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Farbenprächtig wie seine Bilder, leidenschaftlich wie seine Beziehungen zu den Frauen und dramatisch wie seine Zeit: der große Roman über Franz Marc
In »Der Maler und das reine Blau des Himmels« erzählt SPIEGEL-Bestsellerautor Tilman Röhrig meisterhaft vom Leben Franz Marcs, des bedeutendsten Malers des Expressionismus, von seiner Zeit und den Menschen, die ihn prägten. So entsteht ein fesselnder Künstlerroman und zugleich eine spannende und oftmals überraschende Geschichte um einen jungen Mann im Wirrwarr seiner Gefühle, auf der Suche nach sich selbst und nach neuen Wegen für seine Kunst.
München 1906. Die Natur einfach so abmalen? Das reicht ihm nicht! Der junge Franz Marc will mehr! Rein sollen die Farben sein, vor allem das Blau, seine Lieblingsfarbe. Klarheit soll seine Malerei bestimmen. In seinem Privatleben herrscht dagegen Chaos. Hin und her gerissen zwischen drei Frauen ringt Franz Marc um seine Rolle als Mann und seine Freiheit als Künstler, um neuen künstlerischen Ausdruck und den Austausch mit der Avantgarde seiner Zeit.
Nach „Riemenschneider“ und „Caravaggios Geheimnis“ – ein neuer großer Künstlerroman von Bestsellerautor Tilman Röhrig
Die Bilder Franz Marcs mit ihren strahlenden, klaren Farben sind heute äußerst beliebt. In seiner Zeit dagegen waren sie gewagt und skandalträchtig! Seine ausdrucksstarken blauen Pferde, die heute so viele Menschen begeistern, waren damals eine Provokation. In seinem farbenprächtigen Roman lässt Tilman Röhrig die Leserinnen und Leser intensiv am Leben des heute so berühmten Mitbegründers des „Blauen Reiters“ teilhaben, zeigt Franz Marc zwischen Kunst und Skandal, Freundeskreis und Liebschaften, Natur und Moderne.
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© Piper Verlag GmbH, München 2022
Covergestaltung: u1 berlin / Patrizia Di Stefano
Covermotiv: akg-images (Franz Marc, »Die großen blauen Pferde«, 1911)
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Cover & Impressum
1
Kochel am SeeEnde Juni 1906
2
Kochel am SeeAnfang Juli 1906
3
München, Kaulbachstraße 68Wohnatelier im GartenhausHerbst 1906
4
Berlin, Hinter der Katholischen Kirche 2Hauptsitz der Preußischen Boden-Kredit-Aktienbank,im zweiten Stockwerk die Wohnung des Bankdirektors Philipp Franck und seiner FamilieWeihnachten 1906
5
MünchenStandesamt Obermenzing22. März 1907, vormittags
6
München, Luisenstraße 2222. März 1907
7
München, Barer Straße 21Damen-Akademie des Künstlerinnen-Vereins, 2. StockIm Saal des AnatomiekursesJuni 1907
8
München, Schellingstraße 33Neues Atelier im Rückgebäude, ErdgeschossEnde Juni 1907
9
Ostsee, SwinemündeVilla SeeschlossSeptember 1907
10
München, Giselastraße 18Marias Wohnung und AtelierFrühjahr 1908
11
LenggriesSommerwohnung im Haus Pacher14. Juni 1908
12
München, Theresienstraße 12Wohnung des Bruders Paul Marc und dessen Frau HeleneDienstag, 7. Juli 1908
13
München, Amtsgericht8. Juli 1908
14
München, Schellingstraße 23AtelierDonnerstag, 6. Januar 1910
15
Tegernsee, BahnhofstraßeFerienwohnung von Elisabeth und August Macke22. Januar 1910
16
Tegernsee, in der Wohnung von August Macke22. Januar 1910
17
München, SchwabingAnfang Februar 1910
18
München, Goethestraße 64Brakls Moderne KunsthandlungAnfang Februar 1910
19
Berlin, Hinter der Katholischen Kirche 2Wohnung des Bankdirektors Philipp Franck und seiner FamilieMitte April 1910
20
SindelsdorfWohnung von Jean-Bloé NiestléSamstag, 11. Juni 1910
21
SindelsdorfMittwoch, 20. Juli 1910
22
SindelsdorfAugust 1910
23
SindelsdorfAugust 1910
24
München, Theatinerstraße 7Moderne Galerie im Arco-Palais, Eingang MaffeistraßeZweite Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung (NKVM)Mittwoch, 7. September 1910
25
München, Giselastraße 23Wohnung von Jawlensky und WerefkinSonntag, im November 1910
26
Berlin, Hinter der Katholischen Kirche 2Dezember 1910
27
München und BerlinSamstag, 7. Januar 1911
28
SindelsdorfFreitag, 3. Februar 1911
29
Murnau, Russenhaus10. Februar 1911
30
SindelsdorfZweitwohnung von Annette SimonFreitag, 3. März 1911
31
München, Ohmstraße 17Wohnung und Atelier von Adolf ErbslöhMittwoch, 15. März 1911
32
SindelsdorfMontag, 3. April 1911
33
SindelsdorfDonnerstag, 4. Mai 1911
34
BerlinVilla des Fabrikherrn Bernhard KoehlerDienstag, 30. Mai 1911
Fahrt von Berlin nach LondonMittwoch, 31. Mai
Nordsee. Überfahrt von Vlissingen nach Sheerness an der ThemsemündungDonnerstag, 1. Juni mittags
London, ein kleines Hotel nahe dem Britischen MuseumFreitag, 2. Juni morgens
35
LondonStandesamt London-CroydonMontag, 5. Juni 1911
Railway Hotel in AnerleySonntag, 11. Juni
London, Piccadilly CircusMontag, 12. Juni, vormittags
Railway Hotel in AnerleyMontag, 12. Juni, am Nachmittag
36
Bonn, Bornheimer Straße 88Donnerstag, 22. Juni 1911
37
SindelsdorfMittwoch, 12. Juli 1911
38
Murnau, RussenhausMontag, 23. Oktober 1911
39
München, Theatinerstraße 7, Eingang MaffeistraßeModerne Galerie im Arco-PalaisSamstag, 4. November 1911
40
München, Franz-Joseph-Straße 36Büro der Neuen KünstlervereinigungSamstag, 2. Dezember 1911
41
Berlin, Hinter der Katholischen Kirche 2Samstag, 18. Januar 1912
42
Berlin und Sindelsdorf und BonnAb 23. Januar 1912Sturm und Regen über der Freundschaft
43
SindelsdorfDonnerstag, 29. Februar 1912
44
Sindelsdorf und BonnDonnerstag, 16. Mai 1912Die Stimmung bleibt gewittrig
45
BonnHaus der Mackes in der Bornheimer Straße 88Dienstag, 24. September 1912
ParisQuartier Saint-Germain-des-PrésSamstag, 28. September 1912
ParisQuartier Saint-Germain-des-PrésDienstag, 1. Oktober 1912
46
BonnHaus der Mackes in der Bornheimer Straße 88Montag, 7. Oktober 1912
Haus der Mackes in der Bornheimer Straße 88Sonntag, 13. Oktober 1912
47
SindelsdorfMontag, 13. Januar 1913
48
München, Schwabing MittePension ModernMittwoch, 15. Januar 1913
49
SindelsdorfDienstag, 29. April 1913
50
Berlin Potsdamer Straße 75, Ecke Pallasstraße 3. Stock Ausstellungsräume für den Ersten Deutschen HerbstsalonFreitag, 19. September 1913
51
Ried bei BenediktbeuernWirtshaus nahe der BahnhaltestelleSonntag, 1. Februar 1914
52
SindelsdorfMontag, 27. April 1914
53
Abstieg von der StaffelalmDienstag, 30. Juni 1914
54
RiedSonntag, 2. August 1914
55
Auf dem Weg nach München zur Wohnung des Bruders Paul MarcMontag, 3. August 1914
56
München, Theresienstraße 12Wohnung von Bruder Paul MarcDienstag, 18. August 1914
Appell auf dem Hof der Max-II-KaserneDonnerstag, 27. August 1914
Wohnung in der TheresienstraßeSamstagnacht, 29. August 1914
57
Saales in den VogesenMittwoch, 2. September 1914
RiedDienstag, 11. September 1914
58
Rückzug von Lubine nach Schlettstadt im ElsassDonnerstag, 1. Oktober 1914
RiedSamstag, 10. Oktober 1914
RiedSamstag, 17. Oktober 1914
59
Hagéville in LothringenFreitag, 23. Oktober 1914
Mülhausen, ElsassNeuer Standort der LandsturmdivisionDonnerstag, 17. Dezember 1914
Mülhausen, KaserneDonnerstag, 24. Dezember 1914Heiligabend
60
RiedDonnerstag, 14. Januar 1915
RiedMontag, 1. März 1915
61
RiedFreitag, 10. März 1915
Ensisheim bei MülhausenDienstag, 13. April 1915
62
RiedMontag, 31. Mai 1915
63
München und RiedMittwoch, 7. Juli 1915
64
RiedMittwoch, 14. Juli 1915
65
Haumont-près-SamogneuxEnde September 1915
66
Metz, Rue GambettaStädtisches Badehaus, Palais de CristalDienstag, 2. November 1915
67
Ried und MünchenDienstag, 16. November 1915
MünchenAinmillerstraße 32Am selben Tag
68
HaumontMittwoch, 1. Dezember 1915
69
Leiningen, LothringenFreitag, 25. Februar 1916
Gussainville, Ortschaft an der FrontlinieMontag, 1. März 1916
70
GussainvilleSamstag, 4. März 1916
Epilog
Übersicht der wichtigsten handelnden Personen
Weitere Künstler
Literaturauswahl
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Wie kann er mir das nur antun? Völlig aufgelöst eilte Maria die Treppe hinunter, stolperte fast, hielt sich am Geländer. Unten im Flur der Pension begegnete sie der Wirtsfrau. Maria blieb nicht stehen, antwortete nicht auf den freundlichen Gruß. Weg will ich, weit weg.
