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Tiflis Ende des 19. Jahrhunderts. Auf dem muslimischen Friedhof wird die Leiche eines Mannes gefunden. Auf der Brust trägt der Tote eine mysteriöse Tätowierung, die einen Zweikampf zwischen Mann und Tiger zeigt. Drei Ermittler machen sich daran, den Fall zu lösen: der russische Polizeibeamte Chripli, der Ire O’Hara sowie der Franzose Louis Albré. Ihre Ermittlungen in Tabakstuben, auf Trödelmärkten, im Zirkus oder in Kaschemmen führen die drei zu ganz unterschiedlichen Lösungen. Ein historischer Kriminalroman mit zahlreichen literarischen Anspielungen, der ein farbiges Porträt der Stadt Tiflis im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert zeichnet und gleichzeitig ein geistreiches Verwirrspiel mit den Lesenden treibt.
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Seitenzahl: 149
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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel „Das Gandscha-Tor“ im Verlag Nekeri, Tbilissi.
Copyright © 2018 by Abo Iaschaghaschwili
The book is published with the support of the Writers’ House of Georgia. Dieses Buch wird mit Unterstützung des Writers’ House of Georgia veröffentlicht.
Übersetzt mit Unterstützung der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.
Der Autor erlaubt sich einige Freiheiten die historische Chronologie betreffend.
1. Auflage
Copyright © 2023 der deutschen Ausgabe
by mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Umschlagabbildung: © shutterstock.com - 2284615227
ISBN 978-3-96311-666-7
Printed in the EU
Teil I – Meckenstocks Schwert
Die Tätowierung
Die Tabakschachtel
Eine Flasche auf dem Kopf
Drei Briefe
Maimonides im Judenviertel
Meckenstocks Schwert
Fabergé auf dem Jarmuka
Das Teehaus
Teil II – Champollions Monokel
Der Schatz der Amazonen
Das Friedhofstor
Das Postamt
Arcangelo
Achmed Ibn Dschafars Duchan
Hunde im Kerker
Der Schaitan-Basar
Paskewitsch-Eriwanskis Beute
Das Bad
Teil III – Der Chevalier im Pantherfell
Schlummerrolle und Gebetskette
Das Fass Amontillado
Gummibäume und Tierzwinger
Der Chevalier im Pantherfell
Drei Schlüssel
Akte 1 – Auszug aus Professor Iversens Referat anlässlich des Archäologischen Kongresses
Akte 2 – Beschreibung der Gemächer im Statthalterpalast
Akte 3 – Auszug aus Alis Verhörprotokoll
Einige Anmerkungen des Autors und der Übersetzerin zu Tifliser Örtlichkeiten und Gegebenheiten
Teil I
Meckenstocks Schwert
Die Tätowierung
Entdeckt wurde Iankoschwilis Leiche auf der anderen Seite des Dabachana*-Tälchens, auf dem muselmanischen Friedhof. Frühmorgens war das, als er gefunden und anhand seiner Tätowierung identifiziert wurde, denn einen Kopf hatte der Tote nicht mehr, den hatten sie mitgenommen.
Der Wächter hatte den Ermordeten aufgefunden und die Polizei gerufen, die bei Morgengrauen eintraf, Chripli und fünf weitere Beamte, und noch vor Sonnenaufgang hatten sie die Umgegend in Augenschein genommen.
Chripli kraulte abwechselnd mit der Linken und der Rechten seinen Backenbart und wies einen der Untergebenen an: „Durchsuch seine Taschen!“
„Ist wohl ausgeraubt worden“, erwiderte dieser, als er die Hose des Toten abgetastet hatte, und schaute, noch immer auf einem Bein kniend, zu Chripli hoch.
Ein zweiter Beamter notierte den Befund, strich einiges wieder durch und kleckste Tinte auf das Formular der Tifliser Kriminalabteilung, exakt dort, wo der zweiköpfige Adler aufgedruckt war und der Polizeichef seinen Stempel zu setzen hatte. Woher auch hätte der Protokollant auf dem Friedhof Löschpapier nehmen sollen? Also schrieb er einfach weiter, ohne den Klecks zu trocknen.
