Ein Tor zu eurer Welt - Aaron Wahl - E-Book

Ein Tor zu eurer Welt E-Book

Aaron Wahl

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Beschreibung

"Ein Tor zu eurer Welt" ist das erste Buch eines Autisten, der erzählt, wie er den Zugang zu seinen Gefühlen findet. Diese Autobiografie ist für alle Leser von Axel Brauns "Buntschatten und Fledermäuse" und Daniel Tammet "Elf ist freundlich und Fünf ist laut", mit einem Vorwort des Autismus-Experten Tony Attwood Menschen mit Asperger-Syndrom können Gefühle nicht deuten und vermitteln. Das macht sie zu Außenseitern und oft zu Gefangenen ihrer eigenen Wahrnehmungswelt. Aaron Wahl kennt diesen Zustand. Doch er kämpft gegen die Isolation an. Als er bei einem Emotionstraining erfährt, wie sich Angst, Freude und Trauer anfühlen, ist das für ihn ein lebensverändernder Durchbruch. Aaron schafft es, den Tod seiner geliebten Großeltern zu verarbeiten und eine Brücke zu seinen Mitmenschen zu schlagen. Er lernt die bunte Seite des Lebens kennen. Aaron Wahl, Jahrgang 1990, wurde mit Anfang 20 für dauerhaft arbeitsunfähig erklärt. Seit seiner Asperger-Diagnose kämpft er sich zurück ins Arbeitsleben. Er gründete das Projekt "PEM Autism", das sich zum Ziel setzt, Stärken und Fähigkeiten von Autismus-Patienten zu fördern. Innerhalb weniger Monate erfuhr das Projekt internationale Resonanz. Diese Autobiografie ist die mutmachende Geschichte eines jungen Mannes mit Autismus, der sich nach Jahren des Leidens Zugang zu einer Welt erkämpft, die er fast aufgegeben hatte – der Welt des Glücks. Mit einem Vorwort des Autismus- und Asperger-Experten Prof. Dr. Tony Attwood.

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Seitenzahl: 320

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Aaron Wahl

unter Mitarbeit von Christian Lütjens

Ein Tor zu eurer Welt

Wie ich als Autist meine Gefühle lieben lernte Mit einem Vorwort von Tony Attwood

Knaur e-books

Über dieses Buch

Menschen mit Asperger-Syndrom können Gefühle nicht deuten und vermitteln. Das macht sie zu Außenseitern und oft zu Gefangenen ihrer eigenen Wahrnehmungswelt. Aaron Wahl kennt diesen Zustand. Doch er kämpft gegen die Isolation an. Als er bei einem Emotionstraining erfährt, wie sich Angst, Freude und Trauer anfühlen, ist das für ihn ein lebensverändernder Durchbruch. Aaron schafft es, den Tod seiner geliebten Großeltern zu verarbeiten und eine Brücke zu seinen Mitmenschen zu schlagen. Er lernt die bunte Seite des Lebens kennen. Dieses Buch ist die mutmachende Geschichte eines jungen Mannes, der sich nach Jahren des Leidens Zugang zu einer Welt erkämpft, die er fast aufgegeben hatte – der Welt des Glücks.

Inhaltsübersicht

WidmungVorwortProlog: Angstlaufen1 Lust: Die KindheitKind seinWinterreiseDie Lügen der anderenMeine Mutter sagt …Die Botschaft, die nie ankamDie Insel2 Trauer: Jugend trifft TodEin Anruf im SeptemberDer unvollendete AbschiedFremde, raue WeltOdyssee ins SchweigenAuf Messers SchneideNachklangMeine Schwester sagt …3 Angst: Unsichtbare GegnerEin anderes UniversumWandsbeker GehölzPhantomzitternAtosil, dein Freund und HelferHoffnungsloser Fall4 Ekel: Geparkt in der SackgasseSchwarze SzenenSeelisch behindertHamburger StraßeLustkurveDie Regeln der WildnisFeindeslandZwei Tage gegen den Rest des Lebens5 Aggression: Mein Aufbruch zu mir selbstSchlossgartenSchweinehunde und BananenInselwinterDie WendeMein Entwicklungsprozess aus Sicht meiner TherapeutinHerzweiten6 Glück: Noch einmal mit GefühlKatharsisZurück auf nullVoll!Kristina sagt …Teil des TeamsHotel EdenDas Leben ist logisch, aber …Dank
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Für die beiden Menschen,

die mich am meisten inspirieren:

 

Meinen Großvater,

den ich immer bewundern werde

 

& Stephan Perdekamp,

dem ich ein zweites Leben verdanke

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Vorwort

Autismus und Schauspielkunst haben viel gemeinsam. Autistische Menschen müssen in sozialen Situationen oft schauspielern, die Rolle, die sie zu spielen haben, sowie den Text im Kopf immer wieder einstudieren; sie müssen intensive Emotionen genauso ausdrücken und steuern, wie Schauspieler intensive, aber künstlich erzeugte Emotionen auf der Bühne darstellen.

Durch meine langjährige Erfahrung als klinischer Psychologe habe ich viele Strategien entwickelt und bewertet, um Autisten dabei zu helfen, ihre innere Gefühlswelt zu verstehen und auszudrücken und mit starken Gefühlen wie Angst, Verzweiflung und Wut umzugehen. Diese Strategien basieren auf der Kognitiven Verhaltenstherapie, die jedoch bei der Behandlung von Menschen mit Autismus an ihre Grenzen stößt, weshalb zusätzliche und alternative Strategien vonnöten sind.

In einer E-Mail erzählte mir Aaron Wahl von der Perdekamp’schen Emotionsmethode (PEM) und wie diese ihm dabei half, seine eigenen Emotionen zu verstehen, und es ihm möglich wurde, »meine eigenen Gefühle lieben zu lernen«. Ich war fasziniert von seinen Schilderungen und seiner Begeisterung darüber, wie er durch die PEM begann, seine Gefühle zu begreifen und mit ihnen zurechtzukommen. Wie Aaron war auch ich sehr interessiert daran, das Potenzial der PEM zur Unterstützung von Menschen mit Autismus zu nutzen.

