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Europa im fünften Jahrhundert. Die junge Burgunderin Goldrun wird als Geisel ins Land der Hunnen verschleppt. Ihr besonderes Gespür für Pferde lässt sie am hunnischen Hof von der Sklavin bis zur Stallmeisterin aufsteigen. Dabei lernt sie den jungen Prinzen Ernak kennen und lieben. Doch ihre Liebe steht unter einem unheilvollen Stern, denn Ernaks Vater ist der Großkönig Attila, den man "die Geißel Gottes" nennt ... Dieses E-Book ist als Taschenbuch auch unter dem Titel "Die Burgunderin" erschienen.
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Seitenzahl: 1048
TILMAN RÖHRIG
HISTORISCHER ROMAN
Illustrationen von Tina Dreher
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2005 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Helmut W. Pesch
E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-0347-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Die Hauptpersonen des Romans
ERSTES BUCH»… und du krönst ihn mit einergoldenen Krone.«
ZWEITES BUCH»… das Schwert wird satt und wirdtrunken von ihrem Blut.«
DRITTES BUCH»… was du beiseite schaffst,rettest du nicht.«
VIERTES BUCH»… der Tod führt sie auf seine Weide.«
Auf den Schwingen der Zeit
Die Burgunder
Goldrun, Sklavin bei den Hunnen, später Stallmeisterin des hunnischen Großkönigs
Sighilde, ihre Mutter
Giselher, ihr Bruder
Hildegund, ihre Freundin, Sklavin bei den Hunnen
Walther, ein burgundischer Adeliger, Sklave bei den Hunnen
Fulla, Sklavin, später Hofdame der hunnischen Großkönigin
Die Weströmer
Galla Placidia, Kaiserin und Regentin
Valentinian III., ihr Sohn, Kaiser des Weströmischen Reiches
Justa Grata Honoria, seine Schwester
Flavius Aëtius, Magister Militum und Procurator von Gallien
Carpilio, sein Sohn
Anatolius, Senator und General, Unterhändler bei den Hunnen
Eugenius, Hofmeister der Honoria
Hyacinthus, Eunuch, Kammerherr der Honoria
Leo I., Papst, Bischof von Rom
Anianus, Bischof von Orléans
Lupo, Bischof von Troyes
Die Oströmer
Theodosius II., Kaiser des Oströmischen Reiches
Aëlia Eudocia, Kaiserin, seine Gemahlin
Licinia Eudoxia, ihre Tochter, Gemahlin Valentinians III. und Kaiserin des Weströmischen Reiches
Chrysaphius, Eunuch, Kanzler am Hof von Konstantinopel
Pulcheria, älteste Schwester des Kaisers
Marcianus, Soldat, von Pulcheria zum Augustus erhoben
Arcadia und Marina, jüngere Schwestern des Kaisers
Maximinus, Gesandter des Kaisers an den hunnischen Hof
Priscus, Schriftsteller und Gesandter des Kaisers
Viglias, ein gotischer Dolmetscher
Zerkon, der berühmteste Narr der damaligen Welt
Die Hunnen
Bleda, Großkönig der Hunnen
Marpesa, seine Gemahlin und Großkönigin
Attila, Bledas Bruder und Mitregent, später Großkönig der Hunnen
Kreka, Attilas Gemahlin und Großkönigin
Ellac und Dengizik, ihre älteren Söhne
Ernak, ihr jüngster Sohn
Keve, ein hunnischer Truppführer
Mela, seine Frau
Tarcal, ihre Schwester, Oberin der hunnischen Zuchtställe
Ajarbas, Attilas Oheim und oberster Schamane der Hunnen
Basig, hunnischer Logade und Hofmeister
Edekon, Kommandant der Leibwache des Großkönigs
Odoaker, sein Sohn
Esla, hunnischer Logade
Onegesius, Ratgeber Attilas und Herr der Hofkanzlei
Scotta, sein Bruder
Constantius, Rufus und Orestes, Kanzleischreiber
Ardarich, König der Gepiden
Eudoxius, ein gallischer Arzt und Bagaudenführer
Andagis, ostgotischer Fürst und hunnischer Logade
Ildiko, seine Nichte
»… UNDDUKRÖNSTIHNMITEINERGOLDENEN KRONE.«(Ps. 21,4)
Warum? Die Frage war zu groß, keine Antwort würde je ausreichen. Goldrun irrte über das Schlachtfeld, die Augen geweitet. Die Lippen bebten beim Anblick der Pferdeleiber, der toten Kämpfer, hingemäht durch Pfeile, Speere und Schwerter.
Niemand hatte die Zehnjährige zurückgehalten, selbst ihre Mutter nicht. Unvermittelt war sie aufgestanden, hatte den seilumspannten Pferch der Gefangenen verlassen und war an den Zelten der Wachposten vorbeigegangen. Eine zarte Gestalt, das Kittelhemd mit einem Lederriemen gegürtet; vom Stirnband wurde ihr goldrot schimmerndes Haar gebändigt und fiel erst im Nacken lockig über die Schultern. Sah sie zum blassen Himmel und weiter nach Westen in den versinkenden Sonnenstreifen am Horizont, schien ihr die Welt so friedvoll wie gestern, blickte sie zu Boden, schrie der Tag sie aus aufgerissenen Gesichtern der Erschlagenen an.
Goldrun wich aus, suchte immer wieder einen neuen Pfad. »Es ist nicht wahr.« Verwundert lauschte sie ihrer Stimme; der helle Klang hob sich über das Elend und kehrte zu ihrem Mund zurück. »Ich weiß es.«
Schon am Rande der ausgedehnten Flussniederung war das Gras nicht mehr grün gewesen, war getränkt vom schwärzlichen Blut, die Blumen zertreten. Jetzt aber gab es kaum noch einen freien Fleck, auf den sie ihren Fuß setzen konnte. Unzählige Hügel aus Schilden, Helmen und Körpern mit zerrissenen Kleidern, zerfetzten Panzerhemden türmten sich vor ihr auf. Wie kahle Strünke wuchsen Pfeile und Speere aus den Toten. »Aber er wartet doch auf mich.« Zitternd stieg Goldrun über die Leichen, war bemüht, nur auf Eisen zu treten, ihre Sandalen aber rutschten immer wieder ab. Mit einem Mal bemerkte sie, dass lichtlose Augen sie von unten anstarrten und sie spürte das Grauen zwischen ihren nackten Beinen hochkriechen, sich in die Haut ein nisten. »Nicht. Lasst mich.« Goldrun tastete nach dem ledernen Amulettbeutel unter ihrem Hemd und stapfte weiter.
Bilderfetzen kamen, drängten sich auf: In der Frühe hatte der Vater lachend von der Mutter Abschied genommen und war hoch zu Ross, gerüstet mit Kettenpanzer, Schwert, Lanze und Schild aus dem Hof geritten. »Heil König Gunther! Heute werden wir den Feind besiegen und davonjagen!«
Wie stets, wenn er in den Kampf zog, wartete Goldrun draußen vor dem Tor auf ihn. Sie wollte die Letzte sein, der er Lebewohl sagte. »Schönste Dame meines Herzens!« Er senkte die Lanze. »Kein Gegner wird mich daran hindern, zu Euch heimzukehren.« Goldrun hatte ihm noch lange nachgewunken. Die Morgensonne ließ den Helm blinken. So stark wie der Vater ist kein anderer Ritter im ganzen Reich der Burgunder, hatte sie voller Stolz gedacht. Ganz allein kann er den König und uns beschützen.
Als am späten Nachmittag das Waffengeklirr in der Rheinebene schwächer geworden war, keine langgezogenen Tubastöße zum erneuten Angriff erschallten, dafür das Siegesgeheul der hunnischen Horden lauter und lauter gellte, hatte die Mutter den kleinen Giselher an sich gedrückt: »Das Glück hat sich von uns abgewandt. Der Vater kommt nicht mehr. Wir sind jetzt allein, Mädchen, du, dein Bruder und ich.«
Goldrun verstand die Worte nicht, hatte die Mutter nur verwundert angeblickt.
Dann kamen Reiter auf struppigen Pferden wie ein Sturmwind auf den Hof. Wer sich von den Knechten nicht gleich ergab, dem spalteten sie den Schädel. Die übrigen wurden zusammen mit den Frauen und Kindern wie Vieh zu den Gefangenen in die Weide neben dem flachen Tümpel getrieben. Goldrun hatte hinüber zur Hauptstadt gestarrt: Die Tore waren geborsten. Flammen schlugen aus den Häusern. Schwarze Rauchwolken stiegen. Worms brannte.
»König Gunther ist tot«, hörte sie die Frauen flüstern. Weinen und Jammern wurden lauter. »Unsere Männer sind gefallen. Großer Gott erbarme dich. Was wird nun aus uns?«
Die Mutter wiegte Giselher auf den Knien. Verloren sagte sie immer wieder vor sich hin: »Der Vater kommt nicht mehr … Der Vater kommt nicht mehr …«
Nein, das ist nicht wahr, hatte Goldrun gedacht, er wartet nur, dass ich ihn abhole. Dann war sie aufgestanden …
Nun ängstigte, bedrohte sie längst die Wirklichkeit. Süßlicher Geruch nahm ihr den Atem. »Vater!« Seit mehr als einer Stunde suchte sie schon vergeblich nach ihm. Dämmerung fiel. Inmitten der Leichen berge stand sie hilflos da. Tränen rollten ihr über die Wangen. Mit matter Stimme rief sie. »Vater, hörst du mich?«
Seufzen. Nein, es klang eher wie ein Stöhnen.