„Die Uhr haben sie ihm auch abgeknöpft“, fuhr der Beamte fort; in der Hand hielt er die Reste einer silbernen Uhrkette, die der Ermordete an seinem Achaluchi befestigt getragen hatte.
„Dieser andere ist doch auch ausgeraubt worden, oder?“, fragte einer der danebenstehenden Polizisten, der eine Gorodowoi-Schirmmütze trug.
„Wer?“
„Bei Perschangows Mühle. Warst nicht du dabei?“
„Ich war’s ja, der ihn in der Kiste aus dem Wasser gefischt hat.“
„Wen?“, fragte ein anderer.
„Bist du schwer von Kapee oder was? Gurgenbegows Leiche.“
„Ach ja, davon hab ich gehört. Auf dem Paradeplatz. In einer Kiste für Galoschen soll er gelegen haben.“
„Waren die auch dabei?“, fragte der mit der Gorodowoi-Mütze und deutete auf zwei Männer, die ein wenig abseits standen.
Der eine der beiden war in Tiflis wohlbekannt; seine Art zu gehen und wie er den Spazierstock schwang, fielen auf. Ebenso sein Schnurrbart, der Goldring mit dem eingeprägten Einhorn an seinem kleinen Finger und die himmelblauen Augen. Diese Augen hatten im Palais Garnier Francesco Tamagno in der Rolle des Vasco da Gama gesehen. Den Löwen von La Scala. Was für eine Stimme, was für ein Register – und dazu der lange Atem eines Muscheltauchers und die Schauspielkunst eines David Garrick! Die himmelblauen Augen gehörten Louis Albré, Franzose. Sogar jetzt frühmorgens war er wie ein Dandy gekleidet, um den Hals eine Schleife und auf dem Kopf einen Hut, der wohl kaum zwei Tage zuvor noch in der Schachtel des Hutmachers gelegen hatte.
Er hatte sich an diesem Morgen von Marlowes Tamburlaine losreißen müssen, dem Drama über den Lahmen aus Mittelasien, der den halben Orient dem Erdboden gleichgemacht, Buchara erbaut, Samarkand seine Pracht gegeben und dafür Großimperien zerstört hatte. Auch Tiflis hatte er zerstört. Albré hatte seine Lektüre irgendwo beim osmanischen Sultan Bayezid unterbrochen, wie dieser dem Mongolenherrscher als Fußschemel dienen muss, hatte den Band weit weg in Richtung Schrank geschleudert und sich in aller Frühe zum Friedhof aufgemacht.
Jetzt gähnte er hinter vorgehaltener, behandschuhter Hand. Er warf keinen Blick zur Seite. Dorthin, wo der andere stand.
Dieser Mann war rothaarig, von mittlerer Größe und stämmig. Sein Tweedjackett saß wie angegossen und der Hut ein klein wenig schräg. Einer der breiten Wangenknochen war kreuzweise mit Pflaster aus Ottens Apotheke verklebt, wohl zur Verarztung eines Faustschlags oder sonst eines Hiebs. Er war gerade dabei, sich mit einem Taschenmesser ein Stück Kautabak abzuschneiden und es mit gelben Fingern irgendwo in der Backe zu verstauen. Das war O’Hara, Ire und geschworener Gegner des Britischen Empires.
Zudem war da noch ein herrenloser Hund. Er hatte den Ermordeten als Erster, noch vor dem Wächter, gefunden und hockte auch jetzt noch da, ohne sich von der Stelle zu rühren.
„Was meinen Sie?“, wandte Chripli sich nun an Monsieur Albré und zog eine englische Stahluhr heraus; die Marke war infolge des Japanisch-Chinesischen Kriegs in Tifliser Geschäften billig zu haben gewesen.
„Wahrscheinlich ist er um zwei, drei Uhr nachts umgebracht worden.“ Der Franzose wedelte eine Wespe vom Blut und fuhr mit der Inspizierung des Toten fort.
Dieser lag rücklings da, die Brust mit ihrer monströsen Tätowierung entblößt. Die Tätowierung war auf dem ganzen Schaitan-Basar berüchtigt und stellte Tariel dar, wie er den Tiger tötet. Die Szene war über die ganze Breite der Brust wiedergegeben.
