Film ab für die Liebe - Karin Köster - E-Book

Film ab für die Liebe E-Book

Karin Köster

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Kathi ist im siebten Himmel. Sie hat einen Job in der Fernsehproduktion ergattert und bekommt ihren ersten Auftrag. Für die Doku-Soap "Bauernhochzeit" soll sie das Brautpaar Cindy und Patrick mit der Kamera bei den Hochzeitsvorbereitungen begleiten. Doch am Set erwartet sie eine böse Überraschung: Bräutigam Patrick ist Kathis erste große Liebe! Sie hat die Erinnerung an den gutaussehenden Tierarzt viele Jahre mühsam verdrängt. Plötzlich ist es, als hätte sie erst gestern in seinen Armen gelegen. Die Dreharbeiten laufen aus dem Ruder, und daran sind nicht nur Patricks tiefblaue Augen Schuld. Kathi ist fest entschlossen, die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu ignorieren und ihre Bewährungsprobe im Fernseh-Business wie ein Profi zu meistern. Ein geheimnisvoller Brief, ein missglückter Liebesbeweis und ein in Not geratener alter Freund stürzen Kathi in ein Netz aus Lügen und Intrigen. Auf der Suche nach der Wahrheit setzt sie nicht nur ihren Job, sondern auch ihr Herz aufs Spiel.

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Seitenzahl: 342

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Ein aufregendes Abenteuer

Am frühen Samstagmorgen reißt mich Joe Cockers Reibeisen-Stimme aus dem Tiefschlaf. Ich taste nach dem Handy und entdecke den Namen ROBERT STOLZE auf dem Display. Huch, mein Chef!? In den gesamten sieben Wochen, die ich als Assistentin für seine Fernsehproduktionsfirma Golden Gloria arbeite, hat er mich noch kein einziges Mal angerufen.

Ich reibe mir die Augen, um sicherzugehen, dass ich nicht träume, räuspere mich und atme tief ein. „Katharina Spatz?“ Uh, meine Stimme hört sich schrecklich verschlafen an!

„Pack Klamotten für zwei Tage ein“, schallt es aus dem Hörer. „Wir drehen eine Folge 'Bauernhochzeit' und du darfst mit zum Set kommen.“

Mit einem Schlag bin ich hellwach. „Ich darf ... Das ist ja großartig! Unglaublich!“ Ich krieg mich gar nicht wieder ein. Bislang habe ich meine Arbeitstage mit Kaffeekochen verbracht und durfte im muffigen Archiv Akten sortieren. Ein richtiges Set kenne ich allenfalls vom Hörensagen.

„Ich hab den Auftrag gerade eben bekommen“, jubelt er. „Ist verdammt kurzfristig, aber ne tolle Chance, wieder ins Doku-Soap-Geschäft einzusteigen.“

Robert und seine Frau Olivia haben Golden Gloria erst vor ein paar Monaten gegründet, nachdem Roberts vorherige Firma Proudly pleite gegangen ist. Ich muss mir mit Olivia das Büro teilen und habe sie wohl schon dreihundert Mal prahlen hören, dass sie ihren Mann aus dem Schlamassel gezogen hat: Mit ihrer selbstlosen Courage, ihrem fundierten Fachwissen und dem Geld ihrer Mutter.

„Ich beeile mich“, rufe ich, hopse aus dem Bett und stoße mir prompt den großen Zeh am Kleiderschrank.

Mein Zimmer ist eigentlich eine Abstellkammer. Die dazugehörige Wohnung gehört Jana, ihre Eltern haben sie ihr geschenkt. Jana studiert Jura und als Gegenleistung für das Dach überm Kopf frage ich sie aus ihren Büchern ab.

Bis vor Kurzem verlief mein beruflicher Werdegang in Schlangenlinien. Ich konnte mich irgendwie für keinen Job so richtig begeistern. Nach dem Abi habe ich Kulturwissenschaften studiert und anschließend wusste ich nicht, was ich damit anfangen sollte. Es gibt tausend Möglichkeiten, wie soll man sich da entscheiden? Ich machte ein Praktikum im historischen Museum (langweilig), bei der Tageszeitung (auch nicht viel besser) und im Kulturdezernat der Stadt (grässlicher Laden), und weil ich danach immer noch keinen Plan hatte, hängte ich ein freiwilliges Jahr bei den Kunstgenossen dran.

Eines Sonntags, als Jana und ich in Jogginghosen und mit einer Familienpackung Schokoladeneis auf dem Schoß vor der Glotze abhingen, kam mir die Idee, Fernsehproduzentin zu werden. Ich will Gutes in die Welt bringen, ich will etwas bewirken, und da bin ich beim Fernsehen genau richtig. Eine einzige Sendung kann das Leben von Millionen Menschen verändern, ist das nicht großartig? Sehr viele junge Leute wollen zum Fernsehen und so grenzte es an ein Wunder, dass ich den Job als Assistentin bei Golden Gloria bekam.

Ich humple ins Bad, dusche und fasse meine nassen braunen Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann schlüpfe ich schnell in Jeans und Shirt und fahnde im Durcheinander unterm Bett nach meiner alten Sporttasche. Sie ist unter einer Staubschicht vergraben. Jana taucht im Türrahmen auf, sie ist in einen flauschigen Bademantel gehüllt und hält eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand.

Ich berichte ihr euphorisch von meinem Aufstieg in die Produktionsriege.

„Doku-Soap?“ Sie schaut mich erstaunt an. „Ich dachte, euer Laden macht Image-Filme für Unternehmen.“

Ich schüttle die Staubflusen aus der Tasche und werfe ein paar Klamotten hinein. „Das stimmt, aber in Stolzes ehemaliger Firma haben sie Doku-Soaps gemacht. Robert freut sich total, dass wir jetzt wieder bei Super Alpha TV im Geschäft sind!“

Kathis dicker gelber Kater Emil stolziert ins Zimmer und schnurrt mir um die Beine.

„Doku-Soap ist der letzte Mist“, verkündet sie und ich seufze auf. Jana hat so ziemlich an allem etwas auszusetzen.

„Da werden arme Leute ausgenutzt!“

Ich setze Emil aufs Bett und flitze rüber ins Bad, um meine Zahnbürste, Duschbad und Deo zu holen.

„Ich hab im Internet Videos von Betroffenen gesehen. Die solltest du dir angucken, dann weißt du, was da abgeht“, ruft sie mir hinterher.

Ich sause zurück in mein Zimmer. „Das mag ja vielleicht in Einzelfällen vorkommen, aber in der 'Bauernhochzeit' ganz sicher nicht.“ Ich lege die Toilettenartikel in die Tasche und mühe mich mit dem klemmenden Reißverschluss ab. „Darin geht es um ein verliebtes Paar vom Lande, das bald heiraten will.“

Jana schlägt sich die Hand vor die Stirn. „Die Sendung kenn ich doch, die läuft neuerdings freitagabends! Die machen Clowns aus dem Hochzeitspaar und verarschen sie vor der Kamera nach Strich und Faden.“

Ich zwinge mich zu Nachsicht und Geduld. „Aber doch nicht in unserer Produktion! Das Publikum wird zu Tränen gerührt sein.“ Der Zipper bleibt auf halber Strecke stecken, zwei Zähne des Reißverschlusses springen mir entgegen und landen auf dem Fußboden. Upps!

