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Das große Liebesglück gibt es meist nur auf Umwegen Jessica trägt am liebsten bunte Miniröcke und Ringelstrumpfhosen. Ihre Familie hält sie für tollpatschig und chaotisch, aber das stört die lebenslustige Frohnatur überhaupt nicht. Das Schicksal wirft Jessica direkt vor die Füße des attraktiven Star-Anwalts Nicolas. Ihr Herz steht in Flammen und daran sind nicht nur seine unglaublich blauen Augen Schuld. Unglücklicherweise verwechselt Nicolas sie mit ihrer besten Freundin, der ehrgeizigen Rechtsanwaltsgehilfin Emma. Oder ist dieses Missverständnis vielleicht gar kein Unglück? Jessica schlüpft in die Rolle ihrer besten Freundin und verstrickt sich in ein Lügennetz, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Kann ihre Freundschaft zu Emma so viele Lügen aushalten? Und was wird aus ihrer großen Liebe, wenn die Wahrheit ans Licht kommt?
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Seitenzahl: 346
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Karin Köster
Verflixt verliebt
Ein Anwalt zum Küssen
Inhalt
Böse Überraschung
Ein echter Schatz
Typrenovierung
Weiche Knie
Soloparty
Feierliches Gelöbnis
Zwei lästige Schnüffler
Bauchklatscher
Das große Fest
Unerwartete Gäste
Aufgeflogen
Ein besonderes Geschenk
Das Wunder der Liebe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2017 © 2023 Karin Köster
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© Cover- und Umschlaggestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de
Ein neues Jahr ist wie eine weiße Leinwand, die mit bunten Farben bemalt werden will. Ich finde, man sollte dafür ruhig einen breiten Pinsel benutzen.
Meine beste Freundin Emma hockt im Schneidersitz neben mir auf ihrem schmalen Bett. Sie hält einen spitzen Bleistift in der Hand und hat einen Schreibblock auf dem Schoß. Eine steile Falte teilt ihre Stirn in zwei Hälften.
„Habe ich irgendwas auf meiner To-Do-Liste vergessen?“ Sie schaut mich nachdenklich aus ihren hellbraunen Augen an.
Ich schüttle automatisch den Kopf. Ich kenne mich mit To-Do-Listen nicht aus, und außerdem ist Emmas Liste sowieso schon so lang wie die Neujahrsansprache des Papstes.
„Alles prima!“, versichere ich. „Leg den Block beiseite und entspann dich. Wie wär’s mit einem gemütlichen Abend im Eulenspiegel? Oder im Kino? Hey, Kino wär toll! Wir könnten uns den neuen Film mit Shailene Woodley reinziehen, einen Eimer voll Popcorn verdrücken und ...“
Sie lächelt mich, um Verzeihung bittend, an. „Nein, tut mir leid, Jessy. Ich muss erst meine Jahresplanung abschließen, vorher geht bei mir gar nichts.“ Eine Strähne ihres dunklen, akkurat geschnittenen Pagenkopfs fällt ihr ins Gesicht. Sie klemmt sie hinters Ohr und konzentriert sich wieder auf ihre Liste.
Ich stoße einen Seufzer aus und schaue gelangweilt zum Dachfenster, auf dem sich vereinzelte Schneeflocken niederlassen. Draußen ist es stockdunkel, obwohl es noch nicht mal Abend ist.
„Sei doch so lieb, und koche uns Tee, ja?“, murmelt Emma abwesend.
„Na klar.“ Gebückt stehe ich vom Bett auf, um mir nicht den Kopf an der Dachschräge zu stoßen, und tapere rüber zur Kochecke. Emma hat die wahrscheinlich winzigste Wohnung der Welt, sie ist nach einem ausgeklügelten Small-Flat-System eingerichtet. Obwohl die Wohnung so miniklein ist, ist sie immer total ordentlich. Erschreckend ordentlich.
Ich kehre mit zwei dampfenden Bechern zurück.
„Sag mal, Jessy, hast du gar keine Vorsätze und Ziele für das neue Jahr? Machst du dir keine Gedanken, was du ändern und erreichen willst?“, erkundigt sich Emma.
Rein rhetorische Fragen, sie kennt mich gut genug. Achteinhalb Jahre, um genau zu sein. So lange bin ich nämlich schon mit ihrem Bruder Axel zusammen.
„Nö. Sich Ziele zu setzen macht keinen Sinn, weil’s sowieso immer anders kommt, als man vorher denkt. Außerdem ist das Leben ohne Pläne viel spannender“, behaupte ich.
„Ihr könntet dieses Jahr heiraten“, schlägt sie vor. „Jetzt, wo eure Firma endlich gut läuft. Und du könntest dir mehr Zeit zum Malen nehmen!“ Sie nippt am Tee.
Leider kommt meine Malerei zu kurz, seit Axel und ich vor acht Jahren die Möbeltischlerei gegründet haben. Ich helfe ihm in der Werkstatt und kümmere mich um den Bürokram. Nach der jahrelangen Durststrecke schreiben wir jetzt fette schwarze Zahlen, weil wir neuerdings Aufträge von reichen Leuten wie Angelina Brunetti bekommen. Angelina Brunetti ist eine wunderschöne Frau mit brünettem Haar und kilometerlangen Beinen. Wir haben die Einbaumöbel für ihre Luxusyacht angefertigt und sollen auch das Mobiliar für ihr Ferienhaus bauen.
Heiraten? Daran habe ich noch gar nicht gedacht, und Axel vermutlich auch nicht, sonst hätte er bestimmt mal was in dieser Richtung verlauten lassen.
Ich zucke die Achseln. Prompt schwappt der Tee über den Rand meines Bechers und wird von meinem grasgrünen Minirock und der bunten Wollstrumpfhose aufgesaugt.
„Ach du Schreck!“ Emma springt auf und holt in Windeseile eine Rolle Küchentücher herbei.
„Nun schau dir das an“, rufe ich kichernd und fahre den Fleck auf meinem Rock mit dem Finger nach. „Der Klecks sieht aus wie eine Blume.“
„Du kommst auf Ideen!“ Emma tupft behutsam auf dem Fleck herum. „Hoffentlich geht der beim Waschen wieder raus“, murmelt sie besorgt.
Möglicherweise sollte ich mir mal Gedanken machen, warum mir immer diese Missgeschicke passieren. Bin ich vielleicht grobmotorisch veranlagt? Emma bekleckert sich nie, sie krümelt nicht mal. Und meine große Schwester Yvonne natürlich auch nicht.
„Ach, Jessy“, seufzt Emma und lässt das Tuch sinken. „Manchmal beneide ich dich wirklich. Du machst dir niemals Sorgen, bei dir ist immer alles so leicht.“ Sie bringt die Rolle zurück in die Küchenecke und wirft die schmutzigen Tücher in den Mülleimer.
