Ein Tierarzt zum Verlieben - Karin Köster - E-Book

Ein Tierarzt zum Verlieben E-Book

Karin Köster

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Mit ihrem Papagei auf der Schulter will Lulu ihrer düsteren Vergangenheit entkommen. Sie landet in einem abgelegenen Dorf irgendwo in Ostfriesland, wo sie zwar keine Döner-Bude und keinen Job, aber sicheren Unterschlupf findet. Als Tierarzt Ben ihrem geliebten Papagei das Leben rettet, ist Lulu überzeugt, in dem Eigenbrötler einen Freund gefunden zu haben. Lulu wird sich nie und nimmer in einen Mann verlieben, das hat sie sich geschworen. Aber für ihre Freunde geht sie durchs Feuer! Kurzentschlossen krempelt sie die Ärmel hoch, um Bens ausgestorbene Tierarztpraxis zum Laufen zu bringen. Dummerweise kommt es ganz anders als gedacht. Lulu mischt die verbohrten Dorfbewohner auf und sorgt für Wirbel in Bens verschlossenem Herzen. Vielleicht könnte doch noch alles gut ausgehen. Doch plötzlich wird Lulu von ihrer Vergangenheit eingeholt – und es gibt nur einen Menschen, der sie retten kann.

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Seitenzahl: 279

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Ein Tierarzt zum Verlieben

Mit ihrem Papagei auf der Schulter will Lulu ihrer düsteren Vergangenheit entkommen. Sie landet in einem abgelegenen Dorf irgendwo in Ostfriesland, wo sie zwar keine Döner-Bude und keinen Job, aber sicheren Unterschlupf findet.

Als Tierarzt Ben ihrem geliebten Papagei das Leben rettet, ist Lulu überzeugt, in dem Eigenbrötler einen Freund gefunden zu haben. Lulu wird sich nie und nimmer in einen Mann verlieben, das hat sie sich geschworen. Aber für ihre Freunde geht sie durchs Feuer! Kurzentschlossen krempelt sie die Ärmel hoch, um Bens ausgestorbene Tierarztpraxis zum Laufen zu bringen. Dummerweise kommt es ganz anders als gedacht.

Lulu mischt die verbohrten Dorfbewohner auf und sorgt für Wirbel in Bens verschlossenem Herzen. Vielleicht könnte doch noch alles gut ausgehen. Doch plötzlich wird Lulu von ihrer Vergangenheit eingeholt – und es gibt nur einen Menschen, der sie retten kann.

© All rights reserved.

Originalausgabe 2019

Neuauflage 2023

Copyright by Karin Köster.

ebookfaktur.de, Otto-Kraus-Straße 10, D-90411 Nürnberg

www.karin-koester.de

Mail: [email protected]

www.facebook.com/koester.karin

© Covergestaltung: Laura Newman –

Schön, dass Du da bist!

Liebe Leserin, lieber Leser,

gleich wirst Du Lulu und Ben kennenlernen! Hach, ich bin schon ganz aufgeregt, denn die beiden sind mir in den vergangenen Monaten sehr ans Herz gewachsen.

Magst Du Tiere? Dann wirst Du Dich vermutlich in den leidenschaftlichen Tierarzt Ben verlieben. Vor Lulu will ich Dich lieber schon mal warnen: Sie ist nämlich alles andere als ein Püppchen.

Diese Liebesgeschichte ist so herzerfrischend wie ein süßer Hundewelpe, der fröhlich um Deine Füße herumwuselt und gerne geknuddelt werden will. Du wirst schmunzeln und lachen und eine wunderbare Zeit haben - zumindest hoffe ich das. Ja, und es kann gut sein, dass Dein Herz beim Lesen den einen oder anderen Hüpfer machen wird. Sicherheitshalber solltest Du dir eine Tüte Chips oder deine Lieblingssüßigkeiten bereitlegen, denn es wird wirklich sehr spannend.

Ich wünsche dir von Herzen wundervolle Lesestunden!

Deine

Prolog

Lieber Ben,

ich habe meinen Notar an mein Sterbebett bestellt, um ihm diesen Brief zu diktieren.

Seit zwanzig Jahren habe ich nichts von Dir gehört und das ist allein meine Schuld. Bis dahin hattest Du stets Deine Sommerferien in meinem Haus und meiner Tierarztpraxis verbracht. Es war mir eine große Freude zu erleben, wie einfühlsam Du mit kranken Tieren umgehst und wie sehr du dich für die Veterinärmedizin interessierst. Doch dann geschah dieser unselige Diebstahl, das ganze Geld aus meiner Kasse war weg und es kamen nur zwei Personen infrage, die es genommen haben konnten. Mein Neffe Ben oder mein Sohn Toni. Ich habe Dich noch am selben Tag fortgeschickt und Du durftest nie wiederkommen.

Ich bin überzeugt, dass aus Dir inzwischen ein hervorragender Tierarzt geworden ist. Dasselbe hätte ich mir von Toni gewünscht, doch leider ging mein Wunsch nicht in Erfüllung. Mein Sohn hat mit Tieren nichts im Sinn.

Toni hatte es nicht leicht, seine liebe Mutter starb viel zu früh, und ich war rund um die Uhr für meine Patienten da. Ich hätte meinem Sohn ein besserer Vater sein müssen und ich hätte Dir niemals den Diebstahl anlasten dürfen.

Meine Einsicht kommt zu spät, als dass ich Dich persönlich um Verzeihung bitten könnte, denn nun, da ich weise genug bin, muss ich sterben.