Der Wächter, ein Tatare, hatte Iankoschwili gleich erkannt; er war ihm nicht bloß ein oder zwei Mal unter den Bäderkuppeln begegnet, mehr noch: Nach zwei Opiumpfeifen seien der Tiger und Tariel leibhaftig aufeinander losgegangen. Früher habe ihm eine Pfeife gereicht, damit die beiden sich bewegten und miteinander zu kämpfen anfingen, jetzt brauche er drei. „Aber nun zu spät, ist ja tot.“
Albré war ganz versunken in die Betrachtung der Tätowierung.
„Tariel ist ein großer Held für die Leute hier“, sagte Chripli. „Und ihr wichtigstes Buch handelt von dem Recken, der mit Tigern kämpft. Einem indischen Prinzen, der auf der Suche nach seiner Liebsten ist und unterwegs Tiger und Löwen tötet.“
Mit indischen Prinzen kannte O’Hara sich aus: Indien strotzte vor Radschas und ihren Abkömmlingen. Einem von ihnen hatte er gar eine Kugel in der Schulter zu verdanken, die sich bei jedem Wetterumsturz in Erinnerung brachte.
„Und wie kommt es, dass ein Land, das so weit von Indien entfernt liegt, einen Inder zu seinem Helden macht?“, fragte Albré.
„Das weiß ich nicht mehr, es ist ein altes Buch.“
„Der Chevalier und der Tiger.“ Der Franzose zog seine Handschuhe straff.
„Gehörte er einer Zunft an?“, fragte Chripli nun den Wächter.
„Ja, Flößer er war.“
„Und du, woher kennst du ihn?“
Der Wächter rieb sich die Augen. „Wer den nicht kennen?!“
„Die haben den Kopf mitgenommen und dir den Mann dagelassen. Wo warst du denn um diese Zeit?“ Chripli war hager und langnasig und sog nun die Luft tief ein, als prüfte er ihre Beschaffenheit.
„Na, der doch hier und ich dort, drüben.“ Der Tatare rollte mit den Augen und wies zum Rand des Friedhofs.
„Hast wohl dein Namaz verrichtet.“ Chripli presste die Lippen aufeinander und klappte seine Uhr zu.
Der Tatare erwiderte nichts.
„Ist es nicht so?“
Zwischen seinen Fingern baumelte eine Gebetskette aus dicken Bernsteinperlen.
„Oder hast du etwa Briefchen geschrieben an die Aktrice Lassalle?“
„Der Satan mich versuchen, der Satan!“ Unvermittelt warf sich der Wächter dem Polizeibeamten zu Füßen. „Da unten war ich, Kiar der Mekisse Pilaw gekocht, ich Nardi gespielt, einen Happen gegessen, ich schwöre.“
„Weiter nichts als einen Happen gegessen?“
„Ich schwöre bei meinen Kindern, ich wissen nichts.“ Noch immer lag Iussuf der Tatare, der Friedhofswächter, den Chripli einmal ins Metechi-Gefängnis gesteckt hatte, weil er zwei Rubel geklaut hatte, auf den Knien.
„Im Osmanischen Reich säen sie auf Friedhöfen Mohn aus“, ließ sich der Franzose vernehmen, die geröteten Augen des Wächters musternd. In Tiflis war Opiumrauchen verboten, aber in den persischen Teehäusern wurde trotzdem heimlich gepafft.
Der Ire indessen blickte zum Minarett – ein Italiener hatte es errichtet und ihm seine Form gegeben. Der Moschee zu Füßen lag das Bäderviertel, und jenseits davon begannen schon die Reihen der Handwerkerbuden, die sich angefangen mit der Zeile der Hutmacher bis hinauf zum Tatarenplatz zogen.
„Sweschi ribaa! Ungetaufter Fisch! Die Stadt war erwacht, und die Stimme des Kinto, der auf der Straße Fisch in einem flachen Flechtkorb feilbot, tönte bis zum Friedhof herauf.
O’Hara hatte nur einen einzigen Blick auf den Ermordeten und seine Tätowierung geworfen, um dann seine Augen über den Friedhof schweifen zu lassen. Es gab ein Durcheinander von Spuren, die meisten von der Polizei, und es würde schwierig werden zu unterscheiden, welche von Bedeutung waren und welche nur in die Irre führten. Dennoch versuchte er sein Glück und verfolgte ein paar von ihnen, ging forschend zwischen den Grabsteinen umher, ob ihm nicht doch etwas ins Auge fiele.