Ihre Worte schwirren in meinem Kopf herum. Meine Freundin Emma ist ganz anders als ich. Sie ist eine aparte Schönheit und sie ist die Zielstrebigkeit in Person. Gleich nach dem Abi absolvierte sie eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten und nimmt seitdem dauernd an irgendwelchen Fortbildungen teil. Sie ist sehr sparsam und legt den Großteil ihres Verdienstes in Fonds und Bausparkonten an, weil sie sich in ein paar Jahren eine Eigentumswohnung kaufen will.
Hm, vielleicht sollte ich mir an Emma ein Beispiel nehmen, und auch mal was planen oder mir Sorgen machen. Zum Glück ist der Januar erst knapp zwei Wochen alt, ich habe also noch jede Menge Zeit dafür.
Sie trinkt ihren Tee aus und spült den Becher ab. Dann hockt sie sich wieder neben mich und konzentriert sich auf ihre To-Do-Liste. „Ich werde mich auf jeden Fall in einer anderen Kanzlei bewerben“, verkündet sie und tippt mit der Bleistiftspitze auf den entsprechenden Punkt ihrer Jahresplanung. „Die Arbeit bei Breitarsch ist die Hölle. Obendrein weigert er sich, mein Gehalt zu erhöhen, obwohl ich seit sieben Monaten Bürovorsteherin bin.“
Breitarsch ist Emmas Chef, einer von sechs Anwälten einer großen Kanzlei am Gewerbering. Mit richtigem Namen heißt er Breitling. Laut Emmas Schilderungen benimmt er sich wie ein Arsch und zieht sich die Hose bis unter die Achseln hoch.
Sie schaut an mir vorbei, ihre Augenlider flattern nervös. „Ich habe vorhin bei Elitejobs.de ein neues Stellenangebot entdeckt. Die Kanzlei Herzogsucht eine Angestellte bei überdurchschnittlicher Bezahlung.“ Ihre Stimme ist nur ein heiseres Flüstern, ihr Kinn zittert.
Was ist plötzlich mit ihr los? Sie benimmt sich wirklich seltsam. Ich werde es schon noch erfahren, Emma und ich haben niemals Geheimnisse voreinander.
Ich stelle den leeren Becher auf den Nachtschrank. „Ja und?“, frage ich neugierig.
„Nicolas Herzog ist dererfolgreichsteAnwalt der Stadt“, stößt sie hervor. „Er gewinnt die meisten Fälle. Da gehen nur die Reichen hin, andere Mandanten nimmt der gar nicht!“ Sie springt auf, schnappt sich den Becher und flitzt in die Küche, um ihn abzuspülen.
Ich kratze mich am Kopf. „Ich weiß nicht, wo das Problem liegt. Warum bewirbst du dich nicht einfach?“
Sie kommt zurück und ringt die Hände. „Du liebe Güte, Jessica! Das ist eine Top-Adresse! Ich bin bestimmt nicht gut genug für Herzog.“ Sie nimmt wieder neben mir auf dem Bett Platz und schaut auf ihre Hände, die sie im Schoß verschränkt hat.
Ich muss mich verhört haben. „Hallo? Welche Note hattest du nochmal in deiner Abschlussprüfung? Ach ja richtig, eins Komma null. Und hast du seitdem nicht unzählige Fortbildungen besucht?“
Ich sehe sie zaghaft nicken.
„Und du zweifelst ernsthaft daran, gut genug für diesen Popel-Anwalt zu sein?“
„Nicolas Herzog ist ganz gewiss kein Popel-Anwalt!“
Spontan fasse ich nach ihrer Hand, sie ist eiskalt. „Emma! Das hört sich nach einer sehr guten Gelegenheit an, und gute Gelegenheiten sind dazu da, damit man sie nutzt. Bewirb dich bei diesem Anwalt! Er kann keine Bessere kriegen als dich!“
Sie wendet den Kopf und schaut mich mit flatternden Lidern an. Ihre Lider flattern immer, wenn sie vergisst, was für eine tolle, intelligente, liebenswerte Frau sie ist.
„Meinst du?“, fragt sie kleinlaut.
„Na klar! Mal abgesehen davon, dass er seine Leute offenbar besser bezahlt, ist er bestimmt ein angenehmerer Mensch als dein jetziger Chef.“
Sie rollt mit den Augen. „Unangenehmer gehts wohl kaum. Breitarsch ist ein cholerischer Quartalssäufer.“
„Na also. Worauf wartest du noch?“ Ich drücke aufmunternd ihre Hand.
Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, sie wirkt erleichtert. „Danke, Jessica! Du bist die Allerbeste, weißt du das?“ Sie gibt mir einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Dann steht sie auf und holt ihren Laptop aus dem Regal. „Ich bewerbe mich sofort online“, beschließt sie.
Den lustigen Abend im Eulenspiegel oder im Kino kann ich vergessen. Emma wird so lange über der Bewerbung brüten, bis sie tausendprozentig perfekt ist. Ich schaue den Schneeflocken auf dem Dachfenster beim Schmelzen zu, während sie über dem ersten Entwurf des Anschreibens brütet. Plötzlich fällt ihr ein, dass sie kein aktuelles Passfoto besitzt, und das stürzt sie in eine mittelschwere Krise.
„Ein Foto ist bei einer Online-Bewerbung doch gar nicht wichtig“, bemühe ich mich, sie zu beruhigen. „Du kannst es zusammen mit deinen Zeugnissen beim Vorstellungstermin nachreichen.“
Sie wägt das Für und Wider gegeneinander ab und ringt sich schließlich dazu durch, auf ein Foto zu verzichten. Dies ist der Moment, in dem ich beschließe, heim zu Axel zu fahren. Emma braucht Ruhe, damit sie sich auf ihre Bewerbung konzentrieren kann, und Axel wird sich bestimmt freuen, wenn ich früher als geplant zurückkehre. Emma und ich werden den lustigen Abend einfach demnächst nachholen!
***
Ich tuckere mit Axels Auto durch die winterlichen Straßen unserer Stadt. Dicke Schneeflocken setzen sich auf die Windschutzscheibe und werden von den Scheibenwischern ins Nirwana befördert.
Die Scheibenwischer sind mit windschnittigen Mini-Spoilern bestückt. Ziemlich überflüssig, wie ich finde, aber Axel steht auf Spoiler. Das Auto hat überall Spoiler, außerdem ist es tiefer gelegt. Bei kleinsten Unebenheiten im Straßenbelag muss man bis zum Schritttempo eines Gehbehinderten runterbremsen, sonst knallt der Unterboden auf. Und das soll sportlich sein? Weiß der Geier, wer sich das ausgedacht hat.