„Zu Tränen des Mitleids vielleicht. Katharina, du solltest die Finger davon lassen. Du machst dich unglücklich.“

Manchmal geht mir Jana echt auf den Senkel. Immer sucht sie nach dem Haar in der Suppe. Oder gönnt sie mir meinen Erfolg etwa nicht? Ich werfe ihr einen forschenden Blick zu, sehe echte Besorgnis in ihren Augen, und schäme mich für meine fiesen Gedanken.

„Du kennst dich gut mit Pferden aus, aber was Menschen angeht, bist du ziemlich ahnungslos“, behauptet sie.

Ich zucke zusammen. Warum muss sie mich ausgerechnet jetzt an Gustavs Pferdehof und meinen geliebten Hercules erinnern? Seit meinem Weggang vor sechs Jahren bemühe ich mich, die Erinnerungen an mein Heimatdorf zu verdrängen.

Mein Blick wandert zum Fenster. Ich wünschte, die Welt dahinter wäre erfüllt vom Gesang der Vögel und dem leisen Plätschern des Mühlbaches. Ich würde mich an den Rand der Koppel setzen und den Pferden beim Grasen zuschauen. Doch hinter meinem Fenster tobt das Stadtleben auf Asphalt und in Betonklötzen. Die unentwegte Geschäftigkeit zu vieler Menschen auf zu engem Raum.

Ich verscheuche die trüben Gedanken. Heute ist der Tag der Tage! Golden Gloria rückt zu einer Fernsehproduktion aus und ich bin dabei! Ein aufregendes Abenteuer wartet auf mich.

„Ich muss los“, sage ich und ergreife die beiden Henkel der Tasche. Zack reißt einer ab. Ich klemme mir die Tasche unter den Arm und wir gehen nebeneinander über den Flur zur Wohnungstür.

„Sorry, ich hab dich noch gar nicht gefragt, wie dein erstes Date mit Alexander war.“ Alexander ist ebenfalls Jurastudent, und Jana ist seit Monaten in ihn verknallt.

Ein verträumtes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. „Wir hatten ein total romantisches Candlelight-Dinner im Schlossgarten“, schwärmt sie. „Alexander wird die Kanzlei seines Vaters übernehmen.“ Eine steile Falte teilt ihre Stirn in zwei Hälften. „Irgendwie ist das mit ihm zu schön, um wahr zu sein.“

„Du erzählst mir alles haarklein, wenn ich wieder da bin, okay?“

„Mädelsabend?“ Sie hält mir die Hand hin. Jana hat’s nicht so mit Umarmungen.

„Ich freu mich drauf“, entgegne ich und schlage ein. Auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. „Jana?“

Sie zieht eine Augenbraue hoch.

„Genieß das mit Alexander! Wenn’s zu schön ist, um wahr zu sein, dann könnte es Liebe sein.“ Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Dann drehe mich um und springe die Treppenstufen hinunter.

***

Vorm Bürogebäude steht ein VW-Bulli, der seine besten Jahre lange hinter sich hat. Grünspan hat sich in die ehemals weiße Lackierung hineingefressen, von der Fahrzeugbeschriftung sind nur noch die Buchstaben P und o übrig. Die mit Rostpickeln gespickte Heckklappe steht offen, mein Chef verstaut Gegenstände auf der Ladefläche.

Er trägt helle Stoffhosen, Slipper und ein Polohemd mit dezentem Emblem. Wie immer ist er makellos rasiert und duftet nach einem teuren Aftershave. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Robert Stolze jemals in schlabberiger Jogginghose und ausgeleiertem Shirt auf der Couch abhängt. Und Beauty-Queen Olivia Stolze erst recht nicht.

Er übergibt mir einen Computerausdruck. „Geh rein, häng dich ans Telefon und besorg uns einen Tontechniker. Nen Kameramann hab ich schon. Du hast zwanzig Minuten.“

Augenblicke später hocke ich auf meinem Bürostuhl und telefoniere mir einen Wolf. Kein Tontechniker, der auch nur ansatzweise was von seinem Handwerk versteht, sei so kurzfristig zu haben, kriege ich zu hören. Ein paarmal bekomme ich nur schallendes Gelächter zur Antwort.

In Minute 17 habe ich Sören Sündermann am Apparat. Im Hintergrund sind hämmernde und krachende Geräusche zu hören, vermutlich wird dort gerade renoviert. Ich sage meinen Vers auf und als ich ende, fängt Sören an zu heulen. Ein dumpfer Knall ertönt, dann das schadenfrohe Gelächter einer Frau.

„Bitte, nein, Ela-Mäuschen, mach nicht auch noch meinen Porzellan-Nikolaus kaputt!“, jammert er. „Das ist ein Erbstück von meiner Oma!“

Und klirr!

Sören jault auf. „Der schöne, schöne Nikolaus.“

„Hau ab, verschwinde aus meiner Wohnung!“, kreischt die Frau, bei der es sich vermutlich um Ela-Mäuschen handelt. „Jetzt sofort! Sonst ruf ich die Polizei und erzähl denen, dass du mich vergewaltigt hast!“

„Aber ... Um Gottes willen, du weißt doch, dass ich sowas niemals machen würde!“

Minute 19. „HALLO???“, rufe ich in den Hörer.

„Raus hier! Und wehe, du lässt dich nochmal bei mir blicken!“

„Herr Sündermann?!“, schreie ich. „Sie haben einen Job!“

„Okay“, jault er.

„Wir holen Sie ab, warten Sie draußen vor der Tür, wir sind gleich da!“ Ich werfe den Hörer hin, stürme nach draußen und treffe auf einen bärtigen Typ in Ernie-und-Bert-T-Shirt und Biker-Kutte.

Er hebt einen Finger zum Gruß. „Hi, ich bin Benno.“

Robert wirft die hintere Klappe zu. „So, Herr Schütz, wir haben alles gut verstaut, steigen Sie ein.“ Und an mich gewandt: „Was ist mit dem Ton?“

„Alles paletti“, sage ich und komme mir ungeheuer professionell vor.

„Du fährst“, befiehlt er und geht zur Beifahrertür.

Schlagartig habe ich einen Knoten im Magen, mein Mund ist staubtrocken.

„Tut mir leid, das geht nicht“, stammele ich.