»Vater?« Hoffnung weckte ihre letzten Kräfte. »Ich bin’s.« Erneut antwortete ein Stöhnen ganz in ihrer Nähe. Sie starrte in die Richtung, folgte hastig dem Geräusch. Nach wenigen Schritten aber verstummte es wieder. Goldrun beugte sich über einen niedergestreckten Kämpfer. Er lag mit dem Gesicht nach unten. Er trug das gleiche Kettenhemd wie der Vater. Behutsam drehte sie seinen Kopf und schreckte gleich vor dem aufgerissenen starren Mund zurück. Sie ging zum nächsten, lüftete den Helm; das Haar war nicht blond. Dem Nachbarn steckte ein Pfeil in der Kehle. Goldrun stolperte weiter. Ihr Herz pochte, hämmerte. Wohin sie auch blickte, überall glaubte sie den Vater zu erkennen, eilte zu ihm, und erst wenn sie sich niederkauerte, war es ein fremder Mann. »Tot! Alle sind tot!« Die Schultern sanken, sie wehrte sich nicht länger gegen die Wahrheit. »Mutter hat Recht«, schluchzte sie. »Der Vater kommt nicht mehr.«
Tiefes Ausatmen. Direkt hinter ihr. Goldrun fuhr herum. Nichts, nur das gleiche unfassbare Elend. So schwer wurden die Beine. Müdigkeit. Du darfst nicht schlafen, befahl sie sich. »Ist da jemand?« Sie schleppte sich weiter. »Ich hab dich doch gehört.«
Wer es auch war, ganz gleich, sie wollte nur nicht allein sein. Vielleicht dort drüben? Goldrun musste einem gestürzten Pferd ausweichen. Es lag auf der Seite. Fliegen sirrten, bedeckten den wehrlosen Körper. Fast war sie schon vorüber, als sie erneut ein Seufzen vernahm. Die Stute hob den Kopf an, gleich sank er wieder zurück.
»Du warst es.« Goldrun hockte sich nieder, verscheuchte einen Schwarm der Plagegeister, sanft strich sie über den Nasenrücken bis zu den Nüstern. Bei der Berührung öffneten sich die langen Wimpern. Schmerz stand in dem fiebrigen Blick. Vertrockneter Speichel klebte am Maul und Kinn. »Ich helfe dir.« Sie löste die Lederriemen und streifte das Zaumzeug ab. Ihre Hand glitt tröstend über das weiche Fell an der Kopfseite und weiter zum Hals. Zorniger sirrten die Fliegen. Dann wurden ihre Fingerkuppen nass und warm. Auf Knien rutschte das Mädchen vor die Brust der Stute. Den Sattel hatte sie beim Sturz verloren, trug nur noch den schweren Schurz aus engmaschigen Eisen ringen. Dieser Schutzmantel sollte Schwerthiebe und Lanzenstiche abwehren. Am Übergang zur Schulter aber klaffte eine tiefe Wunde. Blut quoll in Stößen heraus, rann in einer breiten Spur durchs Fell und versickerte im Gras.
Es war kein Gedanke, eine innere Stimme bat: Lindere die Qual.
Goldrun legte beide Hände auf die pulsende Quelle. Das Blut war nicht einzudämmen. »Wie soll ich denn helfen?« Verängstigt blickte sie zum Himmel. »Heilige Maria, du Beschützerin. Lass uns nicht allein.« Kein Zeichen, keinen Rat erhielt sie von der göttlichen Mutter.
Nach einer Weile wischte sich Goldrun die Tränen von den Wangen. Dieser Kettenmantel ist zu eng, dachte sie, löste die Haken und schob den Schurz beiseite. »So kannst du leichter atmen«, tröstete sie mit leiser Stimme, »ich bin ja bei dir«, und wiederholte es, während sie mit hin und her wedelnder Hand die gierigen Fliegenschwärme von der Wunde fernhielt.
Lindere die Qual, verlangte die Stimme in ihr.
»Ich will es doch, aber ich weiß nicht wie.«
Goldrun presste erschreckt die Lippen zusammen. Einmal war sie Zeugin gewesen, als auf dem elterlichen Hof ein Wallach erkrankt war. Zwei Tage lag er mit aufgeblähtem Leib im Stall, Krämpfe schüttelten ihn. So sehr sich der Vater auch bemühte, alle Kräuter und Tinkturen halfen nicht. »Es ist zwecklos, mein Mädchen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir müssen das Tier von seinen Schmerzen erlösen.« Ohne Zögern nahm er sein Kurzschwert aus der Scheide, und ehe Goldrun begriff, hatte er dem Pferd mit einem harten Stoß die Klinge bis zum Heft ins Herz getrieben.
»Nein, das kann ich nicht«, flüsterte sie und strich über das klebrig braune Brustfell. Die Stute schnaubte leise. »Hab keine Angst.« Wenn ich nur das Blut stillen könnte. Entschlossen erhob sich Goldrun. Wenige Schritte von ihr entfernt entdeckte sie die Satteldecke. Mehr als die Hälfte des Tuches lag unter zwei gefallenen Kämpfern begraben. Goldrun fasste nach einem Zipfel und zerrte. Doch die Toten hielten den Schatz fest. »Lasst los, bitte.« Heftiger ruckte sie, mit einem Mal bewegten sich die Körper, rollten schwerfällig auseinander und gaben die Decke frei.
Erschöpft kehrte Goldrun zu ihrem Schützling zurück. »Ich bleibe bei dir«, tröstete sie. »Keiner von uns beiden muss allein schlafen.« Behutsam breitete sie das Tuch über die Wunde, den Hals und die Brust. Sie beugte sich nah ans Ohr der Stute. »Mehr weiß ich nicht.«
Nur halb öffnete sich das Lid. Der Schmerz war gewichen; ohne Weh, ermattet blickte das große braune Auge. Goldrun drückte ihre Lippen auf die samtige Haut über den Nüstern. »So ist es gut.«
Unterhalb der Halsbeuge rollte sie sich im blutnassen Gras zusammen, rutschte mit dem Rücken näher an den großen Leib. »Wir wärmen uns gegenseitig.« Mit der Hand zog sie einen Teil der wollenen Decke über ihren Kopf. Tief sog sie den Geruch des Tieres ein, Schweiß vermischt mit Süße. Jeder Atemzug betäubte mehr, vertrieb die furchtbaren Bilder des Tages; bunte Bänder schwebten auf und nieder; leise begann eine Stimme in ihr zu singen. Goldrun lauschte dem Klang, er hob sie auf und trug sie in den Schlaf hinüber …
Jäh fuhren zwei Drachen aufeinander los, kämpften. Mäuler mit riesigen Zähnen schnappten zu. Fauchend erhoben sich die Kolosse auf die Hinterpranken. Immer heftiger prallten sie mit den Köpfen zusammen. Dann riss der Stärkere dem Gegner einen Fleischklumpen aus dem Hals. Blut spritzte und regnete nieder. Das verwundete Ungeheuer schrie, stieß krächzende Laute aus. Der Schuppenleib wankte. Es stürzte …
Goldrun wollte ausweichen, vergeblich, entsetzt öffnete sie die Augen und sah nichts. Ich liege unter dem Drachen … Aber warum ist er so leicht? … Klarer wurden die Gedanken. Sie spürte nur Stoff auf ihrem Gesicht. Ein Traum, dachte sie erleichtert und erinnerte sich an das Schlachtfeld, an die Stute, mit der sie die Decke teilte. »Keine Drachen«, flüsterte Goldrun. Aber das Kreischen wollte nicht verstummen. Vorsichtig schob sie das Tuch beiseite.
Der Morgen war angebrochen. Hoch oben am Himmel schimmerten rosafarbene Wolken. Jäh kam das Krächzen bedrohlich näher, schwarze Flügel verdunkelten den Blick. Raben flatterten dicht über ihr. Goldrun fühlte den Luftzug im Gesicht, dann floh die hungrige Meute davon.
Das Mädchen setzte sich auf und blickte den Vögeln nach. Nicht weit entfernt ließen sie sich auf einem Leichenhügel nieder. Ihre Schnäbel hackten in die Speise, die der Tod für sie aufgetischt hatte. Voller Ekel wandte Goldrun sich ab und hielt erschreckt den Atem an.
Direkt vor ihr standen Füße, sie steckten in Lederstiefeln. Unmerklich hob sie den Kopf. Die Schnürriemen reichten bis zum Knie. Eine Fellhose. Sie verschwand unter einem Schuppenpanzer aus Federn. Im breiten Gürtel steckte ein langer Dolch. Goldketten baumelten neben einem halb offenen Beutel, gefüllt mit blinkenden Ringen und Mantelbroschen.
»He? Was bist du?«
So fremd klang die Sprache. Kein Burgunder, dachte Goldrun. In der dunklen Stimme schwangen Unsicherheit und Drohung zugleich.
Sie blickte auf, sah die dünnen Bartsträhnen um den breiten Mund, die platte Nase, der lederne Helmsteg trennte zwei schwarze kleine Augen. »Ich bin …«
Der Hunne wich zwei Schritte zurück, gleich zückte er seinen Dolch. »Du kannst sprechen?«, keuchte er.
»Aber ja, ich bin die Tochter …«
»Guck weg. Ein Geist der Toten. Du sollst mich nicht angucken.«
Goldrun begriff seine Angst nicht und hob die Hand. Da heulte der Hunne auf, sprang vor, schon holte er zum Stich aus.