Stephan Perdekamp entwickelte die PEM ursprünglich, um es Schauspielern zu erleichtern, Emotionen auf der Bühne darzustellen, ohne deren negative Auswirkungen auf die Psyche zu erleben. Ich beschloss, mehr über die PEM herauszufinden, und nahm nach einem Gespräch mit zwei Schauspielern, die die PEM in Australien etablieren wollten, an einem ihrer Workshops für junge Erwachsene mit Autismus teil. Je mehr ich über die PEM erfuhr, desto stärker wurde mir klar, wie gut sie Menschen mit Autismus helfen kann.

Aarons Lebenserfahrungen ähneln in vielerlei Hinsicht denen anderer Erwachsener mit Autismus, aber seine Biografie unterscheidet sich in einem entscheidenden Punkt, nämlich der Geschichte von der PEM und Aarons Glauben an deren Nutzen für ihn selbst und andere Menschen mit Autismus. Ich unterstütze seinen Enthusiasmus und dass er andere Autisten dazu ermutigt, die PEM auszuprobieren, und ich möchte meinerseits meine professionellen Kollegen dazu ermutigen, die PEM in ihr Repertoire von Methoden für Gefühlsmanagement aufzunehmen. Ich möchte außerdem meine Kollegen aus der Wissenschaft dazu aufrufen, die Methode zu bewerten, und es Menschen mit Autismus sowie meinen Kollegen ans Herz legen, sich zu PEM-Trainern ausbilden zu lassen.

Diese Autobiografie wird das wegweisende Buch über eine neue Strategie sein, mit der autistische Menschen lernen können, ihre Gefühle zu verstehen und sie bewusst zu erleben und zum Ausdruck zu bringen.

 

Professor Tony Attwood

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Prolog: Angstlaufen

Als Stephan das Zeichen zum Loslaufen gibt, bin ich plötzlich nur noch Instinkt. Ich drehe mich um und renne. Mit geblähten Nüstern. Mit hastigem Atem. Mit angstgeweitetem Blick. Das ist er: der Ausdruck der Angst, den ich in den letzten Minuten von meinem Gesicht Besitz ergreifen habe lassen. Stephan nennt ihn die »Angstmaske«. Er sagt, sie ist bei allen Menschen gleich, egal, in welcher Kultur sie leben. Die Maske setzt menschliche Mimik biologisch ein, um Angst effektiv wirken zu lassen. Sie ist an eine bestimmte Atmung gekoppelt. An eine Energie, die die Emotion auslöst. Wir haben das Ganze erst in einer Gruppe von fünf Leuten besprochen und dann ausprobiert. Jetzt lassen wir es wirken. Dass das bei mir funktioniert, ist eigentlich unglaublich. Aber ich habe jetzt keine Zeit, mich darüber zu wundern. Ich renne nur. Weg vor dem Monster, das mich seit Jahren aufzufressen droht. Weg vor dem Zittern in meinen Beinen und der Taubheit in meinem Kopf. Ich renne, als ob ich es immer so getan hätte. Dabei ist in Wahrheit das Gegenteil der Fall.

Normalerweise versteift sich mein Körper, wenn ich Angst habe. Das war schon immer so. Ich verfalle in Schockstarre, blockiere innerlich, bin wie gelähmt. Doch heute ist es anders. Die Gefahr ist zu groß. Würde ich jetzt stehen bleiben, hätte ich endgültig gegen mich selbst verloren. Dieser Lauf ist mehr als nur ein Ruf des Instinkts. Er ist die letzte Chance, meine eigenen Fesseln zu sprengen. Während unter meinen Füßen der rissige Beton des Parkplatzes dahinfliegt und hinter meinem Rücken das monotone Rauschen des Endlosverkehrs auf den Elbbrücken leiser wird, öffne ich den Mund, spüre, wie meine Kehle sich zusammenzieht und wieder weitet. Dann schreie ich laut los. Ein Angstschrei, logisch. Aber er ist mehr als das. Er ist vor allem eine Befreiung. Ich habe das Gefühl, mit jedem Laut, der mir entweicht, werde ich leichter und laufe schneller. Der Parkplatz, meine Schritte, die neben mir dahinfließende Elbe – all das wird zu einem großen Energiestrom, der aus mir selbst herausschießt. Oder in mich hinein? Egal. Die Hauptsache ist, dass ich es zulassen kann. Dass ich laufen und schreien darf, so weit und so lange ich will. Zum ersten Mal in meinem Leben.

Als irgendwann die Energie nachlässt und meine Schritte langsamer werden, senkt sich eine große Müdigkeit auf meinen Körper herab. Nachdem ich stehen geblieben bin, werden meine Beine bleischwer. Ich schaffe es kaum noch, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Normalerweise reden wir nach Übungen wie dem Angstlaufen darüber, was wir empfunden oder nicht empfunden haben, ob die Übung gewirkt hat oder nicht. Das kann ich jetzt nicht mehr. Ich signalisiere Stephan, dass ich schon mal zurück zum Center gehe. Mit einem prüfenden Blick fragt er, ob mit mir alles in Ordnung ist. Ich nicke. Es ist ein stummes Nicken, das dem Gewitter, das in meinem Kopf tobt, eigentlich nicht gerecht wird. Aber Stephan versteht. Er nickt seinerseits und lässt mich gehen. Dann wendet er sich wieder der Gruppe zu.

Während ich die 200 Meter bis zum Center im Zeitlupentempo zurücktaumele, schießen mir die Entwicklungen der letzten Wochen wie Blitze durch den Kopf. Es ist erst ein halbes Jahr her, dass eine Psychologin bei mir das Asperger-Syndrom diagnostiziert hat, eine Autismus-Variante, die sich durch gestörtes Kommunikationsverhalten und Probleme beim Deuten und Ausdrücken von Gefühlen äußert. Die Diagnose hat einen Schlusspunkt hinter eine 25 Jahre andauernde Suche nach den Gründen für meine Eigenarten und Probleme gesetzt. In diesen 25 Jahren wurde ich gemobbt, verklagt, entmündigt, berentet, immer wieder fehldiagnostiziert und schließlich von einem Therapeuten achselzuckend zum hoffnungslosen Fall erklärt.