„Hast du etwa keinen Führerschein?“

„Doch. Aber ich fahre kein Auto mehr, seit ich damals diesen Unfall hatte.“ Die Erinnerung jagt mir einen eiskalten Schauer über die Haut. Ich hatte gerade mal zwei Wochen den Führerschein, als mir ein dunkler Wagen die Vorfahrt nahm. Ich trat voll auf die Bremse, kam ins Schleudern, rammte einen Blumenkübel und überfuhr ein herrenloses Dreirad. Die Vorstellung, dass auf dem Dreirad ein kleines Kind gesessen haben könnte, ließ mich nicht wieder los. Seit dem Unfall habe ich mich ein paarmal versuchsweise auf einen Fahrersitz gesetzt und sofort eine Panikattacke bekommen.

Roberts Handy klingelt. „Ja, mein Schatz?“ Er umrundet den Wagen, klemmt sich hinters Steuer und wirft die Fahrertür zu. Ich entere den Beifahrersitz und Benno krabbelt auf die Rückbank.

„Mach dir keine Gedanken, wir kommen prima ohne dich zurecht“, trällert er.

Am anderen Ende bricht ein Redeschwall los, Robert zieht den Kopf ein.

„So hab ich das nicht gemeint. Natürlich wär’s besser, wenn du dabei wärst.“

Eine erneute Schimpftirade. Obwohl er den Hörer ans Ohr presst, schnappe ich die Wörter „Vollidiot“, „Pleite“ und „Greenhorn“ auf. Jede Wette, dass mit „Greenhorn“ ich gemeint bin.

„Bis übermorgen, mein Schatz. Viel Spaß mit deiner Mutter, lasst euch schön im Wellnesshotel verwöhnen!“ Er verdreht die Augen, wirft das Handy auf die Mittelkonsole und schmeißt den Bulli an. Der Motor bollert und der Auspuff rotzt eine schwarze Wolke auf den Asphalt.

Robert knallt den Rückwärtsgang rein, wendet und tritt das Gaspedal durch. Sein Mundwinkel verzieht sich zu einem breiten Grinsen, er streckt den Rücken durch und trommelt ausgelassen auf dem Lenkrad herum. „Guck mal ins Handschuhfach, da muss irgendwo ein Navi sein“, trompetet er.

Ich finde ein uraltes No-Name-Gerät, schließe es an den Zigarettenanzünder und tippe Sörens Adresse ein.

„Wir sind in acht Minuten da“, verkünde ich, klemme das Gerät in die Halterung an der Scheibe und fühle mich bereits jetzt als ein wichtiges, unverzichtbares Mitglied der Crew. Gut, dass Robert mich dabei hat! Okay, okay ... er hatte nicht allzu viele Alternativen. Genau genommen gar keine. Seine werte Gattin ist im Wellnesshotel, und ich bin die einzige Mitarbeiterin bei Golden Gloria.

Bennos bärtiges Gesicht taucht neben Roberts Kopfstütze auf. Er fletscht die Zähne wie eine Bulldogge. „Nur damit dir das klar ist, Herr Produzent:“, knurrt er. „Wenn ich meine Kohle nicht kriege, wirst du dir wünschen, deine Mutter hätte dich abgetrieben.“

Mein Chef setzt ein gewinnendes Lächeln auf. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Herr Schütz. Sie bekommen jede Stunde bezahlt“, versichert er.

„Und ich will eine vernünftige Unterkunft und anständige Verpflegung!“

„Kriegen Sie, kriegen Sie!“

„Dann sind wir uns ja einig“, grunzt er und lehnt sich wieder zurück.

„Ich schlage vor, dass wir uns alle duzen“, verkündet Robert über das röhrende Motorengeräusch hinweg. „Das erleichtert die Arbeit am Set.“

„Spitzenidee“, meint Benno lakonisch.

„Gerne“, sage ich feierlich.

Ich erkenne Sören schon von weitem. Ein schlaksiger Typ von gut und gerne zwei Metern mit hängenden Schultern, seidenglatten langen blonden Haaren und Plüsch-Kopfhörern auf den Ohren. Das Metallica-Fan-Shirt schlackert um seinen mageren Körper, dazu trägt er karierte Bermudashorts und Sandalen. Neben ihm auf dem Bürgersteig befinden sich blaue Müllsäcke, Kartons, diverse Taschen, eine zusammengerollte Bettdecke, ein schmiedeeiserner Kerzenständer, eine Yuccapalme und ein Koffer. Man könnte meinen, Sören wäre als Wachtposten für einen Sperrmüllhaufen abgestellt.

„Ist er das?“, fragt Robert zweifelnd und tritt auf die Bremse. Der Wagen ruckelt und wird langsamer. „Was will der denn mit all den Sachen?“

„Seine Freundin hat ihn rausgeworfen.“

Wir halten in zweiter Reihe neben den parkenden Autos, ich reiße die Beifahrertür auf. „Sören?“, brülle ich gegen den Auspufflärm an, winke ihm zu und springe aus dem Wagen.

Er hebt im Zeitlupentempo den Kopf. Seine Augen sind gerötet und seine Wangen tränennass.

„Hi, ich bin Katharina!“, begrüße ich ihn und schnappe mir den Koffer. „Toll, dass du mitkommst. Das bringt dich bestimmt auf andere Gedanken.“

Einen kleinen Karton unterm Arm trottet er hinter mir her. Robert hat die Klappe aufgemacht, ich schiebe den Koffer auf die Ladefläche und sprinte zurück zum Gehsteig.

Robert droht ihm mit dem Zeigefinger. „He! Du nimmst dein Equipment mit und ein paar Klamotten. Der Rest bleibt hier!“ Er zeigt kopfschüttelnd auf das Sammelsurium. „Ich bin Fernsehproduzent und kein Umzugsunternehmer.“

Sören klemmt sich den Karton wieder unter den Arm und dreht sich auf dem Absatz um. „Dann fahr ich nicht mit. Ich lass doch meine guten Sachen nicht einfach hier stehen!“

„Scheiße, verdammt!“ Robert fährt sich mit den Fingern durch die akkurate Frisur. Er beißt die Zähne zusammen und spricht wie ein Bauchredner, ohne die Lippen zu bewegen. „Nun mach schon, her mit dem Krempel!“

Ich werfe zwei pralle Plastiksäcke auf die Ladefläche und nehme mir als Nächstes die Kisten vor. Nach ein paar Minuten ist der Bürgersteig geräumt und der Wagen bis zur Oberkante vollgestopft. Die sperrigen Sachen fahren auf dem Dachgepäckträger mit. Hinter der Heckscheibe klemmt Sörens geblümtes Federbett, im Seitenfenster sind blaue Müllsäcke und der Kerzenständer zu sehen. Unter meinen Füßen befinden sich meine Sporttasche und Sörens Taschen, die Yuccapalme fährt auf dem Rücksitz mit.

„Ein Zigeunerwagen ist nichts dagegen“, murrt Robert.

Beim Einsteigen stößt der lange Sören mit dem Kopf unter den Türrahmen und fängt augenblicklich an zu heulen. „Ich hab nichts als Pech. Mein ganzes Leben ist eine einzige Pechsträhne“, jault er.