Axel und ich wohnen in einem kleinen Häuschen im Gewerbegebiet, die Möbeltischlerei ist gleich nebenan. Ich biege in unsere Grundstückeinfahrt, drehe den Zündschlüssel und lasse den Wagen ausrollen. In der Werkstatt brennt Licht. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, unser Häuschen ist eigentlich nur zum Schlafen da. Na ja, und manchmal, ganz manchmal, auch zum Malen. Meine Staffelei steht auf dem Dachboden, zusammen mit meinen Farben und den Leinwänden.
Mein Liebster arbeitet bestimmt noch an der schicken Kommode für Angelina Brunetti! Er wird überrascht sein, dass ich schon viel früher als geplant heimkehre. Glücklich wird er seine Arme um mich schlingen und mir einen langen Begrüßungskuss geben. Diese Vorstellung zaubert ein Lächeln in mein Gesicht. In letzter Zeit sind seine Zärtlichkeiten ziemlich auf der Strecke geblieben. Das wird schon wieder. Er hat momentan einfach zu viel um die Ohren.
Ich tappe durchs Büro, wo sich Prospekte, Schriftstücke und Materialmuster auf dem Schreibtisch türmen. Mir wird warm ums Herz. Seit acht Jahren sitze ich jeden Tag stundenlang an diesem Platz und bemühe mich, unser Unternehmen voranzutreiben. Und die restlichen Stunden des Tages verbringe ich nebenan in unserer Werkstatt, um Axel beim Bau der Möbel zu helfen.
Ich steuere die feuerhemmende Stahltür an und drücke voller Vorfreude die Klinke runter. Die Tür öffnet sich mit leisem Quietschen. Aber ...? Irgendetwas stimmt mit meinen Augen nicht! Das, was ich da vor mir sehe, ergibt überhaupt keinen Sinn.
Da ist die reiche, brünette Angelina Brunetti mit nichts als einem zarten Hauch Unterwäsche bekleidet. Ihre Füße stecken in hochhackigen Sandaletten. Und da ist Axel in den weinroten Boxershorts, die ich ihm zu Weihnachten geschenkt habe. Angelina beugt sich anmutig über die Kommode aus Teakholz, die demnächst einen Platz in ihrem Luxusferiendomizil bekommen soll. Sie streckt ihm ihren perfekt geformten Hintern entgegen.
Das muss einer von Axels „gelungenen“ Scherzen sein. Ein ziemlich übler Scherz. Axel hat einen seltsamen Humor und wundert sich immer sehr, wenn ich über seine schrägen Gags nicht vor Lachen brülle.
Das ist kein Scherz, das ist grausame Realität.
Mein Herz rast wie verrückt, gleichzeitig fühlt es sich an, als würde es zehn Tonnen wiegen. Auf einmal brülle ich tatsächlich, allerdings nicht vor Lachen. Es klingt irgendwie animalisch und obwohl das Brüllen aus meinem Mund kommt, hat es irgendwie nichts mit mir zu tun. Ich bin nur körperlich da, eine leere Hülle. Ein seelenloser Zombie, der von irgendwo ferngesteuert wird.
Axel und Angelina wenden die Köpfe zu mir herum. Axel sagt irgendwas zu mir, aber ich höre nur meinen eigenen Schrei. Angelina verschränkt die Arme vorm üppigen Busen. In ihren Dessous sieht sie aus wie ein Model aus einem Orion-Werbeclip.
Meine Hände reißen den Feuerlöscher aus der Halterung und lösen den Verschluss. Ich schreie und kreische und obendrein lache ich so schaurig wie dieser Typ am Schluss von Michael Jacksons Song „Thriller“, während sich unsere schöne Werkstatt in eine Winterlandschaft verwandelt. Ein Schneemann und eine Schneefrau laufen wie aufgeschreckte Hühner darin umher.
Tränenblind und völlig von Sinnen stürme ich in unsere Wohnung, zerre meinen Koffer vom Schlafzimmerschrank und schmeiße wahllos ein paar Sachen hinein. Mir ist speiübel. Mein Leben ist jetzt und hier zu Ende. Achteinhalb Jahre mit Axel sind dahin. Bis zu diesem Moment habe ich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, dass es zwischen uns jemals aus sein könnte.
„Jessica ...“ Axel steht im Türrahmen. Ich habe ihn nicht kommen gehört. Er knetet seine Hände und macht ein Gesicht wie auf einer Beerdigung. In seinen Haaren und seinen Klamotten kleben Reste vom Schaum. „Es tut mir wirklich leid, bitte glaub mir“, murmelt er.
Plötzlich weicht sämtliche Energie aus meinem Körper. Ich fühle mich, als wäre ich um Jahrzehnte gealtert. Oder um Jahrhunderte. Matt sinke ich auf die Bettkante und starre zum Fenster, vor dem sich die rosafarbenen Vorhänge bauschen. Ich habe sie per Hand genäht, kurz nachdem wir in dieses Häuschen gezogen sind. Damals, vor unendlich langer Zeit.
„Wieso?“, ächze ich.
„Ich liebe Angelina.“
Seine Worte hallen wie Donnerschläge in meinem Kopf.
Er streckt zögerlich eine Hand nach mir aus und zieht sie wieder zurück. „Bitte verzeih mir.“
Ich schließe die Augen.
„Ich hab’s nicht drauf angelegt, das kannst du mir glauben. Es überkam mich mit solcher Macht, dass ich nichts dagegen tun konnte.“
„Warum sie?“, frage ich mit einer Gelassenheit, die mir selbst unheimlich ist.
„Das ist doch gar nicht wichtig“, meint er.
„Für mich schon.“
„Angelina ist ganz anders als du.“
„Ah ja. Und wie anders?“ Mal abgesehen davon, dass sie unerhört reich ist und ihre Beine kilometerlang sind, ist das eine interessante Frage.
„Sie ist total selbstbewusst, sie weiß, was sie will und sie ist wahnsinnig sexy“, schwärmt er. Er räuspert sich und spricht in gedämpftem Ton weiter. „Du bist nichts von alledem. Äh, ich meine, du bist natürlich nicht Nichts“, korrigiert er sich. „Versteh mich bitte nicht falsch, Jessica. Dir passieren andauernd irgendwelche Missgeschicke, du bist chaotisch und, ähem, nun ja, wirklich sexy bist du nicht.“ Er bricht ab.
Ich schlage die Augen wieder auf. Ein Stein liegt in meinem Magen, er wächst zu einem Felsbrocken heran.
Axel wirft mir ein mitfühlendes Lächeln zu. „Du kannst gerne noch hier wohnen bleiben, bis du eine neue Bleibe gefunden hast. Ich schlaf so lange auf der Couch.“ Er dreht sich um und geht.
Wie versteinert sitze ich da und starre die rosafarbenen Vorhänge an. Tollpatschig, chaotisch und unsexy geht in Dauerschleife durch mein Gehirn. Ich weiß nicht, wie lange ich auf der Bettkante hocke und wie betäubt vor mich hin stiere.