„Auf dem Friedhof von Père Lachaise geschehen ebenso viele Wunder wie in der Omajjaden-Moschee zu Damaskus“, hörte er Albré sagen.
O’Hara schnitt erneut ein Stück Tabak ab, um es zwischen den Zähnen verschwinden zu lassen, und verwahrte das Tabakpäckchen in seiner Weste. Dabei lockerte sich ein Knopf, er riss ihn ab und versenkte ihn zu dem Tabak in die enge Westentasche.
Ihm fiel ein, wie er am Vortag auf der Suche nach dem gestohlenen Teppich der Großmoguln in den Duchan „Argentina“ geraten war: ‚Dieser Chartscho war drauf und dran, mir, wenn nicht den Kopf abzuschneiden, so doch mindestens den Bauch aufzuschlitzen. Und was für einen riesigen Krummdolch Dardaka gezückt hatte! Wenn Sparapet sie nicht zurückgepfiffen hätte, die hätten mich abgemurkst. Er ist der Oberganove. Sogar Kamelrennen sieht er sich an. Ich bin Sparapet – ein Blick und ich weiß Bescheid, mit wem ich’s zu tun habe, hat er wahrscheinlich bei meinem Anblick gedacht. Ich wette einen Sovereign, dass der Diebstahl des Teppichs auf sein, Sparapets, Konto geht.‘ Solchen Gedanken nachhängend, hatte sich O’Hara ein paarmal gebückt und auch hingekniet, als er an einer Stelle einen Gegenstand bemerkte, den ein Absatz in die Erde getreten hatte. Er bückte sich und klaubte eine blecherne Tabakschachtel auf. Notdürftig entfernte er mit den Fingern den Schmutz: Sie war mit einem Fez tragenden Osmanen bemalt und trug die Aufschrift „Hercegowina“. Er öffnete sie: Sie enthielt noch ein paar wenige Krümel Tabak. Er rieb sich die Finger sauber, wickelte die Schachtel in sein Taschentuch und kam langsamen Schrittes zurück.
„Der beißt in keine süße Schamachi-Melone mehr“, hörte er einen der Polizisten sagen.
Albré hatte unterdessen die Tätowierung des Ermordeten in sein Notizbuch gezeichnet; er hatte ein Händchen für den Bleistift, und die Zeichnung gelang ihm beinahe perfekt.
* Siehe „Einige Anmerkungen des Autors und der Übersetzerin zu Tifliser Örtlichkeiten und Gegebenheiten“ am Schluss des Buches.
Die Tabakschachtel
O’Hara hielt sich nicht mehr lange auf dem Friedhof auf. Er lenkte seine Schritte gemächlich zum Mittleren Basar und schlenderte zwischen den Zeilen und Ständen hindurch.
Was da für Dinge zu sehen waren! Selbst ein umherwandernder Harun ar-Raschid wäre ins Staunen geraten. O’Hara jedoch fand am Orient nichts Staunenswertes. Wonach er sich jetzt am meisten sehnte, war Dublin mit seinen Thomas-Deane-Gebäuden und den Vitrinen von Grafton Street, den Warenhäusern in der Prince’s Street, den Bierfuhrwerken und der Sandymount-Green-Trambahn, sogar die Nelson-Säule vermisste er und die O’Connell Street.
Er ging jetzt energischer zwischen den Ständen hindurch. Erst auf dem Schaitan-Basar hielt er einen persischen Teeträger an und bat ihn um heißes Wasser, um die schmutzige Blechschachtel abzuspülen, dann setzte er den Weg in der Hutmacherzeile fort, gelangte zum Tatarenplatz und von dort wieder zum Mittleren Basar.
Die Marktzeilen waren zahlreich: In der einen wurde Wein verkauft, in der anderen wurden Pantoffeln feilgeboten, gegenüber der Sioni-Kirche standen die Kürschner, bei der Kreuzerhöhungskirche die Sargtischler, es gab die Baumwollzeile, die Eisenzeile, in der Dunklen Zeile lagen die Textilien aus, und überall riefen Händler und ihre Gehilfen lautstark ihre Ware aus.