„Heilige Scheiße“, stöhnt Benno. „Wo habt ihr den denn her? Aus einer beschützenden Werkstatt?“

Robert programmiert das Navi, wirft die Turbinen an und wir rumpeln durch die Seitenstraßen.

„Vier Stunden Fahrt. Zeit genug fürs Briefing. Benno, da hinten bei euch fliegt irgendwo mein Aktenkoffer rum. Hol das Treatment raus. Katharina, du schreibst mit!“ Er erkämpft sich einen Platz im fließenden Verkehr der Ausfallstraße und hüllt die nachfolgenden Fahrzeuge in eine Rußwolke.

Ich ziehe Stift und Schreibblock aus meiner Tasche, setze mich kerzengerade hin und bin ganz Ohr.

Benno und Sören fahnden im Durcheinander des Gepäcks nach dem Aktenkoffer.

„Was ist das denn überhaupt für’n Job?“, erkundigt sich Sören weinerlich.

„Doku-Soap 'Bauernhochzeit'. Es gibt neun Paare in drei Sendungen“, erklärt Robert. „Zwei Sendungen sind schon gelaufen, die letzte wird am kommenden Freitag gezeigt. Die Zuschauer rufen für ihr Lieblingspaar an. Den Gewinnern zahlt Super Alpha TV die Hochzeitsfeier und die Flitterwochen.“

„Ach so“, murmelt Sören.

„Wir brauchen zwanzig Minuten netto, also gehen wir mal von acht Szenen plus O-Tönen aus“, sagt Robert.

Hä? Was meint er damit? Ich will mir keine Blöße geben und halte den Mund.

„Macht zwei Drehtage, wenn alles glattgeht. Wie wird verkabelt?“, will Benno wissen.

„Offen. Maximal vier Anstecker, den Rest angeln wir.“

Hilfe! Kann das mal bitte jemand für mich übersetzen?

„Und wo?“

„Zwei Locations: Bauernhof, Gutshof. Draußen, drinnen, das Übliche.“ Robert schaltet den Blinker ein und zieht nach links rüber.

„Ich hab jahrelang Doku-Soaps gemacht, aber jetzt hab ich mehr Bock auf Festivals und Konzerte“, erklärt Benno. „Ey, ich hab die Aufzeichnung von den Big Bad Balloons gemacht, da seid ihr platt, was?“

„Echt? Die würd ich gern mal mischen! Das ist mein Lebenstraum!“, ruft Sören. Seine Tränen sind versiegt.

„Dieses Wochenende war ich eigentlich für Rock Revival gebucht, aber das Konzert wurde abgesagt. Glück für euch. Ah, hier ist die Aktentasche!“

„Ich hab Hunger“, mault Sören.

Robert zeigt auf die Stadtbäcker-Tüte zwischen den Vordersitzen, ich reiche sie nach hinten. Unser Tontechniker langt hinein und wählt ein Brötchen mit Kochschinken, Ei und Salat. Benno nimmt eines mit Salami. Sie kauen einträchtig.

„Weiter im Text.“ Robert streift die reinweiße Seite meines Blocks mit einem Seitenblick.

„Uno Momento“, entgegnet Benno mit vollem Mund. Er blättert im Script herum. „Okay. Wir haben ein heiratswilliges Pärchen“, sagt er schmatzend und schluckt den Bissen runter. „Der Bräutigam heißt Patrick, ist Fachtierarzt für Pferde und war in einer renommierten städtischen Klinik beschäftigt.“

Ich zucke zusammen. Das passiert mir immer, wenn ich den Namen Patrick höre, obwohl es hunderttausende Patricks auf der Welt gibt. Eine dumme, unerklärliche Angewohnheit, denn die Sache mit Patrick Volkens aus Mühlbach ist längst Geschichte. Ich denke nie mehr an ihn. Na ja, fast nie.

„Sein älterer Bruder sollte den elterlichen Hof übernehmen, hat sich aber aus dem Staub gemacht. Patrick will die Eltern nicht hängenlassen, hat seinen Beruf an den Nagel gehängt und schaufelt jetzt Scheiße, obwohl er eigentlich zu Höherem berufen ist.“

„So’n Idiot“, kommentiert Robert und Benno kichert zustimmend.

Spinnen die? Wieso machen sie sich über jemanden lustig, der seine Eltern unterstützt? „Er scheint ein verantwortungsbewusster Mann zu sein“, werfe ich ein, aber niemand reagiert auf meinen Kommentar.

„Seine Zukünftige ist ein blondes Dummchen namens Cindy, die sich einbildet, singen zu können. Daddy hat ihr die Gesangsausbildung bezahlt.“

Ein Mädchen namens Cindy gibt's in Mühlbach auch. Zumindest gab es sie vor sechs Jahren, ich weiß nicht, ob sie immer noch dort wohnt. Mit Cindy aus Mühlbach verbinde ich wenige schöne und sehr viele unschöne Erinnerungen.

„Cindy singt bei Dorffesten, weil Daddy der Bürgermeister ist, aber kein Mensch mit intaktem Gehör würde sie jemals buchen, nicht mal gratis. Sie gibt vor, noch Jungfrau zu sein. Angeblich hat sie jahrelang auf den Scheißeschaufler gewartet und sich für ihn aufgespart. Das nenn ich wahre Liebe!“ Er gluckst vor Lachen.

„Wie alt ist das Mädchen? Zehn?“, erkundigt sich Robert gackernd.

Hallo? Es mag zwar altmodisch sein, aber umso romantischer, wenn diese Cindy tatsächlich schon seit Jahren in ihren Patrick verliebt ist und keinen anderen Mann haben wollte.

„Cindy und ihr Daddy haben gute Karten bei der angehenden Schwiegermutter. Die ist ein Moralapostel und macht auf heile Familie. Sie will den Hof vergrößern, damit sie die mächtigste Bauernfamilie weit und breit sind. Lüder, der Vater, ist ein Arbeitstier, der kriegt die Zähne nur zum Essen auseinander.“

„Herrlich!“ Robert haut mit der flachen Hand aufs Lenkrad.

Ein seltsames, ungutes Gefühl steigt in mir auf. „Lüder?“, hauche ich. „Der Vater des Bräutigams heißt Lüder?“ Das unheilvolle Gefühl frisst sich durch meine Eingeweide und legt sich wie ein Stein in meinen Magen.

„Ne Nervensäge und ’n Vollpfosten. Solche Eltern wünscht sich jeder Sohn!“ Benno krümmt sich vor Lachen.

Mein Bleistift fliegt übers Papier, ich bemühe mich, jedes Wort mitzuschreiben. Das erste Briefing meines Lebens ist eine verwirrende Angelegenheit.

„Cindys Daddy Horst ist der Bürgermeister des Dorfs und leitet die Sparkasse im nächsten größeren Ort. Ein geldgieriger Typ, der seiner Tochter Zucker in den Arsch bläst.“

Das ungute Gefühl wird zu einer schlimmen Ahnung, die sich bitte, bitte nicht bewahrheiten darf. Ich atme tief durch. Es gibt ständig Zufälle, versuche ich mich zu beruhigen, das ganze Leben ist eine Aneinanderreihung von Zufällen.

