausfindet, was ich gemacht hab.“ Sie musste Abbys hastig verschleierte Bestürzung bemerkt haben, denn sie fügte stolz hinzu: „Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Miss, ich kann auf mich aufpassen. Aber jetzt schnell weiter! Sie können jede Minute anfangen, nach den Mädchen zu suchen. Sind ja wertvoller Besitz.“
Die Mädchen schlitterten so schnell sie konnten durch die schlüpfrige Gasse und fingen an zu rennen, sobald sie die Straße erreicht hatten. Sie umrundeten die nächstbeste Ecke, liefen mehrere Blocks weiter, bogen um eine weitere Ecke und rannten weiter, bis sie nicht mehr konnten und sich keuchend gegen ein Geländer fallen ließen, das einen ruhigen Garten begrenzte.
Eine Minute verging, noch eine … Das Einzige, was sie hörten, war ihr eigenes angestrengtes Atmen. Sie starrten in die Richtung, aus der sie gekommen waren, bereit, bei der kleinsten Bewegung ihre Flucht wiederaufzunehmen.
Doch niemand kam. Keiner folgte ihnen. Ihre Flucht war geglückt.
„Gut, dann verschwinde ich mal“, verkündete Daisy schroff, sobald sie wieder Luft bekamen. „Viel Glück.“
Aber Abby konnte sie nicht einfach so gehen lassen. „Wohin willst du denn? Hast du Familie in London?“
„Nee, bin ein Findelkind.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber keine Angst, ich finde schon irgendwas.“ Sie wollte sich an ihnen vorbeischieben, doch Abby hielt sie am Ärmel fest.
„Es ist meine Schuld, dass du in dieser Situation bist“, begann sie.
„Nee, ich wollte eh weg.“ Daisy schüttelte Abbys Hand ab.
„Abby!“ Jane sah ihre Schwester flehend an, aber Abby brauchte keine weitere Ermutigung. Wenn sie eine angemalte Prostituierte unter ihre Fittiche nehmen konnte, dann würde sie ganz bestimmt nicht diese kleine Heldin edelmütig in die Nacht ziehen lassen, allein und ohne Freunde. Und blau geschlagen.
Sie umfasste Daisys Hand mit festem Griff. „Du kommst mit uns, Daisy, zumindest heute Nacht. Nein, keine Widerrede. Nach allem, was du für uns getan hast, denke ich überhaupt nicht daran, dich allein und ziellos durch die Dunkelheit streunen zu lassen. Los, komm schon. Wir bringen Jane und Damaris ins Warme.“
„Eine junge Frau von niederer Geburt, ohne Bedeutung in der Welt und bar jeglicher Beziehung zu unserer Familie!“
Jane Austen, „Stolz und Vorurteil“
Wartet hier, bis ich euch reinlassen kann.“ Die Mädchen drängten sich zitternd vor dem Hauptportal der Masons, und Abby lief die Stufen zum Dienstboteneingang hinunter und trat hastig ein.
Die anderen Dienstboten waren bereits zu Bett gegangen; der Butler war gerade dabei, für die Nacht abzuschließen. Er bedachte sie mit einem neugierigen Blick, sagte aber nur: „Gerade noch rechtzeitig.“
Während er noch unten beschäftigt war, rannte Abby zur vorderen Tür und öffnete sie. Die drei Mädchen schlüpften leise ins Haus und eilten auf Zehenspitzen die Treppe hoch zu Abbys Schlafkammer. Nachdem Abby die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, herrschte einen Moment lang absolute Stille. Dann …
„Wir haben es geschafft!“, rief Jane und umarmte Damaris, die gleichzeitig lachte und weinte.
„Leise, leise!“, warnte Abby, die ebenfalls ein bisschen lachen und weinen musste. „Niemand darf uns hören.“
Jane umarmte ihre Schwester noch einmal und ließ sich dann so abrupt auf Abbys Bett fallen, als ob ihre Beine sie nicht mehr tragen könnten. „Wir sind in Sicherheit, Damaris“, flüsterte sie. „In Sicherheit!“
„Ich weiß. Ich kann es kaum glauben“, wisperte Damaris. „Ich rechne jede Minute damit, dass jemand diese Tür da aufreißt, und dass es Mort ist, der uns zurückholen will.“ Sie schaute angespannt zur Tür und erschauderte.