Die Zeit war vorbei, als auf dem Basar in deckellosen Schubkästen, auf Hängeregalen Tabak auslag und die Verkäufer den Passanten davon anboten. Früher hatten die Tabakhändler ebenfalls in so einer Zeile gestanden, aber sie waren vom Armenischen Basar verschwunden, wie die Raucher, die ellenlange Pfeifen pafften. Obwohl, die Straßenhändler, die auf Holztabletts „Enfiandschian“-Papirossy feilboten, waren noch nicht ausgestorben, sie priesen Passanten nach wie vor ihre Schachteln an. O’Hara hielt einen von ihnen an und reichte dem Mann, dem fliegengleich eine Warze auf der Nase saß, die blecherne Tabakschachtel.
„Wo gibt es diesen Tabak zu kaufen?“
Der Papirossy-Händler drehte die Schachtel in den Händen, öffnete sie, steckte die Nase hinein, schloss sie wieder und gab sie zurück.
„Auf der Palaststraße finden Sie den.“
Die Palaststraße war die Strecke mit den teuersten Geschäften von Tiflis, sozusagen eine Via del Corso; wenn irgendeine Generals- oder Fürstengemahlin einen neuen Hut zu kaufen gedachte, suchte sie unweigerlich die Palaststraße auf.
O’Hara begab sich zum Hauptplatz der Stadt und fand sich alsbald inmitten zahlreicher Geschäfte. Er kam an Farina & Co. vorbei, in Tiflis die beste Adresse für Geigen, Cellos, Bratschen und Kontrabässe. Vermögende Familien konnten dort für teures Geld auch Akkordeons der Firma Kalbe sowie Schiedmayer-Pianofortes erwerben. Es gab Ladengeschäfte mit Preziosen; gerade kam O’Hara am Schaufenster von Rabinowitsch-Goldschmuck vorbei, passierte das Uhrengeschäft Katz, wo Patek-Philippe- und Moser-Uhren erhältlich waren. Dann überquerte er die Straße und betrat den Tabak- und Papirossy-Laden der Gebrüder Aslanidi.
Drinnen unterhielt sich der Ladendiener beflissen lächelnd und dies und das vorzeigend mit einem jungen Mann, der einen Strohhut trug.
„Vielleicht wünschen Sie echte Zechbauer-Zigarren? Zechbauer hat als einer der Ersten Tabakwaren aus Havanna nach Europa importiert; zu seinen Kunden zählen sogar der Vatikan und die Päpste. Pius IX., Pius XI. und Pius oder Johannes der wer weiß wievielte vertrieben sich mit Zechbauer-Zigarren im päpstlichen Hof wandelnd die Melancholie. Vierzehn europäische Königshöfe erhalten jeden Monat Päckchen aus seiner Fabrikation, säuberlich gefüllt mit verschiedensten Zigarren, Papirossy, Pfeifen- und Schnupftabak.“
O’Hara erkannte den jungen Mann. Er hatte den Blondschopf in der Oper gesehen und konnte sich gut an dessen Erscheinung erinnern.
„Zechbauer hat auch den König von Bayern, den Wittelsbacher, mit Tabakwaren versorgt, ebenden, der ertrunken am Seeufer aufgefunden wurde. Und in seiner Gehrocktasche haben sie den Stummel einer dieser Zigarren entdeckt.“
Der Kunde war der Bass der Forkati-Truppe und spielte im „Troubadour“ den Ferrando. Schaljapin hieß der junge Mann mit Namen, der jetzt eine goldene Taschenuhr hervorzog, um immer wieder einen Blick darauf zu werfen. Das Geschenk eines Mäzens. Ein Gegenstand, der zu mehr Pünktlichkeit und Zeitgenauigkeit anhielt. Zumal wenn man ihn ständig vor aller Augen hervorzog.
O’Hara war indes nicht wegen des Basses in der Oper gewesen, noch war er ein Bewunderer des Dirigenten. Er hatte nach „Martischka“ dem Taschendieb gefahndet. Aber er besaß ein gutes Gedächtnis für Gesichter.