»Nein!« Keinen Augenblick dachte das Mädchen an die eigene Gefahr, glaubte, er wolle die Stute töten, und warf sich schützend über die Brust des Tieres. »Nicht. Tu ihr nichts. Sie ist verletzt.«
Goldrun blieb so. Über sich vernahm sie den scharfen Atem des Kriegers, erst nach einer Weile ging er ruhiger. »Das Pferd ist lange schon tot«, murmelte er. »Du bist sein Geist.«
»Nein, so glaub mir doch«, flüsterte Goldrun. Sie wagte sich hinzuknien. Langsam drehte sie den Kopf. Wieder wich der Hunne vor ihr zurück, die gespreizten Finger der linken Hand hielt er vors Gesicht, seine Rechte fuchtelte drohend mit der Waffe. »Du bist aus dem Pferd geschlüpft. Ein Blutwesen. O verflucht. Vielleicht sehe ich dich gar nicht? Wieso versteh ich dich? Nur unser großer Schamane kann mit euch Dämonen sprechen.«
»Nein, ich bin nur ein Mädchen. Eine Burgunderin. Ich hab meinen Vater gesucht. Und dann hab ich die Stute gefunden.«
Während sie sprach, bohrte er sich mit dem Finger ins Ohr, heftig schlug er sich gegen die Kopfseite. Goldrun sah ihn staunend an. »Und … und weil ich müde war, bin ich bei ihr eingeschlafen.«
»Das sagst du nur so. Aber warte.« Entschlossen steckte er die Waffe in den Gürtel und wandte ihr langsam den Rücken zu. Blitzschnell drehte er sich wieder um. Keine Täuschung. Das Wesen war immer noch da. Doch der Beweis genügte dem breitschultrigen, untersetzten Krieger nicht. »Mach die Augen zu«, knurrte er. »Wehe du guckst mich an. Ich komm jetzt zu dir.«
Goldrun gehorchte. Einen Atemzug später fühlte sie, wie seine Finger ihr klebriges Haar betasteten. Ein heftiger Ruck. Goldrun schrie auf und wehrte sich, schlug mit beiden Fäusten gegen den Arm. »Lass los! Du tust mir weh!«
Er zog heftiger.
»Hör auf!« Der Schmerz trieb sie in Wut. »Du verdammter Hunne. Ekelhafter Kerl!«
Lachen, es begann tief in der Brust, dann lachte der Krieger lauthals, zog das Mädchen an den Haaren hoch und freute sich an dem Geschrei. Längst hatte Goldrun die Lider geöffnet, blitzte ihn aus blauen Augen an. Sie trat ihm gegen das Schienbein, krallte sich an die schwielige Faust.
»Ein wildes Fohlen! Da hab ich mich vor einem burgundischen Fohlen gefürchtet.« Ehe er sich versah, hatte Goldrun zugebissen. Mit einem überraschten Grunzen lockerte er kurz den Griff. Schon war sie ihm entwischt und lief auf den nächsten Leichenhügel zu.
Der Schreck gab ihr einen kleinen Vorsprung. Flucht aber weckt das Jagdfieber. Im federnden Sprung flog der Hunne über die Stute; noch zwei Sätze, und seine Hand griff von hinten nach Gürtel und Kittelstoff. So hob er das Mädchen vom Boden, hob es wie eine zappelnde Puppe höher, bis die Gesichter sich ganz nahe waren. »Du kommst mit mir«, knurrte er. »Entweder freiwillig oder … Ich mein, du gehst auf deinen Füßen oder …« Das seltsam ockerfarbene Leuchten rund um das Blau der Augen verwirrte, ließ ihn den Satz nicht beenden. »Na ja, ich könnte dich auch still machen. Das mein ich.« Er schüttelte seine Beute. »Was ist?«
»Ich lauf nicht mehr weg. Ich versprech’s.« Goldrun hörte auf sich zu wehren. »Bitte, lass mich runter.«
Er senkte den Arm. Erst dicht am Boden öffnete er die Faust und blieb wachsam über dem Mädchen stehen. Goldrun erhob sich. Ihr Blick suchte die Stute. »Darf ich?« Ohne seine Erlaubnis abzuwarten, ging sie langsam zu dem verendeten Tier hinüber. Noch einmal kniete sie sich nieder. Reglos lag die Stute da. Goldrun streichelte das Fell, ihre Fingerkuppen berührten die samtige Haut über den Nüstern. Wie sonderbar kühl war sie geworden! »Jetzt tut dir nichts mehr weh«, tröstete sie mit leiser wiegender Stimme und hüllte den Kopf mit der Satteldecke ein. »Ich muss fort. Schlaf du nur weiter.«
Als Goldrun zu dem Hunnen aufblickte, bog er den Oberkörper zurück. »Vielleicht bist du doch …?« Die schwarzen Bartsträhnen an den Mundwinkeln zuckten. »Ach was. Vorwärts jetzt.«
Zur Sicherheit griff er wieder in ihr langes Haar, zog aber nicht, sondern führte seine Beute wie ein Füllen an der Leine neben sich her.
»He, Keve, was für ein Tier hast du denn gefangen?« Breitbeinig erwarteten die Wachposten ihren Truppführer. »Gold und Schmuck solltest du einsammeln und nicht …« Beim Näherkommen erstarb das Grinsen der Männer; sie sahen sich an, starrten wieder ungläubig auf das zweibeinige, über und über von schwärzlichem Blut beschmierte Wesen; langsam wichen sie zur Seite.
»Maul halten«, zischte ihr Vorgesetzter und schritt mit dem Mädchen an ihnen vorbei auf die abgesperrte Wiese der Gefangenen zu.
Erst aus sicherer Entfernung rief ihm einer der Kumpane nach: »Wir haben Befehl zum Aufbruch! Gegen Mittag müssen wir beim Haupttross sein. Vorher aber teilst du mit uns die Beute. He, brauchst nicht mehr nach Sklaven und Weibern suchen, die besten sind schon auf den Karren. Beeil dich, Keve.«
Er drehte sich nicht um, drohte ihnen nur mit erhobener Faust über die Schulter.
Drei Wagen standen hintereinander, die Planen waren zurückgeschlagen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Goldrun junge Frauen, hörte, wie sie sich gegenseitig trösteten. Auf den beiden anderen Ladeflächen lagen Männer, an Händen und Füßen gefesselt. Wenn der Vater im Herbst einen Teil unserer Mastschweine verkauft hat, erinnerte sie sich, dann hat er ihnen auch Stricke für den Transport angelegt. Vater? Jäh befiel Zittern die schmächtige Gestalt. Er kommt nicht mehr. Wo war die Mutter, wo Giselher? »Lässt du mich jetzt gehen?«
»Nein. Du gehörst mir.« Keve hielt kurz bei den Zugochsen in ne, füllte einen Holzeimer aus dem Wassertrog und schob das Mädchen weiter. Innerhalb des seilumspannten Pferchs brummte er. »Waschen.«
»Warum?« Goldrun schüttelte den Kopf. »Was scherst du dich darum, wie ich aussehe?«
Sofort zerrte er an ihren Haaren.
»Ich, ich kann das nicht allein«, log sie tapfer und hoffte, dass er ihr glaubte. »Dabei muss mir meine Mutter helfen. Burgundische Mädchen dürfen sich nicht alleine waschen. Verstehst du?«
»Nein.« Für einen Moment betrachtete er unschlüssig seine Beute, dann spähte er über die Wiese. In Gruppen kauerten dort nur noch alte Frauen, zittrige Greise und Mütter mit Kleinkindern. »Meinetwegen. Wo ist sie?«
Goldrun ging voraus, und er blieb dicht hinter ihr. Bei der Mutter bin ich in Sicherheit; allein daran dachte sie. Das schmerzhafte Ziehen an ihrem Kopf störte sie nicht länger. Beim Vorübergehen bekreuzigten sich die vaterlosen Familien. Goldrun war es gleichgültig. Sie strebte eilig zum hinteren Ende der Weide nahe dem Tümpel hinüber.
Schon von weitem entdeckte sie die Mutter. Es schien, als hätte sich Frau Sighilde seit gestern nicht fortbewegt, als wäre dieser Platz der einzige Ort, der ihr noch geblieben war. Zusammengesunken saß sie da, die Stirn lehnte auf den angezogenen Knien.
Ihr kleiner Sohn stapfte um sie herum, in der Hand hielt er einen langen Stecken, wie Wächter die Lanze tragen. Dem kühnen Recken war anzusehen, dass er zugleich Burgherrin, Hort und seine letzte Zuflucht schützen wollte.
Kaum näherte sich der Hunne mit dem besudelten Mädchen, verknautschte Giselher das Gesicht zu einer grimmigen Miene und streckte ihnen den Stock entgegen. »Traut euch nicht her! Wehe. Sonst …«
»Dummer Kerl. Ich bin es doch nur.«
Beim Klang der Stimme vergaß der Fünfjährige den Mund zu schließen. Eine Weile beäugte er das Gesicht, schließlich nickte er. »Du bist viel zu dreckig. Das gibt Schimpfe.« Er berührte die Schulter seiner Burgfrau. »Mama, Goldrun ist wieder da.«
Ruckartig hob Frau Sighilde den Kopf, sah die Tochter und stieß einen Schrei aus. »O heilige Maria! Kind, bist du verletzt? O mein Gott, was hat man dir angetan?« Sie war auf den Füßen, ohne den Hunnen zu beachten, betastete sie die Brust, den Rücken. »Sag doch was? Hast du Schmerzen? Wo ist die Wunde? So sag doch.«
»Mir tut nichts weh. Hauptsache, dass ich wieder bei euch bin.«
Der breit gebaute Kämpfer setzte den Holzeimer ab. Grob stieß er der Mutter in die Seite. »Schluss jetzt, Weib.« Dann ließ er Goldrun frei. Sein Ton war hart. »Waschen! Sofort.« Zur Bekräftigung griff er sich Giselher und setzte ihm den Dolch an die Kehle.
»Bitte verschone den Jungen«, flehte Frau Sighilde. »Waschen? Ja, ja, ich gehorche.«
»Wird’s bald. Und kein Wort will ich mehr hören.«
Mit fahrigen Fingern riss sie einen breiten Fetzen aus dem Saum ihres Rockes. So gut es ging, rieb sie mit dem trockenen Lappen die Blutkrusten aus Goldruns Gesicht, vom Hals, von den Armen und Beinen. Auf ihr Zeichen hin entkleidete sich die Tochter. Auch der Körper war mit der schwärzlichen Schicht überzogen. Schnell arbeitete Frau Sighilde, immer wieder floh ihr Blick zu der Dolchklinge. Giselher hatte die Augen weit aufgerissen, wagte aber keinen Laut von sich zu geben. Jetzt trennte die Mutter einen zweiten Fetzen ab und tauchte ihn ins Wasser. Blieben auch schmierige Spuren vom Blut der Stute zurück, kam dennoch da und dort etwas Weiß der Haut zum Vorschein.