Ich vererbe Dir mein Hausgrundstück mitsamt der Praxis in der Hoffnung, dass Du in meine Fußstapfen trittst und der neue „Tierdoktor“ in Mühldorf wirst. Toni vererbe ich das Elternhaus seiner Mutter, die Ländereien und meine Ersparnisse.

Lieber Ben, es gäbe noch viel mehr zu sagen, doch meine Kraft geht zu Ende.

Schenke Dein Wissen und Deine Erfahrung den Tieren - und kümmere dich gut um die Menschen, die Dich lieben. Das rät dir von Herzen

Rettung in letzter Sekunde

Der Papagei hockte auf der Schulter einer dicken Frau. Ein Gelbbrust-Ara mit leuchtend blauem Federkleid und goldgelber Brust. Er flatterte mit den Flügeln, drehte sich um die eigene Achse und pfiff eine fröhliche Melodie. Der Trubel hier in der Autobahn-Raststätte schien ihm großen Spaß zu machen.

Die Frau war mindestens genauso auffällig wie ihr Papagei: Karamellfarbene Haut, roter Lippenstift, unzählige Zöpfe mit kunterbunten Haargummis, Glitzershirt und Leggings mit Tigermuster. Dazu eine quietschrosa Handtasche von der Größe eines Aktenkoffers, deren Trageriemen ihren Oberkörper in zwei diagonale Hälften teilte. Sie lehnte mit dem Hinterteil am Tresen und sprach mit einem schmächtigen Anzugträger. Vermutlich der Restaurantleiter, denn am Revers seines Jacketts steckte ein silbernes Namensschild.

Obwohl Ben erst seit wenigen Augenblicken in der Schlange stand, hatte er das Gefühl, dass sein ganzer Körper mit einer zweiten Haut aus öligem Frittierfett überzogen war. Er wäre besser bis zur nächsten Tankstelle weitergefahren, um sich Mineralwasser zu kaufen. Nun konnte er nur hoffen, dass er bald an der Reihe war.

Die Frau stemmte die Hände in die Hüften. „Sie suchen gutes Personal. Ich bin gut. Ich bin noch viel besser als gut! Also ...“

„Ich brauche niemanden wie Sie“, schnitt ihr der Restaurantchef das Wort ab. „Versuchen Sie Ihr Glück woanders.“ Er drehte sich um und ließ sie stehen.

„Blödmann!“, schnaubte sie.

„Blödmann!“, echote ihr Papagei vergnügt.

Die Gäste am nächstgelegenen Tisch kicherten.

Das Gesicht des Restaurantleiters färbte sich dunkelrot. Er wirbelte herum, starrte die Frau zornig an und zeigte mit dem ausgestreckten Arm zum Ausgang. „Raus hier! Hauen Sie ab! Verschwinden Sie! Sie sind nicht qualifiziert und Ihr Vogel verstößt gegen die Hygienevorschriften unseres Restaurants!“

Sie rührte sich nicht vom Fleck. „Ich hab Sie nur um einen Job gebeten!“, knurrte sie. „Ich brauch eine Chance, kapito? Ich würd sogar das mickrige Gehalt in Kauf nehmen, mit dem Sie die Leute hier abspeisen, nur damit ich einen anständigen Job habe!“

„Bumsen fünfzig Euro!“, verkündete der Papagei wie auf ein Stichwort.

„Sag lieber schönen guten Tag, Gonzo“, ermahnte sie ihn liebevoll.

„Guten Tag, Gonzo“, gackerte er.

„Sie sind nicht qualifiziert, wie oft soll ich das denn noch sagen?“, motzte der Restaurantleiter und dann fügte er unnötigerweise hinzu: „Außerdem sind Sie viel zu fett.“

Ein Raunen ging durch die Warteschlange, und im nächsten Moment wurde es still. Bis auf das Brummen des Deckenventilators war kein Laut zu hören. Die Atmosphäre in der Raststätte lud sich so unheilvoll auf, als stünde ein Hurrikan unmittelbar bevor.

Alle Gäste hielten die Luft an und auch Ben wagte kaum zu atmen.

Die Frau baute sich wie ein Panzer vor dem Anzugträger auf und fixierte ihn aus schmalen Augen. „Hab ich richtig gehört? Hast du gerade gesagt, dass ich fett bin?“

„Und ob!“, spie der Restaurantleiter gehässig und schaute sich beifallheischend um. „Sie sollten erstmal hundert Kilo abnehmen, bevor Sie sich irgendwo bewerben! Ne fette Kuh sind Sie, gucken Sie mal in den Spiegel!“

Es ging ganz schnell. Die Frau packte den Restaurantchef am Schlafittchen, in der nächsten Sekunde lag er auf dem Boden und in der übernächsten hockte sie auf seinem Brustkorb. Er wurde blass und schnappte nach Luft wie ein Karpfen auf dem Trockenen.

Ben war sich nicht sicher, ob er etwas unternehmen sollte. Allein der Gedanke bescherte ihm heftiges Unwohlsein. Er war nicht feige, aber er mischte sich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute ein. Es sei denn, es ging um Tiere. Ratlos strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Was könnte er denn überhaupt tun? Versuchen, den Streit zu schlichten? Nein, er würde erstmal abwarten. Der arrogante Restaurantchef hatte einen Denkzettel durchaus verdient.

„Nett! Ich hab nett gesagt, nicht fett!“, krächzte der Restaurantleiter. „Ich würde Sie niemals beleidigen, Gnädigste, das würd ich niemals tun!“

Die Frau zog die Stirn kraus und musterte das Personal hinterm Tresen. „Die gelben Kittel sind das Allerletzte“, stellte sie nachdenklich fest.