Irgendwann schläft mir der rechte Fuß ein. Ich strecke das Bein und wackle mit den Zehen, und weil der Fuß nicht aufhören will zu kribbeln, stehe ich auf. Axel hat sich in die schöne Angelina Brunetti verliebt, für mich ist hier kein Platz mehr. Ich muss gehen. Es tut mir fast ein bisschen leid, dass ich die beiden mit Löschschaum eingesprüht habe. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich morgen das Angebot für einen Einbauschrank an einen neuen Kunden schreiben wollte, und dieser womöglich auf das Angebot warten muss, weil Axel viel zu viel zu tun hat und sich nicht auch noch um den Bürokram kümmern kann.
Ich schaue mich ein letztes Mal in unserem schönen Schlafzimmer um. Dann schnappe ich mir den Koffer und verlasse das Haus.
„Versuch ausnahmsweise mal, wie ein ganz normaler Mensch auszusehen!“ Meine Schwester Yvonne drückt mir ein dunkelblaues Kostüm in die Hand.
„Ich habe einen Termin bei der Agentur für Arbeit, das ist kein Staatsbesuch“, erinnere ich sie und hänge das Kostüm schnell zurück in ihren Schrank.
Sie fixiert mich aus katzengrünen Augen. „Willst du einen vernünftigen Job haben?“, fragt sie herausfordernd.
Unbedingt! Mein Gehalt als Aushilfe in Schuberts Schlemmerimbiss ist ein Witz.
„Dann zieh dich wie eine erwachsene Frau an und nicht wie Pippi Langstrumpf!“ Sie holt das Kostüm wieder hervor.
Yvonne hat so ziemlich alles, was ich nicht habe, aber Klamottengeschmack hat sie nicht. Sie lässt die aktuellen Modezeitschriften darüber bestimmen. Ich bin nicht so dumm, einen Streit mit ihr anzufangen. Yvonne ist kein Mensch, mit dem es sich zu streiten lohnt, sie gewinnt sowieso immer. Außerdem bin ich momentan auf sie angewiesen. Wenn sie mich nicht bei sich wohnen lassen würde, müsste ich unter einer Brücke schlafen. Oder bei meinen Eltern.
„Und zieh um Gottes willen schlichte Perlons an!“ Missbilligend zeigt sie auf meine bunte Wollstrumpfhose.
Ich liebe bunte Strumpfhosen. Und ich liebe meine roten Boots, den geblümten Minirock und meine coole Tupfenbluse.
Seufzend schäle ich mich aus meinen Sachen und nehme das Kostüm in Augenschein.
„Jede Wette, dass ich da nicht reinpasse“, murre ich.
Yvonne hat dünne Beine, einen winzigen Po und eine schmale Taille. Was sie zu wenig hat, habe ich zu viel.
„Der Rock hat einen hohen Stretchanteil, der passt sich jeder Figur an“, erwidert sie. Ihr Blick bleibt an meinem Hinterteil kleben, sie zieht die gezupften Brauen in die Höhe. „Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du abnehmen solltest?“
„Ja, du, und zwar sechsmal in den letzten vierzehn Tagen“, entgegne ich gleichmütig.
Wer mir auf der Straße begegnet, hat mich sofort wieder vergessen. Niemand würde auf die Idee kommen zu behaupten, dass ich schön bin. Mir ist das ganz egal, ich mag mich so, wie ich bin. Ich esse, was mir schmeckt und ziehe mich so schön bunt an, wie es mir gefällt.
Meine Schwester wendet sich von mir ab und widmet sich ihrem Spiegelbild. Sie formt aus ihren vollen Lippen einen Kussmund, stößt einen entzückten Jauchzer aus und wirft ihre lockigen Haare über die Schulter.
„Ich hatte gestern Abend ein spannendes Date“, zwitschert sie. „Mit einem Rechtsanwalt.“
Ich bleibe auf halbem Weg in dem Rock stecken und starre sie an. „Wie bitte?“
„Nick ist ein wahnsinnig attraktiver Mann. Er hat eine eigene Kanzlei in der Innenstadt“, berichtet sie.
Ich spüre, wie ich blass werde. „Du triffst dich hinter Brians Rücken mit einem anderen Mann? Wie gemein ist das denn?!“, rege ich mich auf. Mir schießt vor lauter Entrüstung das Blut in die Wangen. Meine Emotionen schlagen sich immer sofort auf meine Gesichtsfarbe nieder.
Brian ist total nett. Er ist der netteste Freund, den Yvonne jemals hatte. Eigentlich ist er viel zu nett für sie. Wann kapiert sie endlich, dass sie sich keinen besseren Mann wünschen könnte als ihn?
Sie rollt genervt die Augen. „Hey, komm mal wieder auf den Teppich.“
Ich zerre an dem eleganten Rock, er lässt sich weder hoch noch runter bewegen. Axels Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf und ich spüre, wie Wut in mir hochkocht. „Das ist so gemein von dir! Brian würde sowas niemals machen, er ist ehrlich und treu und …“
„Reg dich ab, Jessica!“, knurrt Yvonne. „Du führst dich total kindisch auf!“
„Ach ja? Vielleicht weiß ich nur zu gut, wie beschissen es sich anfühlt, betrogen zu werden!“, gebe ich zurück und zerre wütend am Rock. Der Bund schneidet mir in die Taille und quetscht meinen Bauch zusammen. Ich komme mir vor wie eine Wurst in der Pelle. Mir wird ein bisschen übel.
Yvonne hält mir eine reinweiße Bluse und das farblich zum Rock passende Jackett hin. Missmutig zwänge ich mich hinein, das Jackett spannt unter den Achseln. Ein wenig verkrampft trage ich meine Sachen ins Gästezimmer.
„Zieh dir Pumps an!“, rät Yvonne und folgt mir durch die piekfeine Wohnung in mein Zimmer. Kaum hat sie einen Fuß hineingesetzt, stößt sie einen spitzen Schrei aus.
Der Schreibtisch ist mit schützendem Zeitungspapier bedeckt, darauf sind meine Ölfarben und die Behälter mit den Pinseln aufgereiht. Unter der Staffelei habe ich ebenfalls Zeitungspapier ausgelegt. Auf dem restlichen Fußboden und dem Bett herrscht ein lustiges Durcheinander an Klamotten, Büchern, CDs und Papierkram.
„Du hast schon wieder gemalt!“, schimpft sie. „Himmel, dieser Gestank nach Farbe ist nicht zum Aushalten!“ Sie bahnt sich einen Weg zum Fenster und reißt es auf. Eiskalte Luft strömt ins Zimmer.
Mein Blick geht zur Staffelei und der Leinwand, die sich darauf befindet. Augenblicklich fliegen meine Mundwinkel nach oben und mein Herz macht einen Hopser. Wenn die Trennung von Axel ein Gutes hat, dann die Tatsache, dass ich endlich wieder nach Herzenslust malen kann.