Auf dem Gesicht des Hunnen breitete sich ein Grinsen aus. »Kein Geistwesen«, brummte er. »Ein kleines Burgunderweibchen ist es.«
Als Goldrun niederkniete, den Kopf über den Eimer beugte und die Mutter das verklebte Haar auswusch, pfiff Keve beim ersten Schimmer leise zwischen den Zähnen. »Da ist ja Gold drunter. Da hab ich mir ein Goldfohlen gefangen. Sauber machen, Weib.«
Frau Sighilde hob verzagt die Arme und wagte zu sprechen. »Ich habe getan, was ich konnte. Aber das Wasser im Eimer ist inzwischen rot verfärbt. Besser geht’s nicht.«
Dumpfes Grollen entstieg der Brust des Hunnen. Einer der Kumpane kam über die Weide gelaufen. »Keve, verflucht, was treibst du da?«
»Halt’s Maul! Warte bei den Karren! Ich komme gleich.« Keine Geduld mehr. Er nickte zum Tümpel hinüber. »Da rein mit dem Fohlen.«
Die Mutter zögerte. Einen Augenblick zu lange. Blitzschnell bewegte sich die Dolchhand; ein Schnitt trennte Giselher die Hälfte des linken Ohres ab. Der Kleine schrie. Sein Peiniger presste ihm die Hand auf den Mund und erstickte den Schrei. »Wird’s bald.«
»Komm, Mädchen. Schnell.«
Goldrun bewegte sich nicht, fassungslos starrte sie den Bruder an, auf das Stück Ohrmuschel vor seinen nackten Füßen. Mit Gewalt wurde sie von der Mutter zum Teich gezerrt und ins flache Wasser geworfen. Erst als Goldrun prustend wieder auftauchte, stammelte sie. »Warum hat er das getan?«
»Still, Kind«, flehte Frau Sighilde unterdrückt. Ihre Hände rieben über Brust, Bauch, den Rücken, über Po und Beine.
»Aber er kann doch nicht …«
»Sei leise. Sonst tötet er uns alle. Beug dich zurück.« Die Mutter bündelte am Nacken das lange Haar mit der Hand und schlug es aufs Wasser. Endlich löste sich die klebrige Masse aus den Strähnen.
Regungslos hatte der hunnische Truppführer vom Uferrand zugesehen. »Das genügt.«
»Gleich«, rief ihm die Mutter zu. »Wir spülen die letzten Flecken ab. Gleich.« Damit stellte sie sich so, dass ihm der Blick auf das Mädchen versperrt wurde. »Tauch noch ein Mal unter.«
Goldrun gehorchte. Und die Mutter zog ihr Kind an den Achseln behutsam, beinahe feierlich aus dem Wasser, drückte die nackte Gestalt an sich. »Amen. Ich hab dich geboren, Goldrun, und liebe dich.« Schneller flüsterte sie: »Nie darfst du uns vergessen. Hörst du? Die heilige Maria wird dich beschützen und wieder zu uns heimbringen.«
»Wieso? Ich bin doch hier.«
Die Lippen berührten das nasse Haar. »Ach, mein Mädchen. Mein schönes Töchterchen.«
»Raus aus dem Wasser! Sonst stech ich …«
Frau Sighilde fuhr erschreckt herum. »Nein, bitte. Ich flehe dich an.« Sie führte Goldrun an der Hand auf ihn zu. Keine Empörung, kein Aufbegehren schwang in der Stimme. »Mein Mann liegt erschlagen auf dem Feld. Jetzt nimmst du mir auch die Tochter. Lass mir wenigstens den Sohn.«
»Komm mir nicht so, Weib.« Seine Bartsträhnen zuckten. »Ihr Burgunder habt vor Jahren Fürst Oktar und mehr als zwanzigtausend Männer meines Volkes hinterrücks abgeschlachtet. Rache …« Für einen Atemzug lang flackerten die schwarzen Augen rechts und links des Helmstegs, gleich kehrte die Kälte wieder zurück. »Gib deinen Rock dem Fohlen. Der Weg ist weit. Es soll mir nicht erfrieren.«
Erst als die Mutter sich entkleidet hatte und den Stoff wie eine Tunika um den schmalen Köper wickelte, begriff Goldrun. »Ich will nicht weg, Mutter. Du darfst mich doch nicht einfach weggeben.«
»Es muss sein«, flüsterte Frau Sighilde und Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie löste eine Nadelspange aus dem Haar und befestigte das Tuch an Goldruns Schulter. »Immer werde ich auf dich warten.«
Pfiffe gellten von den Trosswagen herüber.
»Schluss jetzt!« Der Hunne schleuderte Giselher zur Seite und packte nach dem nassen, rotgoldenen Haar. »Du kommst mit!«
Da sprengte Verzweiflung das ängstliche Herz. Frau Sighilde hob drohend die Faust: »Raubtier! Verflucht sollst du sein! Gott wird dich strafen.«
»Halt’s Maul! Dein Christengott hat keine Macht über uns.« Er starrte auf den entblößten Unterleib der Frau und schnalzte mit der Zunge. »Festes Fleisch. So einen weißen Arsch verschmäht keiner bei uns im Lager. Sei nur froh, Weib, dass ich kein Raubtier bin. Sonst würd ich dich auch mitnehmen.«
Grob zerrte er das Mädchen von der Mutter und dem Bruder weg. Größer wurden seine Schritte, Goldrun musste neben ihm herlaufen und wehrte sich nicht. Was die Mutter ihr nachrief, verstand sie nicht mehr, das laute Weinen Giselhers übertönte die Worte. In ihrem Kopf setzte Rauschen ein, roter Nebel fiel, die Gesichter der alten Frauen und Greise verschwammen ineinander und lösten sich auf …
Der hunnische Truppführer trug das ohnmächtige Mädchen zum Planwagen der gefangenen Burgunderinnen. »Gebt auf mein Fohlen acht!«, befahl er.
Peitschen knallten. Die Zugtiere stemmten sich ins Geschirr. Bald gab es kein Lärmen mehr. Die letzten Beutewagen entschwanden im Horizont. Und nur das Weinen blieb …
Wie ein Orkan waren die hunnischen Reiterhorden über das Rheintal und die Stadt Worms hereingebrochen und hatten Verwüstung und Tod zurückgelassen. Drei Tage im September genügten, um das Reich der stolzen Burgunder zu vernichten. Man schrieb das Jahr 436 christlicher Zeitrechnung. Als Flavius Aëtius, der römische Oberbefehlshaber über alle Provinzen Galliens, vom blutigen Gemetzel am Rhein unterrichtet wurde, rieb er sich mit dem Handrücken über die hohe Stirn. »Zwanzigtausend Tote?« Sein Blick richtete sich gen Osten. »Attila, mein Freund, ich hatte dich um Beistand gebeten. Das aufrührerische Volk der Burgunder sollte gemaßregelt, nur in die Schranken gewiesen werden. Und du? Du schicktest zehntausend deiner reitenden Dämonen über die Donau, und wahllos fraßen sie Mensch und Tier. Welchen Befehl gabst du deinem Heerführer mit?«
Aëtius ließ sich Wein einschenken. In seiner Jugend hatte er zwei Jahre als römische Geisel am Königshof der Hunnen gelebt. Im Austausch für ihn verbrachte der Königssohn Attila diese Zeit als Unterpfand in der kaiserlichen Residenz zu Ravenna, lernte dort Sitten und Gebräuche des West-Imperiums kennen. Bei der vorzeitigen Rückkehr Attilas begegneten sich die jungen Männer und waren in der weiten Ebene Pannoniens gemeinsam einige Wochen auf die Jagd geritten. Noch unbeschwert von Ämtern und Pflichten hatten sie sich angefreundet. Zwei Welten trafen aufeinander, die eine beengt von steinernen Palästen, festgezurrt von Disziplin, Ordnung und Tradition, die andere nur geschützt von Zelten und hölzernen Behausungen, ungebunden, wild und allein den Gesetzen ihrer Stämme und der Natur unterworfen.
Inzwischen waren mehr als zwanzig Jahre vergangen. Attila herrschte nun neben seinem Bruder über die hunnischen Völker, und Aëtius selbst war nach einer steilen Karriere mit dem Rang eines Magister Militum, eines römischen Heerführers, ausgezeichnet worden. Heute war er der mächtigste Arm des Kaisers in Gallien.
Nach einem tiefen Schluck drehte Aëtius den Kristallkelch zwischen den beringten Fingern. »Du und dein Bruder Bleda, seid ihr noch Verbündete Roms? Seid ihr wirklich verlässliche Partner? Oder nur barbarische Könige über Steppenreiter, die für Gold rauben und plündern? Attila! Oder willst du etwa mehr?« Hart setzte er den Kelch zurück. Roter Wein ergoss sich über seine Hand. »Ich werde vor dir auf der Hut sein müssen. Dienen sollst du meinen Plänen, und niemals, niemals darfst du sie durchkreuzen.«
Es gab keine Berge mehr. Sie waren zurückgeblieben. Auch der Sturm heulte nachts nicht mehr so laut und bedrängend wie noch zwei Wochen zuvor in den engen Felsschluchten. Goldrun hockte vorn an der aufgeklappten Plane des Frauenwagens und sah über den Rücken des Kutschers nach oben.