„Ich habe dir doch gesagt, dass meine Schwester uns hilft.“
„Ja, ohne sie und Daisy … Ich danke euch beiden“, flüsterte Damaris inbrünstig.
„Oh Daisy, du warst so mutig!“ Jane sprang auf und warf ihre Arme erneut um Daisy.
Die zappelte und protestierte und wand sich so schnell es ging aus der Umarmung.
Abby hatte tausend Fragen, aber die Mädchen mussten sich waschen und brauchten etwas zu essen. Ein ordentliches Wannenbad war nicht machbar, nicht um diese Stunde, nicht für eine Gouvernante und schon gar nicht, ohne im Untergeschoss reichlich unwillkommene Neugier zu wecken. Aber etwas warmes Wasser, damit sie sich und vor allem ihre eisigen, schmutzigen Füße reinigen konnten, würde sich schon auftreiben lassen.
Sie holte Handtücher und einen Kessel mit dampfend heißem Wasser aus dem Kinderzimmer.
„Geben Sie her, Miss.“ Daisy befreite sie von ihrer Last. „Genau das, was die beiden da jetzt brauchen. Sie sind komplett durchgefroren.“
„Kein Wunder, sie haben ja auch kaum was an. Und Daisy, sag doch bitte Abby zu mir.“
„Gibt es irgendwas zu essen?“, erkundigte sich Jane. „Ich bin am Verhungern.“
Noch während sie sprach, fing Abbys eigener Magen an zu knurren, und ihr wurde klar, dass sie seit dem Apfel am Mittag nichts mehr zu sich genommen hatte. „Ich gucke mal, was ich besorgen kann.“
Unten war alles ruhig. Abby schlich in die Küche. In der Vorratskammer schnitt sie ein halbes Dutzend Scheiben vom Brotlaib und einen dicken Brocken vom Wensleydale Käse, den Jane besonders gern aß. Sie füllte eine große Tasse mit frischer Milch, nahm eine Handvoll Ginger Nuts aus der Keksdose und stopfte zwei Orangen in ihre Rocktaschen.
Auf einem Regal im Schrank entdeckte sie eine große Fleischpastete, noch warm und unberührt. Sie schnitt ein großzügig bemessenes Stück ab. Morgen früh würde es deshalb jede Menge Ärger geben, aber das war ihr egal. Die Pastete war locker und knusprig, ein wenig von der köstlichen, aromatischen Füllung quoll hervor, und Abbys Magen knurrte erwartungsvoll.
„Ist das alles?“
Sie wirbelte herum. Blake, der Butler, stand hinter ihr.
„Ich … ich bin hungrig“, sagte Abby, ein bisschen trotzig. Dem Personal war nicht gestattet, außerhalb der geregelten Mahlzeiten zu essen.
Der Butler schniefte. „Geben Sie her.“ Er zog das Messer aus Abbys schlaffer Hand, schnitt ein viel größeres Stück von der Pastete ab – genau genommen ein ganzes Drittel – und legte es auf den Teller. „Wenn schon, denn schon.“
Abby sah ihn verblüfft an.
Er zog eine Braue hoch. „Ihre Schwester wird es Ihnen kaum danken, wenn Sie beide sich dieses mickrige Scheibchen teilen müssen.“
„Meine Schwes…“ Abby unterbrach sich und schnappte nach Luft. „Woher wissen Sie davon?“
Er schnaubte belustigt. „Ich hörte, wie die Masons Ihnen verwehrten, sie hier übernachten zu lassen. Ich hörte, wie Sie vorhin kurz nach Ihrer Ankunft die Haustür öffneten, und zählte eins und eins zusammen. Wie viele Jahre haben Sie Ihre Schwester nicht mehr gesehen?“
„Sechs.“
„Dann ist wohl eine kleine Feier angebracht.“ Er stellte eine Weinflasche und zwei Gläser auf das Tablett. „Seien Sie vorsichtig, der Korken steckt nur locker drin.“
Als er Abbys verwunderte Miene sah, zwinkerte er ihr zu. „Der alte Geizkragen hat Ihnen einen ganzen Tag abgezogen, stimmt’s? Dann kriegen Sie den Lohn eben jetzt in Naturalien.“
„Das ist sehr großherzig von Ihnen, Mr. Blake. Vielen Dank“, flüsterte Abby, ziemlich überwältigt von der unerwarteten Güte. Während sie das voll beladene Tablett nach oben trug, plagten sie leichte Schuldgefühle.