Meinem aktuellen Werk habe ich den Titel „Geflügelte Träume“ gegeben. Bei Tageslicht betrachtet wirkt der Hintergrund zu blass. Ich werde nachher weitermachen und das verwaschene Grau mit einem satten Blau aufpeppen. Ölfarben kann man glücklicherweise immer wieder übermalen.
„Igitt, wie das stinkt!“, schimpft Yvonne erneut. „Bring deinen Malkram in den Hausflur. Du verpestest meine ganze Wohnung!“
Ach du Schande, ich soll im Hausflur malen? Da ist es ungemütlich kalt, erst recht zu dieser Jahreszeit. Unter der Decke hängen trübe Energiesparbirnen, Fußboden und Wände sind mit hochglänzenden Fliesen bestückt. Mist, Mist, verdammter Mist! Ich bin gerade so gut in Fahrt und würde am liebsten nichts anderes tun als zu malen.
„Dann riecht man die Farbe aber im Treppenhaus. Das wäre nicht fair gegenüber den anderen Hausbewohnern“, argumentiere ich. Yvonne bewohnt das Erdgeschoss eines schicken Zwei-Parteien-Hauses im begehrten, total überteuerten Speckgürtel unserer Stadt. Im ersten Stock wohnt ein Ehepaar, das ich allerdings noch nie zu Gesicht bekommen habe.
Meine Schwester zeigt mit dem Finger zur Zimmerdecke. „Heinemanns sind für drei oder vier Monate in den USA.“ Sie schaut wieder zur Staffelei. „Sobald du zurück bist, trägst du das raus. Und anschließend räumst du hier picobello auf!“
Wird gemacht, Mutti, denke ich böse, und habe gleich darauf ein schlechtes Gewissen. Ich kann wirklich heilfroh sein, dass Yvonne mich bei sich wohnen lässt. Als ich vor zwei Wochen mit meinem Koffer vor ihrer Tür stand, hat sie mir ohne zu zögern ihr Gästezimmer angeboten. Ich muss unbedingt eine eigene Wohnung haben, aber ich weiß nicht, wovon ich die finanzieren soll. Von meinem Job in Schuberts Schlemmerimbiss auf alle Fälle nicht.
Seit der Trennung von Axel arbeite ich als Aushilfskraft für Bertram Schubert. Schubert gehören mehrere Imbisswagen, ich bin für seine „Goldgrube“ auf dem Parkplatz eines großen Baumarkts zuständig. Der Wagen ist deswegen so gewinnbringend, weil er täglich von unzähligen hungrigen Baumarktkunden und Handwerkern angesteuert wird, und Schubert seinen Mitarbeiterinnen noch nicht mal den Mindestlohn zahlt.
Mein Termin bei der Arbeitsagentur ist wirklich wichtig. Ich brauche einen vernünftigen Job mit guter Bezahlung und eine eigene Wohnung. Wohl wissend, dass die roten Boots vor Yvonnes Augen keine Gnade finden werden, fahnde ich im Durcheinander auf dem Fußboden nach Alternativen.
„Was hältst du von diesen?“ Ich halte einen hellen Leinenschuh in die Luft, der mit bunten Herzchen bedruckt ist.
Yvonne schüttelt nur fassungslos den Kopf. Seufzend stapft sie in den Flur und öffnet ihren Schuhschrank, der locker für eine vierköpfige Familie ausreichen würde. Sie zieht ein Paar schlichte schwarze Pumps heraus.
Skeptisch betrachte ich die Stöckelabsätze. Ich bin nicht besonders geübt darin, mich auf solchen Dingern fortzubewegen.
Yvonne wirft einen Blick auf ihre Luxusarmbanduhr. „Wann ist dein Termin nochmal? Um zehn? Dann wird’s höchste Zeit, dass du dich auf den Weg machst!“ Du meine Güte, sie führt sich auf wie die Mutter eines Grundschulkindes.
„Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, kann schon die Uhr lesen und schaffe es locker, rechtzeitig da zu sein“, erkläre ich liebenswürdig und zwänge meine Füße in die viel zu schmal geschnittenen Lederschuhe. Autsch, verdammt!
Schon schnappe ich mir meinen geliebten natogrünen Army-Anorak, aber Yvonne tauscht ihn energisch gegen einen eleganten Kaschmirmantel um.
„Für deine Haare haben wir keine Zeit mehr“, meint sie bedauernd und deutet auf meine Frisur, die wie immer aus zwei dunkelblonden Zöpfen und bunten Gummibändern besteht. „Schade, dass du Papas dünnes Haar geerbt hast. Du solltest dir angewöhnen, es mit dem Lockenstab aufzupeppen.“
Ohne Vorwarnung zieht sie die Gummis von den Zöpfen. Das ziept wie Hölle.
„Aua, was soll das denn?“, schimpfe ich.
„Die Zöpfe sind albern“, meint sie ungerührt.
Wo ist bloß mein Portemonnaie geblieben? Ich fege ein paar Sachen vom Bett und durchsuche die Taschen des Anoraks. Nichts. Ich möchte Yvonne ungern um Geld anpumpen, auch wenn es sich nur um ein paar Euro für den Bus handelt. Zum Glück fällt mir in diesem Moment das kleine grüne Sparschwein ein. Darin sammle ich das Trinkgeld, das ich hin und wieder im Imbiss bekomme. Ich entdecke das Schweinchen unter einem aufgeschlagenen Liebesroman auf dem Nachtschrank, öffne den Gummiproppen und schütte das Geld in meine hohle Hand. Fünf Euro siebenundachtzig, das müsste für die Hin- und Rückfahrt reichen.
***
Der verdammte Rock schnürt mir die Gedärme ab. Jetzt verbringe ich schon geschlagene sechsundsiebzig Minuten auf diesem unbequemen Holzstuhl im Warteabteil der Arbeitsvermittlung. Der Raum ist viel zu warm und furchtbar stickig, aber die Fenster lassen sich nicht öffnen. Yvonnes Mantel liegt zu einer Wurst zusammengerollt auf meinem Schoß.
Die freundliche ältere Dame, mit der ich eine ganze Weile geplaudert habe, hat ihren Termin inzwischen hinter sich gebracht. Neben mir sitzt jetzt ein schlaksiger Jugendlicher, der über sein Handy gebeugt ist, und sich offensichtlich nicht für seine Umwelt interessiert. Zwei Stuhlreihen weiter streitet sich ein feister Typ mit seiner Begleiterin, weil sie angeblich sein komplettes Monatseinkommen auf den Kopf gehauen hat.