„Allerletzte“, echote der Papagei auf ihrer Schulter, kratzte sich am Kopf und schüttelte sich.

„Sowas Hässliches hab ich schon lange nicht mehr gesehen. Deine Angestellten tun mir echt leid“, meinte sie und erhob sich. „Steck dir deine freie Stelle sonst wohin. Ich werd woanders einen anständigen Job finden. Irgendwo, wo ich nicht in Pissgelb rumrennen muss.“

Der Restaurantchef rappelte sich vom Fußboden hoch, nestelte an seinem Kragen herum und strich seine Jackenaufschläge glatt. Die Gäste atmeten in kollektiver Erleichterung auf, und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, kehrte wieder geschäftige Normalität ein. Hinterm Tresen wurden die Tabletts beladen, und die Leute an den Tischen wandten sich wieder ihrer Mahlzeit zu.

Die Schlange rückte einen halben Meter vor und Ben rückte mit. Noch fünf Leute, dann war er dran. Sechs Leute, denn die Frau mit dem Papagei drängelte sich einfach vor. „Ich muss jetzt ganz dringend was Fettiges essen. Hab nen Mordshunger“, verkündete sie und studierte die Speisenauswahl.

„Bestellen Sie, was immer Sie wünschen, Gnädigste“, dienerte der Restaurantchef und fügte mit starrem Lächeln hinzu: „Die Rechnung geht selbstverständlich aufs Haus.“ Im nächsten Moment war er hinter einer stahlgrauen Tür mit der Aufschrift „Privat“ verschwunden.

„Ne Maxi-Portion Chicken-Nuggets mit scharfer Soße und ne große Cola! Dalli-dalli, das ist ein Notfall!“, rief die Frau, drehte sich zu den Leuten in der Schlange um und erklärte: „Wenn ich mich aufrege, saust mein Blutfettspiegel in den Keller, und der Typ da eben hat mich mächtig aufgeregt.“ Sie zeigte mit dem Daumen auf die stahlgraue Tür.

Hinter Ben alberten drei Jugendliche herum. Große Jungs mit fettigen Haaren, Pickeln und Bartflusen im Gesicht. Sie kicherten und rangelten und schubsten sich gegenseitig. Zu wenig Erziehung und zu viele Hormone - keine gute Mischung. Auf einmal rempelte einer der Jungs Ben von hinten an, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel hin. Seine Kumpels halfen ihm mit großem Hallo wieder hoch.

Ben rammte seine Füße in den Boden und starrte die drei grimmig an. „Hey, habt ihr keine Augen im Kopf?“

„Sorry, tut uns echt leid“ murmelten sie im Chor, drehten sich um und zogen mit gesenkten Köpfen von dannen.

Damit hatte Ben nicht gerechnet. Verwundert schaute er den Jungs hinterher und beobachtete, wie sie an der Ausgangstür von der Frau aufgehalten wurden. Sie trug einen XXL-Eimer aus weißer Pappe und ein Maxi-Getränk vor sich her, der Ara thronte auf ihrem Kopf.

„Sie wünschen bitte?“, flötete eine Stimme an Bens Ohr.

Ben fuhr herum, erblickte einen gelben Kittel und bestellte ein großes Mineralwasser. Er griff nach seinem Portemonnaie. Hintere rechte Hosentasche, wie immer.

Sein Griff ging ins Leere. Verdutzt klopfte er die leere Tasche ab. Dann fasste er in die linke - auch nichts. Nochmal rechts. Wieder nichts.

Sein Portemonnaie war nicht da.

Das kann nicht sein!

Er tastete nochmal und überprüfte sogar seine vorderen Hosentaschen, obwohl er sein Portemonnaie nie in einer vorderen Tasche trug. Das Portemonnaie war weg. Er konnte es nicht fassen.

Hektisch schaute er sich um, als ließe sich des Rätsels Lösung in den Gesichtern der anderen Gäste finden. Er hatte sein Portemonnaie dabei gehabt. Da war er ganz sicher!

„Zwei Euro achtzig“, schnarrte die Bedienung und stellte einen Pappbecher auf den Tresen.

Hatte er es verloren? Aber wann und wo? Beim Aussteigen auf dem Parkplatz?

Sein Puls raste und der Schweiß strömte ihm aus den Poren. Geld, Kreditkarten, Ausweise, alles weg!

Und das ausgerechnet heute, wo er unterwegs in sein neues Leben war. Unwirsch schüttelte Ben den Kopf. Ein verlorenes Portemonnaie war immer ein Unglücksfall, ganz egal, in welcher Situation man sich gerade befand.

Vielleicht hatte er es ja im Auto liegengelassen. Sehr unwahrscheinlich, aber immerhin möglich. Schließlich kam es trotz seines ausgeprägten Ordnungssinns manchmal vor, dass er etwas verlegte.

Entschuldigend hob er die Hände und erklärte der Angestellten, dass er sein Geld im Wagen vergessen habe, woraufhin diese wortlos die Augen verdrehte und den Becher wieder wegtrug.

Eilig lief er den Gang entlang zur Ausgangstür. Er hörte sein Herz laut klopfen, aber darüberhinaus nahm er kaum etwas wahr. Die Gesichter der hereinströmenden Menschen verschwammen zu einer homogenen Masse, ihre Stimmen zu einem gleichförmigen Rauschen.

Es liegt im Auto. Ganz bestimmt!