Was würde er wohl denken, wenn er wüsste, dass sie nicht nur ihre Schwester ins Haus geschmuggelt hatte, sondern auch noch zwei wildfremde Frauen? Und dass alle drei direkt aus einem Bordell hierhergekommen waren?
Als sie in ihr Zimmer trat, hatten die Mädchen sich gewaschen und waren in je eins von Abbys warmen Flanellnachthemden geschlüpft. „Es macht dir doch nichts aus, dass wir uns deine Sachen ausgeliehen haben, oder?“, fragte Jane.
„Natürlich nicht, Dummerchen. So, hier ist unser Abendessen.“ Sie setzte das Tablett vor dem Kamin ab und verteilte die Speisen auf einer Tischdecke, wie bei einem Picknick.
Die Mädchen fielen mit Begeisterung über das Festmahl her.
„Sie haben uns weder gestern noch heute etwas essen lassen“, erklärte Jane zwischen zwei Bissen Pastete.
„Warum denn nicht, um alles in der Welt?“
Jane wechselte einen Blick mit Damaris und lachte dann. „Damaris hat mich krank gemacht.“
„Was? Warum?“ Abby schaute Damaris an. Die wirkte mit ihrem frisch geschrubbten Gesicht und den dunkel schimmernden Haaren, die ihr offen über die Schultern fielen, genau so jung und unschuldig wie Jane. Und vielleicht war sie das ja auch. Wenn man Jane unter Drogen setzen und entführen konnte, dann …
Abby schämte sich ihrer Vorurteile von vorhin.
„Auf diese Weise hat sie mich gerettet, Abby. Sie machte mir diesen scheußlich schmeckenden Tee, und kurz darauf fühlte ich mich furchtbar schlecht, und als sie mich dann nach unten zur Auktion brachten, habe ich …“
„Auktion?“
„Ja, für mein erstes Mal. Offenbar sind Männer bereit, viel Geld für eine Jungfrau zu bezahlen, daher versteigern die die Mädchen“, erläuterte Jane sachlich.
Empörung schnürte Abby die Kehle zu. „Und was passierte dann?“, brachte sie mühsam heraus.
Jane erschauderte. „Es war entsetzlich … all diese glotzenden Männer, und ich hatte praktisch nichts an, sie gaben mir nur ein Stück Gaze, wie bei manchen griechischen Statuen. Doch plötzlich wirkte das Zeug, das Damaris mir gegeben hatte, und ich habe mich übergeben – direkt auf die Männer, die vor mir standen.“ Sie kicherte. „Die Glotzer. Ich habe das gar nicht richtig mitbekommen, weil mir so schlecht war, aber sie waren furchtbar wütend. Und Mort war außer sich vor Zorn. Er hat Damaris ausgepeitscht …“
„Es war nicht so schlimm“, versicherte Damaris ihr hastig. „Er wollte meine Haut nicht verunstalten.“
Abby schluckte. Wie falsch hatte sie dieses Mädchen eingeschätzt.
„… und dann brachten sie mich wieder weg und verschoben die Auktion auf einen anderen Abend“, fuhr Jane fort. Sie hatte wieder zu zittern begonnen, aber diesmal lag es nicht an der Kälte.
„Nämlich auf heute Abend“, sagte Daisy in die Stille hinein. „In ungefähr einer Stunde.“
„Deshalb also warst du so … Oh, ich danke dir!“ Abby umarmte die kleine Dienstmagd erneut. „Ich kann dir gar nicht genug danken.“
Daisy errötete und murmelte ein peinlich berührtes: „Dafür nich’“.
