Ein Tag im Leben von Abed Salama - Nathan Thrall - E-Book + Hörbuch

Ein Tag im Leben von Abed Salama E-Book und Hörbuch

Nathan Thrall

5,0

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis 2024 in der Kategorie »General Nonfiction« »Buch des Jahres 2023« The New Yorker Vor den Toren Jerusalems kommt es zu einer Tragödie, als ein mit palästinensischen Kindern besetzter Schulbus von einem Sattelschlepper gerammt wird und in Flammen aufgeht. Ungeklärte Zuständigkeiten und lähmende Bürokratie im Grenzgebiet verhindern ein schnelles Eingreifen der Rettungskräfte. Am Unfallort treffen israelische und palästinensische Menschen aufeinander, die gemeinsam versuchen den Kindern zu helfen. Ausgehend von diesem Ereignis werden einfühlsam ihre unterschiedlichen Lebensgeschichten erzählt. In seinem auf Tatsachen basierenden Buch gibt Nathan Thrall der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts ein zutiefst menschliches Gesicht. Selten wurden die Auswirkungen israelischer Siedlungspolitik für das tägliche Leben im Westjordanland so schonungslos und bewegend beschrieben. »Ich kenne kein anderes Werk über Israel und Palästina, das diese Tiefe an Einsicht und Verständnis erreicht. Das Buch kann als ein Abriss moderner palästinensischer Geschichte, eingefasst in die persönlichen Erinnerungen verschiedener Individuen, gelesen werden.« David Shulman | New York Review of Books Das Buch wurde 2024 mit dem Pulitzer-Preis in der Kategorie »General Nonfiction« ausgezeichnet. Begründung der Jury: »Ein sorgfältiger und einfühlsamer Bericht über das Leben unter der israelischen Besatzung des Westjordanlandes, erzählt durch das Porträt eines palästinensischen Vaters, dessen fünfjähriger Sohn bei einem Schulbusunfall ums Leben kommt.«

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Seitenzahl: 326

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Zeit:6 Std. 21 min

Sprecher:Patrick Twinem
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Nathan Thrall • Ein Tag im Leben von Abed Salama

Nathan Thrall

EINTAGIMLEBENVONABEDSALAMA

Die Geschichte einer Jerusalemer Tragödie

Übersetzt von Lucien Deprijck

Wir sehen uns nicht verantwortlich für den Gang der Dinge, deshalb bezeichnen wir gewisse Ereignisse, die sich zwangsläufig aus unserem Handeln ergeben, als tragische Missgeschicke und nennen andere Ereignisse unausweichlich, bloß weil wir es nicht anders wahrhaben wollen.

Stanley Cavell

Inhalt

Personenverzeichnis

Prolog

Erster Teil Drei Hochzeiten

Zweiter Teil Zwei Feuer

Dritter Teil Massenanfall von Verletzten

Vierter Teil Die Mauer

Fünfter Teil Drei Bestattungen

Epilog

Anmerkungen

Kommentar des Autors

Danksagung

Quellen

Index

Über den Autor

Personenverzeichnis

Prolog

Milad Salama, Sohn von Abed und Haifa

Abed Salama, Vater von Milad

Haifa, Frau von Abed und Mutter von Milad

Adam, Bruder von Milad

Ameen, Cousin von Abed

Erster Teil | Drei Hochzeiten

Ghazl Hamdan, Abeds erste Liebe

Naheel, Schwester von Abed und Frau von Abu Wisaam

Abu Wisaam, Schwager von Abed

Ahmad Salama, Cousin von Abed und Bruder von Ameen

Na’el, Bruder von Abed

Abu Hassan, Vater von Ghazl und Hassan

Hassan, Bruder von Ghazl und Sohn von Abu Hassan

Layla, Schwägerin von Abed und Frau von Wa’el

Wa’el, ältester Bruder von Abed

Asmahan, erste Frau von Abed

Lulu, älteste Tochter von Abed und Asmahan

Jameela, Verlobte von Abed aus Kufr Kanna

Wafaa, Schwester von Haifa

Abu Awni, Vater von Haifa

Zweiter Teil | Zwei Feuer

Huda Dahbour, UNRWA-Ärztin und Mutter von Hadi

Abu Faraj, UNRWA-Fahrer

Nidaa, UNRWA-Pharmazeutin

Salem, Ersthelfer

Ula Joulani, Lehrerin an der Nour al-Houda-Schule

Mustafa, Vater von Huda

Kamel, Onkel von Huda

Ahmad Dahbour, Onkel von Huda und Dichter

Ismail, Mann von Huda

Hadi, Sohn von Huda

Dritter Teil | Massenanfall von Verletzten

Radwan Tawam, Busfahrer

Sami, Onkel von Radwan

Nader Morrar, Sanitäter des Roten Halbmonds

Eldad Benshtein, Sanitäter der Mada

Dubi Weissenstern, ZAKA-Mitarbeiter

Bentzi Oiring, ZAKA-Mitarbeiter

Saar Tzur, Oberst der IDF

Tala Bahri, Vorschülerin an der Nour al-Houda-Schule

Ibrahim Salama, Cousin von Abed und ein PA-Funktionär

Abu Muhammad Bahri, Großvater von Tala

Ashraf Qayqas, Sattelschlepperfahrer

Vierter Teil | Die Mauer

Dany Tirza, Leiter der „Regenbogenbehörde“ der IDF und Architekt der Sperranlage

Beber Vanunu, Gründer der Siedlung Adam

Adi Shpeter, Bewohner von Anatot

Fünfter Teil | Drei Bestattungen

Abu Jihad, Cousin von Abed

Bashir, jüngerer Bruder von Abed

Ruba al-Najjar, Frau von Bashir

Nansy Qawasme, Mutter von Salaah und Frau von Azzam

Azzam Dweik, Vater von Salaah

Salaah, Sohn von Nansy und Azzam

Sadine, Tochter von Nansy und Azzam

Fadi, Bruder von Nansy

Osama, Bruder von Nansy

Faisal, Bruder von Nansy

Livnat Wieder, Sozialarbeiterin im Hadassah-Krankenhaus

Huda Ibrahim, Sozialarbeiterin im Hadassah-Krankenhaus

Khalil Khoury, Krankenpfleger im Hadassah-Krankenhaus

Haya al-Hindi, Mutter von Abdullah

Abdullah al-Hindi, Sohn von Haya und Hafez

Hafez, Mann von Haya und Vater von Abdullah

Ahmad, Bruder von Abdullah

Epilog

Arik Weiss, Channel 10 Reporter

Arik Vaknish, Bewohner von Adam

Duli Yariv, Bewohner von Anatot

Prolog

Am Abend vor dem Unfall konnte Milad Salama die Vorfreude auf den Klassenausflug kaum noch im Zaum halten. „Baba“, sagte er und zerrte am Arm seines Vaters Abed, „ich möchte für morgen was zu essen kaufen, für das Picknick.“ Sie waren in der Wohnung von Abeds Schwiegereltern, die ganz in der Nähe einen kleinen Gemischtwarenladen besaßen. Abed ging mit seinem fünfjährigen Sohn durch eine der engen Gassen von Dahiyat a-Salaam, einem Viertel ihrer Heimat Anata.

