Ein Steinpilz für die Ewigkeit - Hannes Ringlstetter - E-Book

Ein Steinpilz für die Ewigkeit E-Book

Hannes Ringlstetter

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer später stirbt, ist trotzdem tot Als die Nachricht kommt, die Hannes Ringlstetter seit Jahren befürchtet, weiß er, was zu tun ist: Einen Steinpilz will er suchen und seinem Vater auf die »letzte Reise« mitgeben. Sehr berührend und nachdenklich setzt Hannes Ringlstetter sich mit dem Vater auseinander, sucht einen Umgang mit der Endlichkeit. Er zeichnet ein vielschichtiges Bild des »humanistisch christlichen Welterklärers«, der doch auch eine dunkle Seite hatte. Ausgesöhnt hat er sich längst mit ihm.  Hannes Ringlstetter schreibt über den letzten Willen und letzte Worte, über Krankheit, Sterben, Abschied und was es mit einem macht, wenn der einst so wortgewaltige »alte Herr« sich kaum mehr artikulieren kann. Ein Buch voller Wärme und Zuneigung und ein Anstoß zum Miteinander.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 164

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Als die Nachricht kommt, die er seit Jahren befürchtet, weiß Hannes Ringlstetter, was zu tun ist: Einen Steinpilz will er finden und seinem Vater auf die »letzte Reise« mitgeben. Sehr berührend und nachdenklich sucht er einen Umgang mit der Endlichkeit.

Er zeichnet ein vielschichtiges Bild des »humanistisch christlichen Welterklärers«, der doch auch eine dunkle Seite hatte. Ausgesöhnt hat er sich längst mit ihm.

 

Ringlstetter schreibt über den letzten Willen und letzte Worte, über Krankheit, Sterben und Abschied. Ein Text voller Wärme und Zuneigung und ein Anstoß zum Miteinander.

 

»Ein Steinpilz für die Ewigkeit ist Ringlstetter. So kennt man ihn, so liebt man ihn, und jetzt weiß man auch, warum.«

Hans Sigl

Hannes Ringlstetter

Ein Steinpilz für die Ewigkeit

Mein Abschied vom Vater

 

 

 

Für Lis

Take Me Home

»Knock-knock-knockin’ on heaven’s door«, schallt es wirklich erbärmlich von der Nebenfinca auf meine überhitzte Veranda herüber, in diesem heißen mallorquinischen Sommer 2023. Live mit Gitarre und leider auch Gesang, durch schlimme, übersteuerte Boxen hinausgeblasen, dargeboten von einem deutschen Coverinterpreten knapp über der Beleidigungsgrenze für jeden einzelnen Song und meine Ohren. Puh.

»Yeahyeahyeahyeah …«

… und jetzt folgt schlimmerweise ein schlechtes Leonard-Cohen-Cover, na, welches wohl? Klar: ›Hallelujah‹! Was denn sonst. Ich glaube, mich richtig zu erinnern, dass dieser Song der meistgespielte auf Beerdigungen in der westlichen Hemisphäre ist. Obwohl mich die akustische Umweltverschmutzung nervt, nehme ich es als eine Art Fügung hin, mich wieder mit diesem Buch zu beschäftigen. Da kann ich mich dann auch gleich innerlich in Gelassenheit üben, das Gespiele nicht weiterhin schrecklich zu finden, sondern den Blick insoweit zu verändern, dass ich mir einrede, es sei doch immer schön, wenn jemand Musik macht, auch wenn’s mir in diesem Falle wirklich schwerfällt. Fällt mir genauso schwer, wie es meinem vor einem Dreivierteljahr verstorbenen Vater schwergefallen wäre.

Ich habe dieses Buch hier eine Zeit lang »liegen lassen«. Die letzten Monate war ich fast durchgehend auf Tournee, im Duo, im Trio und mit meiner großen Band. Ich bin umgezogen, und eine nervige, langwierige Krankheit schleppte sich mit mir durch das letzte Vierteljahr. Nichts Schlimmes, aber eben nervig. Immer wieder merkte ich zudem bei Schreibversuchen, dass es nicht ins Fließen kommen wollte, weil: Kaum kehrte mal Ruhe ein, kam die Trauer hoch und lähmte mich oder es war mir einfach nicht möglich, in die Erinnerungen, Bilder und Gefühle hineinzugehen, die mit dem Leben, Sterben und dem Tod meines Vaters verbunden sind. Weiterhin habe ich quasi am eigenen Leib erfahren, dass dieses Trauerjahr, von dem immer die Rede ist, schon zu Recht eingerichtet wurde von der menschlichen Art, denn jetzt, im letzten Viertel desselben hin zum Jahrestag des Todes, merke ich, ganz langsam kann ich Stück für Stück den Blick verändern, und ich beginne automatisch, vieles Revue passieren zu lassen. Ich kann mich sogar dran freuen, dass dieses traurige Erlebnis alles in allem ein so positives in meinem Leben wurde.