Es regnete in Kochel, die Wolken hingen schwer über dem See und den Dächern, von den Bergen war nichts zu sehen. Er weiß genau, wie er mich quälen kann. Oder weiß er es nicht? Tränen flossen, sie wollte sie nicht zurückhalten, sie weinte in den Regen, schmeckte das Salzige auf den Lippen. Verdammt, auch ich bin ein Mensch. Ohne Mantel lief Maria hinter der Pension den Pfad zu den Hügeln hinauf, schnell geriet sie außer Atem, dennoch stürmte sie weiter. Das Unglück verlieh ihr Kraft. Etwas habe ich geahnt. Seit Tagen schon. Aber dass er mich … heftiger noch rollten die Tränen. »Ach, Franz, Geliebter!«, rief sie, rang nach Luft. »So tötest du mich.« Ein Stein, ihr Fuß blieb hängen, sie stürzte auf beide Knie. Mit dem Schmerz fühlte sie, wie ihr Körper erschlaffte. Maria ließ die Stirn ins nasse Gras sinken. So blieb sie. Ich habe … Mein Herz tut weh, du hast mir so wehgetan …
Nach einer Weile spürte sie den Regen, den feuchten Stoff im Rücken. Langsam raffte sie sich auf. Ich verstehe dich nicht. Am Kleid wischte sie das Gras von den Händen. Durch den Sturz war über dem linken Ohr die große Zopfschnecke verrutscht. Gleich tastete sie nach den Nadeln, fand sie nicht, suchte fahrig zu retten, es gelang nicht, und ihr am Morgen sorgsam geflochtenes Haar löste sich ganz und fiel in nassen blonden Strähnen über die linke Brust bis hin zur Hüfte. Und dieser verdammte Regen. Dabei haben wir Ende Juni. Seit Tagen will er einfach nicht aufhören. Ihre Knie schmerzten. Vorsichtig ging sie den Pfad wieder hinunter. Scharfer Geruch biss in die Nase. Aus dem Schornstein der Pension quoll Rauch, träge zog er über den Dachfirst. Ihr Vermieter verbrannte das Altholz aus der Schreinerwerkstatt. Nicht einmal frische Luft gibt es heute. Wieder rollten die Tränen. O verflucht, alles ist falsch. Ein verfluchter Tag. Maria betrat das Haus durch den Hintereingang, stieg in den ersten Stock zur Wohnung hinauf. Ich werde mich nicht erst umziehen. Er soll sehen, was er mit mir angerichtet hat. Neben der Küche pochte sie an seiner Stubentür, wartete nicht und öffnete. Franz Marc saß nah am Fenster. Verwundert blickte er von seinem Skizzenblock auf, dann weiteten sich die dunklen Augen. »Großer Gott, was ist dir geschehen?«
Sie antwortete nicht. Ihr Blick aber klagte ihn an.
»Mein Lieb, du blutest.« Gleich warf er Block und Stift auf den Tisch. In zwei Schritten war der große, schlanke Mann bei ihr, kniete schon und streifte den Rocksaum über das rechte Knie. »Halte den Stoff. Es ist nur eine Schürfwunde, das Blut ist bereits getrocknet. Aber da sitzt noch Dreck drin.«
»Ich bin hingefallen, weil …«
»Warte«, unterbrach er sie. »Hab keine Angst! Gleich haben wir es.« Mit einem feuchten Läppchen reinigte er die Stelle, wischte die wenigen Spuren von ihrer Wade. Maria sah sein schwarzes Haar. Wie weich es ist, so seidig. Sie musste seufzen, um die Tränen zurückzuhalten. Mit einem zwei Finger breiten Pflaster verklebte er die Wunde. Während er aufstand, tätschelte er ihren Po und den Busen. »So, mein Lieb …«
»Nein, nicht!« Die Berührung schmerzte, sie wich einen Schritt von ihm zurück.
Erstaunt betrachtete er seine Hand. »Was ist? Ich wollte nur sagen: Und schon ist das Unglück behoben.«
»Nein, Franz. Nichts ist behoben.« Sie musste heftig schlucken. »Warum? Ich bin völlig ratlos.«
Seine Augen wurden dunkler, leicht zitterten die Lippen. »Ich auch«, flüsterte er. »Glaub mir!«
»Dann erkläre es mir doch.«
Mit gesenktem Kopf nahm er ihre langen Haarsträhnen und ließ sie durch die Hand gleiten. »So blond, so gelb wie reifes Korn.« Langsam ging er zum Tisch, sein Ton versuchte zu überspielen: »Ach, hast du dir schon meine neue Pferdeskizze angesehen? Ich bin noch nicht fertig.« Er hielt ihr den Block hin. »Die Bewegung aber stimmt …« Weil sie nicht näher kam, legte er den Block zurück. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stellte er sich ans Fenster, eine Weile starrte er hinaus. »Ich konnte nicht anders. Bitte, hilf mir! Lass mich nicht traurig werden. Du weißt, wie schwer mir ohnehin das Arbeiten fällt.«
»Verzeih, Liebster.« Nun folgte sie ihm, blieb hinter seinem Rücken, so geschützt nahm sie allen Mut zusammen. »Nie will ich dein Malen behindern. Aber ich muss auch leben. Deshalb erkläre es mir. Warum, Franz, warum?«
Tief seufzte er, strich das Haar an beiden Schläfen zurück. »Ich würde es dir sicher falsch erklären.« Der Handrücken wischte über die Augen. »Weil es mich aufwühlt. Ebenso wie dich.« Er wandte sich um. »Verstehst du?« Als sie den Kopf schüttelte, setzte er notvoll hinzu: »Das Beste ist, du gehst rüber zu ihr. Schnürchen soll dir alles erklären.«
»Schnür, verdammt!«, entfuhr es ihr, heftig stampfte sie mit dem Fuß auf. »Sie heißt nur Schnür! Marie Schnür.«
»Was habe ich denn gesagt?«
»Ach, Franz. Du merkst es schon gar nicht mehr.«
»Bitte.« Er presste die Hände zusammen. »Ich kann jetzt nicht mit dir diskutieren.« Tief verbarg er das Gesicht über seiner Skizze. »Bitte verstehe mich. Alles ist anders, als du jetzt denkst.«
Sie blieb stehen, hoffte noch auf einen Blick. Er aber rührte sich nicht.
In der Küche spürte sie, wie ausgetrocknet ihr Mund war. Mit dem Becher schöpfte sie Wasser aus dem Bottich und leerte ihn hastig, ohne abzusetzen. Marie Schnür. In München, an der Damen-Akademie fürs Malen, bin ich ihre Schülerin, gut, aber hier in Kochel sind wir gleich. Nein, verflucht, hier bin ich mehr. Sie kann wunderbar zeichnen, sieht gut aus, hat nun mal nicht so viel Pfunde … Franz, das kann es doch nicht sein? So, wie du mich … ach, ich höre genau, wie du mir was sagst, das spürt doch eine Frau. Fest setzte sie den Becher zurück. Ich muss mir erst die Haare richten, so soll sie mich nicht sehen. In ihrer Kammer flocht sie den aufgelösten Zopf neu, wickelte die Schnecke und steckte sie über dem linken Ohr wieder fest. Vor dem Spiegel erschreckten sie ihre verweinten Augen. Das Vergnügen werde ich dir nicht bieten. Ein feuchtes Tuch sollte kühlen, verbesserte den Anblick aber nur wenig. Dann muss es so sein.
Im halbdunklen Flur hinter der Küche hörte Maria ihr Pfeifen, eine vergnügte Melodie, sie schmerzte in den Ohren. Erst nach dem zweiten Anklopfen brach das Gepfeife ab. »Komm nur rein!«
Marie Schnür saß am Tisch, vor ihr ausgebreitet lagen Zeichnungen, den Kreidestift in der Hand, lachte sie beim Aufschauen, dann erkannte sie die Besucherin, gleich erlosch ihr Blick, verlor sich die Heiterkeit. »Ach so? Sie sind es, Liebchen.« Unvermittelt beschäftigte sich die Künstlerin wieder mit ihrem Bild. »Gleich bin ich so weit.« Sie strichelte, wechselte die Farben, dabei öffneten und schlossen sich unter dem Stoff ihres blauen Faltenrocks in unruhigem Rhythmus die Knie. »So setzen Sie sich doch!«
Maria blieb stehen. Sie konnte nichts denken, sah nur die schlanke Frau dort am Tisch, das schwarze Haar sorgsam gescheitelt und hinten zum Knoten gebunden, die geschickten Finger, sie hörte das Streichen der Kreidestifte. Es brach ab. »So, Liebchen, nun kann ich eine Pause einlegen. Ja, trotz der Ferientage muss ich das Titelblatt für die Jugend abliefern.« Sie wies auf den zweiten Stuhl. »Aber nun nehmen Sie doch Platz! Stehend unterhält es sich schlecht. So von Malerin zu Malerin.«
Maria setzte sich und rückte gleichzeitig etwas vom Tisch ab. Abschätzend prüfte Marie Schnür das blasse, rundliche Gesicht, dann hob sie die Augenbrauen. »Wie ich sehe, hat Ihnen Franzl schon die Neuigkeit verkündet?«
»Franz«, entfuhr es Maria. »Bitte, für Sie nur … Ach, was sage ich. Ihr beide …« Sie musste atmen. »Nein, er hat mir nur gesagt, dass …« Sie vermochte nicht weiterzusprechen.