„Er baut gegenüber seinem eigenen Grundstück ein Haus für Töchterchen und Schwiegersohn, dann hat er die beiden gut im Blick, und Töchterchen muss nicht auf einem stinkenden Bauernhof wohnen“, fährt Benno fort.

„Mein Vater gratuliert mir nicht mal zum Geburtstag“, klagt Sören.

Ich drehe mich zu ihm um. Sein Kinn zittert verdächtig.

„Vielleicht kann er sich die Zahlen nicht merken. Solche Leute soll's geben. Da steckt bestimmt keine böse Absicht dahinter“, sage ich schnell, damit er nicht wieder anfängt zu weinen.

Wir fahren auf die Autobahn, der Bulli ruckelt und spuckt und will nicht so recht auf Touren kommen. Robert zieht vom Beschleunigungsstreifen rüber auf die Fahrspur, hinter uns ertönt ein mehrstimmiges Hupkonzert.

„Scheiße, ey, ist das ne Hitze hier drinnen, da kommt man ja um!“ Benno pellt sich aus seiner Kutte und bleibt in der Grünpflanze hängen. Ein Ast knickt ab.

„He, pass doch auf! Du hast meine Palme kaputt gemacht!“, jammert Sören.

Benno fächelt sich Luft zu. „Hat die Karre Klima?“

Robert verneint, dreht am Lüftungsknopf herum, der Knopf fällt ab und kullert unter die Sitze. Seufzend kurbelt Benno die Scheibe runter, macht sie aber wegen des stinkenden Auspuffqualms gleich wieder zu.

„Bleibt noch Astrid, die Gattin des Bürgermeisters, also Cindys Mutter. Die hockt den lieben langen Tag in ihren vier Wänden und geht nur zu Beerdigungen aus dem Haus.“

Der Stein in meinem Magen verwandelt sich in einen Felsbrocken, mir bricht der Schweiß aus, ich schnappe nach Luft.

„Ein Fall für die Klapse“, kommentiert Robert grinsend.

„Ansonsten haben wir den alten Gutsbesitzer Gustav, der die Hochzeitskutsche fährt, und ...“

„Gustav fährt die Kutsche?!“, stoße ich hervor. Wie alt ist er jetzt? Vierundachtzig. Gustav müsste jetzt vierundachtzig sein.

„... einen Besamungstechniker namens Piedel, der beste Kumpel des entlaufenden Bruders.“

„Heißt der echt Piedel?“, grölt Robert.

Nein, das ist nur sein Spitzname. Sein richtiger Name ist Detlef Pingel.

Patrick, Cindy, Lüder, Horst, Astrid, Gustav und nun auch noch Piedel. Der Schweiß strömt mir den Rücken runter, mir ist speiübel.

„Piedel, der Besamungstechniker. Ey, wie scheiße ist das denn? Huhuhu, ich schmeiß mich weg!“, japst Benno.

„Klingt echt lustig“, meint Sören bemüht gutgelaunt.

Meine Stimme klingt wie ein Roboter. „Wie heißt das Dorf, in dem wir drehen?“ Ich weiß die Antwort, aber man soll die Hoffnung auf ein Wunder nie aufgeben.

„Mühlbach.“ Robert wirft mir einen forschenden Blick zu. „Geht’s dir nicht gut? Du bist ganz käsig im Gesicht.“

„Nein, äh, ja ... Großer Gott!“ Das darf doch nicht wahr sein! Wir sind unterwegs in mein Heimatdorf, das ich vor sechs Jahren verlassen habe. Ich bin seitdem nicht mehr dort gewesen, es hätte zu weh getan. Cindy ist meine Erzfeindin und Patrick meine erste große Liebe. Cindy hat mir in der Grundschule in den Kakao gespuckt und gemeine Lügenmärchen über mich verbreitet. Patrick hat mich auf der Anhöhe unter der alten Eiche geküsst und mir das Herz gebrochen.

Ich habe nur einen einzigen Wunsch: Ich will aussteigen und zu Fuß zurück nach Hause gehen. Vielleicht habe ich ja Glück und werde von einem LKW überfahren.

Überraschende Entdeckung

„So, damit haben wir die Fakten aus dem Treatment. Nun zur Geschichte. Irgendwelche Ideen, Katharina?“

Ich schüttle benommen den Kopf. Was denn für eine Geschichte? Es ist doch schon alles geklärt. Patrick und Cindy werden heiraten und das Fernsehteam begleitet ihre Hochzeitsvorbereitungen.

Robert seufzt. „Normalerweise hätte ich die Vorgespräche mit den Protagonisten geführt und die Gegebenheiten gecheckt. Das hat aber einer von 'ner anderen Firma gemacht, also springen wir ins kalte Wasser. Alles ist vorbereitet und auch wieder nicht.“

„Die Einverständniserklärungen sind aber unterschrieben, oder?“, hakt Sören nach. „Sonst kommen wir in Teufels Küche.“

„Ja, alles vorschriftsmäßig. Außer Cindys geistig umnachteter Mutter haben alle Protagonisten ihren Sklavenvertrag unterzeichnet“, sagt Robert.

Sklavenvertrag? Ich muss mich verhört haben.

„Angeblich wurden sie auch bezüglich Klamotten und Requisiten geimpft, ich hab aber natürlich trotzdem die Produktionskiste an Bord. Echt blöd, dass ich die Leute noch nicht kenne. Mit dem Vertrauensverhältnis zwischen Realisator und Protas steht und fällt die ganze Story.“ Er streicht mit einer Hand über sein glattes Kinn.

„Wieso das denn? Wir wollen sie doch nur filmen“, sage ich dumpf.

Benno schlägt sich mit der Faust vor die Stirn. „Oh Mann ey, du hast echt null Plan, oder?“

„Nur filmen! Du bist gut!“, haut Sören mit in die Kerbe.

„Katharina, wir haben eine Geschichte zu erzählen“, klärt mich Robert ungeduldig auf. „Die Protagonisten folgen unserer Storyline. Die wiederum wird vom Spannungsbogen zusammengehalten und durch die O-Töne verbunden. Soweit verstanden?“

Ich nicke stumm, während Patrick und Cindy sich vor meinem geistigen Auge im Heu wälzen. Mir fällt ein, dass Cindy angeblich noch Jungfrau sein soll. Hahaha! Wer’s glaubt, wird selig.

„Die Protas müssen dem Producer blind vertrauen, dann lassen sie sich prima lenken und liefern die Szenen, die man für die Story braucht. Deswegen sollte man vorher mit ihnen per Du sein“, erklärt Robert im Ton eines Schulmeisters.

„Das bin ich“, gestehe ich kaum hörbar.