Dass ich jetzt hier bin, hat einzig und allein damit zu tun, dass ich mich mit dem Achselzucken nicht abfinden wollte. Ich wollte wissen, woran es liegt, dass ich die Gefühle von anderen oft überdeutlich wahrnehme, zu meinen eigenen aber keinen Zugang finde. Ich wusste, dass diese Gefühle da waren. Dass sie irgendwo in meinem Körper festsaßen. Sie konnten mich zum Zittern, zum Beben und zum Zweifeln bringen, aber die Empfindungen als solche kamen nie bei mir an. So sehr ich auch versuchte, mich mit traurigen Filmen, fragwürdigen Bekanntschaften und grenzwertigen Situationen herauszufordern, sie hinterließen immer nur eine große Taubheit.

Bei der Suche nach Möglichkeiten, diese Taubheit zu überwinden, brachte mich meine Therapeutin auf die Perdekamp’sche Emotionsmethode, kurz PEM. Das ist eine Technik, die mithilfe von Körper- und Organarbeit Emotionen auslöst. Stephan hat die Methode erfunden. Er unterrichtet sie gemeinsam mit 15 Kollegen hier im Center an den Elbbrücken in Hamburg. Ursprünglich wurde das Ganze entwickelt, damit Schauspieler einen Weg finden, Emotionen auf der Bühne darzustellen, ohne sich dabei immer wieder psychisch fertigzumachen. Dieser Ansatz hat mich anfangs misstrauisch gemacht. Mit Theater habe ich nichts am Hut. Im Gegenteil. Das spielerische Vorgaukeln von Gefühlen scheint mir in meiner Situation eher zynisch. Dass ich trotzdem hergekommen bin, hatte mit dem Achselzucken des Therapeuten zu tun. Zynischer als sein Verhalten konnte es ja nicht mehr kommen. Und zu verlieren hatte ich nach seiner Diagnose auch nichts mehr. Ob ich nun von ihm verarscht wurde oder von irgendwelchen Theater-Freaks … Egal, habe ich mir gesagt. Probieren wir’s aus. Elbbrücken, ich komme!

Gleich meine erste Begegnung mit der PEM-Technik war ziemlich eindrücklich. Dort habe ich zum ersten Mal eine Idee davon bekommen, wie sich Glück anfühlt, was mich ziemlich umgehauen hat. Seitdem habe ich verstanden, dass das, was hier gemacht wird, nichts mit dem Vorgaukeln von Gefühlen zu tun hat, sondern damit, sie analytisch und systemisch zu verstehen. Dieser Ansatz ist für mich als autistischen Menschen logisch und einleuchtend. Vor allem aber funktioniert er. Die Methode führt dazu, dass sich Schritt für Schritt Knoten um Knoten zu lösen scheint. Ich habe zum ersten Mal erfahren, was es bedeutet, von einer Gemeinschaft ohne Vorbehalte akzeptiert zu werden. Ich habe bei einem Liederabend zum ersten Mal vor Rührung geweint. Und jetzt konnte ich zum ersten Mal meine Angst rauslassen – eine Angst, die mich jahrelang gelähmt und blockiert hat, statt mich zum Weglaufen zu bewegen. Sie hat sich in mir aufgestaut und verfestigt, doch sie konnte nie wirken. Das tut sie erst jetzt. Beim Angstlaufen. Für mich ist das ein großer und vor allem rasanter Fortschritt. Was Therapeuten über Jahre bei mir nicht erreicht haben, habe ich bei der PEM in wenigen Wochen geschafft. Jede Übung, die mich meinen Gefühlen näherbringt, lässt die Gewissheit in mir reifen, dass es mehr oder am besten allen Autisten möglich sein sollte, die Befreiung zu erleben, die mir hier zuteilwird. Dass ich vielleicht dazu beitragen kann, dass sie es zumindest versuchen. Gegebenenfalls indem ich meine eigene Geschichte erzähle, die ich im Angesicht der Erkenntnisse der letzten Woche auf einmal selbst in einem neuen Licht betrachte. Ich habe mich entschieden, ihre verschiedenen Abschnitte in die sechs Grundemotionen einzuteilen, mit denen wir hier arbeiten. Das ist sehr aufschlussreich. Ich sehe seitdem in vielen Dingen einen Sinn, die vorher sinnlos zu sein schienen. Aber nicht nur das. Ich bekomme ein Gefühl für sie. Das ist ungewohnt für mich, aber es ist schön. Weil es etwas ist, das ich vorher nicht kannte. Das ist Leben.

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1 Lust: Die Kindheit

Lust ist die Energie, die übrig bleibt, wenn alle Grundbedürfnisse befriedigt sind. Sie kommt, wenn man nicht kämpfen, nichts durchsetzen, nicht fliehen muss. Sie hat nicht zwangsläufig mit Sex zu tun. Neugier, Genuss, Spaß, Freude – all das ist Lust. Die Energierichtung dieser Emotion ist vorwärts. Man bekommt etwas: eine Belohnung. Weil jeder seinen eigenen Geschmack hat, ist Lust individuell. Aus ihr resultieren Ideenreichtum und Kreativität. Deshalb passt sie gut zur Kindheit. Kinder agieren meist intuitiver als Erwachsene. Damit handeln sie per se lustbetonter. Ob das auch für mich galt? Als ich klein war, habe ich einmal den kompletten Kleiderschrank meiner Eltern mit roter Farbe ausgesprüht. Ich habe unter der Bettdecke mit Streichhölzern gezündelt. Schon möglich, dass das mit Neugier, also mit Lust, zu tun hatte. Wenn es Fischstäbchen gab, habe ich sie heimlich unter den Schrank geschoben, wenn niemand guckte. Das hatte nichts mit Lust zu tun. Sondern damit, dass ich keine Lust auf Fischstäbchen hatte. Eigentlich ist mir Lust ein Rätsel. Genau wie meine Kindheit.