Auf einer Straße ohne Bürgersteige bahnten sie sich ihren Weg durch geparkte Autos und stockenden Verkehr. Über ihnen hing ein Geflecht aus Kabeln, Drähten und Lichterketten, weit überragt von den sich auftürmenden Hochhäusern, vier-, fünf- oder sogar sechsmal höher als die Sperranlage, die acht Meter hohe Betonmauer rund um Anata. Abed erinnerte sich an eine Zeit, gar nicht lange her, da war Dahiyat a-Salaam noch ländlich und überschaubar gewesen und konnte sich noch ausdehnen, nicht nur in die Höhe. Im Laden kaufte Abed für Milad eine Flasche des israelischen Orangengetränks Tapuzina, eine Packung Pringles und ein Überraschungsei, seine Lieblingsschokolade.

Früh am nächsten Morgen half Abeds Frau Haifa, schlank und hellhäutig wie Milad, dem Jungen in seine Uniform: ein weißes Kragenhemd, ein grauer Pulli mit dem Emblem der privaten Grundschule Nour al-Houda und eine graue Hose, die er wegen seiner schmalen Taille immer wieder hochziehen musste. Milads neunjähriger Bruder Adam war bereits fort. An der Straße machte sich ein weißer Schultransporter durch Hupen bemerkbar. Milad beeilte sich mit seinem üblichen Frühstück aus Olivenöl, Zatar und Labneh, die er mit einem Stück Fladenbrot auftunkte. Breit lächelnd packte er sein Mittagessen und die Süßigkeiten ein, küsste seine Mutter zum Abschied und huschte durch die Tür. Abed schlief noch.

Als er aufstand, war der Himmel grau und es schüttete, dazu kamen so starke Windböen, dass manche Leute sichtlich Mühe hatten, geradeaus zu gehen. Haifa blickte mit finsterer Miene aus dem Fenster. „Kein schönes Wetter.“

„Bedrückt dich irgendwas?“, fragte Abed, eine Hand auf ihrer Schulter.

„Ich weiß nicht. Bloß so ein Gefühl.“

Abed arbeitete bei der israelischen Telefongesellschaft Bezeq, hatte aber den Tag frei. Er und sein Cousin Hilmi fuhren gemeinsam nach Dahiyat a-Salaam, um bei seinem Freund Atef, der dort eine Metzgerei hatte, Fleisch zu kaufen. Atef war nicht anzutreffen, was selten vorkam. Abed bat einen der Angestellten, nachzufragen.

Atef lebte in einem anderen Teil Jerusalems, Kufr Aqab, einem dicht besiedelten Stadtviertel mit hoch aufragenden, uneinheitlichen und planlos hingesetzten Hochhäusern, das ebenso wie Dahiyat a-Salaam durch einen Checkpoint und die Mauer vom Rest der Stadt abgegrenzt war. Um sich den täglichen Verkehrsstau und die Wartezeit am Checkpoint zu ersparen, die Stunden dauern konnte, nahm er zur Arbeit einen Umweg in Kauf.

Atef erklärte, er stecke in einem fürchterlichen Stau. Vor ihm hatte es anscheinend eine Kollision gegeben, auf dem Weg zwischen zwei Checkpoints, der eine am Qalandia-Flüchtlingslager und der andere bei der Siedlung Jaba. Kurz darauf bekam Abed einen Anruf von einem seiner Neffen. „Ist Milad heute auf seinem Ausflug? Es gab einen Unfall mit einem Schulbus, nicht weit von Jaba.“

Abed drehte sich der Magen um. Er verließ mit seinem Cousin Hilmi die Metzgerei und stieg in dessen silbernen Jeep. Sie fuhren den Hügel hinunter durch den morgendlichen Verkehr, vorbei an den Autolackierereien mit hebräischer Beschriftung für jüdische Kunden, in denen gerade die Jugendlichen an die Arbeit gingen, vorbei an Milads Schule und dann an der Mauer entlang. Die Straße machte eine Biegung um die Wohnbebauung der Neve Yaakov-Siedlung und führte dann den steilen Hügel hinauf nach Geva Binyamin, eine jüdische Siedlung, auch Adam genannt – genau wie Milads älterer Bruder.

An der Kreuzung in Adam hielten Soldaten alle Wagen an, die sich dem Unfallort näherten, und brachten den Verkehr zum Erliegen. Abed sprang aus dem Jeep. In der Annahme, der Unfall sei nicht so schlimm, verabschiedete sich Hilmi und machte kehrt.

Noch am Tag zuvor hätte Abed Milads Teilnahme an dem Ausflug beinahe verhindert. Allerdings keineswegs aus Weitsicht, sondern bloß aus Unachtsamkeit.

Er war mit Hilmi in Jericho gewesen und hatte auf dem flachen, staubigen Grund der tiefstgelegenen Stadt der Welt gestanden, 250 Meter unter dem Meeresspiegel, als Haifa ihn anrief und fragte, ob er die 100 Schekel für Milads Ausflug bezahlt habe. Das hatte er tatsächlich vergessen. Haifa war es eigentlich nicht recht gewesen, dass Milad mitfuhr, doch sie hatte eingelenkt, als sie sah, wie wichtig es ihm war, dabei zu sein. Tagelang hatte Milad fast nur von dem Ausflug gesprochen. Während Haifa nun telefonierte, schwirrte er durch das Haus ihrer Eltern und erwartete aufgeregt die Rückkehr seines Vaters, mit dem er Süßigkeiten kaufen gehen wollte. Es war schon spät. Erreichte Abed die Schule nicht mehr, bevor sie geschlossen wurde, würden sie Milad am nächsten Morgen nicht in den Bus lassen.

Es war mitten am Nachmittag, aber kühl und bedeckt, der Sturm des folgenden Tages zog bereits auf. In der Ferne rauschte es in den Dattelpalmen. Abed drängte Hilmi, sich auf dem Rückweg zu beeilen.

Hilmi hatte in Jericho zu tun. Er hatte vor Kurzem 70000 Dollar geerbt und wollte das Geld in Land investieren. In Anata, wo die Salamas lebten, gab es kaum noch etwas zu erwerben. Früher war sie eine der ausgedehntesten Städte im Westjordanland gewesen, die sich ostwärts der baumbestandenen Berge von Jerusalem bis hinunter zu den blassgelben Hügeln und Wüstentälern der Außenbezirke Jerichos hinzog. Doch Israel hatte fast alles Land in der Gegend konfisziert oder es für Abed und Hilmi und die Menschen von Anata unzugänglich gemacht. Eine Stadt von einunddreißig Quadratkilometern begrenzte sich nun auf ein Restgebiet von nur zweieinhalb Quadratkilometern. Darum Jericho.