Er stürmte durch die Tür nach draußen, als plötzlich vor seinen Augen etwas Blau-Gelbes auftauchte. Der Papagei. Er hockte wieder auf der Schulter der seltsamen Frau und zog spielerisch mit seinem Schnabel an ihren geflochtenen Zöpfen. Ben schlug einen Bogen, um den beiden auszuweichen.

„Hey Mister“, hörte er sie rufen.

„Hey Mister!“, echote ihr Vogel.

Ben wäre nicht auf die Idee gekommen, dass er gemeint sein könnte, doch da grabschte sie nach seinem Arm und bremste ihn aus. Er hatte es eilig, aber selbst wenn er Zeit genug gehabt hätte, wäre er der Dame lieber aus dem Weg gegangen. Es sei denn, sie brauchte seinen Rat wegen ihres Papageis, das wäre natürlich etwas anderes.

„Das waren Honks“, meinte sie. „Vollhonks, wenn du mich fragst.“ Sie verzog die viel zu rot geschminkten Lippen zu einem breiten Grinsen. „Und du bist der Oberhonk! Boah, Mann, ich glaub's nicht! Hast du das echt nicht geschnallt?“

Was auch immer die redet, es hat nichts mit mir zu tun,dachte Ben.Vielleicht war sie durcheinander oder sie verwechselte ihn. Ignorieren schien ihm die beste Strategie zu sein, also schüttelte er sie ab und tat, als sei sie Luft, doch leider löste sie sich nicht auf. Im Gegenteil: Sie stellte sich ihm wie ein Bulldozer in den Weg.

Der Papagei spielte Verstecken unter ihren geflochtenen Zöpfen und war bis auf seine Schwanzfedern verschwunden, als Ben plötzlich einen Ohrring aufblitzen sah. Im nächsten Sekundenbruchteil schnappte der Schnabel zu und der Ohrring war verschwunden. Das Tier tauchte auf, rang nach Luft und stieß kehlige Würgelaute aus.

Ben musste sofort handeln, sonst könnte das Tier sterben. Mit sicherer Hand ergriff er den Papagei und nahm seinen Kopf zwischen zwei Finger.

Die Frau stieß einen gellenden Schrei aus. „Gonzo! Oh Gott, nein, Gonzo hat meinen Ohrring gefressen!“, kreischte sie und dann ging sie auf Ben los. „Was soll das, was machen Sie da mit ihm?“

„Keine Sorge, ich bin Tierarzt“, bemühte er sich, sie zu beruhigen, während er den Schnabel öffnete und nach dem Ohrring fahndete.

Im Nu wurden sie von Neugierigen umringt. Die Leute drängelten und reckten die Hälse, Handykameras wurden gezückt.

„Verschwindet, ihr Arschgeigen!“, schimpfte die Frau, verpasste dem erstbesten Gaffer einen Tritt in den Hintern und die Leute suchten schnell das Weite.

Ben schaute sich den Ohrring genau an. Eine silberne Blume an einem dünnen Kettchen. Der Verschluss war auch dran. Der Ohrring war komplett, nichts fehlte. Er löste seinen Griff am Hinterkopf des Papageis, woraufhin dieser den Schnabel zuklappte und ihn misstrauisch musterte.

Schließlich flatterte der Papagei zurück auf die Schulter seiner Begleiterin und schlug ein paarmal aufgeregt mit den Flügeln. Er hatte den Zwischenfall unbeschadet überstanden, nun musste er sich nur noch von dem Schrecken erholen. „Oh ja, gib's mir! Ich komm gleich!“, krähte er ein paarmal hintereinander, und dann rief er: „Fass ihn härter an!“ Er fuhr fort, seinen seltsamen Wortschatz abzuspulen, dann imitierte er die Geräusche eines Staubsaugers und einer Türklingel und schließlich rief er mit einer Stimme, die wie ein Megaphon klang: „Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei!“

Zwei dicke Tränen kullerten über die Wangen der Frau, während sie dem Papagei zärtlich über den Rücken strich. Sie schien ihren gefiederten Freund sehr zu lieben.

Ein warmes Gefühl stieg in Ben auf und breitete sich unter seiner Haut aus. Wenn jedes Tier solche Zuneigung bekäme, wäre die Welt ein viel besserer Ort. „Glück gehabt“, sagte er, gab der Frau das silberne Schmuckstück zurück und fügte hinzu: „Sie sollten lieber keine Ohrringe tragen.“

„Die hab ich doch nur reingemacht, weil ich heute besonders schick sein wollte. Wegen des Vorstellungsgesprächs“, schniefte sie, wischte sich übers Gesicht, schaute zu Ben auf und sagte mit belegter Stimme: „Danke, dass du Gonzo das Leben gerettet hast. Das werde ich dir nie vergessen!“

Sie hatte wunderschöne samtbraune Augen, die von dichten schwarzen Wimpern umgeben waren. Nur mit Mühe konnte Ben sich von ihrem Blick lösen. Seltsam. Sie war überhaupt nicht sein Typ. Ben wusste zwar nicht, welche Frau denn sein Typ wäre, aber dieser bunte Bulldozer war es ganz sicher nicht.

Er winkte ab. „Schon gut. Ich bin schließlich Tierarzt.“ Damit wandte er sich zum Gehen.

Während der vergangenen Minuten hatte er die Welt um sich herum vergessen – wie immer, wenn er sich um ein Tier kümmerte. Aber nun holte ihn die Realität wieder ein. Wenn er doch bloß wüsste, wo sein Portemonnaie war!

Ein großartiger Plan

Lulu musterte den Tierarzt, dann grinste sie und streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Lulu. Und das ist Gonzo.“

Ihr Gegenüber strich sich eine braune Haarsträhne aus der Stirn und erwiderte flüchtig den Händedruck.