Da lachte Marie leicht, sie drehte die rechte Hand wie eine Puppe hin und her. »Dass wir heiraten werden, meinen Sie? Ganz richtig, er hat mir gestern die Ehe versprochen.«
Maria spürte den Stich, sah die tanzenden Finger, ohne zu überlegen, schnellte ihr Arm vor. Sie schnappte nach dem Handgelenk, umklammerte es. »Nicht lachen, nicht wackeln, sonst weiß ich nicht, was ich …« Sie fuhr zurück. »Was sagen Sie da? Wann hat er das Versprechen gegeben? Gestern schon?«
»Aber ja. Nach dem Abendessen, als Sie unten im Gastraum mit der Kleinen unserer Wirtsleute gespielt haben.«
Maria schloss die Augen. Und in der Nacht lag er bei mir, war so zärtlich. Sie schüttelte den Kopf, o Franz … Nach tiefem Atmen flüsterte sie: »Warum hat er es mir erst vorhin gesagt? Und dann nicht richtig. Warum schickt er mich zu Ihnen?« Sie nahm das Taschentuch aus der Rocktasche. Erst nach heftigem Schnäuzen sah sie ihre Dozentin an. »Franz gehört zu mir. Das habe ich bis heute Morgen geglaubt … gehofft.«
»Und das wird auch so bleiben. Mit der Heirat hilft er mir aus größter Not. Weil Franz ein guter Mensch ist.«
Mir zerspringt gleich der Kopf. Maria presste die Fingerkuppen gegen die Schläfen. »Not? Wie kann denn eine Heirat aus der Not retten?«
Ein tiefer Seufzer. Marie Schnür stand auf, ein zweiter Seufzer beendete die Leichtigkeit. Sie ging ans Fenster, dort hob sie das Gesicht und blickte lange zur Decke. »Was ich Ihnen jetzt anvertraue, darf nicht publik werden. Niemand, vor allem niemand in der Akademie, darf davon erfahren.« Sie blickte über die Schulter. »Habe ich Ihr Wort?«
Maria sah, wie die Nasenflügel bebten. Großer Gott, erst willst du mir den Franz nehmen, und jetzt soll ich auch noch … womöglich ist es ein Verbrechen? »Nur, wenn es was mit uns zu tun hat, dann sag ich ja.«
»Dann hören Sie zu.« Marie Schnür faltete die Hände vor dem Gesicht. »Wie Sie wissen, bin ich im letzten Herbst nach Paris gereist. Für einige Monate.«
»Zur Weiterbildung bei den großen französischen Malern. Ich erinnere mich. Wir alle in der Klasse haben Sie beneidet.«
»So sollten alle denken.« Nun verschränkte Marie Schnür die Finger, richtete die weißen Knöchel auf Maria. »In Wahrheit … Die Wahrheit ist, dass ich schon seit Mai schwanger war. Ich bin nach Paris gereist, um dort mein Kind zur Welt zu bringen.«
»Was?« Maria starrte sie mit großen Augen an. Mit deinen siebenunddreißig Jahren bekommst du noch ein Kind? Das glaubt doch keiner mehr. Franz ist sechsundzwanzig. Ich bin nur vier Jahre älter als er, bei uns wäre das was anderes. »Wirklich?«
»Mein kleiner süßer Bub, mein Klaus.« Marie Schnür tupfte mit dem Taschentuch die Augenwinkel und setzte sich wieder. Die Hände im Schoß, sah sie nun gefasst auf Maria. »Bitte fragen Sie nicht, wer der Vater ist. Sie kennen ihn, aber ich möchte den Namen nicht preisgeben.«
Jäh verspürte Maria den Magen, der Druck nahm zu. »Ist es etwa …?«
»Nein, nein. Da können Sie ganz beruhigt sein. Aber ich …« Die Stimme sank in tiefe Trauer. »Ich bin nun Mutter ohne Kind.«
»Ist es tot?« Maria presste die Hand vor den Mund.
»Für mich, ja. Mein Klaus ist fort.« Die Vorstellung ließ Marie Schnür langsam den Kopf schütteln. Sie habe sich mit dem Vater endgültig zerstritten. Aus Rache habe der Grausame dann das Kind weit fort zu seinen Bekannten nach Eisenach gegeben. »Ich darf Klaus nicht sehen.« Wieder tupfte die Unglückliche die Augenwinkel. »Und meine Sehnsucht …« Sie brach ab, musste neu beginnen: »Eine Mutter braucht doch ihr Kind, nicht wahr?«
Angerührt nickte Maria. »So holen Sie den kleinen Klaus doch zu sich.«
»Würde ich ja, das Gesetz aber ist gegen mich, gegen uns Mütter. Nur als verheiratete Frau habe ich das Recht, meinen Buben zu mir zu nehmen.« Sie wartete. Erst als Maria die Lippen öffnete, die Augen groß wurden, fuhr sie leise fort. »Und in meiner Not habe ich mich Franz anvertraut, ihn um Beistand gebeten.«
»Und er hat Ja gesagt«, flüsterte Maria. In ihr strömten heiß und kalt aufeinander, sie wusste nichts mehr, hoffte auf Übelkeit oder Ohnmacht, nichts erlöste sie. »Franzl hat wirklich ein gutes Herz.«
»Sage ich ja.« Ein erstes Lächeln erhellte wieder die Miene der Mutter. »Er rettet mich und mein Kind. Eine Ehe nur zum Schein. Und zwischen euch beiden bleibt alles so, wie es nun mal ist.« Sie tätschelte Marias Arm. »Einfach und klar. Sind Sie beruhigt?« Den Seufzer nahm sie als Zustimmung. »Dann geben Sie mir Ihre Hand.« Nur zögerlich folgte Maria der Bitte. Marie Schnür legte ihre Linke noch obendrauf. »Ich wusste, wir Frauen würden in der Not zusammenstehen. Und ganz sicher werden wir bald zu guten Freundinnen. Und nun …«, sie erhob sich, half dabei Maria aufzustehen, »geht es wieder an die Arbeit.« Ein leises Lachen gurrte. »Einer von uns dreien muss ja Geld verdienen.«
Darüber konnte Maria nicht lachen. Völlig verwirrt verließ sie das Zimmer. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, als drinnen das Pfeifen erneut einsetzte. Ist es wahr? In der Küche lehnte sie die Stirn an den Türrahmen. Nichts sprach dagegen. Zumindest fällt mir nichts dagegen ein, aber gut ist es nicht. Mein Geliebter heiratet. Nein, nicht mich, eine andere, aber er bleibt mein Geliebter. Maria schlug mit der flachen Hand gegen das Holz. Den Eltern in Berlin könnte ich das niemals erklären. »Ein Sündenpfuhl«, würde Vater urteilen und mich nie mehr nach München zurück lassen. Das wäre erst recht mein Tod. Maria richtete den Kragen ihrer Bluse. Nein, es ist wahr. Franz handelt aus Mitleid, anders darf es nicht sein. Und er bleibt bei mir, daran will ich, muss ich glauben. Etwas getröstet ging sie durch die Küche und pochte an seiner Stube.
Der Regen hatte vor vier Tagen aufgehört. Endlich. Seitdem strahlte, brannte die Julisonne. Die ersten Vormittage war Franz Marc allein die Viehweiden hinter der Pension hinaufgestiegen. Gestern hatte er sich noch gut ein Stück unterhalb des Waldrandes von einem vorstehenden Wiesenhügel angezogen gefühlt, sich niedergekauert, von dort über die Kuppe hinweg den Himmel betrachtet, dann den Eindruck aus anderen Positionen geprüft. »Nicht ich habe dich, du hast mich gefunden«, hatte er geflüstert und war mit dem Ort zufrieden. Hier sollte das Gemälde entstehen: seine zwei Frauen gegen die Luft, den Himmel und die Landschaft unter ihnen. Gras und Moos waren nicht mehr feucht. Es gab also keinen Grund für Proteste oder gar Weigerung.
Noch ehe die Morgensonne in alle Schattenecken der Weide gedrungen war, stieg Franz mit den Damen auf. Sein Rucksack vollgestopft mit Farbtuben, Pinseln, drei zugeschnittenen Malgründen aus Pappe, dem Skizzenbuch und was er sonst noch zum Malen benötigte. Jede der Frauen trug ein sorgsam gebügeltes Gewand über dem Arm, erst oben vor Ort würden sie sich umziehen, für den steilen Weg begnügten sie sich mit schlichten, von oben nach unten geknöpften Kleidern, und vor der Hitze schützte sie ein Strohhut.
»Sie sind die Stämmige …« Marie Schnür hatte das Wort lächelnd ausgekostet, dann erst verbessert: »Ich meine, die Stärkere von uns beiden.« Und Maria noch zu den Decken die Staffelei aufgebürdet. Sie selbst schlenkerte am freien Arm einen Korb mit Kreidestiften und ihren eigenen Skizzenblock, außerdem die handliche Fotokamera, Kamm, Haarnadeln und ein Gläschen mit kandierten Ingwerstückchen.