Im Sommer vor einem Jahr lebte er noch. Wir verbrachten unseren Familienurlaub auf der griechischen Insel Samos, und der Urlaub war so mittelentspannt, denn irgendwie war klar, dass es der alte Herr wohl nicht mehr allzu lange machen würde. Nach der Rückkehr versuchte ich noch, über die Bedeutung der Insel in der griechischen Politik und im Mythos mit ihm zu plaudern, aber da merkte ich schon, dass das Interesse und die Fähigkeit, den Zusammenhängen zu folgen, in den letzten Wochen extrem nachgelassen hatten und die körperliche und geistige Schwäche nun seine Haupteigenschaften geworden waren. Er hat mir den Urlaub aber noch gegönnt, erst als ich wieder daheim war, begann langsam der Abschied.

In etwa da starten wir auch in diesem Buch die gemeinsame letzte Reise. Ein Jahr lang schreibe ich vor mich hin zu diesem »Thema«. Immer wieder. Wenn’s eben geht. Mit allgemeinen Reflexionen über das Leben und das Sterben, konkreten Erinnerungen an sein Leben und Sterben, Rückblenden auf unser gemeinsames Leben, Gedanken, die während des Schreibens auftauchen, und den intensiven Erlebnissen des finalen Geleits bis hin zum irgendwie erreichten Abstand ein Jahr später.

»Country roads, take me home … to the place I belooooooong …«, tönt es jetzt herüber. Puh, das kann man ja auch als Songs übers Sterben interpretieren, denke ich, als das Gecovere für heute endet mit ›Losing My Religion‹ und ›Über sieben Brücken musst du gehn‹. Okay. Ich denke, wir sind im Thema. Wir können anfangen. Mit dem »zu Ende gehen«.

Ach. Noch was: Die Frage, warum der geneigte Leser dieses Buch über das Sterben und den Tod und natürlich unweigerlich auch über das Leben meines Vaters lesen will und hoffentlich auch wird, wenn es nicht jetzt schon zu öde ist, stelle ich mir beim Schreiben nicht. Warum ich es allerdings überhaupt verfasse? Diese Frage stelle ich mir schon. Mein Vater ist am vierten Oktober 2022 verstorben, dreiundneunzigjährig, bis auf die letzten eineinhalb Jahre bei gutem Bewusstsein und ausgestattet mit gedanklicher Brillanz, zu Hause im Kreise seiner Lieben, wie es so schön heißt. Es wird also keine spektakuläre Geschichte werden, und es geht mir auch nicht darum, eine besonders krasse Biografie zu würdigen oder zu erzählen, noch will ich damit primär sein Ableben verarbeiten, denn das muss man schon auch anders hinkriegen, Trauern ist ein stiller, nach innen gewandter Vorgang. Eine Veröffentlichung seiner Gedanken, Erinnerungen und Gefühle diesbezüglich schadet zwar vielleicht nicht, hilft aber auch nicht wirklich. Nein, es geht mir darum, dass es bei aller Normalität und der gebotenen Dankbarkeit für so ein langes Leben dennoch einen Umgang mit der Endlichkeit braucht. Und dass ich mir während des ganzen Weges schon immer wieder mal gedacht habe, dass ich sie gerne erzählen würde, diese Geschichte seines begnadet langen Lebens, des Privilegs, zu Hause zu sterben, des Glücks einer nicht zerstrittenen Familie, einer guten, fachmännischen und menschlich dennoch nicht erkalteten medizinischen und pflegerischen Betreuung. Alles keine Selbstverständlichkeiten. Ein bisschen Erinnerung und Nostalgie sind auch dabei, und um den Tod herum spirituelle Fragen, die unweigerlich auftauchen und einen im Idealfall offener und weiter denken lassen als bisher. Nicht zuletzt möchte ich deshalb davon erzählen, weil es auch einige unterhaltsame Momente gibt in all dem Abschied und weil das Buch dazu anstacheln soll, sich verdammt noch mal gegenseitig in Liebe zu begegnen, statt in Selbstsucht, Kälte und Abgeklärtheit, und ein Miteinander zu leben, auch schon in den leichten Lebenszeiten. Denn sonst stirbt nicht nur jemand Wichtiger, wenn es so weit ist, sondern es stirbt in einem selbst schon während des Lebens viel zu viel, obwohl man doch hoffentlich noch lange zu leben hat.