„Nein, du bist eine Heldin!“, beharrte Abby. „Du hast Jane und Damaris gerettet und dafür auch noch deine eigene Anstellung verloren.“
Daisy schnaubte abfällig. „Ich wollt’ sowieso weg. Ich hasse, was daraus geworden ist. Als Mrs. B den Laden geschmissen hat, waren alle glücklich. Keiner musste irgendwas machen, was er nicht wollte, und die Mädchen waren freiwillig dort. Niemand wurde betäubt oder eingesperrt, und niemand musste sich verhuren, es sei denn, es war der eigene Wunsch. Aber seit Mrs. B im Ruhestand is’ und ihr Sohn Mort am Ruder ist …“ Sie schauderte. „Er ist ein schlimmer Finger, der Mort.“
Daisy schaute zu Damaris und Jane und sprach dann erbittert weiter: „Gestern hat mir eins der Mädchen gesteckt, dass Mort mich einem seiner Gentlemen versprochen hat, einem von denen, die Mädchen gern wehtun, und der sagte, dass er Lust auf ’nen kleinen Krüppel hätte. Und Mort is’ keiner, der ein Nein gelten lässt.“ Sie betastete vorsichtig ihre geschwollene Wange. „Ich hab’ viele Jahre für Mrs. B gearbeitet, seit ich ein kleines Mädchen war, und sie hat nich’ einmal versucht, mich zu verkaufen – und das hätte sie tun können, glauben Sie mir. Sie hat mich einmal gefragt, und ich hab’ Nein gesagt, und damit war’s erledigt. Aber Mort … dem war’s egal, was ich wollte.“
Sie schnitt sich ein Stück Käse ab. „Sie sind mir also gar nichts schuldig, Miss“, sagte sie zu Abby. „Ich hab’s genauso für mich getan wie für die beiden da. Und Sie nehmen mich für die Nacht auf und geben mir was zu essen, also sind wir quitt.“
Abby teilte diese Ansicht keineswegs. Sie schuldete Daisy mehr als das, aber im Moment wollte sie alles über das Schicksal ihrer Schwester erfahren. „Jane, wie bist du denn überhaupt nach London gekommen? Du warst doch auf dem Weg nach Hereford.“
„Ich weiß, und ich habe keine Ahnung, wie es passiert ist. Ich bin ganz normal losgefahren.“
„Mit der Postkutsche?“
„Nein, einer der Schirmherren des Pill …“ An die anderen gewandt, erklärte sie: „Ich meine das Pillbury-Heim für Töchter in Not geratener Damen. Dorthin hat man Abby und mich nach Mamas Tod geschickt.“ Sie nahm den Faden ihrer Erzählung wieder auf. „Nun, Sir Walter Greevey, er ist einer der Schirmherren und sehr freundlich, hatte mir die Stellung im Pfarrhaus in Hereford verschafft und auch eine Kutsche geschickt, um mich dorthin bringen zu lassen. Wir hielten an einer Gastwirtschaft, um die Pferde zu wechseln, ich aß und trank etwas, und danach … kann ich mich an nichts mehr erinnern, bis ich schließlich in einem fremden Bett aufwachte, nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet – es war nicht mal mein eigenes! – und Damaris mit mir im Zimmer war.“
„Wie schrecklich“, rief Abby. „Wo war denn der Kutscher? Warum hat er sie nicht daran gehindert? Oder steckte er mit ihnen unter einer Decke?“
Jane schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Vermutlich war er betrunken. Er hat ständig an einer Flasche genippt, wann immer ich ihn sah.“
„Er verdient, rausgeschmissen zu werden.“ Abby sah Damaris an. „Bist du auch entführt worden?“
Damaris wandte den Blick ab. „Meine Situation war anders“, sagte sie unbehaglich.
Abby biss sich auf die Zunge, verärgert über sich selbst, weil sie das Mädchen in eine peinliche Lage gebracht hatte, doch Daisy mischte sich unerwartet ein. „Mort hat sie von einem Schiff gekauft, zwei Tage, bevor Ihre Schwester ankam. Ich hab’ gesehen, wie sie nach Sonnenuntergang reingebracht wurde. Sie hat sich richtig doll gewehrt, nich’ wahr, Miss?“
„Hat mir nicht viel genützt“, murmelte Damaris.
