Ein Wein für zwei - Lizzy Dent - E-Book

Ein Wein für zwei E-Book

Lizzy Dent

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Brauchen wir nicht alle mal eine Pause vom eigenen Leben? Prickelnde Unterhaltung jetzt für kurze Zeit zum Einführungspreis (eine befristete Preisaktion des Verlages)

Birdy Finch hat den absoluten Tiefpunkt in ihrem Leben erreicht: arbeitslos, Beziehungsstatus »kompliziert« und gestrandet auf der Couch ihrer besten Freundin Heather. Die beschließt, ihren Job als Weinsommelière in einem schottischen Hotel sausen zu lassen – und Birdy ergreift die Chance, reist kurzerhand in die Highlands und gibt sich als Heather aus. Wie schwer kann es schon sein, reichen Leuten Wein einzuschenken? Birdy gibt ihr Bestes, um den Wein – äh Schein – zu wahren. Doch nicht nur die Gefühle für den attraktiven Koch James könnten ihr einen Strich durch die Rechnung machen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 535

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

»Diese Situation, in der ich mich hier befinde – dass ich so tue, als wäre ich meine beste Freundin in einem ganz und gar nicht komplett runtergekommenen Hotel –, ist bereits brenzlig. Aber es ist machbar, solange ich hart arbeite, zu allen nett bin und irgendwie bis zum Ende des Sommers durchhalte. Was ich mir nicht erlauben kann: mich zu verlieben. Reiß dich am Riemen, Birdy!

Heute Abend muss mein Crash-Kurs beginnen. Ich muss mich über eine Million Weine informieren.

›Heather?‹

Die Stimme hinter mir lässt mich zusammenzucken – sie klingt tief und hat einen starken, aber sanften schottischen Akzent. Der Mann ist groß, trägt eine weiße Schürze und seine dunkle Mütze hat er sich tief ins Gesicht gezogen. Groß, geheimnisvoll, kann ein Ei pochieren. Ich bin direkt hin und weg.«

Die Autorin

Lizzy Dent wuchs in Australien und Neuseeland auf und kam das erste Mal mit edlen Weinen in Kontakt, als sie im Hotel ihrer schottischen Tante aushalf. Nachdem sie viele Jahre durch die Welt gereist ist, für MTV, die BBC und andere Fernsehsender gearbeitet hat, begann sie zu schreiben. Am liebsten bringt sie ihre Leser*innen zum Lachen. Inzwischen lebt Lizzy Dent mit ihrer Familie mal in London, mal in Österreich oder in Neuseeland.

LIZZY DENT

Aus dem Englischen

von Pauline Kurbasik

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe The Summer Job erschien erstmals 2021 bei Viking, an imprint of Penguin Books Ltd, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 05/2022

Copyright © 2021 Rebecca Denton

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung: zero-media.net

unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27598-3V001

www.heyne.de

Dieses Buch ist dem gesamten Manson-Clan gewidmet.

Voller Dankbarkeit, Liebe und einem kleinen Gläschen Whisky.

&

Meiner Cousine Rachael Johns, der Autorin, die mich zum Schreiben motiviert hat und mich auch weiterhin jeden Tag inspiriert.

1

Mai

»Biste wegen ’ner Hochzeit hier?«, fragt der Fahrer und hat seinen fröhlichen Blick auf mich gerichtet und nicht auf die schmale Straße, die wir entlangrasen.

»Nein, nein«, entgegne ich, und mir schmerzen langsam die Finger, weil ich mich so fest an meinen Sitz klammern muss. Er ist mindestens siebzig Jahre alt.

»Na ja, bist auch nicht für ’ne Hochzeit angezogen«, stimmt er zu.

Ich blicke auf mein Shirt, und kurz ist mein Selbstbewusstsein größer als meine Angst. Aber nur kurz. Ich hatte ein weißes Seidenshirt – um sechzig Prozent reduziert – bei TK Maxx gekauft, aber nach einigen Stunden auf Reisen fiel mir ein, dass weiße Seidenoberteile nur etwas für Reiche oder Menschen sind, die gern Wäsche waschen. Wenn ich Kleidung kaufe, achte ich nur darauf, dass die Sachen gebügelt aussehen, wenn ich sie aus dem Trockner hole.

Das Auto nimmt eine scharfe Kurve, die einspurige Straße wird immer schmaler, der Wald lichtet sich und wir fahren durch ein einfaches Eisentor, das an zwei alten Steinsäulen hängt. Weite Grünflächen erstrecken sich auf dem bergigen Gelände und in der Zufahrt recken gewaltige Bäume ihre Äste in den Himmel und formen eine Allee mit einem schiefen Blätterdach. Im Nebel wirkt alles sepiafarben.