Ich starre auf die digitale Nummernanzeige an der Wand. Vielleicht sollte ich mir eine Gesprächsstrategie zurechtzulegen. Ja, das wäre sehr klug! Manchmal purzeln mir die Wörter nämlich einfach so aus dem Mund, und das wäre in diesem Fall gar nicht gut. Ich muss den Sachbearbeiter unbedingt davon überzeugen, dass mehr in mir steckt, als Currywurst-Pommes zu verkaufen!
Die Nummernanzeige springt weiter, ich bin dran. Endlich! Den aufgerollten Mantel unter den Arm geklemmt stöckle ich auf eine Bürotür zu, neben der ein grünes Lämpchen blinkt. Unter dem Lämpchen befindet sich ein Schild mit der Aufschrift H. Hartstange, Fallmanagerin.
Eine Frau mit eckiger Brille schaut kurz auf, nickt mir emotionslos zu und zeigt auf den Stuhl, der sich auf der anderen Seite ihres Schreibtisches befindet.
Mit dem strahlenden Lächeln einer Lottogewinnerin stürme ich auf sie zu und schüttle ihr euphorisch die Hand. „Einen schönen guten Tag, liebe Frau Hartstange, ich bin Jessica Schulz und ich hätte gerne einen gutbezahlten Job!“ Der Mantel rutscht aus meiner Armbeuge, er entrollt sich und landet auf dem Fußboden.
Die Sachbearbeiterin macht mitsamt ihrem Schreibtischstuhl einen erschreckten Hüpfer rückwärts. Offenbar ist sie freundliche Begrüßungen nicht gewohnt.
Frohgemut fahre ich fort: „Ich habe Abitur, zwar kein besonders gutes, aber immerhin! Ich bin handwerklich begabt und ich kann gut malen und nähen ...“
„Stopp!“ Sie hebt eine Hand und schaut ziemlich genervt drein. „Setzen Sie sich!“
Ich schlucke den Rest des Satzes runter, schenke ihr ein sonniges Lächeln und bücke ich mich, um den Mantel vom Fußboden aufzuheben. Plötzlich kracht es. Das untrügliche Geräusch einer platzenden Naht. Ich schaue an mir hinab und entdecke ein klaffendes Loch mit unschön ausgefransten Rändern von meinem rechten Hüftknochen abwärts. Na toll, so viel zum Thema hoher Stretchanteil.
Ich stakse zum Stuhl und drapiere den Mantel geschickt über der aufgeplatzten Naht. Der Schreibtisch steht wie ein Bollwerk zwischen uns. Flüchtig geht mir durch den Kopf, wie viele verzweifelte Personen wohl schon auf diesem Platz gesessen haben mögen.
„Haben Sie Ihren Ausweis dabei?“
„Leider nicht. Ich konnte auf die Schnelle mein Portemonnaie nicht finden.“
Frau Hartstange guckt mich mit ausdrucksloser Miene an, fragt mich nach meinem Geburtstag und wendet sich dem Computer zu. Sie tippt stumm auf der Tastatur herum, ihre Schneidezähne bohren sich in ihre Unterlippe.
Mannomann, sie macht es aber ganz schön spannend! Ich falte meine Hände im Schoß und falte sie wieder auseinander.
Schließlich schwenkt sie auf ihrem Stuhl herum. „Sie haben weder eine Berufsausbildung noch ein abgeschlossenes Studium“, stellt sie fest und ich meine, einen Vorwurf in ihrer Stimme zu hören.
„Ich habe Axel geholfen. Äh, er war mein Freund, also, genau gesagt ist er mein Ex-Freund“, plappere ich. „Er ist Möbeltischler, er baut richtig schicke Möbel, und er hat sich selbständig gemacht. Ich habe ihm geholfen.“ Ich rede mal wieder viel zu viel und viel zu schnell.
„Das sagten Sie bereits.“ Sie rückt ihre Brille zurecht.
Ihr Blick macht mich nervös. Nein, es ist nicht nur ihr Blick, es sind auch ihre Zähne. Sie hat ein Pferdegebiss. Ich komme mir vor wie das arme Rotkäppchen. Großmutter, warum hast du so große Augen? Und warum hast du so große Zähne ...
Ich verscheuche den Gedanken an den bösen Wolf und konzentriere mich auf mein Gegenüber. „In der Möbeltischlerei war ich Mädchen für alles. Ich habe den Schriftverkehr und den anderen Papierkram gemacht. Sie wissen schon, die Belege für die Steuer abheften, Angebote, Briefe und Rechnungen schreiben und so weiter.“
Frau Hartstange rückt ihre Brille zurecht, und weil sie mich nicht ausbremst, fahre ich fort: „Ich kann sehr schnell tippen, das habe ich mir selber beigebracht. Und die anderen Sachen auch. Ich kann gut aus Büchern lernen, wissen Sie, und außerdem lässt sich ja alles Mögliche im Internet finden. Am liebsten war ich in der Werkstatt, ich bin nämlich handwerklich geschickt, müssen Sie wissen. Ach, und natürlich habe ich mich total gerne mit den Kunden unterhalten ...“
„Sie meinen, Sie haben sich auch um die Akquise gekümmert“, schaltet sie sich ein.
Ich hebe die Schultern. „So kann man das natürlich auch nennen.“
„Sie hätten wenigstens eine Berufsausbildung machen müssen, dann hätten Sie jetzt etwas vorzuweisen! Haben Sie sich denn gar keine Gedanken um Ihre eigene Zukunft gemacht?“, fragt sie in tadelndem Ton.
„Ich habe das erste Mal über Zukunft nachgedacht, als es mit Axel aus war“, gestehe ich.
„Hilfskraft“, murmelt sie, tippt erneut auf die Tastatur ein, bewegt die Maus und studiert den Bildschirm. „Ah ja, hier, ich hab was in der Produktion für Sie! In der Gumminippelfabrik suchen sie Leute für die Nachtschicht.“
„Nachts kann ich nicht arbeiten, das krieg ich nicht hin“, erkläre ich. „Ich würde stumpf am Fließband einschlafen.“
„Tja, dann eben nicht“, schnappt sie.
Bestimmt denkt sie jetzt, dass das nur eine Ausrede ist. „Ich kann nicht mal eine ganze Nacht durchfeiern!“, rechtfertige ich mich. „Spätestens um drei Uhr werde ich so müde, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten kann.“ Ich bin nun mal kein Nachtmensch, dafür aber begeisterte Frühaufsteherin.
Sie richtet den Blick erneut auf den Bildschirm und klickt auf die Maus.
„Was haben Sie denn sonst noch für freie Stellen?“, erkundige ich mich hoffnungsvoll.
„In der Tagschicht hätte ich was in der Geflügelverarbeitung. Wie wäre das?“ Sie guckt mich teilnahmslos durch ihre Brillengläser an.