Begleitet wurde der Aufstieg vom Geläute der Kuhglocken, die Tiere grasten gemächlich, störten sich nicht an den frühen Spaziergängern. Franz wandte sich um. »Diese Stimmung öffnet mir das Herz. Hier kann ich befreit atmen.«
»Ganz sicher, weil du mich so dicht hinter dir siehst«, neckte die Verlobte, dazu gab sie ein helles Kichern von sich.
Im ersten Moment dachte Maria etwas anderes zu tun, dann aber stieß sie die eisernen Spitzen der Staffelei nur ins Gras. »Von der guten Luft merke ich hier leider wenig. Ich rieche nur aufdringliches Parfüm.«
»Aber, Liebchen, was ist mit Ihrer Nase? Den Duft habe ich mir aus Paris mitgebracht.«
Ehe Maria etwas erwidern konnte, unterbrach Franz: »Was für ein friedvoller Morgen.« Er drückte zwei Finger an die Lippen und schickte den Kuss durch die Luft. »Der gilt euch beiden. Und nun weiter. Wir sollten nicht stehen bleiben. Kommt!«
Maria presste die Lippen zusammen. Was erlaubt sich dieses Weib? Seit Franz ihr dieses unselige Versprechen gegeben hat, führt sie sich auf wie eine alberne Gans, lacht, wo es nichts zu lachen gibt, trällert und pfeift. Dabei ist nichts echt, das spür ich genau. Nur Franz merkt nichts. Ist sie nicht anmutig? Sie bringt fröhliche Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Von wegen. Maria drohte dem schlanken Rücken vor ihr mit den spitzen Staffeleibeinen.
»Seht ihr?« Franz präsentierte in einer großen Armbewegung die Wiesenkuppe, als hätte er sie selbst geschaffen, mit eigener Hand die gelben und weißen Blümchen ins Gras und Moos gepflanzt. Während er sich niederkauerte und den Inhalt des Rucksacks vor sich ausbreitete, bat er die Damen: »Bitte umziehen. Auch für die Bleistiftskizze möchte ich euch schön herausstaffiert sehen.«
Maria stutzte. Als die Rivalin ihr weißes, mit bunten Blumen besticktes Kleid vom Arm nahm, kam noch eine dunkelblaue Weste zum Vorschein. Davon wusste ich gar nichts. Und ich hab nur ein weißes Kleid. »Wieso?« Sie wandte sich an Franz. »Ich hätte auch etwas mehr Farbe verdient. Reinweiß macht blass. Zwei bunte Westen habe ich unten im Gepäck.«
Franz sah, wie sich die Falten auf ihrer Stirn vertieften. Gleich sprang er auf. »Aber, Liebes.« Er legte ihr den Arm um die Schulter. »Im Geist habe ich die Farben schon komponiert. Schnürchen trägt das Hauptblau …«
»Sie heißt …« Maria kam nicht weiter, denn er nahm das blaue Band aus dem Korb und wickelte es um ihren Strohhut. »So taucht das Blau wieder auf, damit ergänzt du das Farbgewicht. Vertraue mir!«
Sie funkelte ihn an. Nur kurz hielt er dem Blick stand, lächelte und sprach zu beiden: »Erst will ich eure Vorstellung vom Gemälde sehen, bin gespannt, ob sie sich mit meiner deckt. Also arrangiert euch selbst. Zeigt mir, wie ich euch malen soll.« Maria setzte sich, den Körper etwas seitlich abgewandt, vor ihm ins Gras, drapierte das Kleid über die Beine und sah ihn an. Marie Schnür pfiff leise eine Melodie und ließ sich in der gleichen Haltung direkt vor ihrer Schülerin nieder. »Aber, Liebchen. Was die Bildkomposition betrifft, müssen Sie noch viel lernen.« Sie blinzelte Franz zu. »Was die Proportionen betrifft, sollte das Leichte vor dem Schweren kommen. Kein Zweifel, nicht wahr? So entsteht Anmut.«
Er drückte das Bleistiftende fest gegen die Lippen, ging einige Schritte zurück, ging, ohne seine Modelle aus den Augen zu lassen, hin und her, hockte sich, stand wieder auf. Maria wünschte, flehte innerlich: Sie hat unrecht. Ich bin die Wichtigste. Hörst du mich?
Franz nickte langsam. »Schnürchen. Was ich so sehe … Ich glaube, ich muss dir zustimmen. Du bist vorn, führst den Betrachter ins Bild hinein.«
Schnür … In Maria stieg der Zorn, mit Mühe unterdrückte sie den Fluch und ließ sich ins Gras fallen, rollte auf die Seite. Auf die Linke stützte sie Kopf und Stirn und bedeckte gleichzeitig die Augen. Der Rand des Strohhuts gab seinen Schatten dazu.
»Wunderbar, mein Lieb. Genau richtig.« Der Maler kniete sich zu ihr, zupfte am blauen Band. »So habe ich mir die Stellung gewünscht. Nur will ich auch dein schönes Gesicht sehen.«
»Ich bleib so«, knurrte Maria. Doch er hatte sich schon der Verlobten zugewandt, richtete ihr die Rockfalten und rückte die Weste zurecht, dabei strichen seine Hände fest über die Schultern.
O Franz. Maria schloss den Spalt ihrer Finger. So hör auf, dieses Weib zu betatschen.
»Bleibt jetzt so!« Franz stellte das Skizzenbuch auf die Staffelei. Nach den ersten Strichen hob er den Stift ans linke Auge, senkrecht, waagerecht, und strichelte weiter. Mit einem Mal brach er ab. »Schnürchen, bitte.« Sanfte Ermahnung schwang im Ton mit. »Nicht zu mir schauen. Der Blick soll Maria zugewandt sein.«
»Du nimmst mein Gesicht nur von der Seite?«
»Dein Profil ist schön und ausdrucksstark. Du erzählst ihr gerade etwas. Ihr genießt den Sonnentag. Ihr seid Freundinnen.«
Freundinnen? Ohne die Position zu verändern, riss Maria mit der freien Rechten ein Grasbüschel aus und warf es hinter sich. »Bitte, Franzl«, säuselte sie betont. »Könntest du etwas rascher arbeiten? Meine Lage hier hinten ist auf Dauer doch etwas unbequem.«
»Leichter wäre es, wenn du Schnürchen anblicken würdest.«
»Das hat Zeit, bis du die große Leinwand nimmst.«
Im ersten Moment ballte er die Faust um den Stift, schnell wandte er sich ab, entfernte sich einige Schritte von der Staffelei. Er atmete einige Male und kehrte mit schmalem Lächeln zurück. »Ihr seid wunderbare Modelle. Gut, ich verzichte beim Entwurf auf den Gesichtsausdruck.«
Er beugte den Rücken über den Block. Schweigend skizzierte er, vergewisserte sich beim kurzen Aufschauen, auch radierte er hin und wieder, schließlich blies er den Bleistiftstaub von der Zeichnung. »So könnte es werden.«
Die Frauen seufzten erleichtert. Marie Schnür rekelte sich, streckte die Arme und ließ sich von ihm aufhelfen. »Nun zeige mir dein Werk!«
»Gleich.« Damit half er auch Maria. Als sie vor ihm stand, strich er ihr sanft über die Stirn. »So ein schönes Gesicht. Du musst es nicht verstecken.«
Diese kleine Zuwendung tat ihr gut. »Mal es doch auswendig.« Ihre Stimme blühte auf. »Wir waren so oft schon Stirn an Stirn«, lächelte sie ihn an. »Du kennst doch jedes Eckchen in meinem Gesicht.«
»Auswendig?« Gleich war die Zeichenlehrerin bei ihnen. »Aber, Liebchen, der wahre Künstler braucht den Moment, das unmittelbare Gefühl. Das will er festhalten.« Sie hakte sich bei ihm unter. »Nicht wahr, du Meister?«
Er sah zu Maria. »Schnürchen hat recht. Ich muss das Bild durchleben.« Dann hob er den Kopf, prüfte den Sonnenstand. »Für die Skizze in Öl warten wir noch bis zum Nachmittag. Ich möchte den Schattenfall nutzen.«
»Und wir genießen bis dahin die Wärme und den wunderbaren Ausblick.« Mit Schwung breitete Marie Schnür ihre Decke aus. Für sich und ihn hatte Maria einfach zwei Betttücher aus der Unterkunft mitgenommen. Mit etwas Abstand von der Rivalin ordnete sie die Laken sorgsam auf dem grasigen Moos nebeneinander. Franz hob die Hand. »Bitte zerknittert eure Kleider nicht.«
»Also nackt.« Der Einfall entlockte Marie Schnür einen Juchzer. »Hier oben sieht uns niemand.« Schon streifte sie die blaue Jacke ab, stieg aus dem Geblümten und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, drehte sich und rieb die kleinen, festen Brüste mit den Handflächen. »So liebe ich den Sommer.«
Ich muss mitmachen. Maria seufzte, sonst heißt es gleich, ich sei prüde. Sie warf den Strohhut beiseite. Mit dem Rücken zu den beiden gewandt, legte sie das weiße Kleid ab. Obwohl sie die Wärme wohlig auf der Haut fühlte, kauerte sie sich gleich auf ihr Laken.