„Mort war nicht allzu glücklich über sie“, fuhr Daisy fort. „Krank vom ersten Tag an. Er machte sich Sorgen, dass sie irgendwelche fremden Sachen eingeschleppt hat, aber Sie sind ganz schön clever, nicht war, Miss?“ Sie grinste Damaris an. „Sie haben sich selbst krank gemacht, stimmt’s? Mit Tee, wie Jane erzählt hat?“
Damaris nickte. „Aber Mort hat mich dabei erwischt, wie ich die Kräuter im Garten pflückte, und dann eins und eins zusammengezählt. Er nahm Jane und mir die Kleider weg und sperrte uns zusammen ein, ohne Essen, wir haben nur Wasser bekommen.“ Sie sah kurz zu Abby hin. „Ich sollte heute Abend auch unten bei der Versteigerung erscheinen. Deshalb war ich so angemalt. Die goldblonde Jungfrau und die chinesische Hure.“
„Chinesisch? Du bist doch keine Chinesin“, erwiderte Abby.
„Nein, aber ich bin gerade aus China gekommen“, erklärte Damaris. „Meine Eltern waren dort als Missionare tätig. Sie sind gestorben“, fügte sie noch hinzu, um Abbys nächster Frage zuvorzukommen.
„Und man hat dich in ein Bordell gezwungen? Das … das ist schändlich und ungeheuerlich!“, sagte Abby erbittert. „Wir müssen gleich morgen früh zur Polizei in die Bow Street gehen.“
„Nein!“, riefen die drei Mädchen wie aus einem Munde.
Abby starrte sie verwundert an. „Natürlich müssen wir die Sache anzeigen, ansonsten gehen diese abscheulichen Untaten ungehindert weiter.“
„Nein!“, beharrte Daisy. Jane und Damaris nickten nachdrücklich. „Das darfst du nicht tun, Abby. Auf keinen Fall“, beschwor Jane ihre Schwester.
„Warum nicht? Ich verstehe euch nicht.“ Es erschien Abby selbstverständlich, sich Hilfe suchend an die Obrigkeit zu wenden, doch die Angst der anderen war praktisch mit Händen zu greifen.
„Wie ich Ihnen schon gesagt hab’, Miss“, versuchte Daisy sie zu überzeugen, „wenn Sie die Konstabler einschalten, dann ist es um uns geschehen. Mort hat seine Spione überall, auch bei den Bullen in der Bow Street, und sobald er Wind von einer von uns kriegt, schickt er seine Kerle, um uns wieder einzufangen. Und was dann kommt, wird nich’ schön.“
Jane erschauderte. „Das stimmt, Abby. Du hast keine Ahnung, mit wem wir es zu tun haben.“
„Ich würde lieber sterben, als dorthin zurückzugehen“, bekräftigte Damaris leise, aber eindringlich.
Abby runzelte verwirrt die Stirn. „Aber wie soll er euch denn finden? Dieser Mort weiß nichts von mir, und niemand kennt meine Verbindung zu euch …“
„Jeder, der irgendwas in der Bow Street anzeigt, muss seinen Namen und seine Adresse angeben, oder?“, fragte Daisy.
Abby nickte. Vermutlich war das so. Sie hatte bislang noch nie ein Verbrechen angezeigt.
„Wir haben denselben Nachnamen“, gab Jane zu bedenken. „Und Chantry ist kein sehr verbreiteter Name.“
„Und dann werden sie uns holen“, prophezeite Daisy.
„Wer wird euch holen?“
Daisy zuckte mit den Schultern. „Irgendwer. Wir werden nicht wissen, wer. Aber sie werden uns kriegen, und sie werden nich’ nett zu uns sein.“ Sie schüttelte sich vor Grauen. „Besser, wir verschwinden einfach, Miss, ohne große Wellen zu machen.“ Jane und Damaris nickten eifrig.