„Es soll ordentlich krachen“, ereifert er sich. „Da sollen die Fetzen fliegen! Ich will bedauernswerte Lächerlichkeit, ich will Peinlichkeit, ich will Fremdschämen. Ich will den Ekelfaktor, ein bisschen Süßholz, nackte Haut und eine schmalzige Versöhnung! Ich will die ganze Palette an Emotionen!“

Ich muss irgendwas verpasst haben, Robert kann unmöglich die „Bauernhochzeit“ meinen. Wovon redet er bloß?

Für einen Moment schaffe ich es, meinen Seelenschmerz auszublenden. „Die wollen heiraten, das ist eine romantische Sache“, sage ich.

Robert hebt seufzend die Schultern, als hätte er es mit einem besonders schweren Fall von Begriffstutzigkeit zu tun. „Unsinn, Katharina! Die Zuschauer wollen Konflikte, sie wollen sich über die Blödiane kaputtlachen, sich über ihre Dummheit aufregen und sich schütteln vor Ekel. Dann fühlen sie sich besser und ihr eigenes armseliges Leben erscheint ihnen plötzlich nur noch halb so armselig.“

„Ich dachte, wir erzählen eine Liebesgeschichte und berichten von den Hochzeitsvorbereitungen.“

„Das tun wir ja auch.“ Robert blinzelt mir zu. „Allerdings auf unsere Art, wir machen schließlich Doku-Soap. Lies dir das Treatment und deine Notizen durch, vielleicht kommen dir dabei Ideen für die Story.“

Benno reicht mir einen Stapel Papier nach vorn. „Ich bin dann mal weg“, murmelt er, rollt seine Kutte zur Wurst zusammen, stopft sie sich in den Nacken und schließt die Augen. Sören setzt die Plüschkopfhörer auf die Ohren und tippt auf seinem Handy herum.

Ich drehe mich wieder nach vorn und starre durch die Windschutzscheibe, ohne irgendetwas wahrzunehmen.

„Träumst du, Katharina?“ Robert tippt mir an die Schulter. Ich schüttle langsam den Kopf, atme tief durch, stecke das Deckblatt ans Ende des Stapels und beginne zu lesen.

***

Wir bräuchten kein Navi. Ich könnte Robert sogar mit verbundenen Augen nach Mühlbach lotsen. Auf dieser Landstraße bin ich jahrelang mit dem Bus zum Gymnasium nach Schönbrunn gefahren. Bei uns in Mühlbach gibt es nur einen Kinderspielkreis, im nächsten Ort Neuenhausen sind die Grundschule, die Haupt- und Realschule, außerdem die Sparkasse und ein paar Läden zum Einkaufen.

Robert blinkt und fährt auf die freie Tankstelle. Die wurde damals von einem zwielichtigen Typen namens Oswald betrieben, der angeblich nicht nur Autos, sondern auch Geldscheine wusch. Die Dorfleute tankten deshalb lieber in Neuenhausen, obwohl der Sprit da fünf Cent teurer war.

Ich luge aus dem Fenster und entdecke hinter der Scheibe des Kassenhäuschens eine bekannte Gestalt. Es ist Oswald im Blaumann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Dorfleute diese Tankstelle weiterhin meiden.

„Der Wagen hat gut durchgehalten“, bemerkt Robert zufrieden. „Aber er ist verdammt durstig.“ Er steigt aus und wirft die Tür zu.

Das Fachpersonal auf der Rückbank wacht auf und reckt sich gähnend.

Sören nimmt die Kopfhörer von den Ohren und reibt sich mit den Fäusten den Schlaf aus den Augen. „Ich hab geträumt, ich wär der Commander eines Raumschiffs. Wir wurden von außerirdischen Gnomen angegriffen“, murmelt er benommen.

Benno boxt ihn auf den Oberarm. „Ey, Mann, das ist peinlich genug, wenn du so’n Scheiß träumst, aber noch viel peinlicher ist, dass du’s erzählst.“

„Hast du auch was geträumt?“, erkundigt sich Sören.

„Na klar, Mann. Ich hab ne kleine süße Blondine zugeritten. Sie ist viermal hintereinander gekommen.“

„Echt?“

Ich räuspere mich. „In zehn Minuten sind wir da“, mime ich die coole Produktionsassistentin. „Wir beginnen mit einem Interview der Bauernfamilie im Wohnzimmer.“ Vor meinem geistigen Auge sitzen Patrick und Cindy mit Herzchen in den Augen auf dem Sofa. Verdammt, ich mag gar nicht daran denken.

„Ich hab Hunger“, quengelt Sören und wirft die zusammengeknüllte Brötchentüte in meinen Schoß. „Und Durst.“

Benno schaut auf die Uhr. „Ey Scheiße, es ist nach neun, mein erstes Bier ist überfällig!“

„Es ist fünf vor drei“, berichtigt Sören ihn.

„Sag ich doch. Kannste drehen und wenden wie du willst, irgendwie ist’s immer nach neun.“

Die Fahrertür schwingt auf. Robert wirft den Tankbeleg aufs Armaturenbrett, schnallt sich an und startet den Motor.

„Habt ihr das Hotelzimmer klargemacht?“, fragt Benno. „Ich will das erst sehen, bevor wir loslegen. Nicht, dass ich am Ende des Arbeitstages eine böse Überraschung erlebe.“

Robert wirft ihm im Rückspiegel einen schiefen Blick zu. „Katharina, guck mal eben im Netz nach, wo’s im Dorf ne Unterkunft gibt.“ Er deutet mit dem manikürten Zeigefinger auf sein Smartphone in der Mittelkonsole.

„Knieriems haben eine Heuherberge, mehr gibt’s nicht in Mühlbach. Eichelhardts Kneipe hat keine Zimmer“, entgegne ich automatisch.

Robert starrt mich an wie eine außerirdische Erscheinung. „Woher weißt du das denn?“

„Weil Mühlbach mein Heimatdorf ist. Ich bin da geboren und aufgewachsen.“

Er macht den Motor wieder aus. „Und warum sagst du das jetzt erst?“ Sein Erstaunen macht einem scheelen Grinsen Platz. „Sag bloß, du kennst jede Nase in dem Kaff? Auch das Hochzeitspaar?“

Ich nicke sparsam.

Er beugt sich rüber und fällt mir um den Hals. Sein maskuliner Duft strömt in meine Nase, dann verschwindet er wieder.

„Katharina, das ist großartig! Du bist der Hauptgewinn! Die Dreharbeiten werden zum Kinderspiel! Die Leute vertrauen dir blind, weil du eine von ihnen bist. Die fressen dir aus der Hand und machen alles, was du von ihnen verlangst.“

„Nun, ganz so würde ich das nicht ...“

„Du kennst ihre kleinen schmutzigen Geheimnisse und kannst sie schön mit der Nase draufstoßen! Habt ihr das gehört, Jungs? Katharina ist mit den Dorfleuten so!“ Er kreuzt den Mittel- und Zeigefinger seiner erhobenen Hand.

Von der Rückbank kommt kein Kommentar.