„Gestatten Sie, dass ich mich setze“, sagte der Jüngling, indem er mit Bedacht auf den Sessel schaute; sein Missgeschick mitten auf der Bühne war ihm noch lebhaft in Erinnerung, und seitdem hatte er sich angewöhnt, immer einen Blick zurückzuwerfen, bevor er sich auf einen Stuhl setzte.
„Belieben Sie also Zechbauer-Zigarren?“
„Nein“, erwiderte er, die Schuhe des Neuankömmlings musternd. Auch das war eine Angewohnheit; sie war ihm geblieben aus Jugendzeiten, als er Stiefelmacherlehrling war; seither schweifte sein Blick immer als Erstes zu den Füßen, um die Näharbeit zu begutachten.
Hinter ihm lagen Blechdosen, hölzerne Zigarrenmundstücke und verschiedenste Tabaksorten aus, und der Verkäufer versuchte es auf andere Weise: „Vielleicht bevorzugen Sie Infantas oder Trabuccos? Dann können Sie einem brasilianischen Caballero gleich schmauchend über den Golowinski flanieren.“
Hätte sich Albré in dem Laden befunden, so hätte der sich unweigerlich erinnert, dass der Jüngling in Gounods „Faust“ und in Leoncavallos „Bajazzo“ gesungen hatte, er hätte auch über Fingert und Sangurski referiert und ihre Partien nicht durcheinandergebracht, aber Albré befand sich nicht hier, und O’Hara hatte anderes im Kopf, als Arzrunis Schauspielhaus zu würdigen.
„Falls Sie Schnupftabak oder Schnupfpulver wünschen, so haben wir auch davon nicht nur eine Sorte; der Statthalter des Zaren, Dondukow-Korsakow, persönlich bestellt pfundweise bei uns. Wir verkaufen auch offenen Tabak. Samsuner und Keobeker bester Güte und getrocknet auf anatolischem Boden. Und hier, diese Zigarren raucht man in England, die zarte Jugend von Eton und Westminster pafft sie bereits in aller Herrgottsfrühe und knabbert dann massenhaft Äpfel, um den Tabakgeruch aus dem Mund zu kriegen und das zwischen den Zähnen verbliebene Aroma zu beseitigen. Aber was helfen Äpfel gegen den Tabaksdunst in den Haaren? Da, möchten Sie kosten? Den Geschmack werden Sie so schnell nicht vergessen …“ So redete er weiter kenntnisreich daher, als wäre er ein Brockhaus und nicht bloß Ladendiener.
Zu guter Letzt holte er eine Zigarre hervor, die ursprünglich zweifelsohne länger gewesen war und infolge mehrfachen Anzündens und Anschneidens keine Spanne mehr maß, riss an der Theke ein Goldlüst-Streichholz an – und in dem Raum verbreitete sich ein Qualm, der, konnte man dem Verkäufer Glauben schenken, sich schon in Hobbes’ und Newtons Perücken verfangen und an ihren Fingern geklebt hatte, als sie ihre Folianten schrieben, jene Werke, mit denen sie das Denken der Europäer in neue Bahnen lenkten.
O’Hara indessen zog die taschentuchumwickelte und noch immer nicht ganz saubere Blechschachtel aus der Westentasche.
„Gibt’s diese Sorte in Ihrem Tabakladen?“, fragte der Ire lakonisch.
Ohne den blonden Kunden, der mit den Gedanken woanders war, zu vergessen, wandte sich der Ladendiener O’Hara zu und entzifferte die Aufschrift auf der Schachtel, nahm sie dann der Höflichkeit halber in die Hand und drehte sie um.
„Die Sorte gibt es ohne Vorbestellung nicht zu kaufen. Vor einem Monat hatte ich sie noch vorrätig, zehn Schachteln. Aber ich habe keine einzige mehr übrig. Augenblick, ich schaue im Rechnungsbuch nach. Jawohl, acht Schachteln gingen an Radde, Gustav Radde. Ich habe aber nachbestellt und schätze, in zwei Wochen bekomme ich sie, kann Ihnen jedoch davon keine großen Mengen versprechen, denn er hat bereits wieder nachgefragt, aber selbstverständlich würde ich für Sie etwas beiseitelegen.“
„Dieser Radde, wer ist das?“