Um noch rechtzeitig Milads Schule zu erreichen, nahmen Abed und Hilmi Israels größte Ost-West-Verkehrsader, den Highway 1. Es ging hinauf bis zum Kamm der Höhen, dann vorbei an drei geschlossenen jüdischen Siedlungen auf dem Stadtgebiet von Anata und der beduinischen Barackenstadt Khan al-Ahmar, welche sich über eine Parzelle aus dem Besitz von Abeds Großvater erstreckte. Als sie auf die Abu-George-Straße abbogen, sahen sie die Olivenhaine, die Abed und seinen Brüdern gehörten, nun aber von Siedlern in Beschlag genommen waren. Als Nächstes verlief der Weg unweit der berüchtigten Zone E1, wo Israel die Errichtung einiger Tausend neuer Wohneinheiten und Hotelunterkünfte sowie eines Industriegebiets plante. Schließlich überwanden sie die letzte Anhöhe und passierten die Siedlung und angrenzende Militärbasis von Anatot, ebenfalls auf dem Land der Familie Salama.

Als sie Anata erreichten, steuerten Abed und Hilmi das Schulgebäude an, das sich am äußersten Ende der Stadt befand, direkt an der Mauer. Auf dem Gelände herrschte Stille, es war fast menschenleer. Abed rannte durch das Eisentor und über den Kunstrasen zur Eingangshalle und sagte der Sekretärin, er wolle für den Ausflug bezahlen.

„Zu spät. Wir haben geschlossen.“

Abed hastete die Treppe hinauf und fand eine ihm bekannte Lehrerin, Mufida. Sie rief beim Direktor an und dieser bei der Sekretärin, und Abed ging zurück nach unten, um zu bezahlen. Er atmete auf. Nun konnte Milad seinen Ausflug machen.

Es regnete, als Abed in Adam an der Kreuzung aus Hilmis SUV stieg. Er trug den langen schwarzen Mantel, denn es war stürmisches Wetter vorausgesagt worden. Je näher er dem Unfallort kam, desto beklommener wurde ihm zumute. Sein Gang beschleunigte sich, bis er einen grünen Armeejeep heranfahren sah. Er hielt die Soldaten an und erzählte ihnen auf Hebräisch von seiner Befürchtung, sein Sohn sei in dem Bus gewesen. Er fragte, ob er mitfahren dürfe. Sie lehnten ab. Also rannte Abed los. Er konnte den Bus zunächst nicht sehen, denn ein großer Sattelschlepper blockierte zwei Fahrspuren und versperrte ihm die Sicht. Dutzende von Leuten standen dicht gedrängt, darunter auch ihm bekannte Eltern, die herbeigeeilt waren.

„Wo ist der Bus?“, fragte Abed. „Wo sind die Kinder?“ Kurz darauf konnte er ihn sehen, auf die Seite gekippt, ein leeres, ausgebranntes Gerippe. Abed sah keine Kinder, keine Lehrerinnen, keinen Rettungswagen. Inmitten der Menge entdeckte er Ameen, einen Cousin, den er nicht besonders mochte. Vor Jahren waren die beiden übel aneinandergeraten und Abed war im Krankenhaus gelandet. Ameen arbeitete inzwischen für den Sicherheitsdienst der Palästinensischen Autonomiebehörde, die in den Ballungsgebieten des Westjordanlandes als Israels Vollstrecker auftrat. Er war als korrupter Beamter bekannt, der die Menschen ausnahm.

„Was ist passiert?“, fragte Abed.

„Furchtbares Unglück“, antwortete Ameen. „Man hat die verbrannten Körper aus dem Bus geholt und sie draußen hingelegt.“

Abed ließ Ameen stehen und rannte los, mit klopfendem Herzen. Wie konnte jemand so was einem Vater erzählen? Von Todesopfern hatte Abed noch gar nichts gehört. Unmöglich, dieses schreckliche Bild wieder loszuwerden. Abed begab sich weiter in die Menge, während Ameens Worte in seinem Kopf widerhallten.

Gerüchte machten die Runde, von einem Schaulustigen zum nächsten: Man habe die Vorschüler in eine Klinik in a-Ram gebracht, nur zwei Minuten die Straße runter; sie seien in Rama, der israelischen Militärbasis an der Einfahrt nach a-Ram; sie seien in der Klinik von Ramallah; sie seien von Ramallah ins Hadassah-Krankenhaus auf dem Skopusberg gebracht worden. Abed musste sich entscheiden. Mit seinem grünen Ausweis des Westjordanlandes war ihm der Zugang nach Jerusalem verwehrt, das Hadassah konnte er also nicht überprüfen. Die Gerüchte über a-Ram waren fragwürdig, weil es dort kein Krankenhaus gab. Die Klinik in Ramallah erschien ihm am plausibelsten. Er sprach zwei Fremde an, ob sie ihn mitnehmen könnten. Sie waren gerade zweieinhalb Stunden von Dschenin aus hergefahren und wollten in die entgegengesetzte Richtung. Trotzdem zeigten sie sich ohne Zögern einverstanden.

Es dauerte lange, aus dem Stop-and-go-Verkehr am Unfallort herauszukommen. Auf der Straße von Jerusalem nach Ramallah ging es vorbei am „Kids Land“, dem Indoorspielplatz, in dem die Vorschulklasse längst hätte sein sollen. Auf dem Dach stand ein riesiger SpongeBob, einer von Milads liebsten Cartoon-Helden.

Als Abed und die hilfsbereiten Fremden Ramallah erreichten und vor dem Krankenhaus hielten, erwartete sie das absolute Chaos: Martinshörner heulten, Sanitäter schoben Transportliegen mit verletzten Kindern vor sich her, panische Eltern schrien und weinten, Fernsehteams befragten das Krankenhauspersonal. Als er sich einen Weg durch diesen Wahnsinn bahnte, kurzatmig und mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust, versuchte Abed die aufkeimende Angst zu unterdrücken. Doch sein Kopf machte nicht mit. Stattdessen versteifte er sich auf immer denselben Gedanken: Ist dies die Strafe für das, was ich Asmahan angetan habe?

Erster TeilDrei Hochzeiten

1

Wer Abed in seiner Jugend gekannt hatte, war davon überzeugt, dass für ihn letztendlich nur eine Einzige infrage kam. Aber diese Einzige war nicht Haifa oder Asmahan. Es war ein Mädchen namens Ghazl.