Who is who? Ein Clan, der seinen Namen trägt

Es steht mir gar nicht zu, das Leben meines Vaters posthum und ohne es mit ihm detailliert abgesprochen zu haben, hier niederzuschreiben und es somit ja zu beurteilen. Ich habe lediglich meinen Blick auf den Abschnitt seines Lebens, der mit mir zu tun hatte, und somit auch nur ein bruchstückhaftes Bild von ihm und seinem Leben mitzuteilen. Das gilt übrigens auch fürs Sterben, das schon mal vorweg. Es ist mein Erleben, das hier geschildert werden kann. Wie er sein Leben und Sterben wirklich empfunden hat, hat er natürlich mit ins Grab genommen, und das ist auch richtig so. Es ist das Recht eines jeden Menschen, sein Geheimnis zu behalten. Der grundlegende Abriss seiner Biografie ist vollständigkeitshalber wichtig für das Verständnis der ganzen Geschichte hier, deshalb in aller Kürze und quasi im Schnelldurchlauf, damit alles, was zwischendurch zum Vorschein kommt, grundsätzlich irgendwie einzuordnen ist.

Geboren 1929 in Passau/Niederbayern. Der Vater Zollbeamter aus der Oberpfalz. Die Mutter sollte zehn Kinder gebären. Eines starb als Kleinkind, ein Sohn kam aus dem Krieg nicht zurück. Blieben also acht Kinder, vier Söhne und vier Töchter, für die der strenge Vater einen klaren Plan entworfen hatte. Die Söhne sollten Mediziner, Jurist, Soldat und Pfarrer werden. Die Töchter alle eine Ausbildung machen. Es kamen ganz besondere Biografien dabei heraus, vor allem bei den Frauen. Die Älteste wurde eine sehr feingeistige Musiklehrerin, die zweite verweigerte als junge Lehrerin die üblichen schulischen Nazirituale, was ihr einen Gefängnisaufenthalt eintrug. Sie konnte aber dann nach dem Krieg promovieren und war später sowohl in den USA als auch in Asien. Die dritte wurde Chefsekretärin in einer großen Bank, und die vierte, die zum jetzigen Zeitpunkt noch lebt, arbeitete am Schul-amt. Dennoch hatte der Vater sie immer als eine Art Haushälterin betrachtet. Übrigens sorgte sie qua dieser Lebensdefinition in der Folge dafür, dass der Clan jedes Jahr mit circa fünfundzwanzig verschiedenen Sorten Weihnachtsplätzchen versorgt wurde.

Mein Vater war das Nesthäkchen. Nachdem seine Brüder Jurist, Mediziner und Soldat geworden waren, blieb für ihn perspektivisch nur noch der Pfarrer übrig. In den letzten Kriegswochen als Kanonenfutter missbraucht, hatte er verzweifelt Schützengräben gegen die anrauschenden Russen ausgehoben. Gleich nach dem Krieg kam er ins Internat nach Ingolstadt. Dort gefiel es ihm, seinen Erzählungen nach zu urteilen, im Grundsatz ganz gut. Neben der nachzukommenden Bildungspflicht hat er Theater gespielt, es wurde musiziert und gelacht. Auch wenn die Lehrer streng waren und man das Internat nur alle paar Monate verlassen durfte für einen Besuch bei der Familie, hat er mir die Zeit anekdotisch immer als eine gute geschildert. Erst in seinem hohen Alter hab ich begriffen, dass er dort seine schauspielerischen wie seine humoristischen und musikalischen Talente verortete, was aber nie zum Beruf taugte, denn davon kann man ja bekanntlich nicht leben, und somit schied es im Vorhinein schon aus, sich ernsthaft damit zu beschäftigen. Was wiederum eine Erklärung dafür ist, warum er meinen Luftikus-Ideen eines Lebens als Künstler immer sehr aufgeschlossen gegenüberstand. So streng er in der Erziehung war, so sehr vertraute er später auf meine Talente und dass ich daraus etwas Gutes machen würde.