Kind sein

Mutter, Vater, Tochter … und das behinderte Kind. In dieser Familienkonstellation bin ich aufgewachsen. Das behinderte Kind war ich, die Tochter war meine Schwester Mirjam-Sophie. Sie ist 15 Monate älter als ich. Nach meiner Geburt soll sie ziemlich irritiert darüber gewesen sein, dass es auf einmal noch ein zweites Kind in der Familie gab. Aus Protest hat sie Regale ausgeräumt, gegen meinen Kinderwagen getreten oder versucht hineinzuklettern, um mich rauszuschmeißen. Daran erinnern wir uns allerdings beide nicht mehr, unsere Eltern haben nur davon erzählt. In gewisser Weise setzt sich der Konkurrenzkampf, der sich in Mirjams frühem Verhalten bereits abzeichnete, aber bis heute fort. Mirjam konnte alles, Aaron konnte nichts. So war es immer. Allerdings wurde mir auch selten die Chance gegeben, das, was ich nicht konnte, zu lernen. Ich konnte es ja nicht. Das bedeutete für meine Familie, dass ich es gar nicht erst lernen durfte. Diese Nichtlogik macht mich bis heute wütend. Sie ist einer der Hauptstreitpunkte zwischen uns. Auch weil sie dazu führt, dass ich bis in alle Ewigkeit dazu verdammt zu sein scheine, das behinderte Kind zu bleiben. Rollen, die einem über Jahre von der eigenen Familie aufgedrückt werden, wird man schwer wieder los. Sie haften an einem. Wie Hundescheiße an der Schuhsohle. Obwohl … Hundescheiße kann man abwaschen. Rollenzuschreibungen nicht. Die bleiben und folgen einem. Man entkommt ihnen nur, wenn man denen entkommt, die sie erfunden haben. Aber wie entkommt man der eigenen Familie?

Vielleicht habe ich deshalb keinen großen Bezug zur Kindheit, weil ich eigentlich keine hatte. Rückblickend kommt mir dieser Lebensabschnitt vor wie ein endloser Marathon aus Arztbesuchen und Sinnlosigkeiten. Ich wurde zehn Wochen zu früh geboren, was zu einer Reihe von Problemen führte: Verhaltensauffälligkeiten, Sprachentwicklungsstörungen, motorische Schwierigkeiten. Schon als Baby musste ich zur Krankengymnastik, später kamen Ergotherapie und eine Behandlung am Hamburger Werner-Otto-Institut für entwicklungsverzögerte Kinder hinzu. Weil ich einen Sigmatismus hatte, saß ich irgendwann in der Dachgeschosswohnung eines Sprachtherapeuten, bei dem ich zur Übung immer wieder Sätze wie »Susi sag mal saure Sahne« sagen musste. Irgendein Problem gab es immer, wegen dem wir zum Arzt gehen mussten. Kein Wunder, dass Mirjam mir die viele Aufmerksamkeit neidete, auch wenn ich gerne darauf verzichtet hätte.

Angesichts der Tatsache, dass meine beiden Eltern Lehrer sind und Autisten unterrichtet haben, finde ich es ziemlich seltsam, dass offenbar nie jemand auf die Idee kam, mich auf Autismus untersuchen zu lassen. Vielleicht verhinderte die unübersichtliche Anzahl von Problemen und Behandlungen, dass irgendwann mal jemand eins und eins zusammenzählte, denn die Symptome waren da: Ich war extrem ruhig, Einzelgänger, sehr lärmempfindlich, große Menschenansammlungen überforderten mich, was ich nicht wollte, machte ich nicht. Natürlich wollte ich auch nicht ständig bei Ärzten sitzen, aber darüber wurde nicht diskutiert. Es wurde einfach verordnet. Weil meine Eltern Beamte waren, ging das. Sie hatten ja eine private Krankenversicherung, die sämtliche Kosten übernahm. Gut für sie, schlecht für mich. Denn so kam ich nie zur Ruhe, obwohl in Ruhe gelassen zu werden eigentlich alles war, was ich wollte.

Wenn ich heute, mit Ende 20, darüber nachdenke, wie es wäre, selber Kinder zu haben, führt mir dieser Gedanke die Zwickmühle vor Augen, in der Autisten in unserer Gesellschaft stecken. Also denke ich gar nicht länger über das Thema nach, auch wenn ich viele Kinder ganz flauschig finde. Oft sind sie sehr direkt und authentisch. Das mag ich. Was ich nicht mag, sind Kinder, die ihren Eltern ähnlich sein wollen – also diejenigen, die sich von der Gesellschaft vereinnahmen lassen und die Erwachsenen nachahmen. Letztendlich sind Kinder ja einfach nur kleine Menschen. Es gibt Menschen, die sind nett, und es gibt Menschen, die sind Arschlöcher. Arschlöcher sind für mich Leute, die sich so sehr von Normen beeinflussen lassen, dass sie nur noch damit beschäftigt sind, keine Fehler zu machen. Dann unterdrücken sie Bedürfnisse, verheimlichen Vorlieben, achten mehr darauf, wie sie von anderen gesehen werden, als darauf, was sie selber wollen. So etwas finde ich dämlich. Zugegebenermaßen bleibt mir auch gar nichts anderes übrig, als die Dinge auf diese Weise zu betrachten, weil ich Verheimlichen und Unterdrücken schlicht und ergreifend nicht kann. Sie gehören zu den unzähligen Dingen, die meine Schwester sehr gut beherrscht, ich aber nicht. In diesem speziellen Fall bin ich allerdings nicht traurig über meine Unfähigkeit. Traurig macht mich höchstens, dass dies mein Leben schon früh in zwei Bereiche spaltete: meine Welt und die Welt der anderen. Inzwischen verstehe ich, warum das so ist. Aber bis zu dieser Erkenntnis war es ein weiter Weg. Ein weiter Weg durch meine eigene Welt. Auf dem es sehr bald sehr einsam wurde.