Ohne die Knie zu beugen, bückte sich die Zeichenlehrerin tief über den Korb. »Und zur Erfrischung gibt es gezuckerte Ingwerstückchen.« Sie hielt Maria das geöffnete Glas hin. »Nehmen Sie getrost zwei, Liebchen. Ingwer macht nicht dick.« Für Franz klaubte sie selbst mit schlanken Fingern eine Leckerei heraus und stopfte sie ihm in den Mund. »Und was ist mit dir? Willst du die warmen Sachen anbehalten?« Dabei zupfte sie an seinem Gürtel.
Maria sah auf. Er bemerkte ihren Blick. »Ein Maler …«, er räusperte sich, »der sollte sich besser nicht … ich mein, vor seinem Modell nicht ausziehen.«
Da lachte Marie Schnür. »Also dann …« Sie drapierte sich auf ihrer Decke, verschränkte die Arme wieder hinter dem Kopf, schlug das rechte Bein über das angewinkelte linke. »Male mich, Meister.« Ein nächster Gedanke setzte sie wieder auf. »Noch etwas.« Mit Händeklatschen wandte sie sich an Maria. »Schnell, Liebchen, nehmen Sie den Fotoapparat.« Ein Fingerschnippen für Franz. »Du setzt dich mit dem Skizzenbuch so, dass du mich gut im Blick hast. Und unser Liebchen fotografiert uns. Du bei der Arbeit mit deinem Modell.«
Da ihm die Idee gefiel, blieb Maria nichts anderes übrig. Mit dem kleinen Kasten in der Hand schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht …« Sie brach ab. Nein, diese Blamage will ich nicht. Sie weiß genau, dass ich mit diesem Ding umgehen kann. Zu oft haben wir im Unterricht schon Bilder von unseren Arbeiten geknipst. Sie erblickte im Sucher die Nackte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, die Brüste aufgereckt und das triumphierende Lächeln. Wenn du jetzt noch zu pfeifen beginnst, dann lasse ich den Apparat fallen und trete drauf.
»Ist Franzl auch gut zu erkennen?«
Maria drückte den Auslöser. »Er ist nicht zu übersehen.«
Da lachte Marie Schnür. »Wie recht Sie haben. Ist er nicht ein Bild von einem Mann?«
Weibsstück. Das geht dich gar nichts an. Maria stopfte den Fotoapparat zurück in den Korb. Franz hockte im Gras, den Block auf dem linken Oberschenkel strichelte er, nahm Maß über das Stiftende. »Bleib so! Beweg dich nicht.«
Marie schnurrte: »Ach, was geht es uns gut.«
Wieso starre ich immer noch dieses Weib an? Maria erschrak über sich selbst. Genügt doch, wenn er es tut. Entschlossen drehte sie sich auf ihrem Laken weg, zog die Beine an, umschloss sie eng mit den Armen, das Kinn legte sie auf die Knie. So blickte sie hoch zu den Tannen und weiter hinauf zu den Berggipfeln. Sie musste nicht suchen – unser Rabenkopf. Unsere Staffelalm. Den Duft nach Heu bekomme ich sicher nie mehr aus der Nase. Sie lächelte. Wir sind noch vor dem Morgengrauen aufgestiegen. Drei Stunden. Mein Gott, war ich außer Atem. Franz hat nur gelacht, ist um mich rumgewandert. Mal hat er mich vorn gezogen, mal am Hintern geschoben. »Von so steil hast du mir nichts gesagt.«
»Warte nur, wenn wir demnächst von der anderen Seite, von Lenggries, aufsteigen. Da gibt es richtige Steilhänge.«
Sie sah zur Seite über die Nackte hinweg zu ihm, immer noch beugte er sich über seine Zeichnung. Wie gerne würde ich jetzt mit dir einen Steilhang bezwingen. Mit leisem Seufzen kehrte sie zum Rabenkopf zurück. Als Sterne und Mond verblassten, warteten wir oben vor der Hütte auf den Sonnenaufgang. Ganz weit im Osten stieg sie über die Alpenspitzen, ließ die Berge erglühen. »Komm mit ins Heu!« Ohne Zögern bin ich mit ihm. Hans, der Senner, hat nichts gefragt, hat mich freundlich begrüßt, als hätte er mich schon ein paarmal gesehen. Er ist mit Franz eng befreundet und gibt ihm, so oft er im Sommer möchte, Platz zum Schlafen und Malen. Und wir sind die schmale Treppe hinauf ins Heu gestiegen. So innig, und dazu dieser Duft …
»Ich hab Hunger!«
Diese Stimme zerriss die Erinnerung. Maria schluckte, ballte eine Faust. Da gab es dich noch nicht. Da war Franz mit mir allein.
Kurze Pfiffe mahnten. »Hast du nicht auch Hunger, großer Meister?«
»Schon, aber vorher möchte ich die Skizze fertig haben.«
»Wenn wir dann erst runter ins Dorf gehen, gibt es keinen Mittag mehr.« Ohne die liegende Position zu verändern, blickte das Modell auf Maria. »Sie sind doch auch hungrig? Franzl und ich sind beschäftigt, können hier nicht weg. Könnten Sie?«
Maria kam gar nicht dazu, etwas zu erwidern. Gleich rief Franz: »Ein guter Gedanke, meine Liebe. Hole uns ein Picknick!« Sie sollte sich einige Scheiben vom Lendenbraten einpacken lassen, dazu Semmeln. »Und ein Fläschchen vom Selbstgebrannten.« Ja, Schnaps würde die Stimmung heben.
Maria zog das Kittelkleid an. Verflucht, zum Neinsagen weiß ich keinen Grund. Ihre Finger nestelten fahrig an den Knöpfen.
»Nehmen Sie doch meinen Korb.« Den Inhalt, Fotoapparat, Ingwerstückchen und Zeichensachen, sollte sie so lange auf ihr Laken legen.
»Ich gehe dann«, sagte Maria und sah nicht zu den beiden hin. Nach wenigen Schritten hörte sie hinter sich die Rivalin rufen: »Und Schokolade. Nicht vergessen, ich möchte etwas Süßes …«
Maria ahnte es, wollte es nicht wahrhaben, sie ging den Pfad hinunter, kämpfte mit sich, sie erreichte den unteren Absatz der Weide. »Geh weiter«, befahl sie sich. Nur noch ein Stück, dann kannst du die Wiesenkuppe nicht mehr sehen. Dann aber drehte sich Maria doch um. Der Lagerplatz war leer, keine Nackte, kein Franz. Ein Stich. So weh, sie griff sich ans Herz. Es ist nicht, was du denkst, befahl sie sich, vielleicht bin ich doch schon tiefer und kann den Platz da oben nicht mehr ganz sehen. Maria ging weiter. Vielleicht. Daran wollte sie, musste sie glauben.
Die Türglocke schlug an, dreimal, beinah gleichzeitig drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Heute schon? Franz bückte sich rasch nach dem grauen Tuch und zog es über das große Ölgemälde auf der Staffelei.
»Liebster, verzeih mein Eindringen!« Ihre Stimme, ihre leise, dunkle Melodie schwang vom Flur herein.
Er strich sich flüchtig mit beiden Händen das Haar zurück. »Meine schönste Überraschung, komm nur, komm!«
Im Türrahmen wirkte ihre Gestalt noch zierlicher, die braunen Augen größer … Wie blass und rein ihr Gesicht ist, dachte Franz, wie ihre Lippen vibrieren, er atmete tief. »Annette.«
Ruhig stand sie da, den pelzbesetzten Mantel nur über die Schulter gelegt, eine Zeitung unter dem Arm. Ihr Blick versank in seinem Blick. Sie streckte leicht die Linke nach ihm aus, dabei entglitt ihr das Journal und fiel zu Boden. In schnellen Schritten war Franz zur Stelle, kniete vor ihr, wollte die Zeitung aufheben. »Lass nur!« Sie griff ihm sanft ins Haar. »Mein süßer, lieber Junge.« Sie drückte seinen Kopf an den Schoß. »Wie habe ich dich vermisst.« Ein Seufzen begleitete die Worte. »So lange haben wir uns nicht gesehen.«
»Viel zu lange.« Durch den Stoff des schwarzen Kleides sog er den Duft ihres schweren Parfüms in sich ein.
»Was sagst du?« Sie bog sein Gesicht zurück, dass sie auf die Lippen sehen konnte. Annette Simon hörte nur Klänge, Geräusche, verstand das Sprechen nur, wenn sie die Mundbewegung mitlesen konnte oder überlaut zu ihr gesprochen wurde. »Wiederhole, mein Schöner.«
»Es war in der letzten Woche. Am Donnerstag.«
Leicht fuhr die Fingerkuppe über seinen Nasenrücken. »Tatsächlich?« Mit leichtem Lächeln und einer Schulterbewegung ließ sie den Mantel nach hinten fallen. »Dann ist es ja noch länger her, als ich dachte.«
Franz erwiderte das Lächeln. Er verstand nur zu gern. Welch ein Glück. Die Frau des Professors Simon, seine geliebte Annette, war heute schmerzfrei, war aus Sehnsucht zu ihm gekommen. Rasch erhob er sich, nahm sie wie ein Kind auf die Arme und trug sie zum Bett hinüber. Das schwarze lockige Haar breitete sich auf dem Kissen aus. Er streichelte den Stoff über ihren Brüsten. »Warte noch, mein so Vermisster.« Sie hielt seine Hand fest. »Unsern Liebesschwur. Heute wünsche ich mir einen Vers meines Freundes Prinz Emil von Schoenaich. Du kennst ihn.« Franz legte die freie Hand an die Brust und Annette zitierte mit weicher Stimme:
»Einmal noch sage, dass du mich liebst,
sag es mit lachender Ungeduld.«
Er beugte den Mund über ihre Augen.