Sie begegneten sich Mitte der 1980er, als Anata noch ruhig und ländlich war, mehr Dorf als Stadt. Ghazl war mit ihren vierzehn Jahren ganz neu an der Mädchenschule von Anata. Abed war in der Oberstufe an der Schule für Jungen auf der anderen Straßenseite. Damals kannte in Anata jeder jeden. Mehr als der halbe Ort entstammte einer der drei großen Familien, die alle auf denselben Vorfahren zurückgingen, einen Mann namens Alawi. Abeds Familie, die Salamas, war die größte. Ghazls, die Hamdans, die zweitgrößte. Alawi selbst konnte seine Linie auf den Mann zurückführen, der Anata gegründet hatte, Abdel Salaam Rifai, ein Nachfahre des Begründers des Sufismus im zwölften Jahrhundert. Er war aus dem Irak angereist, um die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem zu besuchen, und hatte sich in Anata niedergelassen, das entweder nach der kanaanitischen Gottheit Anat oder der biblischen Stadt Anatot benannt war. Als Kinder waren Abed und seine Geschwister oft zu dem alten steinernen Schrein für Abdel Salaam Rifai hinübergegangen, um in dem überkuppelten Heiligtum Kerzen anzuzünden, an einem Ort, der später von israelischen Soldaten zum Rastplatz erkoren wurde und wo sie ihren Müll in Form von Zigarettenkippen und Bierflaschen hinterließen.

Abed lebte nur ein Stück bergab von der Mädchenschule, in der oberen Etage eines zweistöckigen Kalksteinbaus. Das Erdgeschoss diente als Stall für Ziegen, Hühner und Schafe. Abeds Vater liebte die Tiere, besonders die Ziegen. Er hatte allen Namen gegeben und lockte sie mit Körnern, Nüssen oder Süßem. Als Teenager führte Abed die Ziegen gerne zum Grasen in das kleine Tal zwischen Anata und Pisgat Ze’ev, einer neuen jüdischen Siedlung.

In Abeds Jugend war die Landschaft um Anata übersät mit Oliven- und Feigenbäumen und offenen Feldern, wo Weizen und Linsen wuchsen. Ganze Familien schliefen gemeinsam in einem Raum, der mit dünnen Matratzen ausgelegt war. Die Häuser hatten Plumpsklos und die Frauen holten in großen Krügen, die sie auf dem Kopf balancierten, Wasser von nahen Quellen. Kinder badeten in riesigen Kübeln, die einmal die Woche, an Freitagen, in die Wohnräume geholt wurden, und reihten sich anschließend mit nassem Haar und sauberen Kleidern auf, um ihren Vätern mit einem Handkuss zu danken, wofür sie wiederum einen Kuss auf die Stirn und einen Segen für Wohlergehen und Glück erhielten, na’eeman.

Anata begann sich zu verändern, nachdem Israel die Stadt und das ganze Westjordanland im Krieg von 1967 erobert hatte. Bis dahin war das Gebiet von Jordanien regiert worden. Im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte sahen sich die besetzten Territorien durch Israel demografisch und geografisch einem Wandel ausgesetzt, im Zuge einer Reihe von Maßnahmen der Judaisierung. In Anata beschlagnahmte die Regierung Stück für Stück das Land, erließ Hunderte von Abrissverfügungen, annektierte einen Teil der Stadt für Jerusalem, baute eine Mauer um ihr Zentrum und konfiszierte den Rest zur Errichtung von vier Siedlungen, einigen Außenposten, einer Militärbasis und einer Schnellstraße mitten hindurch, abgegrenzt durch eine weitere Mauer, um den Siedlern die Sicht auf den palästinensischen Verkehr zu ersparen. Die natürliche Quelle und der Teich wurden zum israelischen Naturschutzgebiet, frei zugänglich für die Siedler von Anatot, aber gebührenpflichtig für die Einwohner von Anata. Die Straße zur Quelle führte durch die Siedlung, die für Palästinenser nicht ohne Genehmigung zu betreten war, weshalb sie ausweichen und einen langen Umweg über eine unsichere, unbefestigte Straße in Kauf nehmen mussten.

Jahr für Jahr sahen sich die Palästinenser aus Anata zunehmend eingeflochten in das städtische Gewebe eines stetig wachsenden Jerusalems, das die Altstadt und den Rest von Ostjerusalem ebenso geschluckt hatte wie mehr als ein Dutzend umliegende Dörfer, alle von Israel annektiert. Man fuhr auf Israels mehrspurigen Schnellstraßen, kaufte bei israelischen Supermarktketten ein und in Bürohochhäusern, Einkaufszentren und Kinos wurde nur Hebräisch verwendet. Doch Anatas traditionelle Lebensweise blieb unverändert. Voreheliche Beziehungen waren verboten, Hochzeiten waren häufig arrangiert und Cousins und Cousinen heirateten, um Geld- und Landbesitz in der Familie zu halten. Verfeindete Parteien gingen betont höflich miteinander um, die Lebensverhältnisse wurden nachhaltig vom Ansehen der Familie bestimmt – eine abtrünnige Tochter konnte die Heiratsaussichten all ihrer Schwestern ruinieren – und das ganze Drama wurde mit feierlich-gefälliger Rede kaschiert.

Betrachtete man Anata als vorindustriell dörflich, dann gehörte Abed von Geburt an zum Adel. Beide Großväter – als Brüder – waren zu unterschiedlichen Zeiten mukhtar, Ortsvorsteher, gewesen und hatten einen großen Teil des Landes besessen. Doch genau so, wie unter israelischer Herrschaft ihr Besitz schrumpfte, so auch der Stellenwert eines mukhtar. In den frühen 1980er-Jahren, als Abeds Vater an der Reihe war, lehnte er dieses Amt mit der Begründung ab, es bestehe mittlerweile hauptsächlich darin, Besatzungssoldaten auf Verhaftungsmission den Weg zu weisen.

Abeds Vater war ein stolzer Mann, der erlittene Verluste selten beklagte, weder materielle noch seelische. Seine erste Liebe war eine Frau aus der Hamdan-Familie gewesen, doch Vater und Onkel hatten eine Heirat mit einer Cousine im Sinn, um die Aufteilung des Landes im Familienbesitz zu vermeiden. Auch die Eltern der Angebeteten waren bemüht, die beiden auseinanderzuhalten, aufgrund der Rivalität zwischen den Salamas und den Hamdans. Sobald sie von den Neigungen des jungen Salama Wind bekamen, verheirateten sie das Mädchen mit einem Cousin. Abeds Vater war nichts anderes übrig geblieben, als die Wünsche seiner Familie zu respektieren und sich mit der arrangierten Hochzeit einverstanden zu erklären.