Vor mir erhebt sich das Gebäude, das eher wie ein kleines Schloss wirkt. Ein Mutterschiff aus grauen und sandfarbenen Steinen, mit spitzen Türmen, die die Seiten flankieren, und einer riesigen Treppe, die von der kreisförmigen Auffahrt zum Eingang führt. Es ist viel prunkvoller, als ich es mir vorgestellt hatte, aber seltsam trostlos. Ich schreibe direkt eine Nachricht an Tim.

Ich bin in einer scheiß Gothic Novel.

Mein Ton gefällt mir. Witzig, frech, geheimnisvoll. Ich denke darüber nach, ihn anzurufen und mehr zu erzählen, aber ich bin mir nicht sicher, ob er die Anspielung verstehen würde. Tim ist nicht sonderlich belesen.

Die Autoreifen schliddern und katapultieren mich zurück in das Rennauto. Wir haben uns festgefahren, die Räder drehen im Matsch durch und der Fahrer lässt den Motor aufheulen. Er schaltet und wir werden nach vorne geschleudert.

»An der Rückseite führt ein kleiner Weg zu den Ställen und Cottages. Dahinter liegt ein kleiner Parkplatz«, sage ich und schaue noch mal die Anweisungen auf meinem Handy an.

»Personaleingang?«, fragt er und hat eine Augenbraue hochgezogen.

»Yup«, sage ich und nicke, dann starre ich wehmütig aus dem Fenster.

Die Rückseite des Hauses ist ebenso prunkvoll, aber hübscher als die Vorderseite. Hinter einem kiesbedeckten Hof und einem Rosengarten fällt das Grundstück sanft ab; unten rauscht ein Fluss, den ich hören, aber nicht sehen kann. Die Ställe befinden sich etwa hundert Meter neben dem Haus, und das Auto hält zwischen ihnen und drei kleinen steinernen Cottages. Ich blicke zurück zum Gebäude, das fast von einem kleinen Eichenhain verdeckt wird.

Beim größten der drei Cottages steigt in hübschen Wölkchen Rauch aus einem gedrungenen Schornstein und an der Tür hängt ein kleines schieferfarbenes und silbernes Schild, das ich gerade erst entdecke. Nur für Personal.

»Wir sind da«, sage ich, steige aus und drücke dem Fahrer zweihundert schottische Pfund in die Hand, versuche, nicht zusammenzuzucken, als ich mich von meinem letzten Rest Geld verabschiede. »Vielen Dank für die Fahrt. Wer hätte gedacht, dass man es in weniger als anderthalb Stunden aus Inverness an die Westküste schafft? Das muss ein Weltrekord sein.«

Er sieht übertrieben stolz aus.

Auf dem Parkplatz stehen etwa ein Dutzend Autos, ein weißer Van, einige Wagen mit Allradantrieb, mehrere große schwarze, teuer wirkende SUVs und ein paar Golfcarts – aber immer noch kein Mensch weit und breit in Sicht. In der Ferne bellt ein Hund, das Echo wabert bedrohlich um das Haus.

Ich spüre, wie sich meine Angst aufbläht. Das war es. Das Ende des Wegs, ganz wortwörtlich und wahrscheinlich das Verrückteste, das ich getan habe, seitdem ich mal dieses doofe Theaterstück im Londoner West End verlassen habe. Kurz bevor ich meine erste Zeile Text sprechen sollte.

»Ich hoffe, dir gefällt es in Schottland, Mädel«, sagt der Fahrer, dann braust er mit quietschenden Reifen davon.

Ich klopfe einige Male an die Holztür. Obwohl der Frühling schon vorangeschritten ist, ist es kälter, als ich gedacht hatte, und mein dünner Trenchcoat taugt nichts bei diesem Wetter.

Mein Telefon piepst, es ist Tim.

Wie meinst du das :/

Ich kichere. Er ist so berechenbar.

Noch immer ist niemand zu sehen. Ich verschränke die Arme, um mich vor dem eisigen Wind zu schützen, dabei blicke ich mich im Innenhof nach Anzeichen für menschliches Leben um. Ich höre, wie die Pferde auf dem heubedeckten Steinboden im Stall scharren, und rieche feuchte Erde. Ich lehne mich nach vorne, um durch das winzige Fenster des letzten Cottages zu schauen, und ein kleines Bewegungslicht geht an und blendet mich.