Heute gab es endlich eine Abwechslung. Seit Tagen war der Himmel bis zum Horizont leer geblieben. Jetzt aber zogen im durchsichtigen Blau vereinzelte weißgraue Wolkengebirge träge dahin, wurden überholt von Fratzenköpfen und reitenden Gnomen. Goldrun malte sich Geschichten aus, gab sie den Eiligen mit auf den Weg; für jede Wolkenform, die über ihr auftauchte, erfand sie neue Gestalten, und bald reiste ein ganzes Geisterheer dem Beute- und Sklaventross voraus in den weiten Osten. Dort irgendwo, noch hinter der Welt, die sie sehen konnte, sollte das Reich der Hunnen sein. Passt nur auf, ihr verfluchten Kerle, warnte sie und lächelte grimmig bei dem Gedanken, ich brauch nur zu wollen, dann werden meine Dämonen vom Himmel auf euch runterstürzen.
Hinter ihr im Halbdunkel dämmerten die gefangenen Burgunderinnen dahin. Leer geweint über die Trennung von ihren Familien und den Verlust der Heimat, angefüllt mit neuer Angst. Was erwartete sie am Ende der Reise? Auch Goldrun hätte es gern erfahren, doch sobald sich die Frauen darüber unterhielten, versanken ihre Stimmen, und bald schon war nur noch ersticktes Schluchzen und Flüstern zu hören.
»Was geschieht denn mit uns? So sagt es mir doch?«
»Du bist noch jung, Kleines«, antwortete Frau Fulla stellvertretend für ihre Leidensgefährtinnen.
»Ich bin kein Kind mehr.«
»Doch, doch und sei froh darüber.«
Mehr hatte sie von den Unglücklichen nicht erfahren.
Goldrun wurden die Beine taub. Sie stand auf, schlenkerte die Füße und dehnte den Rücken. Drüben, hinter dem anderen Ende der Kutschbank, lag Hildegund zusammengerollt im Winkel der aufgeschlagenen Plane.
»Schläfst du?«, flüsterte Goldrun, um die Frauen nicht zu stören. Keine Regung. Dem zwölfjährigen Mädchen lag einer der dicken blonden Zöpfe wie eine Binde über den Augen, bei jedem Atemzug bewegten sich leicht die Lippen. Hildegund war die Tochter eines vornehmen Adeligen, der bei Festgelagen am Hof zu Worms als Berater und enger Freund stets neben König Gunther gesessen hatte.
Gleich nachdem Keve von ihrer Abstammung hörte, hatte er gebrummt: »Da ist uns ein wertvolles Täubchen ins Netz gegangen«, und den Kumpanen befohlen: »Wehe euch! Keiner rupft ihm eine Feder aus. Wir müssen das Vögelchen heil und gesund abliefern. Großkönig Bleda soll entscheiden. Wer weiß, vielleicht will er das Täubchen füttern, um es später für einen guten Preis wieder an die Burgunder zu verkaufen. Also Finger weg!«
Von da an stand nicht nur sein Goldfohlen, sondern auch das Täubchen unter Keves persönlichem Schutz. Die beiden Mädchen waren die jüngsten auf dem überfüllten Wagen und hatten sich angefreundet. Viele Vorteile genossen sie nicht, hin und wieder brachte Keve ihnen etwas Milch oder auch ein Stück vom Braten, während die anderen sich mit dünner Suppe begnügen mussten. Keine der Frauen missgönnte den Kindern die Extraportionen. »Seid froh, dass ihr noch so jung seid«, sagten sie. »Aber später …« Diesen Satz beendeten sie nicht.
Goldrun ließ sich eine Weile vom schwankenden Karren schaukeln und setzte sich wieder. Wie lange der Tross schon unterwegs war, wusste sie nicht, doch es musste spät im Herbst sein, denn rechts und links der Fahrstraße bürstete der Wind das bunte Laub aus den Baumkronen.
Lang gezogene Hornrufe! Goldrun reckte den Kopf. Die Signale ertönten weit vorn an der Spitze des Zuges. Ihre Freundin wachte auf. Noch halb im Schlaf kroch sie näher. »Was ist los?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ein Überfall? Vielleicht werden wir befreit?«
»Was? Ach, sei nicht blöde.«
»Kann doch sein …«
Hildegund rieb sich die Augen. »Glaubst du immer noch daran? Es gibt keinen mehr, der uns retten kann. Die sind alle tot. Hör also endlich auf zu träumen.« Mit einem Kopfschlenker warf sie ihre Zöpfe nach hinten. »Außerdem sind wir schon viel zu weit weg von daheim. Hier haben die Hunnen keinen Feind zu fürchten.«
Gut zwanzig bewaffnete Reiter galoppierten entlang der Kolonne zu den Planwagen der Gefangenen. »Weiter, weiter!«, befahlen sie den Gespannführern auf den Kutschböcken und blieben als Eskorte neben ihnen.
Vorsichtig schoben die Freundinnen die Plane noch etwas zur Seite. Hildegund schüttelte sich. »Ekelhaft«, flüsterte sie. »Ich weiß gar nicht, wer scheußlicher aussieht, die Kerle oder ihre Gäule. Das sind doch keine Pferde. So klein … und so einen langen Kopf … und keine richtige Mähne.«
»Stimmt. Die tragen eine Bürste zwischen den Ohren.« Schnell presste Goldrun die Hand vor den Mund, um nicht laut zu kichern. »Aber mir gefallen die Pferde besser als …« Erschreckt schwieg sie.
Der Reiter neben dem Wagen sah hoch. Einen Augenblick lang starrte er den Mädchen ins Gesicht, und zitternd versteckten sich beide hinter der Plane. Doch er hatte ihr Gespräch anscheinend nicht belauscht, denn sie hörten, wie er sich an den Kutscher wandte: »Wir erreichen gleich die Theiß. Such dir einen Platz am Ufer und warte. Erst schaffen wir die Beutewagen über den Fluss. Die Weiber kommen zum Schluss dran.«
Ho und Hü, Peitschenknallen. Gefährlich schwankte der Planwagen. Achsen ächzten, schneller ging die Fahrt bergab. Goldrun hielt sich an Hildegund fest, so verloren beide den Halt, fielen zu Boden, sie rollten über Mitgefangene, die empört aufschrien, größer noch wurde das Durcheinander, und dann mit einem Mal standen die Räder still. Der Fuhrmann drehte den Kopf und feixte beim Anblick des Gewühls auf der Ladefläche. »Na, lebt ihr noch? Wär sonst schad um eure schönen Ärsche.«
Mit Stöhnen rafften sich die Frauen auf. Jede half der Nachbarin, die Kleider wieder zu richten.
Goldrun hatte sich den Ellbogen gestoßen. »Das hat der verdammte Kerl absichtlich gemacht.«
»Glaub ich auch.«
»He, du blutest ja.« Aus dem linken Nasenloch der Freundin lief ein dünnes rotes Rinnsal.
»Nicht schlimm. Mir tut nichts weh.« Gründlich wischte Hildegund mit dem Handrücken die Oberlippe ab, dabei verschmierte sie das Blut über Mund und Kinn.
»Hör auf.« Goldrun zog Hildegund nach vorn ans Licht. »O Gott«, staunte sie. »Jetzt sieht’s richtig gefährlich aus.«
Der Fuhrmann war gerade dabei, die Lederzügel um den Holm zu wickeln, als er aus den Augenwinkeln das verletzte Mädchen entdeckte und erbleichte. »Nein … Kleine Burgunderin … was ist …?« Unbeholfen hob er die Hände. »Ich hab dir nichts getan.«
Nur einen Lidschlag überlegte Hildegund, dann schlug sie die Hände vors Gesicht und heulte jämmerlich auf. Goldrun sah die Freundin mit offenem Mund an. So schlimm ist es doch gar nicht, dachte sie. Da fühlte sie einen Stubser in der Seite; beim Atemholen vor dem nächsten herzzerreißenden Schrei zwinkerte ihr Hildegund zu, und endlich begriff Goldrun. Sie drohte dem Hunnen mit der Faust. »Da siehst du, was du angerichtet hast! Das arme vornehme Fräulein. Aufpassen solltest du. Und jetzt stirbt sie vielleicht.« Goldrun holte tief Luft und fiel, so laut sie konnte, in das Geheul mit ein.
Wie gelähmt starrte der Fuhrmann auf die Unglücklichen. Endlich fasste er sich. »So helft doch!«, verlangte er von den Burgunderinnen, doch die hatten das Spiel längst durchschaut und rührten sich nicht.