Als Abed sich in eine Hamdan verliebte, kam ihm das fast so vor wie eine Wiedergutmachung für seinen Vater. Abends schrieb er Ghazl heimlich Briefe. Am nächsten Morgen sorgte er dafür, dass sie diese auf Umwegen erhielt; über Nachbarinnen oder Klassenkameradinnen in der Schule. Oft barg das Geschriebene Hinweise für Ghazl, zu bestimmten Zeiten ans Telefon zu gehen. Weil die Gegend, in der sie wohnte, Dahiyat a-Salaam (damals auch Neu-Anata genannt), von Israel annektiert und Jerusalem einverleibt worden war, gab es in ihrem Haus einen Telefonanschluss. Was im restlichen Anata nicht der Fall war. Nach der Schule nahm Abed den Bus zum Damaskus-Tor in Ostjerusalem, ging zum Postamt an der Saladinstraße, dem großen Einkaufsboulevard, und warf zur vereinbarten Zeit eine Münze in das öffentliche Telefon. Sie sprachen dann so lange miteinander wie möglich, was oft alles andere als lange war. Wenn Ghazls Eltern hereinkamen, tat sie so, als redete sie mit einem Mädchen, bevor sie abrupt das Gespräch beendete. Es gab Tage, da hatten sie kaum hallo gesagt, bevor Abed mitten im Satz vom eintönigen Summen der toten Leitung unterbrochen wurde.

Sie waren ein hübsches Paar. Abed war sonnengebräunt, groß und schlank, mit einer kräftigen Kinnpartie, einem versonnenen Blick und einem sanften, lockeren Auftreten. Er hatte dichtes Haar, an den Seiten kurz geschnitten, und – was ihm später peinlich war – einen Schnurrbart. Mit seinem weit aufgeknöpften Hemd glich er einem palästinensischen James Dean. Ghazl hatte große mandelförmige Augen und ein Grübchen in der rechten Wange. Sie sah aus wie ihr Vater. So wie sein Gesicht strahlte auch ihres Güte aus.

Abeds Lieblingsschwester Naheel, die älteste, lebte mit ihrem Mann Abu Wisaam in Dahiyat a-Salaam, nicht weit von Ghazl entfernt. Von ihrem Haus aus gelang es Abed manchmal, Ghazl auf dem Dach oder dem Balkon zu beobachten, die einzigen Orte, wo sie sich unverschleiert mit offenem Haar zeigte.

Abed hatte eine säkulare Einstellung und war gegen den Hijab. Keine seiner Schwestern hatte ihn vor ihrer Hochzeit getragen und Naheel nicht einmal danach. Besonders in gehobenen Kreisen war der Hijab nicht häufig zu sehen. Als Abed 1986 die Highschool abschloss, bedeckten weniger als die Hälfte der Mädchen in Anata ihr Haar. Dass Ghazl den Hijab trug, machte ihm aber nichts aus. Er wusste, sie tat es aus Respekt ihrem religiösen Vater gegenüber, und dass sie ansonsten weniger rücksichtsvoll war als andere ihres Alters. Sie genoss auch mehr Freiheiten. Ihr Vater war freundlich und zugänglich und ihre Mutter, die aus Silwan kam – dem Teil von Jerusalem in unmittelbarer Nähe der al-Aqsa-Moschee – war vom modernen Stadtleben geprägt. Dank ihrer Nachsicht konnten sich Ghazl und Abed relativ oft sehen. Zumindest anfänglich, bevor ihre geheime Verliebtheit im Zuge des gemeinsamen politischen Ringens richtig aufblühte.

Die erste Intifada begann im Dezember 1987, anderthalb Jahre nachdem Abed die Highschool abgeschlossen hatte. Es ging los mit einer Reihe spontaner Proteste, die aufkamen, nachdem ein Armeelaster der israelischen Verteidigungskräfte in Gaza mit einem Kombi kollidiert war, wobei vier palästinensische Arbeiter getötet wurden. Diese Proteste weiteten sich aus, befeuert von jahrelangem Unmut über die vom israelischen Verteidigungsminister so benannte „Politik der eisernen Faust“. Schnell wurden sie zum ersten organisierten Massenaufstand gegen die Besatzung, mit tausenden Straßenkämpfen, bei denen steinewerfende junge Palästinenser den mit Panzerfahrzeugen und Sturmgewehren bewaffneten israelischen Truppen gegenüberstanden. Es war eine Zeit schmerzlicher Verluste für alle Palästinenser, ob arm oder wohlhabend, säkular oder religiös, christlich oder muslimisch, flüchtig oder beheimatet, inhaftiert oder vertrieben. Unter Israels Entschlossenheit, den Aufstand zu zerschlagen, hatten alle gleichermaßen zu leiden. Die Zeichen von Wohlstand und die Klassenunterschiede verwischten – entschiedene Säkularisten übernahmen sogar den Hijab als Zeichen nationaler Solidarität.

Städte wurden belagert, Ausgangssperren verhängt, Nahrungsmittel verknappt, Stellen gekürzt, Schulen geschlossen, Kinder inhaftiert, Ehemänner gefoltert, Väter getötet und Söhne verstümmelt – nach so vielen Knochenbrüchen splitterten selbst die Knüppel der Soldaten. „Mehrmals wurden die Schlagstöcke ausgetauscht“, berichtete die israelische Wochenzeitung Kol Hazman, „weil sie nicht stabil genug waren und zerbrachen. Sie wurden dann irgendwann durch Schläger aus Metall ersetzt, und als auch diese verbogen, wurden welche aus elastischem Kunststoff verwendet.“ Mehr als 1100 Palästinenser wurden während des sechsjährigen Aufstands von israelischen Soldaten oder Zivilisten getötet. Weitere 130000 wurden verwundet und etwa 120000 inhaftiert. In diesen Jahren verzeichnete Israel die höchste Pro-Kopf-Zahl an Strafgefangenen weltweit.

Das israelische Militär schloss alle palästinensischen Universitäten, womit Abed ein Studienabschluss unmöglich gemacht wurde. Nach dem Ende seiner Schullaufbahn hätte er am liebsten im Ausland studiert. Ein enger Freund, Osama Rajabi, schlug vor, er solle sich an sowjetischen Universitäten bewerben. Die Palästinensische Befreiungsorganisation1 bot Stipendien in befreundeten sozialistischen Ländern an. Abed wollte es Osama gleichtun, aber dazu brauchte er einen Pass und dafür benötigte er die Hilfe seines Vaters. Israel vergab keine Pässe an Personen in besetzten Gebieten. Abeds Vater hatte einen jordanischen Pass aus der Zeit, als das Westjordanland vom haschemitischen Königshaus kontrolliert wurde, also konnte Abed es in Jordanien versuchen. Aber sein Vater verweigerte ihm die Hilfe – er wollte seinem Sohn nicht erlauben, Palästina zu verlassen und Kommunist zu werden. Osama ging schließlich ohne Abed.