Abby sah die anderen drei hilflos an. Es ging ihr wirklich gegen den Strich, nichts zu unternehmen, aber sie wusste nichts über die Welt der Verbrecher. Sie konnte nicht auf dieselben Erfahrungen zurückgreifen wie die Mädchen. Und Daisy war sogar in dieser Umgebung aufgewachsen. Es wäre töricht, ihre Ratschläge zu ignorieren.
„Also gut“, gab sie widerwillig nach. „Es gefällt mir zwar nicht, aber werde davon absehen, in die Bow Street zu gehen.“ Sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach. „Aber was wäre, wenn ich einen anonymen Brief schicke?“
Daisy hob die Schultern. „Lassen Sie das mal lieber bleiben, sonst is’ der Ärger garantiert.“
„Das wollen wir ja mal sehen“, murmelte Abby.
Körperlich und seelisch erschöpft, legten sie sich gleich nach dem Essen hin. Jane und Abby teilten sich das Bett, so, wie sie es früher getan hatten. Daisy und Damaris schliefen in einem Ausziehbett, das Abby noch rasch aus dem Kinderzimmer holte.
Die drei Mädchen waren binnen Minuten eingeschlafen, doch Abby bekam kein Auge zu. Es gab so viel, worüber sie nachdenken musste. Wie war Jane in diesem fürchterlichen Haus gelandet? Warum hatte der Kutscher niemandem von ihrem Verschwinden erzählt? Warum hatte der Pfarrer sich nicht darüber beschwert, dass Jane nie im Pfarrhaus angekommen war? Und was war mit Mrs. Bodkin im Pill – die musste doch in einem solchen Fall unterrichtet worden sein –, warum hatte sie Abby nicht geschrieben? Die Gedanken und möglichen Antworten überschlugen sich in ihrem Kopf, aber am Ende fand sie keine schlüssige Erklärung.
Und wie sollte es nun weitergehen, nachdem ihre Schwester in Sicherheit war? Hier konnte Jane nicht bleiben, so viel stand fest, aber Abby brachte es auch nicht über sich, sie wegzuschicken.
Eigentlich hätte sie genau das tun müssen. Ihre kargen Ersparnisse würden nicht lange reichen, um sie beide zu ernähren. Es wäre das Vernünftigste, Jane entweder zurück ins Pillbury bringen zu lassen oder nach Hereford, um dort ihre Stellung als Gesellschafterin im Pfarrhaus anzutreten.
Jane schreckte ängstlich wimmernd aus dem Schlaf hoch.
„Schhh, Süße, alles ist gut“, murmelte Abby besänftigend.
Jane drehte sich zitternd zu ihr um. „Oh, Abby, du bist wirklich hier. Gott sei dank! Ich dachte, dass ich das nur geträumt habe, dass ich in Wahrheit immer noch in diesem Haus bin.“ Sie schlang ihre Arme fest um Abby. „Ich habe dich so sehr vermisst, große Schwester.“
„Ich habe dich auch vermisst, kleine Schwester.“ Blind vor Tränen drückte Abby einen Kuss auf Janes Scheitel. „Du bist jetzt in Sicherheit, Süße, schlaf weiter.“ Sie streichelte das Haar ihrer Schwester, so wie sie es früher getan hatte, als Jane ein kleines Mädchen gewesen war. Sie machte so lange weiter, bis Janes tiefe, regelmäßige Atemzüge darauf hindeuteten, dass sie eingeschlafen war.
Eines zumindest war Abby vollkommen klar geworden, als sie gegen Morgen endlich auch wegdämmerte: Sie würde Jane auf gar keinen Fall irgendwohin schicken; sie würden zusammenbleiben, als Familie. Irgendwie würde sie das schon schaffen.
„Meine Schwester, ihre Freundin und ihr Dienstmädchen wurden überfallen und ausgeraubt.“ Abby hatte sich im Morgenzimmer eingefunden, um Mr. und Mrs. Mason zu erklären, warum sie in ihrer Schlafkammer drei fremde Frauen beherbergte. Mrs. Mason war hereingekommen, weil sie irgendetwas von Abby wollte, und hatte die ungebetenen Gäste entdeckt.
Jane und Damaris – in Abbys Kleidern – warteten mit Daisy in der Halle.