Winterreise

Frau Winter war gleichzeitig das Tor und die Grenze zur Welt der anderen. Sie ermutigte mich, wo ich Interesse zeigte, ließ mich aber in Ruhe, wenn ich es nicht tat. Ich mochte Frau Winter. Dass ich sie mochte, konnte ich ihr direkt und ehrlich sagen, ohne dass sie komisch guckte oder irritiert auswich. Dafür mochte ich sie noch mehr. Denn mit Direktheit und Ehrlichkeit schienen die meisten anderen Menschen um mich herum nicht besonders gut klarzukommen. Das war für mich, der ich gar nicht anders konnte, als unverblümt zu sagen, was er dachte, ein Problem, auch wenn ich es nicht konkret hätte benennen können. Ich spürte es einfach, so wie ich vieles spürte: Die Ruhe und Sicherheit, die die Wohnung meiner Großeltern von den Spannungen im Haushalt meiner Eltern unterschied. Das Befremden, das meine gleichaltrigen Cousins empfanden, wenn ich statt mit ihnen durch die Gegend zu toben, lieber in Ruhe dabei zusah, wie sie sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Die verstohlenen Blicke, mit der manche Kinder meine Latzhosen musterten, die zwar praktisch, aber total unmodisch waren. All das waren Dinge, die ich intuitiv wahrnahm. Genau wie die Zuneigung von Frau Winter.

Frau Winter war meine Kindergärtnerin. Es gibt ein Foto, das ihre Bedeutung für mich in jenen frühen Jahren gut symbolisiert. Das Bild wurde bei einer Faschingsfeier gemacht. In der linken Hälfte ist eine Horde aufgekratzter Kinder zu sehen. Sie reißen den Mund auf, lachen, sind als Hexen, Gespenster und Cowboys verkleidet. Rechts daneben steht Frau Winter, die einen kleinen Jungen an der Hand hält, der den Mund nicht aufreißt und nicht lacht. Er blickt ernst in die Kamera und steckt dabei Mittel- und Zeigefinger in den Mund. Er ist der Einzige, der keine Verkleidung trägt, stattdessen trägt er unmodische Latzhosen. Dieser Junge bin ich.

Würde ich dieses Foto heute meiner Mutter zeigen, würde sie einen bedauernden Gesichtsausdruck aufsetzen und sagen, wie schade es doch ist, dass all die anderen Kinder Spaß haben, während ich unglücklich bin. Diese Reaktion ist bezeichnend für die grundlegenden Missverständnisse zwischen mir und der »normalen« Welt, denn auch wenn ich mich nicht mehr genau an den Moment erinnern kann, in dem das Faschingsfoto entstand, bin ich sicher, dass ich nicht unglücklich war. Schließlich halte ich auf dem Bild die Hand von Frau Winter, die mir den unschätzbaren Dienst erwies, mich nicht dazu zu zwingen, in irgendein albernes Kostüm zu schlüpfen, nur um zu sein wie alle anderen. Dass ich darüber sehr froh war, weiß ich im Gegensatz zu den genauen Umständen der Entstehung des Fotos noch genau.

Ich verstehe bis heute nicht, wozu Kostüme gut sein sollen. Wenn ich in einem Online-Spiel in eine Rolle schlüpfe, um in einer Fantasy-Welt mit einer vorgegebenen Handlung bestimmte Aufgaben zu lösen, ist das für mich logisch und nachvollziehbar, aber warum sollte ich in der realen Welt etwas darstellen wollen, was ich nicht bin? Nur weil Halloween oder Fasching ist? Das ist doch Bullshit. Für mich steht Verkleiden ganz oben auf einer Liste von Dingen, die ich sinnlos und überflüssig finde. Auf dieser Liste stehen auch Materialismus, Gruppenzwang, Laternenumzüge, Tanzflächen, Casting-Shows, Kitschromane, Selbstbetrug und Lügen für den schönen Schein. Letztere haben mir das Leben besonders schwer gemacht, weil sie irgendwann dazu geführt haben, dass ich an meinem eigenen Verstand zweifelte. Als ich nach dem Kindergarten in die Grundschule kam, musste ich auf die schützende und vermittelnde Unterstützung meiner Kindergärtnerin verzichten. Die Grenze zur Welt der anderen, die auch das Tor war, fehlte auf einmal. Ich stand gleichzeitig draußen und mittendrin. Das führte zu verwirrenden Situationen, die mich zunehmend ratlos zurückließen. Diese Ratlosigkeit hatte zur Folge, dass ich mich immer mehr in mich selbst zurückzog. Wann genau das anfing, weiß ich nicht mehr. Lange fühlte es sich für mich so an, als wäre es nie anders gewesen, aber das stimmt nicht. Es gab ein Schlüsselerlebnis, das mir erst vor ein paar Wochen beim Nachdenken über dieses Buch wieder eingefallen ist – bei einem Déjà-vu im Friseursalon.

Die Lügen der anderen

Für mich war die Frage »Wie geht’s?« seit jeher ein Anlass für Verwirrung. Ich kann mich an zahllose Situationen erinnern, als mir diese Frage gestellt wurde und ich noch während des Versuchs einer Antwort anhand der Reaktion meines Gegenübers feststellte, dass eigentlich gar keine Antwort erwünscht war. Die meisten Menschen weichen aus, wenn man sie ohne Filter mit dem eigenen seelischen Innenleben konfrontiert: Ihre Lockerheit verschwindet, ihre Körper versteifen sich, ihre Blicke werden hart. Ich nehme solche Dinge sehr stark wahr. Ich musste erst begreifen, dass ein oberflächliches »Wie geht’s?« in der Regel keine ernst gemeinte Frage ist, sondern eine sinnleere formale Phrase. Die Leute wollen nicht wirklich wissen, wie es einem geht, sie wollen nur höflich sein. Deshalb erwarten sie, dass man ebenfalls höflich ist, also mit »gut« antwortet, auch wenn es einem dreckig geht. Auf einer sachlichen Ebene habe ich das irgendwann verstanden, aber meiner emotionalen Logik widerspricht es vollkommen. Deshalb passiert es mir immer wieder, dass ich spontan ehrlich auf ein »Wie geht’s?« antworte. Wenig später bin ich mit den steifen Körpern und harten Blicken konfrontiert. Danach geht es mir meist noch schlechter als vorher, weil ich mich fühle wie ein Wesen von einem anderen Stern. Was mich wiederum daran erinnert, dass es eine Zeit gab, in der ich aufgrund solcher Erfahrungen völlig resigniert und überhaupt nicht mehr mit Menschen gesprochen habe. Aber dazu kommen wir später.

Das »Wie geht’s?«-Prinzip funktioniert auch andersherum: Dann nehme ich wahr, wenn es Menschen nicht gut geht, und spreche sie darauf an. Auch das hatte ich mir eine Zeit lang völlig abgewöhnt, doch vor ein paar Wochen ist es wieder passiert. Das war eine erhellende Erfahrung.