Er war ungefähr Mitte dreißig und er sah gut aus. Mindestens einen Meter fünfundachtzig groß, breite Schultern. Echte Muskeln, keine aufgepumpten. Schöne Hände. Blaue Augen, blitzweiße Zähne. Ein Mann, von dem viele Frauen träumten, zumindest nahm Lulu das an. Sie selber würde niemals von einem Mann träumen, und wenn doch, dann wäre das kein schöner Traum.

„Ben Petterson“, stellte er sich höflich vor und schob schnell hinterher: „Wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich hab's sehr eilig.“ Schon lief er weiter.

Lulu konnte sich denken, warum er es eilig hatte. „Suchst du vielleicht dein Portemonnaie, Ben Petterson?“, rief sie ihm hinterher, zog es aus ihrer Handtasche und winkte ihm damit zu. Kichernd beobachtete sie, wie seine Kinnlade einen Meter runterfiel und seine Augen so groß wie Fußbälle wurden.

„Hier, bitte schön. Das hab ich den drei Vollhonks abgenommen.“ Feierlich überreichte sie ihm das Portemonnaie und musste noch mehr lachen. Sein Gesicht sah aus wie ein Fragezeichen.

„Die Jugendlichen? Die drei, die mich angerempelt haben?“, stammelte er ungläubig.

„Ganz genau die. Die machen das nicht nochmal“, meinte sie selbstzufrieden.

Er schaute in die Fächer seines Portemonnaies und als er festgestellt hatte, dass nichts fehlte, schob er das gute Stück in seine hintere rechte Hosentasche. Kaum hatte er es verstaut, fasste er schon wieder an seine Tasche, als könne er nicht glauben, dass sein Portemonnaie wirklich wieder da war.

„Danke, Lulu“, sagte er erleichtert. „Damit hast du mir sehr geholfen. Wie kann ich das nur wieder gutmachen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das hast du doch schon längst. Du hast Gonzo gerettet! Der ist hundertmillionen mal mehr wert als alles Geld und alle Kreditkarten der Welt.“

Er lächelte leicht. „Das war doch selbstverständlich. Ich bin schließlich Tierarzt.“

Er sah viel entspannter aus, wenn er lächelte. Nicht mehr so furchtbar zugeknöpft.

Endlich konnte sie sich zu ihren Chicken-Nuggets und der Maxi-Cola an den Tisch setzen. Sie nahm ein Nugget heraus, tunkte es in die scharfe Soße und biss hinein. Köstlich! Leckere hellbraune Panade, schneeweiße, fluffige Füllung und eine der besten Chili-Soßen auf diesem Planeten.

„Yes! So lass ich mir das gefallen! Das sind Chicken-Nuggets ganz nach meinem Geschmack“, schmatzte sie und schob Ben den Eimer rüber. „Bedien dich. Sind genug da.“

„Nein danke.“ Ben rümpfte die Nase. „Ich bin Vegetarier.“

Achselzuckend futterte Lulu weiter, während Ben ins Restaurant ging, um sich Mineralwasser zu kaufen.

Es gab nicht viele Tierärzte, die sich mit Papageien auskannten. Wenn sie so darüber nachdachte, hatte sie noch bei keinem so ein gutes Gefühl gehabt wie bei Ben Petterson. Gonzo schien ihn ebenfalls zu mögen, denn normalerweise hackte er jedem Tierarzt erstmal ordentlich in die Finger.

Der Chicken-Eimer war fast zur Hälfte leer, als Ben zurückkehrte. Er hob die Hand und nickte ihr im Vorbeigehen zu.

„Hey Ben, warte mal!“

Er blieb stehen und drehte sich um.

„Wenn Gonzo mal wieder einen Tierarzt braucht, würde ich gerne zu dir kommen. Hast du eine eigene Praxis?“

Plötzlich leuchteten seine Augen und er strahlte übers ganze Gesicht.

Hey, was war denn plötzlich mit dem los?

„Ja, habe ich, und zwar ab heute!“, platzte es aus ihm heraus. „Ich habe die Tierarztpraxis meines Onkels geerbt.“ Auf einmal bewölkten sich seine Augen und sein Lächeln wurde wehmütig. Wahrscheinlich hatte er seinen Onkel gern gehabt und war traurig, dass er gestorben war.

Gonzo hopste von ihrer Schulter und vertrat sich auf der Tischplatte die Beine. Sie kramte die kleine grüne Vorratsdose aus ihrer Handtasche und klappte sie auf. Darin waren ein geschnittener Apfel und ein paar Erdbeeren. Gonzo entschied sich für den Apfel.

Ben ließ sich auf der Bank gegenüber nieder. „Bis gestern war ich in einer Tierklinik in Frankfurt angestellt und nun bin ich auf dem Weg nach Mühldorf.“ Er trank einen Schluck und fügte hinzu: „Die Praxis ist im Birkenweg Nummer zwei.“

„Mühldorf? Hab ich noch nie gehört.“ Im Laufe ihres fast dreißigjährigen Lebens war Lulu ganz schön rumgekommen, sie hatte in einigen großen Städten gewohnt, aber ein Ort namens Mühldorf war nicht dabei gewesen.

„Das ist in Ostfriesland.“

Lulu nickte schlau. „Ostfriesland kenn ich! Da gibt's haufenweise Leuchttürme und die Leute trinken Tee und laufen in gelben Regenmänteln rum.“ Das hatte sie im Fernsehen gesehen.