Ich spüre, wie mir der Schweiß ausbricht. „Sie meinen, ich soll die Innereien aus toten Hühnern herausnehmen?“
„Das ist Akkordarbeit, da bekommen Sie den Grundlohn plus Zulage.“
„Nein! Ich kann nicht in einer Hühnerfabrik arbeiten!“, rufe ich entsetzt. „Davon kriege ich Alpträume!“
„Tja, dann tut’s mir leid. Mehr habe ich nicht für Sie.“ Sie schwingt in ihrem Sessel herum und wirft als Zeichen, dass sie das Gespräch für beendet hält, einen Blick zur Uhr.
Meine Finger umklammern die Kanten des Stuhls. „Gibt es denn wirklich gar keinen anderen Job für mich als in einem Imbisswagen, in der Nachtschicht oder in einer Hühnerschlachterei?“, flehe ich.
Sie erhebt sich von ihrem Schreibtischsessel, geht zur Tür und öffnet sie weit. „Nach den Sommerferien beginnt bei einem unserer Bildungsträger ein neuer Ausbildungslehrgang zur Altenpflegehelferin. Sie können sich ab April dafür bewerben, wenn Sie möchten.“
Ich stoße mich von den Stuhlkanten ab und stakse in den mörderisch engen Schuhen aus dem Raum. Meine Füße sind auf das Doppelte angeschwollen. Was für ein Hohn, dass ich mich extra für dieses Gespräch so schick gemacht habe!
Ich atme tief durch, was dank der aufgeplatzten Naht jetzt kein Problem mehr ist. Ich werde mir den Tag von niemandem verderben lassen, erst recht nicht von der miesepetrigen Frau Hartstange!
Ein eisiger Windstoß fegt unter den Kaschmirmantel, als ich aus der Drehtür nach draußen trete. Es ist Anfang Februar, die Temperaturen liegen knapp überm Gefrierpunkt. Schwere, graue Wolken bedecken den Himmel, vereinzelte Schneeflocken tanzen durch die Luft. Die Straßenbäume sind kahl, ihre Stämme dunkel vor Nässe. Sie wirken wie eine Reihe müder Soldaten.
Emma wohnt ganz in der Nähe. Ich würde sie jetzt liebend gerne besuchen, neben ihr auf dem schmalen Bett hocken, ihren gesunden Tee schlürfen und ihr von Frau Hartstange erzählen. Aber Emma hat heute den Vorstellungstermin bei diesem angesagten Anwalt. Seit Tagen macht sie sich deswegen total verrückt. Sie könnte die Angelegenheit sehr viel entspannter angehen, finde ich. Was soll ihr schon groß passieren? Sie hat die besten Qualifikationen und macht einen sehr sympathischen Eindruck. Sollte der Termin heute tatsächlich in die Hose gehen, macht das gar nichts. Dann bleibt sie halt noch ein kleines Weilchen bei Breitarsch und bewirbt sich bei einem anderen Anwalt. Ich drücke ihr auf alle Fälle ganz doll die Daumen, dass es klappt mit dem neuen Job. Emma soll alles bekommen, was sie sich wünscht, und noch eine ordentliche Schippe obendrauf!
Sie wird vermutlich schon zu ihrem Vorstellungstermin unterwegs sein. Emma gehört zu den Menschen, die lieber eine Stunde zu früh als eine Minute zu spät zu einer Verabredung kommen.
Ich halte den Mantelkragen mit einer Hand unterm Kinn zu, stemme mich gegen den Wind und steuere die Bushaltestelle an. Die Leute an der Haltestelle stehen dicht gedrängt im schützenden Wartehäuschen. Sie schauen mürrisch drein, ich entdecke kein einziges fröhliches Gesicht. Ich verstehe das nicht! Es will mir nicht in den Kopf, warum die meisten Menschen mit Leichenbittermienen herumlaufen, selbst wenn sie gar keinen Grund zum Traurigsein haben.
„Schönen guten Tag!“, rufe ich vergnügt in die Runde und ernte überraschte und befremdliche Blicke. Ein paar Mienen erhellen sich, mein Gruß wird erwidert. Na also, geht doch.
„Recht haben Sie“, sagt ein älterer Herr zu mir. „Wir sollten glücklich und zufrieden sein, so lange wir noch nicht unter der Erde liegen.“
Ich nicke ihm lächelnd zu und er erzählt mir, dass er seine Enkeltochter besuchen will. Sie hat gerade ihr zweites Kind bekommen.
„Dann sind Sie ja schon Urgroßvater!“, staune ich und er strahlt mich stolz an.
Und plötzlich staune ich noch mehr: Eine vertraute Gestalt nähert sich im Laufschritt, sie bemüht sich, ihren modischen Pagenkopf mit einem Regenschirm vor dem Wetter zu schützen.
„Hallo Emma!“, rufe ich begeistert.
„Hi Jessica!“ Sie schlüpft geschwind unter das schützende Dach und klappt den Regenschirm zu. Ihre Augenlider flattern wie sonst was, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie gerade voll im Stressmodus ist.
„Was machst du denn hier? Und wieso hast du diese Klamotten an?“, rätselt sie. „Ach, stimmt, du warst ja bei der Agentur für Arbeit, jetzt fällt’s mir wieder ein. Himmel, ich bin total durcheinander.“
Sie ist wie immer perfekt gekleidet. Ihre Füße stecken ebenfalls in feinen Pumps und ihr Mantel ist mindestens so schick wie meiner, beziehungsweise Yvonnes. Mit ihrer Aktentasche aus echtem braunen Leder sieht sie aus wie Mrs Business höchstpersönlich.
„Mein Auto ist nicht angesprungen“, stößt sie hervor. „Kannst du dir das vorstellen? Gerade heute, an diesem wichtigen Tag, streikt mein Auto! Und dann ruf ich bei der Taxizentrale an und was sagen die? Sie können mir in vierzig Minuten einen Wagen schicken. In vierzig Minuten! Hallo? Jetzt fehlt nur noch, dass der Bus nicht fährt! Die ganze Welt hat sich heute gegen mich verschworen!“ Ihr herzförmiger Mund verzieht sich zu einem umgedrehten U.
„Der Bus fährt pünktlich und deinen Termin schaffst du locker“, will ich sie beruhigen.
„Schön wär’s“, entgegnet sie muffelig und schaut mich verzeihungsheischend an. „Sorry, Jessy, jetzt kriegst du meinen ganzen Frust ab.“ Sie atmet tief durch, aber ihre Augenlider flattern weiterhin.
„Das ist echt eine super Chance für mich, und die will ich mir nicht entgehen lassen!“ Sie drückt die Aktentasche fester an ihre Hüfte. „Wenn alles glattgeht, verdiene ich bei Herzog einen ganzen Batzen mehr als bei Breit ...“ Sie unterbricht sich und wirft einen flüchtigen Blick auf die umstehenden Leute. „Na, du weißt schon.“
„Das wäre wirklich toll“, sage ich und spüre auf einmal einen Hauch Neid in mir aufsteigen. Ich fege ihn schnell weg und bete, dass meine Tage in Schuberts Imbisswagen gezählt sein mögen. Wie gerne hätte ich auch so einen Job wie Emma!