Ich musste zum Haareschneiden. Ich gehe seit Jahren zum selben Friseur, vielleicht ist auch das autismusbedingt, da es ja heißt, Autisten täten sich schwer mit Veränderungen. Vielleicht hat es in diesem Fall aber auch nur damit zu tun, dass ich den Besitzer des Friseurladens schon lange kenne, mit seiner Art Haare zu schneiden einverstanden bin und mich bei ihm wohlfühle. Die Atmosphäre in seinem Salon ist nicht nur vertraut, sondern familiär. Ich freue mich auf die Termine dort.

Als ich diesmal ankam, wurde mir mitgeteilt, dass der Chef kurzfristig erkrankt sei und deshalb eine Kollegin meinen Termin übernähme. Das war für mich in Ordnung, auch wenn ich die Kollegin nur flüchtig kannte. Nicht in Ordnung war dagegen, dass ich während des Haareschneidens fühlte, dass es ihr nicht gut ging. Es war nicht nur, dass sie traurige Augen hatte und bedrückt wirkte, was ihre routinierte Heiterkeit im Umgang mit mir als Kunden umso beklemmender machte, es ging wirklich eine tiefe Traurigkeit von ihr aus. Diese Traurigkeit übertrug sich auf mich. Das angenehme Gefühl der Entspannung, das ich normalerweise in dem Salon empfinde, wich einer Belastung, die ich körperlich spürte. Am liebsten hätte ich die Frau gefragt, was mit ihr los ist. Gleichzeitig befürchtete ich, dass es ihr unangenehm sein könnte, eine solche Frage in einem voll besetzten Friseursalon zu beantworten. Und dass es mir generell nicht zusteht, eine praktisch Fremde nach ihren Problemen zu fragen. Also hielt ich den Mund. Ich ließ mir die Haare schneiden, ertrug das zweckoptimistische Gespräch und nahm die adaptierte Traurigkeit nach dem Bezahlen mit nach Hause, wo sie mich weiter beschäftigte. Genauso wie die Frage, ob ich mich nicht doch nach dem Wohlbefinden der Friseurin hätte erkundigen sollen. Sind es nicht Situationen wie diese, in denen Menschen einander signalisieren könnten, dass sie sich gegenseitig nicht scheißegal sind? In denen sie füreinander da sein sollten? In denen man im extremsten Fall einen Verzweifelten davon abhalten kann, vors nächste Auto zu springen?

Weil mir der Gedanke keine Ruhe ließ, schrieb ich dem Chef des Friseurladens eine Mail. Ich wollte ihm sowieso gute Besserung wünschen, da konnte ich auch gleich fragen, ob die Kollegin Probleme hatte und vielleicht Hilfe brauchte. Ich musste das einfach tun, denn es zu ignorieren wäre mir unmenschlich vorgekommen. Ein paar Stunden später kam die Antwort, von der Friseurin persönlich. Sie hatte tatsächlich einen schlechten Tag gehabt. »Witzig, dass dir das aufgefallen ist«, schrieb sie, aber sonst sei alles in Ordnung.

Ich las diese Mail immer wieder. Sie war nicht die Antwort, die zu der tiefen Traurigkeit passte, die ich empfunden hatte, während ich auf dem Friseurstuhl saß. Lieber wäre mir gewesen, die Frau hätte sich mir anvertraut und ich hätte dadurch zu ihrer Entlastung beitragen können. Mir ist aber auch durchaus klar, dass das nicht realistisch ist. Die wenigsten Leute geben zu, dass sie Probleme haben, geschweige denn, dass sie diese Probleme Fremden anvertrauen. Aber immerhin: Die Mail war keine komplette Zurückweisung. Sie war kein »Nein, du hast dich geirrt«, kein »Alles in Ordnung« ohne Einschränkung. Das bewegte mich, weil es die fast verloren geglaubte Hoffnung in mir festigte, dass meine Wahrnehmung doch der Realität entspricht. Diese Hoffnung habe ich eigentlich schon in der Grundschule verloren. Das war auch der Grund dafür, dass ich zwischenzeitlich kaum noch mit Menschen sprach. Es begann mit einem Vorfall, der dem im Friseursalon sehr ähnlich war, aber einen völlig anderen Verlauf nahm. Es begann mit dem stummen Hilferuf von Melanie.

Melanie war ein Mädchen aus meiner Klasse. Eigentlich hatten wir nicht viel miteinander zu tun, aber ich erinnere mich, wie sie vor einer Elterndankveranstaltung in der Aula unserer Schule an der Wand lehnte und sehr unglücklich wirkte. Auch hier spürte ich intuitiv, dass sie etwas bedrückte. Ich ging zu ihr und fragte geradeheraus: »Geht es dir nicht gut?«

Die Antwort waren ein Stirnrunzeln und ein zickiges »Wieso?«. Ich versuchte zu erklären, dass ich ihr ansehen konnte, dass sie traurig war, doch Melanie schüttelte vehement den Kopf und beteuerte: »Das bildest du dir ein. Alles gut, kein Problem.«

Eine Stunde später verließ sie vorzeitig die Veranstaltung. Später stellte sich heraus, dass sie rasende Kopfschmerzen gehabt hatte und zu Hause direkt von ihrer Mutter ins Bett gesteckt wurde. Aber das kam damals bei mir gar nicht mehr richtig an. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, an meiner eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. Wie konnte es sein, dass ich mir so sicher gewesen war, dass es Melanie nicht gut ging, sie es aber standhaft bestritt? Statt den Wahrheitsgehalt ihrer Antwort infrage zu stellen und darüber nachzudenken, dass sie mit ihrer kleinen Lüge nur den schönen Schein wahren wollte, kreisten meine Gedanken unaufhörlich um einen Satz: »Das bildest du dir ein.«

War es so? Bildete ich mir die Gefühlsregungen, die ich an anderen Menschen wahrzunehmen glaubte, nur ein? Lag ich einfach nur falsch? Als neunjähriger Junge kommt man nicht auf die Idee, dass die eigene Unfähigkeit, zu lügen, andere nicht daran hindert, es trotzdem zu tun. Man kommt auch nicht auf die Idee, dass nicht unbedingt die eigene Ehrlichkeit falsch ist, sondern die Norm einer überkontrollierten Gesellschaft. Und schon gar nicht kommt einem in den Sinn, dass all das mit einer angeborenen neurologischen Abweichung namens Autismus zu tun haben könnte. Trotzdem zieht man natürlich seine Schlüsse.