»Heather?«

Diese Stimme hinter mir lässt mich zusammenzucken – sie klingt tief und hat einen starken, aber sanften schottischen Akzent. Ich schirme die Augen mit einer Hand ab und versuche, den Mann zu erkennen, der hinter einem weißen Van hervorkommt. Er ist groß, trägt eine weiße Schürze unter einem dunklen, offenen Mantel, der im Wind flattert, seine dunkle Mütze hat er sich tief ins Gesicht gezogen. Groß, geheimnisvoll, kann ein Ei pochieren. Ich bin direkt hin und weg.

»Hallo! Ja, das bin ich«, erkläre ich und salutiere ihm wie ein General, meine Nerven verwandeln mich anscheinend in den Idioten aus einer Komödie.

»Du musst jetzt gleich anfangen«, sagt er nervös und stellt den Kragen seines Mantels auf.

»Jetzt direkt?«, antworte ich, weil ich mich nach einer heißen Tasse Tee und einer Dusche sehne.

»Unser Notfallersatz ist beim Pinkeln in den Fluss Ayr gestürzt«, verkündet jemand mit einem vornehmen englischen Akzent, während ein viel älterer, kleiner Mann in Anzug und mit einem vorgewölbten Bauch ankommt, der einen dieser schicken Hotelgepäckwagen hinter sich herzieht. Das Licht fällt auf sein gerötetes Gesicht, das faltenzerfurcht und dennoch fröhlich aussieht. »Im Krankenhaus wegen Unterkühlung.«

»Beim Wasserlassen ins Wasser gefallen«, kichere ich – ich kann mich nicht zurückhalten –, und er grinst mich schelmisch an.

»Ich heiße William. Aber alle hier nennen mich Bill. Und das ist James, der dich im Namen der ganzen Küche willkommen heißt«, spricht er weiter und blickt auf meine Tasche. »Für dich brauche ich den Wagen nicht. Du reist mit wenig Gepäck. Dafür bin ich sehr dankbar. Du hättest sehen sollen, wie die Leute bepackt waren, die gestern Abend angekommen sind – der arme Nachtportier musste ein Dutzend Mal die Treppe hoch- und runterlaufen. Und er hat ein kaputtes Bein.«

»Ich habe nicht gern mehr dabei, als ich allein tragen kann«, entgegne ich lächelnd.

»Ich hoffe aber, du hast Gummistiefel eingepackt«, sagt er und blickt auf meine Schuhe.

»Nein. Ich muss mir welche besorgen. Und einen Mantel. Hat niemand Schottland Bescheid gesagt, dass schon Mai ist?«, frage ich und umklammere meine Arme.

»Nordwind. Der ist kalt, auch im Sommer«, sagt Bill und steckt den Schlüssel ins Schloss des Cottages. Dann gibt es einen lauten Rumms, als er die alte Tür aufzieht. Aber anstatt mich hineinzuschieben, stellt er nur meinen Koffer ab und zieht die Tür wieder zu. »In diesem kalten Wind könnte man keinen Pinot anbauen, oder?«

Ich gerate ins Stocken, muss rasch etwas antworten: »Ja, dafür muss es wärmer sein. Außer, wenn es Frost gibt. Frost braucht man manchmal.« Er starrt mich so unverhohlen an, dass ich weiterquatsche. »Für die Trauben, denn die brauchen manchmal Frost. Damit der Wein, äh, besser wird.«

»Du musst gleich heute Abend anfangen«, wiederholt James und unterbricht mein Gestammel. Er blickt angespannt zum Haupthaus, als hätte er eine Pfanne mit heißem Fett auf dem Herd stehen lassen.

In mir steigt Panik auf. Was Besseres als »Ich bin noch nicht passend angezogen« fällt mir nicht ein. Ich dachte, ich würde irgendwie eingearbeitet? Könnte mir einen dieser Filme mit dem Titel Willkommen im Unternehmen anschauen. Stunden damit verbringen, meinen E-Mail-Account einzurichten? Den Küchendirektor kennenlernen? Ein Willkommensgetränk einnehmen?

»Die Kleine gefällt mir«, gluckst Bill wieder.

»Wir haben eine Uniform für dich.« James schaut mich mit gerunzelter Stirn an, dann wendet er sich abrupt ab, um weiter zu grübeln.

Bill lächelt mich entschuldigend an. »Es tut mir leid, das ist alles sehr holterdiepolter. Aber ich bin mir sicher, dass du es gut machen wirst – mit deinen unglaublichen Referenzen. Komm, tu nicht so schüchtern – ich habe dich eingestellt, hast du das vergessen? Ich habe deinen Lebenslauf gesehen.«

»Ach so, natürlich. Gut, dann legen wir los«, sage ich so selbstbewusst wie möglich. Ich muss meinen Lebenslauf weder vor James noch vor irgendwem sonst diskutieren.