In Anata, wie überall im Westjordanland, stand die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas2, eine marxistisch-leninistische Fraktion der PLO, an der Spitze der gewerkschaftlichen und politischen Organisationen, welche die Intifada ins Leben gerufen hatten. Der örtliche Anführer der DFLP war niemand anderer als Abu Wisaam, Abeds Schwager. Er war ein Intellektueller, zierlich, geistreich, redselig, der der Gruppe im Jahr 1970 beigetreten war. Er hatte in Beirut studiert, sich dort auf Spionage, Sprengstoffe und Partei-Ideologie spezialisiert und viel mit Weltrevolutionen und der zionistischen Bewegung beschäftigt.

Er war in Anata, um seine Eltern zu besuchen, als er wegen Mitgliedschaft in der DFLP festgenommen wurde – wie alle PLO-Fraktionen eine illegale Organisation. Während seiner fünfzehnmonatigen Haft hatte er die wichtigsten marxistischen Texte gelesen. Kurz danach hatte er sich mit Naheel verlobt, als sie sechzehn und Abed zwölf war. Von da an wollte Abu Wisaam Abed für die Revolution gewinnen. Sobald die Intifada begann, holte er ihn in die Partei.

Dabei ging es nicht nur darum, die Fraktion zu vergrößern. Abed in die DFLP zu holen, war für Abu Wisaam eine Möglichkeit, ihn zu schützen. Mit den vielen Kollaborateuren musste Palästina wohl eine der am meisten unterwanderten Gesellschaften in der Geschichte von Fremdbestimmung und Kolonialherrschaft sein. In der Demokratischen Front wusste Abu Wisaam wenigstens, wem man trauen konnte. Einmal hatte ein junges Mitglied der rivalisierenden Fatah-Fraktion Geld verteilt und behauptet, es stamme von einem Onkel aus Amerika. Der Onkel wolle damit die Intifada unterstützen und die Gelder seien für den Kauf von Sportschuhen für die shabaab, die Jugend, vorgesehen. Auf diese Weise versuchte der junge Mann, sich selbst als Anführer zu etablieren.

Er gab jedem jungen Aktivisten fünf jordanische Dinar, genug für ein neues Paar weiße Nikes, mit denen es sich im israelischen Kugelhagel gut laufen ließ. Abed nahm das Geld, aber als Abu Wisaam davon erfuhr, zwang er ihn, es sofort zurückzugeben. Er wusste, dass eine List dahintersteckte: Das Geld kam von den Israelis, die auf diese Weise herausfinden wollten, wer von der shabaab an den Protesten beteiligt und wer käuflich war. Alle Jungen, die das Geld genommen hatten, wurden später verhaftet. Israelische Soldaten holten sie mitten in der Nacht aus ihren Häusern. Dank Abu Wisaam blieb Abed verschont.

Obwohl die meisten Männer aus Abeds Familie zur Fatah gehörten, Jassir Arafats Partei, lernte Abed, ihr zu misstrauen. Die Fatah machte nach seinem Empfinden immer nur leere Versprechungen, ein Eindruck, der sich im Lauf der Jahre noch verstärkte, als er beobachtete, dass ihre Führer bei jedem Grundsatz Zugeständnisse machten und dann Zugeständnisse auf die Zugeständnisse, bis sie sich schließlich nach der Intifada als Israels Vollstrecker wiederfanden. Für die Demokratische Front sprach seines Erachtens, dass es der Gruppe in Anata, Jerusalem und dem Rest des Westjordanlandes damit ernst war, eine lokale Bewegung zur Befreiung Palästinas auf die Beine zu stellen.

Die DFLP unterstützte Abeds Wunsch, gemeinsam mit Osama in der Sowjetunion Jura zu studieren. Ghazl ebenso. Abed wollte für die stetig mehr werdenden palästinensischen politischen Gefangenen eintreten. Seit Osama fort war, hatte Abed jedes Jahr darum gebeten, mit ihm studieren zu dürfen, und jedes Jahr hatte sein Vater nein gesagt. So saß Abed also in Anata fest, arbeitete auf dem Bau und engagierte sich in der Demokratischen Front und ihrer Gewerkschaft, dem Block der Vereinigten Arbeiter. Er organisierte Proteste, warb neue Mitglieder und sorgte für die Verbreitung von Bayanaat, dem regelmäßig erscheinenden Kommuniqué der Intifada zur Koordination der Aktionen von Apothekern, Ärzten, Anwälten, Lehrern, Ladenbesitzern, Vermietern und lokalen Ausschüssen. Es enthielt Anweisungen, wann gestreikt und was boykottiert werden sollte, welche öffentlich Angestellten zu kündigen hatten, welche israelischen Anordnungen zu ignorieren waren und wo man Transporte zu den Siedlungen blockieren wollte. Der Besitz der Bayanaat oder jedes anderen „Propagandamaterials“ der PLO galt als Straftat, ebenso das Drucken oder Verbreiten „jeglicher Publikation in Form von Bekanntmachungen, Plakaten, Fotos, Pamphleten oder anderen Dokumenten von politischer Tragweite“.

Die Bayanaat musste im Geheimen hergestellt und verbreitet werden. Die Voraussetzungen änderten sich laufend, denn Israel konfiszierte nicht nur Flugblätter, sondern manchmal auch die Pressen, mit denen sie gedruckt wurden. Einmal erhielt Abed die Bayanaat von einer jungen Europäerin, der es gelungen war, die Flugschriften unter der Verkleidung des Kofferraumes ihres Autos durch den Checkpoint zu bringen. Mit den Flyern unter dem Hemd ging Abed in Anata in den Supermarkt und verstreute sie in einem unbeobachteten Moment auf dem Boden. Nachts sprühten er und andere shabaab die Texte der Bayanaat auf Anatas Wände.

Eines Nachmittags, einige Wochen nach Beginn des Aufstands, ging Naheel zu einer Demonstration der DFLP am Damaskus-Tor. Zuvor hatte sie für ein Alibi gesorgt. Sie und Abu Wisaam waren entschlossen, ein Kind zu bekommen, und Naheel musste einen Schwangerschaftstest machen. Sie rief bei einer Klinik in der Saladinstraße an und legte ihren Termin auf einen Zeitpunkt kurz vor den Protesten. Mit dem Testergebnis gesellte sie sich zu ihren Freunden außerhalb der Altstadtmauer, wo sie die verbotene palästinensische Fahne schwenkte. Die israelischen Sicherheitskräfte wollten sich auf sie stürzen, doch bevor sie Naheel zu fassen bekamen, riss ihr Freund ihr die Fahne aus der Hand und entkam über die Straße. Naheel brachte man nach Westjerusalem in ein Untersuchungsgefängnis im Russischen Viertel, unter Palästinensern bekannt als Moscobiya. Für das Zeigen einer palästinensischen Fahne hätte Naheel eine Gefängnisstrafe von mehreren Monaten oder mehr gedroht. Man hatte sie aber nicht mit der Fahne erwischt und sie konnte auf Zeit und Datum ihres Schwangerschaftstestes verweisen und behaupten, sie sei lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. So verbrachte sie nur zehn Tage im Gefängnis.