„Sie waren gerade erst in London angekommen“, fuhr Abby fort. „Und standen nun ohne Geld und ohne Gepäck da und wussten nicht, wohin. Was hätte ich tun sollen?“
„Sie hatten kein Recht, sie in mein Haus zu bringen“, sagte Mr. Mason. „Sie kennen meine Haltung bezüglich Besuch und Personal.“
„Es war ein Notfall“, erwiderte sie ruhig. Sie befand sich auf dünnem Eis, und ihre Stellung stand auf dem Spiel, aber sie wollte sich nicht entschuldigen. „Außerdem benötige ich heute Morgen etwas freie Zeit, um meine Schwester irgendwo einzuquartieren. Sie ist noch nicht mal achtzehn Jahre alt und kennt sich in London nicht aus.“
„Nein, Sie hatten gerade Ihren halben freien Tag – von dem Sie übrigens verspätet zurückgekehrt sind“, beschied Mr. Mason sie gelangweilt und widmete sich wieder seiner Zeitung.
„Das stimmt, aber diese Situation ist sowohl unerwartet als auch dringlich. Ich brauche mindestens einen halben Tag, um entsprechende Vorkehr…“
„Nein“, wiederholte Mr. Mason, ohne von der Zeitung aufzublicken. Seine Frau nickte selbstgerecht, um ihre Zustimmung zu signalisieren.
„Ich möchte Sie bitten, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken“, sagte Abby ruhig. „Ich arbeite seit vier Jahren für Sie und habe niemals um eine Extra-Gefälligkeit gebeten. Verstehen Sie bitte, dass es sich um eine familiäre Verpflichtung handelt.“ Abbys Zeit hier war vorbei, das wusste sie, und sie würde den Masons nicht die Genugtuung geben, sie anzuflehen.
Auch wenn die Vorstellung, keine Arbeit zu haben und vier Menschen von ihren wenigen Ersparnissen unterstützen zu müssen, mehr als beängstigend war.
„Die einzige Familie, der gegenüber Sie zu irgendwas verpflichtet sind, ist meine“, betonte Mr. Mason.
„Ist das Ihr letztes Wort?“
„Jawohl.“
„Dann spreche ich hiermit meine Kündigung aus, mit sofortiger Wirkung.“
Mrs. Mason schnappte nach Luft. „Was?“
Mr. Mason senkte die Zeitung. „Das können Sie nicht tun.“
„Sie haben mir keine Wahl gelassen“, gab Abby zurück, erstaunt, wie gelassen sie klang. „Ich werde noch heute Morgen gehen, sobald ich meine Sachen gepackt habe.“
„Gehen? Aber was ist mit den Kindern? Wer soll sich um die kümmern?“, fragte Mrs. Mason.
„Es sind Ihre Kinder. Kümmern Sie sich selbst um sie. Vielleicht lernen Sie sie dann wenigstens ein bisschen kennen, die armen kleinen Dinger.“ Abby drehte sich auf dem Absatz um und marschierte aus dem Zimmer.
„Wagen Sie es nicht, mir den Rücken zuzuwenden“, kreischte Mrs. Mason hinter ihr her. „Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen, junge Frau! Tu doch was, Edwin! Ich bin noch nie in meinem Leben derartig unverschämt behandelt worden. Kommen Sie zurück, Miss Chantry!“
Abby ging weiter. Sie würde die Kinder schrecklich vermissen, aber ihr blieb nichts anderes übrig.
„Was sollen wir denn jetzt machen?“ Die vier Mädchen kauerten gemeinsam in dem kleinen Zimmer, das sie sich in einer respektablen Herberge genommen hatten. Es war ihr erster Abend als unabhängige Frauen.
„Arbeit suchen“, sagte Daisy. „Und eine Unterkunft. Ich kann mir das Zimmer hier nicht leisten.“
„Ich finde, wir sollten zusammenbleiben“, erklärte Abby. Sie hatte während der Nacht lange darüber nachgedacht.