Ben schüttelte den Kopf. „Mühldorf liegt nicht an der Küste, da gibt's keinen Leuchtturm. Dafür aber wunderschöne Natur. Weite Wiesen und Felder.“ Ben bekam wieder diesen melancholischen Blick. „Früher war ich jedes Jahr in den Ferien dort“, erzählte er. „Onkel Otto war ein großartiger Tierarzt und ich habe eine Menge von ihm gelernt. Die Leute in Mühldorf nannten ihn den Tierdoktor.“

„Hihi, wie bei Dick und Dalli auf dem Immenhof“, witzelte Lulu und musste unwillkürlich an ihre eigenen Schulferien denken. Die hatte sie meistens vorm Fernseher in irgendeiner miefigen Wohnung verbracht. Sie linste in die Nugget-Box, suchte sich aus den Resten das knusprigste Stück aus, tunkte es in die leckere Soße und biss hinein.

Ben verzog das Gesicht. „Weißt du eigentlich, was du da isst?“

„Chicken-Nuggets.“

„Du isst tote Tiere!“ Er schaute sie finster an. „Die Tiere hatten ein furchtbares, kurzes Leben und wurden getötet, nur damit Leute wie du sie aufessen.“

Lulu schüttelte den Kopf. „Tiere? Ich würde niemals Tiere essen!“ Sie schaute sich das angebissene Stück genau an und dann hielt sie es Ben vor die Nase. „Das hier ist kein Tier, siehst du? Das hat null Ähnlichkeit mit einem Tier! Und es schmeckt wirklich verdammt lecker, das kann ich dir sagen.“ Sie steckte sich das Stückchen in den Mund und mampfte weiter.

„Was ist das denn für eine Logik?“, regte er sich auf. „Es sieht nicht nach Tier aus, also ist es auch keins? Wenn jeder so denken würde...!“ Seufzend brach er ab. „Wahrscheinlich denken die meisten Menschen so wie du“, sagte er bedrückt.

„Kann schon sein“, murmelte Lulu und hätte gerne unbekümmert weitergefuttert, aber aus irgendeinem Grund hatte sie plötzlich keinen Appetit mehr. Sie schob den Eimer beiseite, wischte sich die Finger an einer Serviette ab und gab Gonzo noch ein Stück Apfel. „Dein Onkel hat sich bestimmt mächtig darüber gefreut, dass du Tierarzt geworden bist“, wechselte sie das Thema.

Ben hob die Schultern. „Leider hatten wir die letzten zwanzig Jahre keinen Kontakt.“

„Heißt das, du warst seit zwanzig Jahren nicht mehr da und jetzt ist dein Onkel tot und du hast seine Tierarztpraxis geerbt?“, staunte sie.

„So ist es“, bestätigte er. „Ich hätte niemals damit gerechnet, schließlich ist da ja auch noch mein Cousin Toni.“

„Toni ist Onkel Ottos Sohn?“, kombinierte sie. „Der ist bestimmt nicht begeistert, dass du ihm sein Erbe wegschnappst, oder?“

Ben runzelte die Stirn und schaute gedankenverloren in die Ferne. „Toni und ich konnten nichts miteinander anfangen, wir waren einfach zu verschieden“, erinnerte er sich. „Während ich die Vögel und Rehe am Waldrand beobachtete, spielte er Vietnam-Krieg und schlug mit einem Knüppel die jungen Bäume nieder.“

In ihrer Handtasche klingelte es. „Augenblick, Ben“, bat sie, warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und zog das Handy heraus. Das Display spiegelte sich im Sonnenlicht. Sie hätte nicht abgenommen, wenn sie gewusst hätte, wer dran war.

„Lulu? Wo steckst du, verdammte Scheiße?“ Andi.

„Das erzähl ich dir doch nicht! Lass mich in Ruhe, Arschloch.“

„Aaaaasch“, echote Gonzo und schlug mit den Flügeln.

„Du hast meinen Wagen geklaut! Ich will meinen Jaguar wiederhaben!“, schrie er.

Lulu hielt das Telefon ein Stück vom Ohr weg, sonst wäre ihr Trommelfell geplatzt. „Lass mich in Ruhe, Andi! Ruf mich nie wieder an, kapiert?!“, schrie sie zurück.

„Von wegen! Du kannst dich nicht vor mir verstecken. Ich finde dich, du Schlampe, verlass dich drauf!“

Sie reckte den Mittelfinger und warf das Handy zurück in die Tasche.

Ben war zusammengezuckt und schaute jetzt ziemlich verstört drein. Rasch trank er sein Mineralwasser aus, stand auf und verabschiedete sich hölzern. „Danke nochmal, dass du mir das Portemonnaie wiedergegeben hast, Lulu. Pass gut auf Gonzo auf.“

„Klar doch.“

Ben drehte sich um und ging davon.

Energisch bemühte sie sich, Andi Arschloch aus ihrem Gedächtnis zu vertreiben. Sie hatte lange genug vor ihm gekuscht. Damit war jetzt endlich Schluss!

Sie schlürfte ihre Cola und beobachtete, wie Ben den Parkplatz überquerte und in einen dunkelgrünen Jeep stieg. Mühldorf, Birkenweg Nummer zwei. Das musste sie sich merken.

Sie stand auf, streckte sich und nahm Gonzo auf die Schulter. Es wurde Zeit, weiterzufahren, wenn sie heute noch irgendwo ankommen wollte. Wie schon so oft in ihrem Leben wusste sie noch nicht, wohin es sie als Nächstes verschlug. Sie würde irgendwohin fahren, wo sie einen guten Job und ein Dach überm Kopf haben konnte.