Er kam also nach dem Abitur ins Priesterseminar, lernte aber meine Mutter kennen, verließ daher selbiges, woraufhin ihm der Vater postwendend beschied, dass er nur bereit sei, ihm ein Studium zu finanzieren, wenn er also den großen väterlichen Plan verlassen wolle, könne er schauen, wo er bleibt. So ging mein Vater zu seiner ältesten Schwester, die ihn bei sich wohnen ließ, und studierte in Würzburg Germanistik, Geografie und Geschichte. Er wurde anschließend Präfekt in zwei Internaten und schließlich Lehrer am Humanistischen Gymnasium in Straubing. Also zog er mit seiner jungen Frau zurück nach Niederbayern und startete dort das gemeinsame Leben. Er blieb bis zu seiner Pensionierung an derselben Schule, war ein leidenschaftlicher Pädagoge und kritischer Geist zu allen Zeiten.

Trotz geringer Körpergröße war er eine mächtige Erscheinung, hatte eine natürliche Autorität, war in all seinen Fächern eine Koryphäe und talentiert in nahezu allen wichtigen Bereichen des Lebens. Ein heller Kopf, ein schneller Denker, ein brillanter Redner, ein hochmoralischer Gerechtigkeitsfanatiker, ein hervorragender Handwerker, vor allem Schreiner, ein Mann der Natur und der Berge, aber auch des gemütlichen Sitzens und Diskutierens, ein Streiter und ein Mahner, ein Genießer, vor allem bei Süßigkeiten, andererseits extrem kontrolliert, was Alkohol anging. Ein starker Raucher bis vierzig, dann ein konsequenter Nichtraucher ohne pädagogischen Impetus auf diesem Gebiet. Ein strenges, ja auch patriarchalisches Familienoberhaupt mit einer allerdings nahezu rührenden Liebe gegenüber seiner Frau, auch wenn deren Biografie sich natürlich der seinen anzupassen hatte. Er war engagiert in seiner Schule weit über den Unterricht hinaus, er war engagiert in der Kirchengemeinde, war Pfarrhelfer und trug die Lesung in der Dorfkirche vor, er war ein leidenschaftlicher Krippenbauer und Wanderer und Schwammerlsucher[1].

Sein Leben lang war er ein Kämpfer für Demokratie und Freiheit, konnte glücklicherweise auf eine Familiengeschichte verweisen, die nicht nazigetränkt war, das galt auch für die Familie seiner Frau. Da er selbst und seine Nächsten offensichtlich nicht schuldig geworden waren, konnte er über die dunkle Vergangenheit seines Heimatlandes stets frei sprechen, dennoch haderte er oft fürchterlich damit, auch mit seiner persönlichen Lebensgeschichte, denn wie hätte man/er/die Seinen all das Schreckliche verhindern können, was wäre gewesen, wenn, usw. usw. Er hatte seinen ganz eigenen Platz in dieser Welt wie in unserer Familie, nicht ganz freiwillig und doch passend zu all seinen anderen besonderen Eigenschaften, war er auch kein ganz normaler Vater für mich …