Das Erlebnis mit Melanie steht stellvertretend für eine Reihe von ähnlichen Erfahrungen, die ich im Laufe meiner Kindheit gemacht habe und die verschiedene Auswirkungen auf mich hatten. Erstens: Ich merkte, dass mein Verhalten unpassend war, wusste aber nicht so richtig, warum. Deshalb versuchte ich mich möglichst gar nicht mehr zu »verhalten«, sprich unauffällig zu sein und nicht anzuecken. Zweitens: Weil mir immer wieder gesagt wurde, dass meine Wahrnehmung nicht stimmte, nahm ich irgendwann selbst an, dass sie falsch war. Also versuchte ich, meine Beobachtungen zu verdrängen oder sie zumindest nicht zu äußern. Drittens: Alles in allem wurde mir bewusst, dass mit mir etwas nicht stimmte. Das war eine beunruhigende Erkenntnis. Also versuchte ich mir Skills anzutrainieren, die mich nach außen hin so wirken ließen, als würde mit mir alles stimmen. Merkte ich, dass meine Mitschüler Zeichentrickserien super fanden, guckte ich auch welche, um zu verstehen, was daran so toll war. Leider blieb das Verständnis aus. Wenn ich sah, dass meine Klassenkameraden sich für den Tausch von Pokémon-Karten begeisterten, beschäftigte ich mich ebenfalls mit dem Thema, nur um dabei festzustellen, dass ich Pokémon total bescheuert fand. Weil ich merkte, dass sich viele Kinder über den Wert materieller Güter definierten, versuchte ich durch Geschenke ihre Gunst zu gewinnen. Was aber auch wieder dazu führte, dass meine Klassenkameraden mich komisch fanden, denn selbst wenn sie das Geschenk mochten, fanden sie es seltsam, dass es ausgerechnet von mir kam, der sonst nie mit ihnen sprach.

Es ist bezeichnend für autistische Wahrnehmung und autistisches Verhalten, dass ich nicht den einfachen Weg ging. Dass ich nicht das Verhalten anderer imitierte, um ihnen zu gefallen. Dass ich mich nicht verstellte, um Beifall zu bekommen. Dass ich nie vorgab, etwas gut zu finden, obwohl ich es eigentlich nicht mochte. Es hatte nichts mit mangelndem Anstand zu tun, dass ich es nicht tat, ich kam schlicht gar nicht auf die Idee. Genauso wenig wie ich auf die Idee kam, dass die Menschen um mich herum ständig all die kleinen Lügen des Alltags zu ihrem Vorteil anwendeten. Dass sie ihren Gesprächspartnern bewusst das erzählten, was sie hören wollten, um sie auf ihre Seite zu ziehen. Dass sie behaupteten, sie wüssten etwas, obwohl dem nicht so war, um nicht dumm zu wirken. Dass sie logen, um sich nicht durch eine unpopuläre Meinung oder Aussage lächerlich zu machen. Kurzum: dass sie ständig andere und oft auch sich selbst manipulierten.

Für mich ist das unlogisch. Und weil es unlogisch ist, würde es für mich unermesslich viel Denkaufwand bedeuten, mich diesem Verhalten anzupassen. Es ist nicht so, dass Autisten nicht lügen können. Sie können es. Oder zumindest ich kann es. Aber es ist so anstrengend, dass ich daran kaputtgehen würde, wenn ich es öfter täte. Das ist auch der Grund, warum ich ABA ablehne: Applied Behavior Analysis. Das ist eine Behandlungsmethode, die vor allem bei autistischen Kindern angewendet wird. Sie besteht darin, den Patienten unpassendes (also autistisches) Verhalten abzutrainieren. Ähnlich wie eine Dressur. Das Kind wird darauf gedrillt, sich »normal« zu verhalten. Den Eltern wird das dann so verkauft, als ob das Kind dadurch weniger autistisch wäre, aber für das Kind ist es eine Zwangsjacke aus Verhaltensverboten. ABA ist einer der wenigen Gründe, warum ich dankbar bin, dass meine Asperger-Diagnose erst sehr spät gestellt wurde. Hätte ich sie schon in der Kindheit bekommen, hätten mich meine Eltern garantiert zu einem ABA-Experten geschickt. Mir mein unpassendes Verhalten abzugewöhnen war ja in gewisser Weise ihr höchstes Ziel. Dabei hätten sie vielleicht einfach nur mit mir über meine Bedürfnisse reden und das glauben sollen, was ich ihnen erzählt hätte. Es wäre immerhin die Wahrheit gewesen. Aber die wollte ja nie jemand hören.

Meine Mutter sagt …

Eines der wenigen Male, die ich dich habe weinen sehen, war während deiner Grundschulzeit. Da warst du sieben oder acht. Es hatte eine Feier gegeben, bei der deine Mitschüler versucht hatten, dich auf die Tanzfläche zu zerren. Da bist du panisch weggelaufen. Du bist als Kind oft weggelaufen, denn das war deine Art, vor Konflikten zu fliehen oder vor Situationen, in denen du dich in die Enge getrieben fühltest. Am besten war, man ließ dich in Ruhe. Wenn du nicht gedrängt wurdest, warst du ruhig und lieb. Wie ein Teddybär. Kräftig gebaut, freundlich, still. Oft zu still. Auch Mirjam war ein ruhiges Kind, aber sie war vom Wesen her aufgeweckt. Du hingegen wirktest von Anfang an apathisch, zurückgezogen.