Bill springt in das nächste Golfcart und dreht den Zündschlüssel. James lächelt mich ungeduldig an und macht eine Kopfbewegung zum Beifahrersitz.

»Hoppla«, sage ich, als er auf die kleine Ladefläche springt und sich festhält.

»James ist nur so hibbelig, weil er das Menü mit dir besprechen muss, und zwar so bald wie möglich«, flüstert Bill.

Ich muss aufpassen, was ich sage. Muss das neue Mädchen spielen. Ich hatte schon so viele Jobs, das kann ich gut.

Wir fahren bei der Küche vor, und als die schwere, moderne Tür aufgestoßen wird, ergießen sich Licht und Lärm auf den Hof – plötzlich ist alles lebendig.

Die Küche summt vor Energie. Drei Köche in Weiß bereiten sich auf die Abendschicht vor. Unmengen kleiner Frühkartoffeln werden geschrubbt und ein weiterer Koch hat ein großes Tuch winziger Kräuter vor sich, die er peinlich genau mit etwas aussortiert, das an eine Pinzette erinnert. Rhythmisch rattern Messer auf Holz, Pfannen schlagen auf Granit, und meine Blockabsätze klappern über den Steinboden.

»Hi, Chef«, sagt der mit dem jugendlichsten Aussehen. Er ist voller Blutspritzer und hält ein absurd großes Schlachtermesser in der Hand. James nickt dem jungen Kerl anerkennend zu, der errötet und schüchtern zurücklächelt. Das ist niedlich, und James wird mir sympathisch.

Der Duft nach Zitronenschale und voller, dunkler Schokolade steigt mir in die Nase, als wir an der Nachtischtheke vorbeigehen. Dann brennen mir die Augen wegen aufgeschnittener Zwiebeln, als wir uns ducken und durch eine niedrige Tür zum Vorbereitungsbereich gehen. Dort befinden sich noch zwei Reihen Arbeitsplatten aus rostfreiem Edelstahl sowie große Backöfen und noch eine ernst dreinblickende junge Köchin, die ihr dunkles Haar in ein Haarnetz gesteckt hat, sich über einen riesigen Topf beugt und sorgfältig in etwas rührt, das wie eine riesige Pfanne voller winziger Hummer aussieht.

»O mein Gott, Baby-Hummer«, flüstere ich fassungslos, Bill ist währenddessen durch die Schwingtür im Restaurant verschwunden. Ich erhasche einen Blick auf einen dunklen, mit Kerzen erleuchteten Raum mit Akzenten aus Dunkelrot und Schottenmuster.

»Kaiserhummer, drei Minuten, fünfzehn Sekunden. Unter Rühren zum Kochen bringen«, sagt die junge Frau zu sich selbst und stellt einen kleinen Timer an. Kaiserhummer. Ich erröte wegen meiner Blödheit und atme tief ein. Ich fliege hier innerhalb von fünf Minuten auf, wenn ich nicht den Mund halte.

»Heather?«, ruft James mir aus dem Servicebereich zu, wo er vollgeschriebene Papierbögen sortiert.

»Hey. Du wirst bestimmt Jamie genannt, oder?«

»Nein, tatsächlich James«, erklärt er kurz angebunden und blickt dann zu Boden. »Bist du bereit?«

»Klaro«, antworte ich und setze ein geschäftiges und selbstbewusstes Gesicht auf.

Er wedelt mit einem Stück Papier vor mir herum. »Wir haben passende Weine für die Langusten und den heiß geräucherten Lachs, aber nicht für die Rote Bete und den eingelegten Kohl. Wir brauchen außerdem noch ein Pairing für die Rinderschulter. Ich würde dazu einen Cabernet anbieten, aber wir müssen für die Balance noch das Frühlingsgemüse und den Rübenschaum mit einbeziehen. Was meinst du?«

James legt das Papier hin, blickt mich an, und zum ersten Mal sehe ich sein ganzes Gesicht im Licht. Er sieht definitiv gut aus, wenn man auf unaufdringliche Attraktivität mit vollen Lippen, Stirnfältchen und ein seit einer Woche nicht rasiertes Gesicht steht – und das ist bei mir definitiv der Fall. Dunkles Haar, kastanienbraune Augen, Wangen, die von der Wärme in der Küche gerötet sind. Und außerdem trägt er auch diese gestärkte weiße Kochbekleidung. Ich bemühe mich, nicht zu starren.