„Also, erzähl: Was ist los mit diesem Patrick?“, drängt er.

Mir jagt ein fieser Stich durchs Herz. Verzweifelt bemühe ich mich, die Erinnerung an den schönsten Abend meines Lebens zu verscheuchen. „Er ist zwei Jahre älter als ich und ... äh ... so ziemlich jedes Mädchen schwärmte für ihn.“

„Du auch?“, erkundigt sich Robert gackernd.

„Äh ... nein!“ Ich spüre, wie eine Hitzewelle aus meinem T-Shirt-Kragen schießt, und füge schnell hinzu: „Er hat ein Super-Abi gemacht und dann zog er aus Mühlbach weg, um Tiermedizin zu studieren. Ich hab ihn seit acht Jahren nicht mehr gesehen.“

„He, das ist aber dürftig“, beschwert er sich. „Was ist mit Cindy?“

Ich atme auf, das Thema Patrick scheint erledigt zu sein. „In der Grundschule war sie meine Freundin, aber plötzlich, von einem Tag auf den anderen, wurde sie unausstehlich. Sie zog über mich her und verbreitete Lügengeschichten. Dummerweise waren wir bis zum Abi in einer Klasse, und das war echt kein Vergnügen.“

„Eine Bitch also. Das ist toll“, ruft er begeistert.

„Sie hat die Schule nur mit Mühe und Not geschafft. Ihr Vater hat ihr einen Ausbildungsplatz in der Sparkasse besorgt.“

„Ist sie wirklich noch Jungfrau?“

Ich will die Schultern heben, aber sie werden von tonnenschweren Gewichten runtergedrückt. „Unwahrscheinlich. Als Dreizehnjährige hat sie die Jungs aus dem Dorf zum Eisenbahnspielen in die Garage ihrer Eltern eingeladen.“ Im selben Moment bereue ich es schon. Warum habe ich das erzählt? Was Cindy damals gemacht hat, geht niemanden etwas an.

„Eine andere Umschreibung für Salamiversenken“, schaltet sich Benno glucksend ein. „Und wieso macht sie jetzt einen auf holde Maid?“

„Cindy steht halt gerne im Mittelpunkt.“ Das ist kein Geheimnis, sondern eine Tatsache.

„Ey, die Leute wissen von ihren Aktivitäten in der Garage. Da glaubt ihr doch kein Schwein das Jungfrauen-Märchen.“

Keine Frage, Benno hat niemals auf dem Lande gelebt. Ich drehe mich zu ihm um und kläre ihn auf: „Punkt eins: Die Dorfleute lieben Klatsch und Tratsch, aber sie wissen, dass ein Gerücht nicht unbedingt wahr sein muss. Punkt zwei: Cindys Vater ist der Bürgermeister und niemand wird sich in der Öffentlichkeit abfällig über seine Familie äußern. Punkt drei: Die Lokomotivführer werden ganz sicher die Klappe halten, Cindy war minderjährig, als sie das Tunnelspiel spielten.“

Robert grinst breit. „So langsam wird’s interessant. Warum will sie Patrick heiraten, was meinst du?“

Ich habe einen bitteren Geschmack im Mund. „Wie ich schon sagte: Er war der Schwarm aller ... äh ... der meisten Mädchen. Cindy wird mächtig stolz sein, dass sie diejenige ist, bei der er angebissen hat.“

„Und warum heiratet er sie? Wegen der Mitgift?“

Ich fahre wie angestochen in meinem Sitz hoch. „Nein, das würde Patrick niemals tun!“ Augenblicklich sacke ich wieder zu einem Häufchen Elend zusammen. Wieso sollte einer, der dich hereingelegt hat, nicht eine Andere wegen des Geldes heiraten? Einem Typen wie Patrick ist alles zuzutrauen! So gesehen passt er perfekt zu Cindy.

Bennos Kopf taucht zwischen den Vordersitzen auf. „Und warum hat sein älterer Bruder in den Sack gehauen? Das würd mich interessieren. Unser lieber Patrick ist ja nur zurückgekommen, weil Mami und Papi die viele Arbeit sonst nicht schaffen würden.“

„Das kann ich mir nicht erklären. Elmar ist Landwirt mit Leib und Seele.“

„Wie kam er denn bei den Frauen an?“, erkundigt sich Robert.

„Ich weiß nicht, er war immer ziemlich beschäftigt und hat sich selten irgendwo blicken lassen“, entgegne ich vage.

Elmar war damals ein echtes Muttersöhnchen. Er fuhr mit Irma zum Einkaufen, er begleitete sie zum Kaffeeklatsch und ging sogar mit ihr zur Damengymnastik. Das war schon ziemlich merkwürdig. Ich werde den Kollegen lieber nicht davon erzählen, sonst machen sie sich nur wieder lustig.

„Hört sich an, als wär das einer dieser Bauerntölpel, die mit Anfang vierzig noch nie ne Freundin hatten und sich mit Anfang fünfzig fragen, ob sie vielleicht irgendwas verpasst haben“, kommentiert Benno.

„Und so einer haut von einem Tag auf den anderen von Zuhause ab? Da stimmt doch was nicht!“, jauchzt Robert. Der Wagen macht einen Schlenker. „Erzähl uns was über Cindys Eltern.“

Robert soll endlich aufhören, mir diese blöden Fragen zu stellen!

„Sie wurde von ihrem Vater ziemlich verwöhnt, er kaufte ihr alles, was sie wollte. Ihre Mutter hab ich nur zwei- oder dreimal gesehen“, sage ich schnell.

Mühlbachs Bürgermeister Horst Obermeier ist ein Teufel. Er hat überall seine Finger drin und lässt die Leute nach seiner Pfeife tanzen. Ich erinnere mich, dass er sich spottbillige Ländereien einverleibt hatte, aus denen dann zufällig kurze Zeit später Bauland wurde. Er ist ein Mann mit lauter Stimme und wichtigem Gehabe. Was mit seiner Frau Astrid los ist, wusste damals niemand im Dorf so genau.

Robert strahlt übers ganze Gesicht und sagt in feierlichem Ton: „Katharina, du bist ein echter Glücksgriff! Hiermit mache ich dich offiziell zur zweiten Produktionsleiterin dieser Sendung!“ Das klingt wie ein Ritterschlag.

„Aber ...“

„Assistentin bist du natürlich trotzdem.“

„Glückwunsch. Und was ist nun mit der Unterkunft?“, drängelt Benno.

„Wir nehmen die Heuherberge“, verkündet Robert und legt, wohl um seiner Entscheidung Nachdruck zu verleihen, eine Hand auf meinen Oberschenkel.

Robert im Heu? Ob er sich das gut überlegt hat? Ich bin mir ziemlich sicher, dass er noch nie woanders als in einem sauberen, bequemen Bett geschlafen hat.

„Ohne mich! Ich hab ne Stauballergie! Wenn ich nen Allergieschub hab, kann ich nicht arbeiten“, erklärt Sören.