»Einmal noch sage, dass du vergibst
Sternensehnsucht und Zweifelshuld.«
Er küsste sie, spürte, wie ihre Arme ihn umklammerten, festhielten, als könne er, müsse er Annette retten. Dann wollte sie nackt sein, die Haut des Liebsten auf ihrer Haut spüren. »Mehr«, flüsterte sie. »Viel mehr.«
Später legte sich Franz zurück, dehnte sich. Annette ruhte mit dem Kopf auf seiner Brust. »Wie gut du riechst. So vertraut.«
Sie schwiegen. Franz seufzte, sein Gemälde drängte sich ihm auf. Den ganzen Sommer habe ich daran gearbeitet. Er rieb sich die Stirn, es ist nicht das, was ich wollte. Sooft ich es jetzt noch übermale, hoffe … doch es will nicht. Wieder rieb er die Stirn, heftiger.
»Was ist?«
»Ach, ich bin nichts …«
»Warte.« Annette stützte sich hoch, sah ihm auf die Lippen. »Nun?«
»Ich habe gemalt, glaubte, dass es gelingt. Etwas Großes, aber …« Er wischte mit dem Handrücken die Augenwinkel.
»Still, mein Junge.« Sie glättete seine steile Stirnfalte. »Ich weiß, welch Talent in dir schlummert.«
»Schlummern genügt nicht. Es muss heraus, endlich.«
»Es wird, ich weiß es.« Annette setzte sich. »Nachher schaue ich mir das Gemälde an, wenn du erlaubst. Vorher aber …« Sie sah ihn lange an. »Lass für uns den schönsten Augenblick langsam ausklingen.« Sie führte seine Hand zu ihren Schenkeln. »Ehe der Alltag uns wieder einholt. Die Kinder, deine Kunst …«
Franz streichelte sie, kostete ihren Schoß, hielt sie fest, als das Zittern einsetzte. »Immer«, sie umschlang seinen Hals. »Jeder Pulsschlag von mir pocht an dein Herz.«
Er löste sich ein wenig, küsste ihre Nasenspitze, das Kinn. »Und mein Herz empfängt jede Schwingung unseres Glücks.«
Sie lächelte. »Zusammen könnten wir das einzig wahre Liebesgedicht schreiben.«
»Und ich würde es illustrieren. So schön und auch so ganz ohne Scham.«
»Mit der Veröffentlichung wäre der Skandal perfekt. In ganz Schwabing, ach, was sage ich, bis hinauf in die höchsten Kreise würden sie sich die Mäuler zerreißen.«
»Na und?« Franz erhob sich, reckte sich nackt vor dem Bett und deklamierte etwas bitter: »Die Frau des hoch angesehenen Professors Richard Nathan Simon und der arme, erfolglose Maler! Ein perfekter Titel für die Klatschpresse.« Rasch beugte er sich wieder zu ihr. »Nur ein Scherz. Ich illustriere die Gedichte, die du ausgewählt hast. Es dauert noch, aber ich werde nicht nachlassen.« Er küsste ihre Stirn. »Und jetzt einen Kaffee? Ich habe gestern frisch geröstete Bohnen gekauft.«
»Ich freue mich darauf.« Annette stopfte sich die Kissen in den Rücken und sah ihm zu. Er rückte den Kessel in die Mitte der Ofenplatte, stellte zwei Becher bereit und setzte sich nackt in den Sessel, die Ohren der Kaffeemühle schob er sich unter die Oberschenkel.
»Wie schön du bist.« Sie drehte einen Finger in die Stirnlocke. »Wie gut, dass dich unser Kaiser nicht kennt. Wilhelm II. hätte sicher Gefallen an dir.«
»Großer Gott, bewahre …«
»Von Freunden weiß ich, dass der Kaiser sich für einen großen Kunstkenner hält. Du wirst also ganz sicher irgendwann von ihm bemerkt werden.«
Jäh unterbrach Franz das Kurbeln an der Mühle. »Aber nicht, weil er mich …« Er schüttelte den Kopf. »Was für eine Vorstellung!« Kräftiger noch als vorher zermahlte er die Kaffeebohnen.
Sie schmunzelte. »Das würde ich auch zu verhindern wissen.« Ihr Zeigefinger deutete in Richtung der Zeitschrift auf dem Boden. »In dieser Ausgabe der Zukunft, da wagt sich dieser Maximilian Harden mit seiner Kritik an der Kamarilla um den Kaiser immer mehr aus der Deckung. Er rüstet sich wohl auf einen Kampf gegen diese Einflüsterer Seiner Majestät. Und stets spielt auch Männerliebe eine Rolle.« Sie hielt inne, tippte sich ans Kinngrübchen. »Da bahnt sich ein Skandal an. Nach dem, was ich gehört habe, würde es mich nicht wundern, wenn dieses Mal selbst Wilhelm direkt darin verwickelt ist.«
Franz goss kochendes Wasser in den Filteraufsatz über der Tasse. »So ein Gerücht habe ich auch schon gehört. Aber wenn ich ehrlich sein soll, es läuft so vieles schief bei uns im Reich, da ist mir egal, mit wem der Kaiser ins Bett geht.« Er brachte den frisch gebrühten Kaffee zum Bett. »Hauptsache, ich bin nicht das Opfer.«
»Das war ein Scherz.« Annette blies in den Becher und nickte noch mal zur Zeitung hinüber. »Ich lasse dir Die Zukunft da. Lies nur, in Wirklichkeit braut sich nicht nur ein Skandal zusammen. Diese Einflüsterer lenken die Politik in gefährliches Fahrwasser, und Wilhelm merkt es nicht. Ja, lies nur!«
»Bei Gelegenheit.« Er schlürfte einen Schluck. »Zurzeit habe ich wirklich andere Sorgen.«
»Nicht … Es macht mich traurig, wenn du traurig bist.« Sie stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab. »Bitte reiche mir das Kleid.« Sie griff in die Seitentasche und zog drei Geldscheine heraus.
Nicht so, durchfuhr es Franz. Gleich wich er vom Bett weg, drehte ihr den Rücken zu. Er nahm einen Schluck Kaffee. »Du, du wolltest dir das Gemälde anschauen«, sagte er, nur um etwas zu sagen.
»Aber, Liebling«, lockte sie. »So verstehe ich kein Wort.« Er wandte sich wieder um, sah sie stumm an, konnte die Scham nicht verbergen. Annette nickte ernst. »Wir haben eine Abmachung. Solange du nichts oder nur wenig verdienst, zahle ich die Miete für dein Atelier und einen Zuschuss, damit du Farben, Leinwand und sonstige Malutensilien kaufen kannst.« Sie rollte die Scheine zusammen und stellte sie als Röhrchen auf den Nachttisch. »Abgemacht ist abgemacht. Und bitte, lasse uns nicht jeden Monat das gleiche Gespräch darum führen.«
Er rieb die Fingerknöchel am Kinn. »Wenn ich deine Güte, deine Fürsorge doch mit mehr als nur Dankbarkeit erwidern könnte.« Hin und wieder verkaufte er Antiquitäten für Annette oder sie besorgte ihm kleine Aufträge, Entwürfe für Gürtelschnallen oder ausgefallene Exlibris für Buchliebhaber. »Das ist nicht leicht für einen Mann.«
»Mein geliebter Junge.« Sie verließ das Bett. Vor ihm stellte sie sich auf die Zehenspitzen, reichte ihm gerade bis an die Brust. »Und nun küsse mich.« Er beugte sich über ihr Gesicht. Kaum fanden sich die Lippen, als sie seinen Hals umschlang und er sie auf den Arm hob. »Auch wenn du mir nie ganz gehören kannst …« Sie wuschelte ihm durchs Haar. »Allein für deine Zärtlichkeit, deine Kraft, dein Wesen würde ich alles hergeben. Und nun möchte ich das Gemälde sehen.«
Schnell war Franz in die Hosen gestiegen und hatte sich das Hemd übergestreift. Während Annette sich ankleidete, ging er zur Staffelei, leicht hob er das Tuch an, zögerte. Nein, warte noch. Sie soll direkt davorstehen, und ich will ihre Miene, ihren ersten Ausdruck beobachten. Der erste Blick ist der ehrliche, alle danach sind schon von Überlegung gefärbt.
Sie richtete, zupfte noch an den gebauschten Ärmeln ihres Kleides, dann stand sie neben ihm. »Ich freue mich darauf.«
Mit ausholendem Schwung nahm er das Tuch ab.
»Oh«, sie ließ die Lippen geöffnet, trat einen Schritt zurück. »Wie schön.«
Franz glaubte ihr, gab dem Moment einen Atemzug, ehe er dagegensetzte: »Ich bin nicht zufrieden.«
»Aber warum?«
»Zu altbacken. Die Farben sind mir zu brav verteilt.«
Annette ging nicht darauf ein, sie trat wieder näher vor die Leinwand. »Das sind also die beiden, und zwar lebensgroß. Du hast sie nicht als Rivalinnen gemalt. Hier schaut Marie Schnür sehr freundlich und Maria lächelt sogar. Wüsste ich es nicht besser, so würde ich sagen, es sind Freundinnen.« Sie pochte ihm sanft mit dem Fingerknöchel gegen die Brust. »Und wäre ich im Sommer mit auf dem Wiesenhügel gesessen, so hättest du uns drei auf dem Gemälde festhalten können.« Sie sah zu ihm hoch. »Mit Farbe und Leinwand wäre dir das gelungen. Im wahren Leben gelingt es dir nicht.« Die dunklen Augen weiteten sich. »Du musst dich entscheiden!«
»Du wirst immer …«
»Nein, mein Junge, mich nimm heraus. Zwischen diesen beiden.« So oft schon hatte er Annette unter Tränen von Marie Schnür und Maria erzählt, wie er ratlos im Gefühl zwischen den beiden hin und her schwankte. Auch jetzt rieb er sich den Nacken, hob und senkte die Schultern.