Der Lärm im Frauenwagen lockte einige Wachen näher, schlimmer noch, jetzt sprengte ihr Truppführer heran. »Was ist hier los«, donnerte er. Durchdringender zeterten die Mädchen. Mit einem Satz war Keve aus dem Sattel, mit dem zweiten stand er oben neben dem Fuhrmann. Das blutbeschmierte Gesicht sehen genügte ihm. Sein Fausthieb schlug den Kameraden von der Kutschbank. »Täubchen. Soll ich den Heilkundigen holen? Sag doch was?«
Hildegund beruhigte sich. »Nicht nötig. Ich bin tapfer.« Sie schniefte nur noch leise vor sich hin. Behutsam legte ihr Goldrun den Arm um die Schulter. »Und ich helfe ihr.«
»Das ist gut«, brummte Keve. »Gut ist das.« Er sprang vom Wagen. Unten riss er dem Kutscher die wollene Mütze vom Kopf. »Wenn dem Täubchen noch was zustößt, schneid ich dir die Ohren ab. Und jetzt sorg dafür, dass die Weiber sich die Beine vertreten.« Keve federte wieder in den Sattel, mit eingerollter Zunge stieß er zwei Pfiffe aus und gab seinen Wachmannschaften Befehl, die gefangenen Burgunder von den Wagen zu schaffen. Er war schon aus dem Blickfeld entschwunden, als die Mädchen noch hörten: »Nur Fußfesseln lösen! Die Hände bleiben so lange auf dem Rücken, bis ihr sie ans Ufer gebracht habt.«
Hildegund beugte sich zum Ohr der Freundin. »Ging doch gut?«
»Allein hätte ich mich so was nicht getraut.«
Vier bewaffnete Hunnen bezogen Posten neben dem Ochsengespann und der Kutscher winkte hinauf. »Alle Weiber absteigen. Aber schön langsam. Dann stellt ihr euch zu zweit hier auf. Wasser gibt’s später. Los jetzt!«
Schnell kletterte Goldrun über die Lade, sie verzichtete auf das hölzerne Steigbrett und sprang so ins Gras. Ehe Hildegund folgen konnte, streckte der Kutscher ihr die Hand entgegen. »Sei vorsichtig, Fräulein.«
»Rühr mich nicht an, Kerl.« Aus den hellgrünen Augen sprühten Funken auf ihn nieder. »Hast du mich nicht schon genug gequält?« Hildegund drehte sich um, stieg mit huldvollem Poschwung ab und schritt an dem Hunnen vorbei auf Goldrun zu. »Liebste, danke, dass du mich gerettet hast.«
Zornröte stieg dem Fuhrmann ins Gesicht. »Verfluchte kleine Gans«, zischte er ihr nach. »Jetzt hab ich dich durchschaut. Wolltest mich nur beim Truppführer schlecht machen.« An ihrer statt stieß er Frau Fulla in den Rücken. »Beweg dich!«
Vom ersten winzigen Sieg seit ihrer Verschleppung beflügelt, vergaß die burgundische Adelstochter jede Vorsicht; ehe sie aber erneut eine schnippische Antwort geben konnte, kniff Goldrun ihr in den Arm. »Bitte. Reiz ihn nicht weiter. Sonst platzt er.«
Fulla hatte es gehört und nickte zustimmend. »Hör auf deine Freundin, uns allen zuliebe. Du hast von ihm kaum etwas zu befürchten, aber dafür wird der Kerl an uns seine Wut auslassen.«
Wie ertappt verschwand jeder Hochmut, Hildegund senkte den Kopf. »Entschuldige«, flüsterte sie. »Es ist einfach so in mir hochgekommen. Weil ich früher … Ach, entschuldige einfach. Wir gehören jetzt zusammen, das hab ich vergessen.«
Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war Fulla nicht älter als die meisten der Mitgefangenen, doch gingen Ruhe und eine besondere Wärme von ihr aus. Bald nach der Verschleppung hatten sich alle Burgunderinnen um die kluge Frau geschart; ihr vertrauten sie und hörten auf ihren Rat. »Ja, Hildegund, Schwestern sind wir jetzt.« Bekümmert strich Fulla den Stoff über ihrem vollen Busen und presste die Hand gegen das Herz. »Manchmal hab ich dich und deine Eltern beim Kirchgang gesehen. So schöne Kleider hattest du. Goldspangen mit Edelsteinen in den Zöpfen. Ja, du hast auch viel verloren. Aber wer weiß, vielleicht wird es dir bei den Hunnen besser ergehen als den meisten von uns. Dann erinnere dich daran, dass wir vom gleichen Volk sind.«
»Gern. Nur, was kann ich schon ausrichten?«
»Vielleicht nicht gleich. Später vielleicht.«
Ein scharfer Knall riss das Gespräch ab. Gleich folgten zwei weitere. Als hätte er eine Viehherde zu treiben, ließ der Fuhrmann die lange Peitschenschnur wie eine gefährliche Schlange über den Köpfen der Frauen züngeln. »Vorwärts!« Rechts und links geleitet von je zwei Bewaffneten der Kampftruppe setzte sich der Zug in Bewegung.
Goldrun krauste die Nase. »Wo bringen die uns hin?« Für gewöhnlich blieben die Gefangenen bei einem Halt im Umkreis des Planwagens.
»Ist mir egal«, antwortete ihre Freundin einsilbig und sah zu Boden.
Na ja, macht nichts, dachte Goldrun, wir werden es bald erfahren. Nur zu gut verstanden die Mädchen inzwischen, was um sie herum gesprochen wurde.
Rufe, Befehle und Lachen erfüllten die Luft. Geschäftiges Treiben überall. Der lange Tross bereitete sich für die Überquerung des Flusses vor. Sobald die Burgunderinnen vorbeikamen, unterbrachen einige Männer kurz ihre Arbeit, stießen sich an, tauschten Zoten aus, ehe sie weiter an Schnüren und Decken zerrten, mit denen ihre erbeuteten Schätze auf den Ladeflächen gesichert waren. Weiter vorn kümmerten sich fellbehangene Hunnenfrauen um die Versorgungskarren, kaum eine schenkte den Gefangenen Beachtung.
Goldrun entdeckte lange Zeltstangen, Planen aus Filz, Vorratskörbe, Getreidesäcke, und an den Holmen hingen große Kochtiegel.
»Die haben alles dabei, was sie brauchen. Ob die wirklich nur in Zelten wohnen?«
»Was sagst du?« Hildegund kehrte aus ihren Gedanken zurück. »Nein, niemals. Die haben doch einen König. Wie heißt der? Bleda? Ja, Großkönig Bleda. Und kein König hat Lust, im Zelt zu wohnen.«
»Aber mein Vater hat mir erzählt, wenn die Hunnen keinen Krieg führen, dann ziehen sie mit ihren Viehherden in der Gegend rum, mal leben sie da und dann wieder woanders.«
»Glaub ich nicht. Die rauben so viel zusammen, Gold und wertvolle Sachen. Und wo bringen sie das Zeug hin? Ist doch klar, in ihre Hauptstadt. Und da sitzt der König in einem schönen Palast.«
Goldrun sah die Freundin von der Seite an. Und wenn’s so ist, dachte sie und fühlte einen leichten Stich, dann darfst du da wohnen. Ich bestimmt nicht, weil ich nicht so wertvoll bin. Gleich wischte sie den Gedanken weg. »Ich muss mal.«
Hildegund rundete die Augen. »Ich auch.«
Einmal ausgesprochen wurde für beide die Notdurft drängender. Schritt für Schritt rieb Goldrun ihre Schenkel fester aneinander. »Wenn wir nicht bald dürfen, pinkel ich einfach beim Gehen.«
»Wehe!« Hildegund grinste gequält. »Dann stinkt dein Kittel und verpestet die Luft im Wagen. Willst du Ärger bekommen?« Um das Leben in der Enge zu ertragen, hatte Frau Fulla mit ihren Leidens gefährtinnen vereinbart, das Wasser möglichst bis zu einer Rast einzuhalten oder aber den einzigen Holzbottich zu benützen, der während der Fahrt sofort über die Rücklade des Wagens ausgeleert wurde.
Goldrun seufzte. »Keine Angst. Ich halt’s noch aus.«
Die Theiß kam in Sicht. Ein breiter, träger Fluss. Der Fahrweg neigte sich bis ans sumpfige Ufer und stieg etwas südlicher auf der gegenüber liegenden Seite wieder an. Hier hatten die Hunnen keinen Hinterhalt zu befürchten. Erst gut hundert Schritt flussabwärts konnte ein Feind ihnen auflauern. Dort bestand die Böschung aus dichtem Gestrüpp, und dahinter dehnte sich ein weites Waldgebiet.
Reiter und Fuhrleute waren gerade dabei, die wertvollen Zugochsen hinüberzuführen. Trotz der Ruhe, mit der sie auf die Tiere einsprachen, herrschte große Anspannung zwischen den Männern. Das Wasser in der Furt war nicht tief, umspülte nur die Brust der Tiere, dennoch lauerte Gefahr von Untiefen und Strudeln unterhalb der ruhig ziehenden Oberfläche.
»Kannst du schwimmen?«
»Bin ich ein Fisch?« Der Scherz gelang Hildegund nicht. Ihre Hand rutschte über den Bauch und drückte sich in den grünen Stoff zwischen den Schenkeln. »Jetzt wird’s aber Zeit.«
Peitschenknall. »Da rüber!« Der Kutscher dirigierte seine Herde auf die leicht ansteigende Wiese neben der Senke. »Verhaltet euch ruhig, bis ihr an der Reihe seid.«
Eilig suchte sich jede Burgunderin einen Platz. Keine Scham mehr. Sie warfen die Röcke hoch und kauerten sich mit entblößtem Hintern nieder. Wie stets während einer Rast hatten die vier Bewaffneten auf diesen Moment gewartet, nun grinsten sie lüstern beim Anblick der vielen weißen Schenkel.
Goldrun hockte neben der Freundin. »Tut das gut. Das ist noch schöner als essen.« Vor Erleichterung lachten beide. »Gleich mach ich dir dein Gesicht sauber.«
Jetzt erst bemerkte Hildegund den neugierigen Blick, mit dem der Kutscher ihnen zusah. »Guck weg, du Schwein«, fauchte sie. Sofort umfasste der Hunne den Peitschenstiel fester, zögerte, schließlich wandte er sich wortlos ab und ging in Richtung des Planwagens davon.
»Hör auf, Hildegund. Du hast versprochen, ihn nicht mehr zu reizen.«
»Dann soll er uns nicht beim Pinkeln zusehen.«
»Na und? Mir ist der Kerl egal, solange er uns in Frieden lässt.«
Nachdem sich beide mit Grasbüscheln gereinigt hatten, beleckte Goldrun die Fingerkuppen und weichte das geronnene Blut an Kinn, Mund und Nase der Freundin auf, spuckte auf einen Zipfel ihres Kittels und rieb die Haut sauber. Behutsam betupfte sie die vollen geschwungenen Lippen. »Wenn ich ein Junge wär, würdest du mir gefallen.«
»Als Freundin bist du mir lieber.« Hildegund sah an ihrer Schulter vorbei. »Da kommen sie.«
Schnell drehte sich Goldrun um. »O nein!« Ihr Herz schlug hinauf bis in die Kehle. »Als … als wir losfuhren, waren es viel mehr. Ich hab sie doch gesehen. Wo sind denn die anderen?«
»Weiß ich auch nicht. Vielleicht kommen sie nach.«
»Meinst du?« Eine furchtbare Ahnung befiel Goldrun. »Ich glaub, den Armen geht es viel schlechter als uns.«
Von ihren Bewachern gestoßen und getreten, taumelten die burgundischen Sklaven zum Ufer hinunter. Bei ihrer Gefangennahme nach der Schlacht waren es sechzig stolze, kräftige Männer gewesen. Nur halb so viel sind noch übrig, dachte Goldrun, und wie elend sehen sie aus. Dort gingen ausgemergelte Gestalten, bärtig und zerlumpt.