In diesem Moment, ganz plötzlich, hatte sie eine tolle Idee. Nun, eigentlich kommen tolle Ideen ja immer ganz plötzlich, aber in diesem Fall wäre es besser gewesen, die Idee hätte sich ein paar Minuten früher blicken lassen. Dann hätte sie sich nämlich jetzt nicht so sputen müssen.

Wiedersehen macht Freude

Ben atmete auf. Die Staus lagen hinter ihm, die Autobahn war nur noch zweispurig, der Verkehr floss ruhig vor sich hin. Es war nicht mehr weit bis nach Mühldorf. An der nächsten Ausfahrt musste er raus.

Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Der rote Sportwagen fuhr immer noch in großzügigem Abstand hinter ihm her. Seltsam. Der hatte fünfmal mehr PS unter der Haube als sein Jeep, aber trotzdem zuckelte er mit hundert Stundenkilometern über die Autobahn.

Das Hinweisschild tauchte am Straßenrand auf. Ben setzte den Blinker, nahm die Ausfahrt und bog schließlich auf die Landstraße ab. Rechts und links breiteten sich Felder und Wiesen aus. Der hellblaue Himmel wölbte sich wie eine riesige Kuppel über die Landschaft. Kein Gebäude, kein Fabrikschornstein, nichts versperrte den Blick. Bens Herz schlug schneller. Wie sehr er die endlose Weite vermisst hatte!

Auf den Wiesen grasten schwarzbunte Kühe. Ben lächelte glücklich. Hier in Ostfriesland waren die Kühe fast das ganze Jahr über draußen. Das war viel gesünder für sie als ihr Dasein im Stall zu fristen, und machte ihr Leben um einiges lebenswerter.

Ben ließ den Wagen ausrollen, hielt kurzentschlossen vor einem hölzernen Weidetor an und stieg aus. Ein lauer Wind streichelte seine Haut. Die Luft war erfrischend klar und gleichzeitig erfüllt vom köstlich lebendigen Duft der Natur. Er atmete tief ein. Er spürte, wie sich seine Lungen mit Sauerstoff füllten, und hatte das Gefühl, das erste Mal seit sehr langer Zeit wieder richtig durchatmen zu können.

Behände kletterte er über das Tor und betrat die Wiese. Hier und da behauptete sich sonnengelber Löwenzahn zwischen den Grashalmen und auch die zarten Gänseblümchen lugten hervor. Bienen und Schmetterlinge tanzten von Blüte zu Blüte. Wie still und friedlich es hier war! Nach ein paar Metern blieb Ben stehen. Ein berauschendes Glücksgefühl erfasste ihn, sein Brustkorb wurde weit und plötzlich fühlte er sich wie ein Vogel, der nur mit den Flügeln zu schlagen bräuchte, um hoch in die Lüfte zu steigen. Ein Jauchzer hüpfte aus seiner Kehle, er breitete die Arme aus, als könnte er die ganze Welt umarmen, und drehte sich ausgelassen im Kreis. Er war siebenunddreißig Jahre alt und benahm sich wie ein Kind, aber das war ihm ganz egal.

Nach einer Weile kletterte er wieder über das Tor und wollte gerade ins Auto einsteigen, als er auf der Straße einen roten Wagen näher kommen sah. Unverkennbar der Sportwagen, der auf der Autobahn hinter ihm hergefahren war. Sehr merkwürdig! Wenn er es nicht besser wüsste, würde er glauben, dass er verfolgt wurde.

Ben verharrte an der offenen Autotür und beobachtete, wie der Sportwagen nach rechts an den Straßenrand lenkte und neben seinem Jeep zum Stehen kam. Ein rotes Jaguar-Coupé. Die Beifahrerscheibe fuhr herunter. Ben sah ein Durcheinander an Tüten und Taschen, einen Papagei und ein karamellbraunes Gesicht mit unzähligen Zöpfen.

„Französisch nur mit Gummi!“, verkündete Gonzo fröhlich.

Ben schnappte überrascht nach Luft. In seiner Vorfreude auf die Rückkehr nach Mühldorf hatte er die Begegnung mit Lulu schon fast wieder vergessen. Er glaubte nicht an Zufälle. Vor allem dann nicht, wenn sie so offensichtlich herbeigeführt waren wie dieser.

„Sag lieber Schönen guten Tag, Gonzo“, ermahnte Lulu ihren Papagei, lüftete ihre Sonnenbrille und strahlte Ben an.

„Schönen guten Tag, Gonzo“, krähte der Vogel.

„Da bin ich aber froh, dass du auf mich gewartet hast! Ich musste ganz dringend tanken, echt unglaublich, wieviel die Karre schluckt“, plapperte sie.

Ben begegnete ihrem unschuldigen Blick. Ihre braunen Augen zogen ihn in den Bann, aber das war auch das Einzige, was ihn an ihr faszinierte. Es sprach allerhand gegen sie. Zum Beispiel die Tatsache, dass sie in einem Wagen unterwegs war, den sie ihrem Zuhälter geklaut hatte. Ben spürte, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufrichteten. „Was soll das? Wieso bist du mir gefolgt?“

„Ach weißt du, Ben, du hast mir so von Mühldorf vorgeschwärmt, da hab ich mir überlegt, dass ich da auch hinwill.“ Sie schenkte ihm ein sonniges Lächeln.

Für einen Moment war er sprachlos. Er wusste wirklich nicht, was er darauf sagen sollte.