Naheels Test war negativ, doch kurz darauf, während des ersten Ramadans der Intifada, wurde sie schwanger. Ihr Sohn wurde im Januar 1989 geboren, ein Jahr nach Beginn des Aufstands. Als das Baby zwei Wochen alt war, wurde Abu Wisaam wegen seines Engagements in der DFLP verhaftet. Es war sein dritter Aufenthalt in einem israelischen Gefängnis und sein zweiter seit der Hochzeit mit Naheel. Diesmal wurde er für fast ein Jahr eingesperrt. Da die DFLP in Anata nun führerlos war, übernahm Abed die Rolle.

In dieser Zeit verbrachte er viel Zeit bei Naheel, um ihr und ihrem kleinen Sohn zu helfen. Er schlief in ihrem Haus nahe bei Ghazl, die auf der High School kurz vor dem Abschluss stand. Abed hatte Ghazl für die Demokratische Front gewonnen und übertrug ihr die Verantwortung dafür, mehr junge Frauen anzuwerben und einzuweisen. Ghazl machte ihre Sache gut. Als Abu Wisaam ins Gefängnis ging, waren fünfundzwanzig Frauen in der Gruppe aktiv. Als er zurückkam, hatte Ghazl die Zahl verdoppelt.

Naheels Haus, fast ganz auf der Höhe der Hügel in Dahiyat a-Salaam, bot Abed und seinen Freunden die Möglichkeit, schon von Weitem zu sehen, wenn israelische Soldaten von Anata aus heraufkamen oder sich vom weiter oben gelegenen Shuafat-Flüchtlingslager her näherten. Das Lager von Shuafat war immer wieder ein beliebter Ort für Demonstrationen und einer der ersten nahe Jerusalem, über den bei Ausbruch des Aufstands eine Ausgangssperre verhängt worden war.

Die Bewohner von Shuafat wurden von Abed und den Menschen in Anata Thawaala genannt, die Leute von Beit Thul, ein Dorf nicht weit von Jerusalem, weil einige der größten im Lager lebenden Familien 1948 von dort vertrieben worden waren, als zionistische Truppen Israel gründeten. Das auszusprechen war tabu, denn Flüchtlinge waren das Herzstück der Palästinensischen Nationalbewegung – ihre Begründer, ihre Anführer im Exil, ihr stärkstes Symbol und die Verkörperung der palästinensischen Forderung nach Heimkehr –, aber Abed hielt von einigen der Thawaala nicht allzu viel. Er verübelte ihnen, dass sie als die alleinigen Verteidiger Palästinas auftraten und sich für etwas Besseres hielten als diejenigen, die auf ihrem Land geblieben waren. Seiner Ansicht nach zeichneten die Flüchtlinge im Lager ein falsches Bild der Palästinenser, nämlich als Bettler, die von Almosen der Vereinten Nationen lebten, und außerdem machten sie allen das Leben schwer, weil sie für jeden Zwist unter Familien Straßen blockierten.

Das Lager von Shuafat war auch Anlaufpunkt für Drogensüchtige und Dealer, und Abed hatte dort schon israelische Soldaten Haschisch und mehr kaufen sehen. Woanders wäre das wohl nur ein gesellschaftliches Problem gewesen, aber im palästinensischen Kontext erhielt es eine nationale Dimension. Israel heuerte oft Kollaborateure an unter der Androhung, sie bei ihren konservativen Familien und Nachbarn bloßzustellen, und zwar anhand echter oder bearbeiteter Fotobeweise ihrer Vergehen, insbesondere Sexualdelikte. Dealer und Süchtige dienten als willkommene Opfer, also stellten sie für den Aufstand ein Risiko dar. Nachts trugen Abed und die anderen shabaab Masken und gingen gegen die Dealer vor, um potenzielle Kollaborateure aus dem Weg zu räumen.

Interne Machtkämpfe unter Palästinensern gehörten zu den schlimmsten Begleiterscheinungen der Intifada, und sie waren weiter verbreitet, als man zuzugeben bereit war. Hunderte wurden getötet und zahllose andere verletzt, so auch Abed.

Ola Ja’uni, Ghazls Mentorin bei der Demokratischen Front, war Collegestudentin, zuständig für Anwerbung und Einweisung von Frauen in Jerusalem und benachbarten Dörfern im Norden. Sie war bei allen Protesten dabei und erstattete der Führungsspitze exklusiv Bericht. Abed bewunderte Ola. Sie war stark, klug und unabhängig. Weil sie auch schön war und nicht aus Anata stammte, wo die Leute sie auf der Straße anstarrten, fiel sie den shabaab der lokalen Fatah ins Auge. Die machten ihr das Leben schwer, wenn sie in die Stadt kam, um Ghazl und die anderen DFLP-Aktivisten zu treffen.

Eines der Fatah-Mitglieder zeichnete sich darin besonders aus. Das war Ahmad Salama, einer von Abeds Cousins ersten Grades. Er tauchte in der Mädchenschule von Anata auf und machte Ola vor den Schülerinnen schlecht, dann ging er zu den Mädchen der Demokratischen Front nach Hause, so auch zu Ghazl, und erzählte ihren Eltern, Ola habe einen schlechten Ruf und ihre Töchter sollten sich besser von ihr fernhalten. Ghazls Vater verteidigte Ola, die manchmal bei der Familie zu Besuch war, und warf Ahmad aus dem Haus.

Als Ola eines Tages die Saladinstraße entlangging, belästigten Ahmad und einige seiner Fatah-Freunde sie mit plumpen sexuellen Anspielungen. „He, Ola, wie wär’s mit einer Runde im Auto, so richtig zum Genießen!“ Der Demütigung zum Trotz ging Ola erhobenen Kopfes weiter, tadelte sie zunächst und ignorierte sie dann, als sie ihr folgten. Zu Hause angekommen, erzählte sie ihren beiden Brüdern davon. Noch am selben Abend fuhren diese nach Anata, auf der Suche nach Ahmad. Ohne sich vorzustellen, verlangten sie, mit ihm in einer wichtigen Intifada-Angelegenheit zu sprechen, und Ahmad erklärte sich einverstanden, sie zu begleiten. Sie fuhren nur ein kurzes Stück bis ins Dorf Hizma, wo Olas Brüder sich zu erkennen gaben, ihm eine Tracht Prügel verpassten und ihn dort zurückließen.