Annette legte ihre Hand auf sein Herz. »Des Nachts weine ich um uns. Die Aussichtslosigkeit zerreißt mich schier. So oft habe ich dir schon gesagt, nie war eine Frau vor mir und nie wird sie nach mir kommen, die dich so aus tiefster Seele geliebt hat, wie ich dich liebe. Vergiss das nie! Und doch …« Annette deutete auf Maria. »Sie ist es. Halte dieses Mädchen fest, das dich lieb hat und dir so willenlos angehört.«
»Aber ich …« Er kam nicht weiter, sie verschloss ihm mit dem Finger den Mund. »Still. Halte Maria in Ehren, aber reiße mich darum nicht aus deinem Herzen.« Tränen standen in den Augen. »Mein süßer Junge …« Die Stimme schwankte. »Mein Geliebter, verzeih mir.« Rasch löste sich Annette und eilte in den Flur.
Franz stand nur da. Erst als die Tür ins Schloss fiel, sah er ihr nach. Ich bin verloren. Er spürte, wie Leere in ihm hochstieg. Ich ertrinke an mir selbst. Entscheiden? Ja, Geliebte, ich stimme dir zu, doch für was, für wen? Er wischte sich die Augen, das Weinen aber war nicht mehr aufzuhalten. In jähem Aufwallen ging er zur Küchenlade und kehrte mit dem Brotmesser zum Gemälde zurück. Den Stich in die Leinwand spürte er als heftigen Schmerz, dann wurde ihm leichter. In kleinen Schnitten löste er zunächst das Konterfei von Schnürchen heraus, danach ebenso sorgsam das lächelnde Gesicht Marias, samt Hut und tiefem Ausschnitt. Er trennte die Frauen möglichst weit voneinander entfernt, legte Maria vorn auf den Tisch und Marie Schnür drüben auf die Kommode. Nun ging er mit erhobenem Messer erneut auf das Gemälde los, stöhnend stach er in die fingerdick aufgetragene Farbe, zerfetzte es, bis nur noch bunte Leinwandlappen um ihn herumlagen.
Ihr Kinderlein kommet … Leicht glitten ihre Finger über die Tasten, weiße und schwarze. Maria sah nicht auf die Hände, ihre Augen lasen die Noten. Es ist verflixt, dachte sie, auswendig kann ich die Lieder immer noch nicht, vor jedem Weihnachtsfest muss ich sie neu üben.
Am Frühstückstisch hatte die Mutter an jedem Gedeck eine von kleinen Holzengeln gehaltene Kerze entzündet und zum Abschluss der Tochter die Hand auf die Schulter gelegt. »Heiliger Abend ist erst heute Abend. Es gibt noch alle Hände voll zu tun. Ich in der Küche. Väterchen ist noch bis zum Mittag unten in der Bank …« Kurz blickte sie zu Sohn Wilhelm hinüber. »Unsern Jungen«, bei der Verniedlichung verdrehte der Siebenundzwanzigjährige kurz die Augen, »schicke ich noch zum Zigarren- und Tabakkaufen. Und du …« Die Hand tätschelte. »Du bringst uns auf dem Klavier schon mal in festliche Stimmung.«
»Aber ich muss noch baden und die Haare waschen.«
»Aber, Kind.« Der Blick war deutlich gewesen. »Bis genügend Wasser heiß ist, dauert es noch eine gute Weile.« Der Vater hatte dazu nur gelächelt, seine Schnurrbartspitzen nach oben gezwirbelt und das Esszimmer verlassen.
Maria blätterte die Notenseite zurück und begann von Neuem.
»Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all …« Leise mitsingend brachte die Mutter einen Teller mit Gebäck herein und stellte ihn oben auf das Klavier. »Ach, wäre das schön«, seufzte sie.
Maria unterbrach das Spielen. »Wie meinst du, Mutter?«
»Ach, Enkelchen. So süße kleine, mit hellen Stimmchen und leuchtenden Augen.« Die Hand legte sich wieder auf Marias Schulter. »Wann endlich schenkst du mir und Väterchen …?«
»Hör auf!« Ein Schmerzensschrei. Als wäre die Hand ein glühendes Eisen, duckte sich Maria und rückte samt Klavierschemel zur Seite. Gleich bereute sie. »Entschuldige, Mutter. Ich … ich war darauf nicht vorbereitet.«
»Schon gut.« Doch es war nicht gut, Maria sah es am strengen Blick der Mutter. Helene Franck drehte den Teller und ordnete die Plätzchen. »Weißt du, Kind. Ich will nicht sagen, dass du undankbar bist. Nein. Aber denkst du manchmal, wenn du da in München in diesem Sumpf lebst, denkst du daran, wie viel wir für dich aufbringen?«
»Sumpf? Wie kommst du darauf, dass ich …«
»Unterbrich mich nicht, Kind.« Jedes Plätzchen lag nun an der richtigen Stelle. »Du durftest die höhere Mädchenschule besuchen. Dazu haben wir deine Talente gefördert: Klavierstunden. Malstunden. Ja, ich gebe zu, dass du besonders schön zeichnen kannst …« Nun glättete Helene Franck mit kurzen Strichen den weißen Schürzenlatz über dem Busen. »Doch zu welchem Ziel? Wir haben dich auf die Ehe vorbereitet. Du solltest eine gebildete, moderne Hausfrau werden. Du …«
»Bitte, Mutter«, flehte Maria, sie spürte die Tränen aufsteigen.
»Höre es dir nur an, Kind. Ich sage dies nur aus Sorge, nur zu deinem Besten.« Frau Franck wies zum Fenster und weiter hinaus, als reiche sie bis nach München. »Wie sollst du dort in dem Sündenbabel je einen respektablen Mann finden? Ich hoffe nur, dass Väterchen endlich auf meinen Rat hört und diese Eskapade dort unterbindet.«
Maria weinte. Gleich kam die Mutter und strich ihr sanft über den Rücken. »Nein, nein. Es wird nicht so schlimm sein. Aber ich musste mit dir darüber sprechen. Und nun gut, Kind. Jetzt freuen wir uns auf den Heiligen Abend und ein schönes Weihnachtsfest. Spiel uns noch ein paar schöne Weisen!« Helene Franck richtete sich die Schürze. Auf dem Weg in die Küche sang sie leise: »… zur Krippe her kommet in Bethlehems Stall.«
Maria hieb mit der Rechten immer wieder denselben Akkord in die Tasten, um die Stimme nicht mehr zu hören. Mit der anderen schlug sie wahllos eine Seite im Notenbuch auf und begann sofort zu spielen. »Es ist ein Ros’ entsprungen.« Schnell spielte sie, viel zu schnell, gleich nahm sie sich das nächste Lied vor, nur nicht feierlich, nichts durfte jetzt das Herz berühren, beim dritten Lied endlich half es, das wehe Pochen ließ nach. »Ich steh an deiner Krippen hier …«
»Fräulein Maria?« Unbemerkt war eins der beiden Dienstmädchen gekommen, stand neben ihr. »Ich wollte nicht stören …« Maria unterbrach das Spiel. »Schon geschehen, Emmi.« Sie lächelte ein wenig. »Aber ich bin dir nicht böse.«
»Ich wollte nur Bescheid geben, dass das Wasser jetzt gut ist. Ich könnte einschütten.«
Eine Erlösung. »Ja bitte, fang schon an. Und vergiss das Lavendelöl nicht.« Maria erhob sich, war schon auf dem Weg in ihr Zimmer. »Und nachher hilfst du mir beim Haarewaschen.«
Dampfender Duft empfing sie im Bad. Das Mädchen wartete neben der Wanne. »Ist nicht zu heiß, gut warm ist es. Ich hab’s mit dem Ellbogen probiert.«
Maria zog einmal die Hand durchs Wasser. »Sehr angenehm, Emmi. Danke.« Sie löste die Schleife ihres weichen, blumengemusterten Bademantels. Beim Blick in den Wandspiegel zögerte sie erschrocken. Mein Bild … Wie viele Fotos hat Franz schon von mir gemacht? Wenn die Mutter auch nur eins davon sehen würde. Halb in Gedanken sah sie auf das Dienstmädchen. »Ach, sei so gut und lass mich allein. Ich rufe dich zum Helfen.« Emmi knickste, wandte sich zur Tür. »Du kannst ja schon mal die Seife etwas weich machen«, schlug sie vor.