Dein Start ins Leben war nicht einfach. Du kamst zehn Wochen zu früh zur Welt. Nach der Geburt hattest du eine Hirnblutung und ein schweres Atemnotsyndrom. Es hat Tage gedauert, bis du über den Berg warst. Komischerweise hatte ich in dieser Zeit keine Angst. Ich habe den Gedanken, du könntest sterben, einfach verdrängt. Ich wusste, du würdest leben. Sorgen machte ich mir damals keine, die kamen erst später. Wir mussten immer wieder zu Untersuchungen deiner Motorik und Sensorik. So oft fuhren wir in die Klinik, in die Humangenetik, zur Krankengymnastik …

Für einen Säugling wie dich war all das sehr anstrengend. Im Wohnzimmer hatten wir eine Deckenschaukel für dich aufgehängt, in der du damals oft lagst. So hatten wir dich immer bei uns, und manchmal hast du uns angelächelt. Nach der Krankengymnastik hast du aber auch oft zehn Stunden am Stück geschlafen. Das hat sogar den Kinderarzt beunruhigt. In der Humangenetik hingegen meinten sie, es sei alles normal. Mich hat das immer wahnsinnig frustriert, denn es war offensichtlich, dass nicht alles »normal« war. Keinem war damit geholfen, sich die Dinge schönzureden. Dir am allerwenigsten.

Als du später im Kleinkindalter warst, habe ich irgendwann einmal zu deinem Vater gesagt: »Der Junge hat doch autistische Züge.« Wir hatten als Lehrer ja beide autistische Kinder unterrichtet, allerdings war der Kontext ein anderer: Wir arbeiteten an einer Sonderschule für verhaltensauffällige Kinder aus sozialen Brennpunkten. Außerdem kann und will ich meine Schüler nicht mit dir vergleichen. Bei dem eigenen Sohn sieht man ja doch vieles anders. Hinzu kam, dass die Ärzte den Verdacht nicht bestätigten. Der eine sagte dies, der andere jenes, im Laufe der Jahre wechselte die Diagnose von Depressionen zu sozialer Phobie und anderem. Wir verloren den Autismus aus den Augen.

Heute ist für mich vieles schlüssig. Das Rühr-mich-nicht-An, das Sprich-mich-nicht-An, der eingeschränkte Blickkontakt, die Angst vor Menschenmassen, die Überempfindlichkeit in vielen Bereichen – das sind Parallelen bei vielen Autisten. Das meiste hast du mit dir allein ausgemacht. Über dich und deine Gefühle sprachst du fast nie. Hinzu kam deine absolute Lärmempfindlichkeit! Schimpfen ertrugst du nicht, dabei gingst du sofort an die Decke. Auch wenn Mirjam früher sang, hast du dich aufgeregt. Wir haben immer gesagt: »Sei doch nicht so intolerant, lass sie doch singen«, aber du ertrugst das einfach nicht. Deine Wäsche mochtest du nur mit ganz viel Weichspüler. Das Knirschen, wenn man über Schnee lief, hat dich fertiggemacht. Du warst schon sehr eigenwillig, aber auch ein ganz schöner Chaot.

Wo du in einigen Bereichen überempfindlich warst, hattest du in anderen überhaupt kein Gefahrenbewusstsein. Bei deinen Großeltern hast du einmal Streichhölzer gemopst und damit unter der Bettdecke gezündelt. Erst später entdeckte mein Vater die verkohlten Hölzchen im Bett. Es war reines Glück, dass du dabei nicht alles in Brand gesteckt hast. Auch im Straßenverkehr warst du völlig unbekümmert. Mit dem Fahrrad fuhrst du auf Kreuzungen zu und achtetest auf alles um dich herum, nur nicht auf die Autos. Mir rutschte jedes Mal das Herz in die Hose, wenn du so unbedarft auf eine Kreuzung zurastest. Andere Dinge, die du angestellt hast, waren auch lustig. Als du drei oder vier warst, hast du meinen Kleiderschrank mit roter Farbe ausgesprüht, und wenn du etwas nicht essen mochtest, hast du es versteckt. Das führte dazu, dass wir noch nach Jahren beim Umräumen verschimmelte Brote fanden, die du hinter Möbel geklemmt hattest. Auf diese Weise hast du auch mal Fischstäbchen entsorgt, die fanden wir glücklicherweise aber gleich.

Nachdem du damals von der Tanzfläche aus der Schule weggelaufen warst, rief mich der Direktor an, um mich über deine Flucht zu informieren. Ich bin sofort losgefahren, um dich zu suchen. Irgendwann kamst du mir weinend entgegen. Das hat mich ziemlich aufgewühlt, denn so kannte ich dich kaum. Du hast so selten Gefühle gezeigt. Kaum Freude, kaum Trauer. Dein Gesicht blieb meist unbewegt. Zu Hause hab ich mich mit dir hingesetzt und mir erzählen lassen, was passiert war. Später gab es noch ein Gespräch in der Schule, bei welchem dein Klassenlehrer zu mir sagte: »Der Junge ist irgendwie anders.« Mich hat das nicht schockiert oder verwundert. Ich wusste ja, was er meinte. Mir war immer lieber, wenn die Dinge offen angesprochen wurden, als sie schönzureden, wie die Leute in der Humangenetik es taten. Das Problem war nur, dass wir den Grund der Andersartigkeit lange nicht benennen konnten. Sosehr es mich erleichtert, dass wir es jetzt können, so sehr quält mich der Gedanke, dass wir dir und uns vielleicht viel Leid erspart hätten, hätten wir früher gewusst, was los war.

Die Botschaft, die nie ankam

Über meinen Vater gibt es nicht viel zu sagen, denn er hat keinen großen Eindruck hinterlassen. Als ich acht war, trennten sich meine Eltern, und er zog aus. Danach sahen Mirjam und ich ihn nur noch jedes zweite Wochenende und auf Campingtouren durch Skandinavien und Holland, die er fortan in den Sommerferien mit uns unternahm und die ich allesamt schrecklich fand. Bei diesen Urlauben hockten wir plötzlich zwei Wochen lang auf engstem Raum aufeinander, als könnten wir dadurch die Nähe, die wir im Alltag nie hatten, im Crashkursverfahren entwickeln. Konnten wir aber nicht. Wir blieben Fremde. Für mich ist mein Vater eine Figur, die irgendwie immer präsent, aber nie wirklich anwesend war. Die wenigen Gelegenheiten, bei denen er sich durch erinnerungswürdige Handlungen hervortat, waren meist negativ. Womit wir auch schon beim Überreagieren wären.