Als jetzt einige Frauen winkten, sogar wagten, laut den Männer Trost zu spenden, schritten sofort die Bewaffneten ein. »Haltet das Maul!« Zur Bekräftigung blitzten Messer in den Fäusten auf, und furchtsam schwiegen die Mutigen.
Doch ihr Rufen hatte Erfolg. Die Sklaven sandten Blicke, da und dort sogar ein verlorenes Lächeln als Dank hinauf zur Wiese.
Hildegund beschattete die Augen. »Ich glaub, den kenne ich«, flüsterte sie. »Walther? Doch, er muss es sein.«
»Wen meinst du?«
»Da am Schluss, der Schmale zwischen den beiden Großen. Locken hat er.«
»Der mit dem blauen Hemd? Ja, ich seh ihn. Bist du sicher?«
»Genau weiß ich es nicht. Walther ist der Sohn von einem Freund meines Vaters.«
»Stammt er auch aus so einer vornehmen Familie wie du?«
Ohne den Blick abzuwenden, nickte Hildegund. »Eigentlich kenne ich ihn gar nicht. Er war letztes Jahr nur einmal mit seinen Eltern bei uns zu Gast. Geredet hat er nicht mir. Ich war ihm wohl zu klein.«
»Wie alt ist er denn?«
»Damals durfte er schon ein Schwert tragen, also älter als fünfzehn Winter ist er bestimmt.«
Den Gefangenen wurden die Handfesseln gelöst. Zur gleichen Zeit bezog Keve mit zehn Kämpfern Stellung entlang der Uferböschung. Wie von selbst lösten sich die Bögen von ihren Schultern, glitten die Pfeile aus den Köchern und schon lagen die gefiederten Schäfte auf den Sehnen. Keine hastige Bewegung, und doch hatten sie nicht länger als einen Lidschlag benötigt.
Von seinem erhöhten Platz aus wies Keve hinunter zum Stoß mit den zusammengebunden Baumstämmen. »Das erste Floß ins Wasser!«
Angetrieben von ihren Wächtern, gehorchten zehn der Sklaven; unter Stöhnen wuchteten sie das schwere Balkenboot vom Stapel. Noch am Ufer rollten sie einen Frachtwagen aufs Floß. Dann wirbelten zehn Wurfseile, und Schlingen legten sich um jede Brust. Wenig später waren längs der beiden Außenstämme je fünf Burgunder mit Strickenden festgezurrt. Peitschenhiebe trieben sie ins Wasser. »Zieht! Nicht stehen bleiben!« Kaum war die Mitte der Theiß erreicht, schrien Reiter vom jenseitigen Ufer: »Weiter! Bewegt euch! Weiter!« Als der Frachtwagen endlich unbeschadet wieder auf festem Boden stand, sanken viele der Sklaven ermattet zusammen. Die Hunnen aber johlten.
»Das nächste Floß!«
Nach drei Überquerungen gab es keine Gefangenen mehr auf dieser Seite. Zehn Wagen aber mussten noch durch die Furt geschafft werden. Keve winkte zur anderen Flussseite. »Schickt mir die erste Gruppe wieder her!«
Selbst das leere Boot zu ziehen bereitete den Erschöpften Mühe. Umso quälender wurde die Last auf dem Weg zurück. Hohngelächter war der Lohn.
»Schickt die zweite!«
Goldrun biss sich auf die Knöchel. »Und wenn einer stirbt?«
»Das ist den Schuften doch nur recht. So haben sie ihren Spaß.« Hildegund schlang sich die Arme um den Leib. »Mir wird ganz kalt.«
Ein Karren beladen mit Hausrat und hunnischen Trossweibern erreichte sicher das gegenüber liegende Ufer. Keve winkte, schrie seine Befehle. Das leere Floß aber wurde nicht gleich wieder zurückgeschickt.
Beide Mädchen sprangen auf. Genau konnten sie nicht ausmachen, was drüben geschah, sahen nur, wie Reiter aus den Sätteln sprangen und über die erschöpfte Sklavengruppe herfielen. Fausthiebe, Tritte! Schließlich wurde ein Burgunder an den Haaren weggeschleift und in die Theiß geworfen. Wasser spritzte, dann zog der Fluss wieder träge dahin.
Goldrun tastete nach der Hand ihrer Freundin und hielt sie fest. Beide standen nur da, konnten nicht sprechen.
Die Qual nahm kein Ende. Ohne Erbarmen wurden die Sklaven von ihren Peinigern zur Arbeit geprügelt. Hin und wieder gab es ein Atemholen, wenn erneut Gespanntiere die Furt durchquerten, aber um Kraft zu schöpfen, blieb den Männern keine Zeit.
Spät im Nachmittag stand allein noch der Frauenwagen am diesseitigen Ufer. Bis dahin waren die Mädchen dreimal Zeuge gewesen, wie ein Mann ihres Volkes entkräftet zusammenbrach. Beim Aufklatschen des Leichnams in der Theiß hatten sie sich die Ohren zugehalten.
Unterhalb der Wiese schwang der Kutscher seine Peitsche, brüllte Befehle, und eilig bestiegen die Burgunderinnen den Planwagen. »Keine läuft auf der Ladefläche hin und her. Setzt euch, bis ihr drüben seid.«
Die Freundinnen hockten sich an ihren angestammten Platz gleich hinter der Kutschbank. Von hier aus war der Blick frei auf die Sklaven im Fluss. Bis zur Hüfte schwappte das Wasser, durchnässte Hemden und Kittel klebten ihnen an den Rücken.
Hildegund deutete nach rechts. »Da hinter den beiden Großen. Der dritte von vorn.« Keine Locken mehr, in Strähnen hingen die Haare auf den Schultern. Das blaue Wams war mit Schlamm besudelt. »Diesmal ist Walther wieder an der Reihe.«
»Bald hat er’s geschafft«, flüsterte Goldrun und sah zum Himmel. »Heilige Maria. Gib, dass er durchhält.«
Von der erhöhten Uferböschung aus gab Keve das Zeichen. Zugleich wateten die Sklaven tiefer in den Fluss, zehn Seile spannten sich und das Floss mitsamt dem Planwagen rutschte langsam über den Schlick.
Laut schwatzend warteten die berittenen Wächter noch am Ufer ab, ließen sich mehr Zeit als bei den Überquerungen zuvor. Der Tag war lang gewesen, sie sprachen von leeren Bäuchen und freuten sich auf das wärmende Feuer später im Lager.
Jäh verkrallte Goldrun die Finger in den Ärmel der Freundin. »Da! Guck doch!«
Vorn an der rechten Zuggruppe gingen die beiden großen Männer nicht weiter. Schon hatten sie sich von den Seilschlingen befreit, tauchten unter, blieben einen Atemzug lang verschwunden, dann erschienen ihre Köpfe und Schultern etwas flussabwärts wieder an der Oberfläche.
Jetzt hatten auch die Bewaffneten auf der Uferböschung ihre Flucht bemerkt. Keine Aufregung entstand. Keve lachte sogar. »Noch nicht, Freunde.«
Unten am Flussrand wollten die Reiter ihre Gäule ins Wasser treiben.
»Halt!«, befahl der Truppführer. »Bleibt zurück. Verderbt uns nicht den Spaß.«
Hildegund spornte die Fliehenden an. »Schneller. Beeilt euch.«
Noch war die Theiß zu flach. Kein Tauchen. Nur laufen, nach vorn hechten, wieder aufrichten. Wasser spritzte und weiter hetzten die Burgunder.
»Sie schaffen es«, stammelte Goldrun. »Oh, bitte!« Ängstlich wandte sie den Kopf, unbeweglich standen die hunnischen Krieger auf der Böschung, dann blickte sie wieder den Männern im Wasser nach. Gleich, dachte sie, nur noch bis zu den Sträuchern; da im Unterholz des Waldes findet euch keiner mehr. Gleich habt ihr es geschafft.
»Los jetzt!« Goldrun hörte den Befehl.
Pfeile zischten über den Planwagen, stiegen höher und stießen wie ein gebündelter Schwarm nieder. Schreie, Arme ruderten. Schon sirrte die zweite Salve durch die Luft. Stille. In der Bewegung erstarrten die Flüchtenden. Aus Kopf und Rücken staken gefiederte Schäfte. Unendlich langsam kippten die Körper nach vorn und wurden vom Fluss verschluckt.
An beiden Ufern stieg Geheul auf. Keve schrie über den Lärm. »Vor wärts! Sorgt, dass die Weiber trocken rüberkommen. Die brauchen wir noch.«
Goldrun verkroch sich mit Hildegund in den Schutz der Plane, eng umschlungen weinten sie leise vor sich hin.
Früh versank die Novembersonne im Westen. Eine Weile noch zogen wächserne blassrote Wolkengebilde über den Lagerplatz hinweg, dann verschlang die Dämmerung den Tag. Kalt wurde es. Wie ein Schutzwall ringten Wagen und Karren die Zelte ein; kleine Feuer flackerten vor jedem Eingang, Flammenkinder des hochlodernden Holzstoßes in der Mitte. Bald überlagerte Duft nach Fleischsuppe den Brandgeruch.