„Wir alle?“, hakte Daisy vorsichtig nach. „Bin damit auch ich gemeint?“
„Ja, wir alle“, bestätigte Abby resolut. „Eine Frau ohne Familie ist verwundbar, hat Mama immer gesagt. Und sie hatte recht. Allein ist jede von uns verwundbar, aber zusammen sind wir stärker. Wie eine Familie.“
„Vier Waisen, eine Familie“, bemerkte Damaris. „Das gefällt mir.“
„Mir auch.“ Jane streckte ihre Arme nach rechts und links aus. „Nehmen wir uns an den Händen und schwören, einander Schwestern zu sein.“
„Schwestern? Ich kann nicht eure Schwester sein“, wandte Daisy ein.
„Warum nicht?“
„Weil, ihr seid alle was Besseres, und ich bin nur ein Findelkind aus der Gosse.“ Sie zögerte kurz, bevor sie hinzufügte: „Ich kann nich’ mal lesen.“
„Ich bring’s dir bei“, versicherten Abby und Damaris wie aus einem Mund und lachten.
„Schon, aber …“
„Daisy, Schätzchen, ohne dich wären wir anderen jetzt gar nicht hier“, stellte Jane klar. „Also mach schon und schwöre.“
Und so schworen sie, während das berauschende Aroma der Freiheit ihr Blut erhitzte wie süßer starker Wein, einander Schwestern zu sein und eine Familie zu werden. Sie stießen mit schwachem Tee auf ihren Pakt an und widmeten sich dann wieder der Überlegung, was sie jetzt tun sollten.
Es gab, für jede von ihnen, nur einen Weg: Arbeit finden, Lebensunterhalt verdienen. Nur wie? Das war die eigentliche Frage.
„Was wäre, wenn ihr alles haben könntet, was ihr wollt?“, sagte Abby schließlich.
„Ohhh ja.“ Jane, die ermattet über der Bettkante hing, richtete sich eifrig auf. „Dieses Spiel haben Abby und ich als Kinder oft gespielt. Was wir haben wollen würden, wenn die Dinge exakt so wären, wie wir sie uns wünschen“, fügte sie erklärend hinzu.
Abby lächelte. „Es schadet nicht, ein bisschen zu träumen.“ Träume waren Abby schon seit Langem gute Freunde.
Jane faltete nachdenklich die Hände und grübelte einen Moment. „Ich möchte debütieren, so wie Mama“, sagte sie dann. „Weißt du noch, Abby? Sie ist in ihrer ersten Saison zu Tanzabenden und Bällen und Picknicks gegangen und ins Theater und in Konzerte und … einfach zu allem, was dazugehört. Das will ich auch. Ich will auf Bälle gehen und hübsche Kleider tragen und mit attraktiven Männern tanzen. Und einer von ihnen – natürlich ist er groß und gut aussehend und reich – wird alles daransetzen, stets dieselben Bälle zu besuchen wie ich, und er wird mich um den letzten Tanz vor dem Festmahl bitten und auch um den letzten Tanz des Abends … Und dann bittet er mich um meine Hand.“
Abbys Augen wurden feucht. „So, wie Papa es bei Mama gemacht hat“, flüsterte sie.
Jane nickte. „Abgesehen davon, dass Papa nicht reich war. Ich weiß natürlich, dass das alles niemals möglich sein wird, aber es ist das, was ich mir wünsche, Abby – das, was Mama hatte. Und was wünschst du dir?“
Abby lächelte. „Das ist auch genau das, was ich mir für dich wünsche, Jane.“ Und sie schwor sich, dass ihre Schwester es bekommen würde, auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie das hinkriegen sollte.
„Nein, ich meine für dich. Was willst du für dich? Willst du nicht dasselbe?“
„Doch, natürlich“, erwiderte Abby leichthin. Nie mehr einsam zu sein, sich geliebt und gewollt zu fühlen … Jemanden zu haben, mit dem sie ihre Sorgen bereden könnte, der ihr vielleicht sogar die Last von den Schultern nehmen würde, sich um die alltäglichen Probleme kümmern zu müssen … Wer würde so etwas nicht wollen?
Und Kinder … Sie sehnte sich nach eigenen Kindern, nach Kindern, die sie so sehr lieben durfte, wie sie wollte, nach Kindern, die ihr niemand wegnehmen konnte.