Ich habe lange mit mir gerungen, das familiäre Setting wahrheitsgemäß an diese Stelle zu setzen. Ich kam in diese Familie und mein Vater wurde mein Vater, aber nicht qua Zeugung und durch meine Geburt. Ich wurde adoptiert und habe für mich beschlossen, dass die Umstände öffentlich nichts zur Sache tun. Seit ich eigene Gedanken habe, weiß ich um den Umstand. Bin somit mit mir und dieser Geschichte aufgewachsen und hab mich leidlich daran gewöhnt. Habe beschlossen, es hier nicht zu verschweigen, da ich weiß, dass unsere spezielle Beziehung, selbst die über den Tod hinaus, in dieses Buch eingeflossen ist. Das heißt, mein hier so benannter Vater, der nicht mein leiblicher ist, den kenne ich nicht, wurde vielleicht umso mehr mein Vater durch ebendiese Vorgeschichte. Er wollte es wahrscheinlich noch richtiger machen mit mir, und ich wollte ihm wohl noch mehr gefallen, als das Standard ist. Vieles war uns naturgegeben aneinander fremd, anderes hab ich blind aufgesogen und bin heute in vielen Dingen mehr von ihm geprägt, als das vielleicht bei einem leiblichen Vater der Fall gewesen wäre. Emotional ist die Bindung über seinen Tod hinaus wohl deswegen so stark, da es in irgendeiner Form von Anfang an ein willkürliches Verhältnis war. Und da man Willkürlichkeit als Existenzgrundlage kaum aushalten kann, denn zufällig das zu sein, was man ist, fühlt sich blöd an, haben wir einander eine extrem große Bedeutung gegeben. Uns aneinander oft abgearbeitet, ich musste mich rausemanzipieren aus seinem »Plan« für mich, ich musste mich entfernen, um ihm final nahzukommen, ich musste ihn ablehnen, um zu ihm zu finden, und ich musste ihn lieben lernen auf meine Weise. Es gab so vieles, was er mir nicht vorleben konnte, da er als Kind seiner Generation so etwas wie meine tiefen Bedürfnisse nicht erkannte. Ich kannte sie ja selbst nicht als Kind. Ich war. Da. Und bei ihm. Und ich wollte nie, dass es sich wie ein Zufall anfühlte, deswegen war mir die Reibung immer lieber als das Ignorieren. Denn dann habe ich mich und uns gespürt und dass das schon so gehört. Er und ich. Wir.

Live and Let Die

Jeder Mensch macht in seinem Dahinleben völlig individuelle und somit unterschiedliche Erfahrungen, hat andere Erlebnisse mit dem Tod. Ich denke, dass diese Erfahrungen einen mehr prägen im Umgang mit dem Tod, als man so gemeinhin, und auch man selbst, glaubt. Es ist ein seltsames Unterfangen, sich wie ich jetzt hinzusetzen und innezuhalten und sein bisheriges Leben danach durchzugehen, wo einem der Tod schon nahegekommen und nahegegangen ist. Ganz unterschiedlich kam er bei mir jeweils um die Ecke. Ich habe es mal unvollständig zusammengetragen, irgendwie erschien es mir wichtig, denn ich vermute, dass jedes einzelne Erlebnis den Umgang mit dem Tod meines Vaters auf jeweils ganz eigene Art vorbereitet hat. Einige Menschen musste ich schon gehen lassen, und da ich der Meinung bin, dass nur stirbt, wer vergessen ist, ist es gut, in diesem Buch mit an sie zu erinnern und Sie dabei mitzunehmen und anzustacheln, das Buch zwischendurch immer wieder beiseitezulegen und an Ihnen wichtige Menschen zu denken und sie ein weiteres Stück gehen zu lassen, indem man sie noch fester im Herzen hält. Ich habe bisher, wenn es auch heftige Erfahrungen waren, »nur« das An-mir-vorbei-Sterben erlebt, will sagen: Kein Schicksalsschlag hat mich selbst direkt getroffen, kein Kind ist verunglückt, ich hab keine Frau an den Krebs verloren, keine Geschwister an Drogen oder Vergleichbares. Alles nur das normale Leben. Und Sterben eben.

Meine erste Begegnung mit dem Tod war sehr früh, ich glaube, mit fünf Jahren. Ich war im Kindergarten, den ich alles andere als gerne aufsuchte. Als ein irgendwie recht sensibles Wesen wurde ich in dem niederbayerischen Dorfkindergarten so gar nicht heimisch. Harte Klosterschwestern und Pfarrer, allgemein ein etwas grobes Umfeld, sehr körperbetont der Umgang der Kinder untereinander, wertfrei ausgedrückt. Ein Mädchen hatte es mir allerdings angetan, ein sehr liebes, im Wesen feines. Ich mochte sie, und ich war wohl sogar ein bisschen verliebt, wenn man das mit fünf Jahren denn schon sein kann. Von einem Tag auf den anderen war sie nicht mehr da. Weg. Kam nicht mehr. Meine Mutter nahm mich liebevoll zur Seite und erklärte mir, dass das Mädchen gestorben war. Es war vom Huf eines nach hinten ausschlagenden Pferdes getötet worden. Diese Nachricht verstörte mich sehr, und dass das Mädchen nun im Himmel sei, wie meine Mutter mir versicherte, war kein Trost für mich. Ich hatte zum ersten Mal diese nicht greifbare Emotion von Verlust und Leere.