Ahmad war nicht schwer verletzt, aber er sann auf Rache. Sie bestand darin, dass er Freunden und Familie erzählte, die DFLP habe ihn entführt und in die Mangel genommen, wobei er weder die Belästigung Olas noch die Vergeltung ihrer Brüder erwähnte. Daraufhin ging die halbe Familie Salama aus Anata auf Abed los, den örtlichen Führer der DFLP, und wollte wissen, warum er eine Attacke auf ein Mitglied ihrer Familie angeordnet habe. Abed hatte keine Ahnung, wovon sie überhaupt sprachen, und versicherte, die DFLP habe nichts damit zu tun. Die Sache war daraufhin erledigt – jedenfalls ließ man Abed in diesem Glauben.

Einige Monate später erhielt er Besuch von drei DFLP-Vertretern aus Jerusalem, die kamen, um sich mit ihm über anstehende Aktionen für die Intifada abzustimmen. Nach dem Treffen wollten sie zurück nach Jerusalem. Abed begleitete sie zur Bushaltestelle, als Ahmad und sein um einiges größerer Bruder Ameen wie aus dem Nichts auftauchten.

Ahmad griff sich einen von Abeds Besuchern und beschuldigte ihn, einer seiner Entführer zu sein. Abed zerrte an Ahmads Arm. „Lass meine Gäste in Ruhe“, sagte er. „Wenn du ein Problem hast, halte dich an mich.“ Es hatte sich bereits eine Menschenmenge gebildet. Abed drängte seine Besucher, rasch in den Bus zu steigen. „Hier gibt es gleich einen Kampf “, sagte er, „und ihr habt damit nichts zu tun.“

Als er sich umwandte, zogen Ahmad und Ameen beide ein Messer. Die drei wurden handgreiflich und Leute aus der Menge gingen dazwischen, um das Schlimmste zu verhindern. Da entdeckte Abed seinen älteren Bruder Na’el, den Zweitgeborenen, das schwarze Schaf der Familie. Na’el hatte sich mit Drogendealern aus dem Shuafat-Lager eingelassen, war süchtig geworden und konsumierte alles von Haschisch bis hin zu Heroin. Er war ein Dieb und ein Lügner, ständig ohne Arbeit und auf Schlägereien aus, wobei er mit anderen Familien aneinandergeriet. Er ließ Dealer und Süchtige in das Haus der Salamas, darunter auch Israelis, was ihnen Razzien der Polizei und der Drogenfahndung einhandelte.

So brachte Na’el seine Eltern arg in Bedrängnis. Nachdem sie alles versucht hatten, wurde er von Abeds Vater verstoßen. Na’el sei nicht länger sein Sohn, sagte er, weigerte sich mit ihm zu sprechen und verbot ihm, mit der Familie an einem Tisch zu sitzen. Abeds Mutter brachte ihm das Essen aufs Zimmer. Sie sagte, er sei krank und brauche Hilfe, doch Abed dachte, sie liebte ihn einfach am meisten. Wie sein Vater hatte auch Abed jeglichen Respekt vor Na’el verloren. Er betrachtete ihn nicht einmal mehr als seinen älteren Bruder. Seit Na’el ausgestoßen worden war und weil Wa’el, der Älteste, schon seit Jahren in Jordanien lebte, war Abed in die Position des führenden Sohnes gerückt.

Na’el löste sich aus der Menge an der Bushaltestelle und trat Ameen gegenüber, als Abed und Ahmad sich bereits gegenseitig angriffen. Während Umherstehende nach ihren Hemden langten, traf Abed Ahmad heftig im Gesicht und schlug ihn zu Boden. Er prallte mit dem Schädel aufs Pflaster.

Inzwischen stand Ameen drohend über Na’el und stach nach ihm. Abed, der nun frei war, kam heran, gerade als Ameen herumschwenkte und Abed zuerst den Brustkorb aufschlitzte und ihm dann einen Stich in den Unterarm verpasste. Die Schnitte begannen sofort zu bluten. Als er das Blut sah, rannte Ameen davon, und Na’el hinter ihm her. Jemand rief zwei Rettungswagen, die aus Jerusalem kamen und sowohl Abed mitnahmen als auch Ahmad, dessen Kopf von dem erlittenen Schlag blutete.

Im Makassed-Krankenhaus erschien Na’el an Abeds Bett. „Ich habe versucht, dich zu schützen“, sagte Abed. Na’el lächelte. „Sehe ich aus, als wäre ich verletzt?“ Er zog sein Hemd hoch, das lauter Löcher von Ameens Messer aufwies, zum Beweis, dass er unversehrt geblieben war. Na’el sah sich kopfschüttelnd Abeds Wunden an und murmelte vor sich hin. Dann wandte er sich zum Gehen und sagte zu Abed: „Das haben wir gleich.“ Kurz darauf hörte Abed einen Aufschrei, gefolgt von lauten Stimmen auf dem Flur. Na’el war in Ahmads Zimmer gegangen und hatte sich an dem Arzt und den Schwestern vorbeigedrängt. „Entschuldigung“, sagte er, nahm sich ein Skalpell, setzte es dort an, wo Ahmads Ohr und Kiefer zusammenkamen, und machte einen Schnitt bis hinab zum Kinn. Für den Rest seines Lebens sollte Ahmad eine tiefe, sensenförmige Narbe im Gesicht behalten. Unter Ahmads Schmerzgeheul und dem Geschrei des Personals ließ Na’el das Skalpell fallen und verließ in aller Ruhe den Raum.

Nach dem Kampf arrangierten die Ältesten der Familie Salama eine sulha, den traditionellen Ritus der Versöhnung, zwischen den Familien von Abed und Ahmad. Beide Seiten hatten einen verletzten Sohn, deshalb bedurfte es keiner Wiedergutmachung. Abed lehnte es ab, dem beizuwohnen – er hatte nichts Schlimmes getan, während Ahmad Ola belästigt, die DFLP fälschlich eines Übergriffs beschuldigt und Abed grundlos angegriffen hatte. Indem er sich von der sulha ausschloss, bewahrte sich Abed das Recht, Rache zu üben. Doch seine Vorgesetzten in der Demokratischen Front wiesen ihn an, es gut sein zu lassen: Palästinenser sollten Israelis bekämpfen, nicht einander. Ahmads Familie erhielt eine Entschädigung für die erlittenen Prügel durch Olas Brüder und die Demokratische Front übernahm Abeds Arztkosten.

Als Abed aus dem Krankenhaus nach Hause kam, stattete Ghazl ihm einen Besuch ab. Sie schwänzte eine Stunde und ging zu ihm hinunter. Abeds Eltern begrüßten sie und ließen die beiden dann allein. Doch Abeds Vater war darüber nicht glücklich und machte Abed später Vorwürfe. „Was, wenn Ameen oder sonst jemand sie dabei gesehen hat, wie sie allein hierherkam? Was, wenn er es ihrem Vater erzählt?