Um jeden heimlichen Kontakt zu verhindern, hatte der Trossführer den Planwagen der Frauen auf die Ostseite des Lagerplatzes schaffen lassen, weit genug entfernt von den wieder gefesselten burgundischen Männern.
Die Tränen waren versiegt. Schweigend hockte Goldrun neben der Freundin, das Kinn auf den verschränkten Armen starrte sie zum immer noch hellen Himmel. Erste Sterne blinkten. Von der mit Stricken eingezäunten Weide drang Wiehern herüber, manchmal brüllte ein Ochse. So friedlich ist es, dachte Goldrun, gleich aber sah sie wieder den Pfeilschwarm, sah die Flüchtenden sterben und seufzte. Ich glaub, für uns gibt es keinen Frieden mehr, der ist auch gestorben.
Schritte näherten sich. Zwei Wächter brachten einen Suppentiegel, reichten ihn samt einigen hölzernen Näpfen den Burgunderinnen hinauf und bezogen Posten vor dem Planwagen. »Fresst euch satt«, riefen sie. »Magere Stuten taugen nicht viel.«
Gewöhnlich drängten sich die Frauen um den dampfenden Topf, warteten ungeduldig, bis sie an der Reihe waren. Nur fünf von ihnen konnten zur gleichen Zeit essen, heute aber wollte jede der Nachbarin den Vortritt lassen. Entschlossen griff Frau Fulla nach der Schöpfkelle. »Schwestern. Auch mir blutet das Herz. Und ich fürchte mich vor dem, was uns noch von den Hunnen angetan wird. Doch lasst den Mut nicht sinken, sonst sind wir ganz verloren. Schwestern, kommt und esst, ihr werdet Kraft brauchen, viel Kraft.« Sie reichte Hildegund eine gefüllte Schale. »Fang an.« Den nächsten Napf erhielt Goldrun. »Nein, keine Widerworte.« Fullas Strenge hatte Erfolg. Die dumpfe Ratlosigkeit wich, und nach und nach fügten sich alle Frauen ihrer Ratgeberin.
Wenig später kam auch der Truppführer zum Planwagen. »Goldfohlen. Komm da runter.« Seine Stimme klang weich. »Und bring das Täubchen mit.«
Die Mädchen rührten sich nicht. »Na, kommt schon«, lockte er. »Ich hab euch was mitgebracht.«
Weil sie immer noch zögerten, ermahnte Frau Fulla: »Es ist besser für uns alle, wenn ihr gehorcht. Euch geschieht nichts. Geht jetzt.«
Nacheinander kletterten die Mädchen vom Wagen. Mit wohlwollendem Grinsen empfing sie Keve. »Ich hab was Gutes für euch.« Er überreichte jedem ein Schaffell. »Legt es um, wird sicher kalt heute Nacht.« Aus dem Beutel an seinem Gürtel nahm er ein Stück Trockenwurst und drückte es an die platte Nase. »Riecht gut. Ist vom Hammel. Genau das Richtige für mein Goldfohlen und das Täubchen. Da, nimm.« Er hielt Goldrun die Köstlichkeit hin. »Beiß nur rein.«
Fassungslos starrte sie ihn an; eine heiße Welle stieg ihr den Rücken hinauf, überspülte den Kopf. Ehe Keve sich versah, schlug Goldrun ihm die Wurst aus der Hand. »Verfluchter Hunne.«
»Aber kleines Fohlen? Ich mein’s doch nur gut.«
»Mir egal.« Goldrun schluckte heftig. »Warum hast du sie so gequält?«
»Wen?«
»Tu doch nicht so. Unsere Männer. Du hast sie getötet.«
Langsam glättete er die Bartsträhnen an seinen Mundwinkeln. »Ach, du meinst die Burgunder. Nein, nein, kleines Fohlen, das verstehst du nicht. Lass dir die Wurst schmecken.«
»Ich will aber verstehen.« Goldrun versuchte ihn zu treten; rechtzeitig wich er dem Fuß aus.
»Mach mich nicht böse, hörst du.«
»Menschen sind es, genau wie du.«
»Nur Arbeitstiere sind das. In den Bergen haben sie für uns die Karren geschoben, und heute waren sie noch gut für die Furt. Nur deshalb haben wir die Kerle mitgenommen. Jetzt brauchen wir sie nicht mehr.«
Hildegund weitete die Augen. »Nicht mehr brauchen? Was meinst du damit?«
Beinah leichthin sagte er. »Bei uns in der Königsstadt gibt es Griechen, Perser, sogar Römer. Die sind freiwillig bei uns geblieben. Aus den Burgundern da hinten werden nie gute Sklaven. Das sind Feinde und Verräter. Und Gefangene haben keinen Wert, die kosten nur. Deshalb …« Keve bemerkte die entsetzten Gesichter der Mädchen und ließ den Satz unbeendet. »Kümmert euch nicht drum«, brummte er. »So ist das nun mal.«
Unvermittelt bückte sich Hildegund nach der Hammelwurst und biss ein Stück ab. »Schmeckt wirklich gut«, sagte sie übertrieben laut, schon reichte sie die Köstlichkeit der Freundin. Goldrun wollte ablehnen, doch Hildegund drückte ihr die Wurst hart gegen den Mund. »Probier endlich«, fauchte sie leise. »Na los.« Goldrun verstand nicht, dachte nur, was ist mit einem Mal in dich gefahren, und öffnete widerwillig die Lippen.
Voller Genuss kaute Hildegund. Der Truppführer rieb sich den Nacken. »So ist es recht. Ich sorg schon, dass ihr es gut habt.« Er grinste zufrieden und wandte sich um. Nach zwei Schritten hatte ihn Hildegund eingeholt. »Warte noch. Einer ist wertvoll.«
»Was meinst du?«
»Von den Gefangenen. Für den bekommt ihr bestimmt so viel wie für mich.« Die Neugierde war geweckt. Ehe das Glitzern in Keves Augen wieder erlosch, erzählte das Mädchen hastig von Walther, pries seine vornehme Abstammung, ja, die Familie des Junkers wäre sogar mit dem gefallenen König Gunther verwandt. »Locken hat er und trägt ein dunkelblaues Wams.«
Nachdenklich fasste der Truppführer einen ihrer dicken Zöpfe und schaukelte ihn. »Täubchen, du belügst mich doch nicht? Oder?«
Inzwischen hatte Goldrun begriffen, was die Freundin versuchte. »Es ist wahr. Ich hab ihn heute auch erkannt. Walther ist bei den Gefangenen.«
Keve pfiff leise durch die Zähne. »Ein Täubchen und dazu noch ein burgundischer Gockel? Nicht schlecht. Das verdoppelt die Belohnung.« Seine Miene hellte sich auf. »Gut, dass ich’s noch rechtzeitig erfahren hab. Morgen früh wär’s zu spät gewesen. Also, Walther heißt der Gockel.« Ohne Abschied ging er mit großen Schritten durch die Zeltreihen davon.
Goldrun sah ihm nach. »Vielleicht haben wir Walther gerettet. Ich wünsch es so sehr.« Die Wurst glitt ihr aus der Hand. »Aber was geschieht mit den anderen?«
»Denk nicht daran, bitte«, flüsterte Hildegund. »Mir wird ganz schlecht.« Beide zogen ihr Schaffell hinter sich her. So mühsam war das Hochsteigen zur Kutschbank. Auf die Fragen im Planwagen antworteten die Mädchen nur einsilbig. Was sie über das Schicksal der Männer erfahren hatten, vermochten sie nicht auszusprechen.
Sieg!« Im Ordu, dem ganz aus Holz errichteten, prächtigen Palast des Großkönigs, warf sich der Kurier auf die Knie. »Unsere Truppen haben die Burgunder vernichtet.« Bleda räkelte sich und dehnte den Rücken, mit leichter Kopfbewegung schabte er die vernarbte rechte Kinnpartie zweimal durch den Kragenflaum seines Pelzmantels, verwöhnte auf gleiche Weise auch die linke Seite, ehe er befriedigt lächelte. »Die Schmach König Oktars ist gesühnt. Unsere schändliche Niederlage vor sieben Jahren haben wir bereinigt. Nun weiß auch Rom, dass wir Hunnen niemals vergessen. Kalt genossen schmeckt Rache erst wirklich süß.« Die Augen über den breiten Wangenknochen glitzerten jäh auf. »Warum kommst du so spät zu mir?«
Der Kurier erbleichte. »Spät? Ich verstehe nicht, Herr?«
Bledas Stimme wurde gefährlich sanft. »Du gehörst zum Volk der Alanen. Die Krieger deines Stammes sind nach der Rückkehr in ihre Zeltdörfer heimgekehrt. In die nordöstliche Ebene. Habe ich Recht?«
Der Mann nickte.
»Und du, mein tüchtiger Reiter? Dein Pferd ist schnell. Gewiss fliegt es nur so dahin. In drei Tagesritten könntest du unten im Süden entlang der Donau durch die Gebirgsschlucht zu unserm Ostreich gelangen. Oder irre ich mich?«
»Nein, nein. Die Strecke habe ich schon in kürzerer Zeit bewältigt, selbst über die Berge.« Ratlos hob der Kurier seine Hände. »Bitte Herr. Ich verstehe nicht, was du …?«
»Hundsfott.« Bleda setzte ihm den Stiefel auf die Schulter und zwang den Oberkörper tiefer. »Du gestehst also, dass du zuerst meinen Bruder Attila vom Sieg unterrichtest hast.«
»Warum sollte ich? Niemals.«
Ein Hackenstoß, und die Stirn des Boten schlug auf den Holzboden. »Wo warst du, Kerl?«
»Bei meinem Weib. Nur eine Nacht, ich schwöre es. Als der Tross die Theiß überquert hatte, bin ich zu meinem Zelt. Fünf Monate sind es her, seit ich zum letzten Mal … So glaub mir doch. Die Frau kann es bezeugen.«