Mit meinem Einstieg in den dörflichen Katholizismus und meiner direkten Beteiligung daran als Ministrant wurde mein Umgang mit dem Tod dann allerdings zügig ein eher pragmatischer. Ich habe schon allein wegen des Geldes bei vielen Beerdigungen ministriert. Neben Hochzeiten das einträglichste Geschäft als Ministrant auf dem Lande. Aufgrund der schlimmen musikalischen und auch sonst extrem kühlen Gestaltung von Dorfbeerdigungen wurde das Sterben zu einem mir in der Sache fremdartigen, in der Durchführung allerdings vertrauten und vor allem finanziell bedeutsamen Vorgang.

Als ich zwölf war, traf mich der Tod dann zum zweiten Mal persönlich und diesmal nah. Meine Oma, der Familienmittelpunkt, starb mit zweiundsiebzig von einer Nacht auf den anderen Tag. Bis heute kann ich deshalb keine Gulaschsuppe mehr essen, und allein, wenn ich sie irgendwo rieche, dann wird es für mich morbide. Meine Mutter hatte mich geweckt, und unten in der Küche köchelte auf dem Herd die Gulaschsuppe für alle Verwandten, die wir in der Nacht in der Wohnung meiner Großeltern noch treffen sollten. Der Duft von Gulaschsuppe und diese Todesnachricht sind auf immer in mir verknüpft.

Nach dem Abitur bin ich an das Thema Tod freiwillig ganz nah herangerückt. Na ja, nicht ganz freiwillig. Weil ich der Endlichkeit auf möglichen Schlachtfeldern entgehen wollte, entschied ich mich für den Zivildienst in Pflege und Betreuung, und folglich hatte ich es auch mit Sterbebegleitung alter und kranker Menschen zu tun und vor allem ordentlich selbst damit zu tun. Voll in die Sturm-und-Drang-Phase des gerade mal freien, jungen Mannes hinein passierte parallel zum jugendlichen Leichtsinn täglich etwas an die Ernsthaftigkeit des menschlichen Lebens Erinnerndes. Alle Abgründe des einsam vor sich hin Vegetierens, des Abgeschnittenseins von seinem eigenen Körper und Geist, die Niederungen menschlicher Kälte in Familien, die Grausamkeiten medizinisch bedingter körperlicher Einzelheiten des endenden menschlichen Daseins. Alles das bekam ich täglich frei Haus serviert. Und ich machte das gerne, und es hat mich wohl nachhaltig geprägt, zum einen in Sachen Humor, zum anderen in Sachen Ernsthaftigkeit und Tiefe. Der Tod war immer irgendwie da, viele Patienten verstarben übers Wochenende, und so änderten sich die Woche drauf Schichten und Dienste oder es kam erst morgens der Anruf, dass man nicht mehr hinmusste. Alltag in der mobilen Pflege. Dennoch war es eine heftige Erfahrung für mich, als ich mit achtzehn das erste Mal eine tote Person in der Wohnung auffand, zu der ich als Pflegepersonal einen Schlüssel hatte.

Ich musste mir ein paar Tage freinehmen, und obwohl ich zu Hause ausgezogen war und in einer der zu Recht berüchtigten Zivi-Wohnungen lebte, ging ich für ein paar Tage zurück zu meinen Eltern. Immer wieder musste ich duschen. Immer wieder kam der Drang auf, das Erlebte von mir abzuspülen, mit heißem Wasser die Kälte des Todes und die Überforderung, die er in mir ausgelöst hatte, wohl ebenso. Das ist mir bis heute geblieben. Wenn etwas Schlimmes passiert in meinem Leben oder ich mich sehr überfordert fühle, dann dusche ich. Sehr oft und sehr heiß und sehr lang. Dann geht’s wieder.

In der späten Jugend kamen Brüder von Freunden durch Unfälle um, ich war bei schrecklichen Zusammenstößen dabei, und es starben jetzt die ersten eigenen Vorbilder, alte Verwandte, in den letzten Jahren immer mehr. Naturgegeben. Als der Bassist und Sänger meiner ersten Band unerwartet mit gerade mal fünfzig Jahren starb, war