Robert zieht die Stirn kraus. „Mist! Lass dir was einfallen, Katharina.“ Er nimmt die Hand wieder von meinem Oberschenkel runter.

Ich denke angestrengt nach. Gustavs Haus ist riesengroß und er wohnt dort seit vielen Jahren ganz allein, doch ich möchte den alten Mann nicht plötzlich mit einer vierköpfigen Einquartierung überfallen.

Mir fällt beim besten Willen keine andere Unterbringungsmöglichkeit als Knieriems Heuherberge ein. Es nützt nichts, ich habe keine Wahl, ich muss meine Eltern um Rat fragen. Verflixt, ich würde sie nur zu gern aus dem Spiel lassen. Mir wäre es am liebsten, sie würden sich für die nächsten zwei Tage in Luft auflösen.

Ich bemühe mich um einen unbeschwerten Ton. „Ich könnte meine Eltern anrufen. Die haben bestimmt eine Idee. Ich war sechs Jahre nicht daheim, vielleicht wurde inzwischen ein Hotelkomplex gebaut, von dem ich nichts weiß.“

Na sicher! Kein Mensch, der seine Sinne beieinanderhat, würde in Mühlbach ein Hotel bauen. Die Infrastruktur ist komplett für die Tonne.

„Nur zu“, drängelt Robert und zeigt wieder auf sein Handy.

Ich wähle ihre Nummer, es klingelt, und das ist für alle im Wagen hörbar. Ach herrje, das Gerät ist auf Lautsprecher gestellt! Mit fliegenden Fingern suche ich die entsprechende Taste zum Umschalten. Neben und hinter mir herrscht gespanntes Schweigen.

Der Anrufbeantworter springt an, die Stimme meiner Mutter erfüllt das Fahrzeuginnere. „Ob Männlein oder Weiblein, wenn ihr wieder Spaß im Bett haben wollt, dann seid ihr bei Joy Spatz goldrichtig. Ich verhelfe euch zur Lust an der Lust ...“

Mir schießt die Schamesröte ins Gesicht.

„Ich könnte schwören, dass du deinem Lebenslauf angegeben hast, deine Mutter sei Ärztin“, sagt Robert.

Ich presse einen Finger auf den Lautsprecher, die Stimme redet in gedämpftem Ton weiter.

„Sie ist ja auch Ärztin“, bestätige ich, während meine Mutter über den freien Fluss der Säfte fabuliert. „Sie hat sich nur, äh, ein wenig umorientiert.“ Ich nehme meinen Finger vom Lautsprecher und drücke schnell auf den roten Hörer.

„Das mit den fließenden Säften hätte mich schon interessiert“, bedauert Benno.

Robert dreht den Zündschlüssel, der Motor stottert und geht gleich wieder aus. Beim dritten oder vierten Startversuch heult er auf, spuckt schwarzen Dreck auf den Asphalt und wir rollen von der Tankstelle. „Wir schauen uns erstmal im Dorf um, wär doch gelacht, wenn wir keinen Unterschlupf finden! Am besten quartieren wir uns bei der Bauernfamilie ein, dann sind wir rund um die Uhr am Ort des Geschehens.“ Er hopst auf seinem Sitz herum. „Hey, das ist überhaupt die Idee!“

Mit Patrick unter einem Dach? Allein bei dem Gedanken kriege ich Zustände. Also bitte, rede ich mich gut zu, du hast ihn vor acht Jahren zum letzten Mal gesehen! Das ist lange her. Acht Jahre können einen Menschen total verändern, sie können aus einem gutaussehenden Jungen einen hässlichen Widerling machen.

Wir verlassen die Landstraße. Noch drei Kilometer bis Mühlbach. Ich presse meine Nase an die Scheibe - und auf einmal bummert mein Herz vor Aufregung und Freude. „Da hinten! Seht ihr den Gutshof?“, rufe ich. „Da wohnt Gustav von Holten. Bei ihm hab ich Reiten gelernt.“

„Holla, ein Hengst namens Gustav!“

„Ist das der Opa, der die Kutsche fahren soll?“, erkundigt sich Sören.

„Mein Pflegepferd hieß Hercules“, sprudelt es aus mir heraus. „Ich hab ihn selbst eingeritten und später mit ihm das Stoppelfeldrennen gewonnen!“ Eine warme Welle schwappt durch meine Adern. Wie sehr ich dieses Pferd geliebt habe! Und wie sehr habe ich mich in den vergangenen Jahren bemüht, nicht an ihn zu denken.

Plötzlich ist alles wieder da: Das Stoppelfeldrennen, der Sieg, die Preisverleihung, der Ehrentanz mit Patrick. Und dann der Spaziergang zur alten Eiche auf der Anhöhe, nur wir zwei, Hand in Hand im blutroten Sonnenuntergang. Seine Bewunderung, weil ich ihn um drei Pferdelängen geschlagen hatte. Sein Kuss, der Versprechen und Abschied zugleich war, weil er am nächsten Tag fortmusste. Seine Hand, die meine ganz fest hielt. Der Blick aus seinen tiefblauen Augen, als er sagte, dass er mir oft schreiben und in den Semesterferien zu mir zurückkommen wird.

Dann der Schock, als es am nächsten Morgen im Dorf hieß, Patrick habe mich nur verschaukelt. Wer küsst schon eine kleine Dicke mit Pickeln im Gesicht? Wir waren allein auf der Anhöhe gewesen, niemand wusste von unserem Kuss, außer uns zwei.

Patrick hatte sich nur einen Spaß mit mir erlaubt und sich anschließend im ganzen Dorf über mich lustig gemacht. Wieder einmal war ich die kleine, dicke, pickelige Kathi Spatz, die von allen Dorfleuten bemitleidet wurde.

Und dann setzte er der Schmach die Krone auf. Er kam doch tatsächlich mit einem Blumenstrauß zu mir nach Hause, um sich von mir zu verabschieden! Zumindest bewahrte ich meinen Stolz und brach nicht vor ihm in Tränen aus. Stattdessen schmiss ich ihm an den Kopf, was ich von Typen wie ihm halte, und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Das war unsere letzte Begegnung.

Ich gewann das Rennen auch in den folgenden zwei Jahren. Nach dem Abi verließ ich das Dorf. Das Mitleid der Leute, meine peinlichen Eltern, die intrigante Cindy - all das liegt lange hinter mir. Der Abschied vom alten Gustav, meiner Freundin Hanna, von Hercules und meinem Lieblingsplatz auf der Anhöhe unter der alten Eiche ebenfalls.

Der Bulli poltert durch ein Schlagloch. Je näher man Mühlbach kommt, umso schlechter wird die Straße, daran hat sich offenbar nichts geändert. Robert geht fluchend vom Gas und lenkt auf den Seitenstreifen, um dem nächsten Schlagloch auszuweichen. Ich schaue über die sattgrünen Wiesen und obwohl ich ihn von hier aus nicht sehen kann, weiß ich, dass sich dort hinten der Mühlbach schlängelt.