Der Bus kommt und öffnet zischend seine Türen. Die Leute strömen aus dem Wartehäuschen. Der Schnee fällt jetzt in dicken Flocken vom Himmel, er legt sich wie feine Wattebäusche auf die Mützen und Regenschirme.
Ich hocke mich auf einen Platz am Fenster. Die Scheibe ist von innen beschlagen und von außen nass vom Schnee. Es ist unmöglich, durch sie hindurchzusehen.
Emma lässt sich auf den Nachbarsitz fallen und hängt ihren Schirm an die Rückenlehne. „Hat Yvonne dich zu den Klamotten genötigt? Das sieht ihr ähnlich! Warum lässt sie dich nicht einfach der bunte Paradiesvogel sein, der du bist?“
„Sie hat’s gut gemeint“, nehme ich meine Schwester in Schutz. „Sie ist überzeugt davon, dass man nur erfolgreich sein kann, wenn man auch so aussieht.“
Emma gibt ein abfälliges Schnauben von sich. „Pah, so ein Unsinn! Jessica, du bist erfolgreich, wann schnallst du das endlich?“
„Du scheinst mich mit jemandem zu verwechseln“, entgegne ich und schwenke meine Hand dicht vor ihren Augen. „HALLO, ich bin’s! Jessica Schulz, neunundzwanzig, Aushilfe im Schmierimbiss und wohnhaft im Gästezimmer ihrer Schwester.“
„Du bist eine Künstlerin, Jessica!“, sagt sie. „Du drückst deine Gefühle in Bildern aus. Das ist eine ganz besondere Gabe.“
„Du siehst das so“, murmele ich. „Für den Rest der Welt bin ich eine Niete.“
Sie fasst nach meiner Hand. „Du bist genau richtig, so wie du bist. Deine bunten Klamotten sind toll, lass dir die bloß nicht ausreden! Ich bewundere dich, weißt du das eigentlich?“
„Wieso das denn?“, frage ich erstaunt.
Sie hebt ihre Hand und zählt an den Fingern ab. „Du denkst positiv und du bist fast immer gut gelaunt. Auf dich ist Verlass und du hast immer ein offenes Ohr für deine Mitmenschen.“ Sie drückt mir einen Schmatzer auf die Wange. „Du bist meine allerallerbeste Freundin.“ Sie bricht ab, ihre schmalen Augenbrauen schieben sich zusammen. „Mein bescheuerter Bruder ist Schuld! Er hat nicht nur eure Beziehung, sondern auch dein Selbstwertgefühl kaputt gemacht“, knurrt sie.
Emma und Axel sind normalerweise ein Herz und eine Seele. Aber seit der Sache mit Angelina hat er bei ihr schlechte Karten.
Ich setze ein schiefes Grinsen auf und hebe die Schultern. „Ich fürchte, mein Selbstwert war noch nie besonders ausgeprägt. Sonst hätte ich mich nicht jahrelang vor Axels Karren gespannt.“
„Du bist zu gut für diese Welt“, meint sie entschieden.
„Oder zu blöd.“ Ich gebe ein leises Seufzen von mir.
Hätte ich mir in der Schule doch nur mehr Mühe gegeben! Ich habe mein Abi nur mit Hängen und Würgen geschafft und selbst wenn mir Axel und seine geplante Möbeltischlerei nicht über den Weg gelaufen wären, hätten sich die Ausbildungsbetriebe vermutlich nicht gerade um mich gerissen.
Meine Schwester Yvonne ist der ganze Stolz meiner Eltern. Sie hat ein Abitur von eins Komma zwei hingelegt, ist eine Sportskanone und schart einen Haufen schlauer Freunde um sich. Mit einer Schwester wie Yvonne kann man eigentlich nur den Kürzeren ziehen.
Plötzlich schießt Emma wie eine Rakete in die Höhe. „Ich hab das Passfoto vergessen!“, kreischt sie. „Verdammt, das gibt’s doch nicht! Wie blöd bin ich eigentlich?“ Sie macht die Aktentasche auf, zieht einige in Folien verpackte Zeugnisse heraus und blättert sie rasch durch.
Mein Blick streift die Dokumente, sie weisen ausnahmslos gute Noten auf.
Aufstöhnend fällt sie zurück in den Sitz. „Ich habe extra ein neues Porträtfoto machen lassen. Und was mache ich doofe Kuh? Lasse es zu Hause liegen, anstatt es an den Lebenslauf zu heften!“
„Das macht gar nichts!“, rede ich ihr gut zu. „Du kreuzt da doch gleich sowieso persönlich bei diesem Anwalt auf, da ist ein Foto total unnötig und überflüssig.“
Emma schüttelt den Kopf. „Das verstehst du nicht, Jessica.“
Aha. Wie war das noch gleich mit der Niete?
„Meine Unterlagen sind unvollständig. Man geht nicht mit unvollständigen Unterlagen zu einem Vorstellungsgespräch, das macht man einfach nicht!“, belehrt sie mich. „Großer Gott! Wie soll ich Herrn Herzog das nur erklären?“
„Was gibt’s da zu erklären?“, rätsele ich. „Du sagst das einfach so, wie’s ist: Du hast das Foto zu Hause vergessen.“
Auf einmal erscheint ein Lächeln in ihrem eben noch verzweifelten Gesicht. „Weißt du, was ich an dir am allermeisten liebe, Jessy?“, fragt sie sanft und liefert die Antwort gleich mit. „Dass du immer ehrlich bist! Du lügst nie! Auf dein Wort kann man sich immer hundertprozentig verlassen.“
„Nun ja, ich bin eine grottenschlechte Lügnerin. Deswegen lass ich es lieber von vornherein bleiben.“
Sie lacht und dabei entblößt sie ihre schönen weißen Zähne. Sorgfältig legt sie die Zeugnisse zurück in die Aktentasche, klappt sie zu und stellt sie auf den Boden.
„Ich werde hingehen“, beschließt sie und schiebt trotzig das Kinn vor. „Vielleicht habe ich ja auch ohne Foto eine Chance.“
„Ich habe heute leider kein Foto für dich“, ahme ich nahezu perfekt Heidi Klum nach.
Emma kichert und ich stimme mit ein. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, mit dem man so herrlich lachen kann, wie mit meiner allerbesten Lieblingsfreundin.
***
Emmas Beschreibung nach liegt die Kanzlei in der Fußgängerzone, mit rückwärtigem Blick auf den Fluss. Eine Top-Adresse. Der Bus steuert die Station „Burgstraße“ an und Emma macht sich bereit zum Aussteigen.