„Ziemlich öde Gegend, ich seh nur Wiesen und Kühe. Wie weit ist es denn noch bis Mühldorf?“

Ben stapfte rüber zum Jaguar und beugte sich zum offenen Fenster herunter. „Was bitteschön willst du in Mühldorf?“

„Bumsen oder blasen?“, fragte Gonzo mit schiefgelegtem Köpfchen.

„Ich suche einen anständigen Job und ein Dach überm Kopf“, erklärte Lulu. „Sowas findet sich überall, also auch in Mühldorf.“

Ben atmete tief durch. „Du hast da was missverstanden“, sagte er geduldig. „Mühldorf ist ein Dorf. Da gibt es keinen Job für dich. Fahr in eine Stadt, da findest du bestimmt, was du suchst.“

„Du hast gesagt, dass du zwanzig Jahre nicht in Mühldorf warst. Also kannst du gar nicht wissen, was da jetzt so abgeht.“

Ben spürte ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Ihm war überhaupt nicht wohl dabei, Lulu im Schlepptau zu haben. Aber was sollte er machen? Hilflos rang er die Hände. „Du kannst hinfahren, wohin du willst, ich kann dich nicht daran hindern. Aber behaupte nachher nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.“

„Iwo, mach dir keinen Kopp! Das wird super!“ Lulu grinste breit und reckte den Daumen. „Auf geht's! Mühldorf, wir kommen!“

„Töröööö!“, machte Gonzo und schlug mit den Flügeln.

Ben schüttelte den Kopf. Er war nicht für Lulu verantwortlich. Sie musste selber wissen, was sie tat, sie war schließlich erwachsen. Er setzte sich in seinen Wagen, bugsierte ihn zurück auf die Straße und fuhr weiter. Den Rückspiegel ignorierte er.

Nach fünf oder sechs Kilometern bog er in eine Teerstraße ein. Zu beiden Seiten waren Wassergräben, in denen meterhohes Schilf wuchs. Die langen Halme wiegten sich im lauen Wind und Ben wusste, dass sich das anhörte, als würden sie sich etwas zuflüstern. Zwei Kurven und eine lange Gerade, und dann kam der erste Bauernhof in Sicht, einer der Aussiedlerhöfe abseits des Dorfes.

Ein Weilchen später bog er in die Wiesenstraße ein. Die Randstreifen waren von Wallhecken gesäumt, die den Wind daran hindern sollten, über die Felder zu pusten, und gleichzeitig den Tieren Schutzraum boten. Vereinzelte Bauernhöfe aus solidem Rotstein und Fachwerk lagen abseits der Straße hinter den Wiesen, mit langen Schotterpisten als Zufahrten.

Ben fiel ein, dass in dieser Straße Familie Brill wohnte, und er verzog das Gesicht. Willi Brill senior war ein griesgrämiger Geldsack, der sein Vermögen mit Viehhandel aufgebessert und sich irgendwann mit einer jungen Frau auf eine thailändische Insel verzogen hatte. Bevor er ging, hatte er das Anwesen und den Viehhandel an seinen Sohn Willi junior übergeben. Willi junior war ein überheblicher Einfaltspinsel, zumindest war er das damals gewesen.

Die Straße machte zwei Schlenker - und da war auch schon Brills Hof. Ein prächtiges Herrenhaus, das überhaupt nicht in die Gegend passte. In den großen Fenstern spiegelte sich das Sonnenlicht. Edle Pferde grasten auf Wiesen, die wie englische Rasenflächen wirkten und von schmucken, schneeweißen Holzzäunen eingefasst waren. Die Pferde hoben ihre Köpfe und blähten die Nüstern. Ein imposanter Brauner brach aus der Herde aus und legte einen raumgreifenden Trab vor, der jeden Wertungsrichter in Entzücken versetzt hätte.

Gegenüber der Pferdeweide, auf der rechten Seite der breiten, gepflasterten Zufahrt, schimmerte der feine hellgelbe Sand eines angelegten Reitplatzes. Auf dem Hof parkte ein hochmoderner, silberner Pferdetransporter.

Eine Bewegung im Gebüsch veranlasste Ben, auf die Bremse zu treten. Schwarzes Fell. Eine Katze, ganz offensichtlich verletzt. Ben stieg aus und näherte sich langsam in gebückter Haltung, um das Tier nicht zu verschrecken.

Lulu hielt hinter dem Jeep an. „Hey Ben, was ist los?“, rief sie, machte den Motor aus und kletterte umständlich aus ihrem Wagen.

„Pssst“, bedeutete Ben ihr und machte einen weiteren vorsichtigen Schritt auf die verletzte Katze zu. Sie hatte eine Wunde an der Brust, dort war das Fell blutverkrustet und von Fliegen bevölkert. Ihr Bauch war eingefallen, ihre Augen trüb und ihr Atem ging kurz und flach. All das registrierte Ben mit einem einzigen Blick, während er ruhig in die Hocke ging. „Hey, mein Mädchen“, sagte er sanft. „Was ist passiert?“

Die Katze hob den Kopf und zuckte mit dem Schwanz. Ben hielt ihr seinen Handrücken hin, damit sie Vertrauen fassen konnte. „Ich bin gleich wieder da, meine Kleine. Bleib schön hier, ich helfe dir“, versprach er und kroch langsam rückwärts aus dem Gebüsch.

„Ist schon wieder Ostern?“, erkundigte Lulu sich kichernd, als er bei ihr ankam.

„Da drüben liegt eine verletzte Katze. Kannst du mir helfen?“ Er machte die hintere Wagentür auf und zog seinen Notfallkoffer heraus.

Lulu schaute betroffen drein. „Klar doch, logisch helf ich dir. Was soll ich machen?“