Das Mädchen wandte den Kopf. »Nicht nötig. Wir kaufen jetzt immer das Pulver vom Apotheker Schwarzkopf. Das rühr ich gleich in der Schüssel an.«
Maria runzelte die Stirn. »Richtig, Pulver. Das hätte ich beinah vergessen. Bei uns in München ist es noch nicht so bekannt. Da nutze ich immer noch die Seife. Geh jetzt!«
Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, legte sie den Bademantel ab und stellte sich vor den Spiegel. Gerade und mit den Schultern zurück. So will mich Franz am liebsten sehen. Mit beiden Händen hob sie die Brüste etwas an. Mir sind die zu groß. Sie betrachtete sich von der Seite, patschte leicht auf Bauch und Po. Diese verdammte Schnür ist einfach schlanker. Und ich bin einfach zu fett. Heftiger schlug sie sich gegen den Oberschenkel. Ach, Franzl! Was stimmt denn nun? Erst schwärmst du mir vor, wie hübsch sie ist und …, Maria musste sich zwingen, seine Worte in Gedanken zu wiederholen, … und welch Schönheitsreichtum ihr Körper besitzt. Und kaum bist mit mir allein, da soll ich mich ausziehen, da kannst du gar nicht genug von mir bekommen. Und all die Fotos … Als fürchtete Maria ertappt zu werden, sah sie zur Tür, horchte einen Atemzug. Diese Fotos und schlimmer noch die Skizzen. Du verlangst von mir Verrenkungen, da würde sich jedes Modell weigern. Und die Schnür sicher auch, die will sich nur selbst gefallen. O Gott, wenn Väterchen jemals … oder die Mutter so … eine Skizze … Maria zog sich rasch zur Wanne zurück. Erst im Wasser fühlte sie sich geschützt. »Niemals mehr dürfte ich wieder nach München«, flüsterte sie. »Oder es heißt sogar: ab ins Diakonissenhaus!«
Sie lehnte sich zurück, musste nicht aufs Haar achten. Wohlig warm war das Wasser, der Lavendelduft tröstete. Nur einen Moment. Dann stiegen wieder die Gedanken. Deine Briefe … Ich soll schuld sein? Meine Eifersucht sei schuld, dass du dich immer mehr der Schnür zuwendest. Wer hat denn damit angefangen? Will ich die Schnür heiraten? Die und ihr Kind … O Gott, ich will eines, und zwar von dir. Nichts will ich mehr. Und dann kommt auch noch die Mutter und redet mir von Enkelkindern, ausgerechnet heute. Maria schloss die Augen. Mit einem Mal hieb sie mit den flachen Händen aufs Wasser. »Verflucht, Liebster. Das ist kein kleinliches Gejammer! Ich … ich bin verzweifelt. So verzweifelt.« Sie presste den Hinterkopf an den Wannenrand, spürte, wie die Tränen in die Schläfen sickerten. Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Mir zerreißt es das Herz, und du nennst es müßige Selbst- und Nächstenquälerei.« Heftig rieb sie sich die Stirn. »So kalt? Ach, mein Franzl, ich kenn dich doch so ganz anders.«
Kurz klopfte es, sofort öffnete sich die Tür einen Spalt. Emmi steckte den Kopf herein. »Ich bin hier. Haben Sie gerufen?«
Maria benötigte einen Moment. »Nein.«
»Ich dachte, wegen der Haare und weil das Wasser sicher bald kühl wird. Deshalb.«
»Du hast recht.« Maria setzte sich auf. »Komm nur, wir fangen an.«
Eilfertig brachte Emmi die Schüssel mit dem angerührten Shampoobrei und der Kanne mit Essigwasser und stellte sie auf den Schemel neben der Wanne. Bürste und breiten Hornkamm legte sie dazu. Maria löste die Spangen und Nadeln aus den hochgesteckten Schnecken, öffnete die Zöpfe und legte sich die dicke goldgelbe Strähnenflut rechts und links über die Brüste. »Zuerst den Kopf. Greif tüchtig zu! Die letzte Wäsche war noch in München.«
Mit behutsamen Güssen aus der Kanne spülte Emmi den Schaum hinunter, achtete, dass auch nichts in die Augen geriet. Nun folgte der Guss mit Essigwasser für den Glanz. Und erneut Wasser, viel Wasser. Drei Handbreit von unten hoch umfasste Maria die linke Strähne. »Ich halte, und du kämmst aus. So gehen wir Stück für Stück nach oben.« Emmi beugte sich über die Wanne, geschickt zog sie den Kamm durch das Goldgelb. Mit jeder Wiederholung gelang die Zusammenarbeit besser. Auch bei der zweiten Strähne entstand kein Knoten, ziepten keine Zotteln. Jetzt stellte sich Maria in die Wanne. Staunend trocknete Emmi die Hände an der Schürze. »Bis zu den Kniekehlen. Seit Sie das letzte Mal hier waren, sind die Haare noch gewachsen.« Das Mädchen lachte auf und hielt sich gleich die Hand vor den Mund.
»Was ist?«
»Entschuldigung. Ich hab mir nur vorgestellt … Na ja, wenn Sie … Nein, ich sage besser nichts.«
»Heraus damit.«
»Wenn Sie mal nichts anhaben und einen Mantel brauchen. Dann könnten Sie die Haare … Ach, das war nur ein dummer Gedanke.«
»So dumm ist er gar nicht. Und nun gieße mir noch reichlich Wasser über, damit auch wirklich alle Reste ausgespült werden.« Maria schmunzelte in sich hinein, dachte an Franz, so ein Foto, mich im Haarmantel, hast du bisher noch nicht von mir gemacht.
Nach dem Mittagsmahl zog sich Bankdirektor Philipp Franck in den geräumigen Salon, der sich dem Speisezimmer anschloss, zurück und verriegelte beide Hälften der Schiebetür. Zigarren und Cognac standen für ihn bereit. Er machte sich an seine wichtigste Aufgabe, ohne deren Erfüllung ein Heiliger Abend nicht denkbar wäre. Er und nur er schmückte den Weihnachtsbaum. Allein schon das Öffnen der Kartons erlaubte ihm das Entzünden einer Zigarre und ein erstes Gläschen. Er begutachtete den Baum, der bis kurz unter die Decke reichte, er betrachtete den in Holzwolle gebetteten Glasschmuck aus Lauscha. Verspiegelte Glöckchen, Musikinstrumente, Eidechsen und Singvögel. Formkugeln mit Glimmer und Glasseide, dazu sorgsam geglättetes Lametta. Die Engelschar wollte er oben um die vergoldete Glasspitze schweben lassen. Nach einer guten Arbeitsstunde und den kleinen Belohnungen zwischendurch begann Philipp Franck vor sich hin zu summen: »Stille Nacht, heilige Nacht …« Er wiederholte, dann sang er die erste Strophe, nach der zweiten Strophe sang er lauter, wiederholte …
Maria hielt es nicht länger aus. Sie klopfte energisch an die Schiebetür: »Väterchen!«
»Noch ist es nicht so weit«, kam die Antwort aus dem Weihnachtszimmer.
»Das weiß ich. Aber du singst so falsch, dass es wehtut.«
Nach einer stillen Pause bat der Sänger vergnügt: »Dann spiele du es mir drüben vor, und ich singe hier richtig mit.«
Spät am Abend, die Kerzen am Baum waren gelöscht, Duft nach Tanne und Gebäck durchzog noch die Wohnung, es war still geworden. Maria, schon bekleidet mit dem Nachthemd, saß in ihrem Zimmer auf der Bettkante. Reich war sie beschenkt worden. Sie sah zum Stuhl hinüber. Im schwachen Schein der Lampe waren die Farben von Mantel, Strickjacke und Seidenbluse nicht mehr auszumachen. Sie senkte den Blick. »Wie schön.« Langsam ließ sie die lange Bernsteinkette durch die Handflächen gleiten. »Ob sie dir an mir gefällt?« Auf dem Nachttisch lagen dazu passend noch Ohrhänger und ein Armband. »Goldbraun, dazu meine Haarfarbe … dazu mein ganzes Herz. Das muss dir doch gefallen.« Sorgsam legte sie die Kette zu den anderen Schmuckstücken. Sie drehte das Licht aus. Im Dunkeln starrte sie zur Decke. Ein schöner Heiliger Abend. Erst der Heringssalat, wie stolz hatte ihn Mutter auf die Teller verteilt und dabei das Rezept wie eine frohe Botschaft verkündet. »Vor allem muss die Milch von den Heringen mit Essig eingerührt werden … Ich sage euch, ihr werdet es schmecken.« Die Kerzen spiegelten sich im silbrig bunten Baumschmuck, dann das gemeinsame Lied. Maria lächelte, selbst mit stimmkräftiger Unterstützung gelang es Väterchen nicht mehr, den richtigen Ton zu treffen. Aber nach getaner Arbeit war er so wohlwollend und guter Dinge gewesen. Nur sein falsches »Stille Nacht, heilige Nacht« geht mir nicht aus dem Kopf. Maria drehte sich zur Seite. Morgen in der Kirche, dachte sie noch. Da, beim Oratorium, lasse ich mich dafür hundertfach entschädigen.
Keine Schranke mehr, Musik und Gesang strömten ungehindert ins Herz. Maria saß in der zweiten Reihe. Längst hatte sie den neuen ockerfarbenen Mantel aufgeknöpft, warm war ihr, das Leuchten der Kerzen, die Andacht ringsum hatten die Kühle des hohen Kirchenschiffs verdrängt. Chor und Orchester füllten den Altarraum, neben der hohen Tanne standen die vier Solisten. Nun trat der Tenor einige Schritte vor. Mit klarer Stimme sang er von den drei Weisen aus dem Morgenland, wie der Stern sie bis hin nach Bethlehem führte und sie dem Kind Gold, Weihrauch und Myrrhe brachten. Vor der Krippe knieten die Weisen nieder. Schweigen. Die Oboen setzten ein, die Streicher, der Chor nahm den Ton auf und sang:
»Ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komm und bring und schenke dir,
was du mir hast gegeben.«
Wie oft selbst schon gespielt und gesungen? Maria flüsterte den Text mit: »Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und lass dir’s wohl gefallen.«