Okay, aber ich starre definitiv.

Immer noch.

»Heather?«

Ich reiße mich aus meiner Benommenheit und konzentriere mich wieder auf meine Aufgabe.

»Hast du eine Ahnung, welcher Wein dazu passen könnte?«

»Was bietet ihr normalerweise dazu an?«, frage ich und hoffe, mich damit durchzumogeln.

»Das Menü ändert sich ständig, passend zu den Jahreszeiten, deswegen ist das leider ein neues Gericht. Normalerweise müssen wir alle paar Tage etwas neu pairen. Wie gesagt, zur Rinderschulter empfehlen wir häufig Cabernet, aber ich denke, die Rübe …«

»Das Menü ändert sich ständig?« Ich schlucke.

James atmet tief ein. »Sorry. Ich weiß, das ist ganz schön viel auf einmal. Vor jeder Schicht setzen wir uns hin und besprechen die passenden Weine für das Degustationsmenü. Der Sommelier und ich. Dann lasse ich es vom Küchendirektor absegnen.«

»Wie? Ich dachte, du wärst der Küchendirektor?«

»Nein«, sagt er und lächelt schüchtern. »Russell Brooks ist unser neuer Küchendirektor, er wirft heute Abend einen Blick auf alles. Deswegen muss es beim ersten Versuch richtig sein«, sagt er irgendwie entschuldigend.

»Russell Brooks.« Ich lächele. »Das hört sich wie ein Elektrogerät an.«

Mein Witz hängt kurz in der Luft, bevor er zerplatzt.

»Er hat zwei Michelin-Sterne«, erklärt James mit weit aufgerissenen Augen.

»O ja«, sage ich schnell.

Zwei Michelin-Sterne? Das ergibt keinen Sinn. Ich dachte, die wären hier im Mittelalter stecken geblieben. Ich blicke mich in der Küche um, und mir wird klar, dass die ganze Ausstattung eher gehoben wirkt. »Natürlich weiß ich, wer er ist. Jeder kennt Russell Brook.«

»Brooks«, korrigiert er mich.

»Ja«, ich nicke schnell. »Zwei Michelin-Sterne.«

»Möchtest du dich ein wenig umschauen? Ich kann dir dreißig Minuten geben, und dann müssen wir etwas haben, das wir ihm vorzeigen können.« Er reicht mir das Menü.

Ich betrachte James’ Gesicht kurz. Ich weiß nicht, ob er mich verzweifelt um Hilfe bittet oder ob er sauer ist, dass ich ihm noch nicht helfe. Eins ist klar: Er wartet darauf, dass ich die Kontrolle übernehme, und bis jetzt habe ich versucht, das Unausweichliche nach hinten zu schieben. Jetzt muss ich in den sauren Apfel beißen.

»Wo ist die Weinkarte? Und der Wein? Ich muss den Keller sehen und vielleicht einige Weine probieren«, sage ich und greife nach der Speisekarte. Verdammt, ist das kompliziert! Hier ist alles verdammt vornehm. Was zum Teufel ist Speck aus Meeresalgen? »Was sollte ich noch einmal pairen?«

»Das Perlhuhn, den Krebs, die Rote Bete, die fermentierte Gerste und die Rinderschulter«, antwortet James, und die geschwollene Ader an seinem Hals schrumpft ein wenig. »Die neue Weinkarte ist hier«, sagt er und gibt mir einen großen schwarzen Lederordner. »Und der Keller ist dahinten, wo du reingekommen bist, und an den Steintreppen vorbei beim Kühlraum. Soll ich ihn dir zeigen?«

»Brauchst du nicht. Ich bin in einer halben Stunde wieder da«, sage ich, nicke bestimmt und entscheide, dass ich in der Ruhe des Weinkellers am sichersten meine Panikattacke bekommen kann. Neue Weinkarte?

»Eine Sekunde. Anis?«, ruft er zu der Babyhummer-Siederin, die wegen der Unterbrechung die Stirn runzelt. Sie schüttet vorsichtig dunkelgrünes Öl in einen Mixer und ist dabei so behutsam und ernst, als würde sie jemanden am offenen Herzen operieren. »Wenn du mit der Dillemulsion fertig bist, mach bitte eine Verkostungsplatte für Heather«, befiehlt James.

»Ja, Chef.« Mürrisch läuft sie zum Kühlschrank.

Dann nickt James und lächelt fast, während er zurück zum Kühlschrank geht. Ich entspanne mich kurz, bis mir wieder einfällt, dass die Uhr tickt und ich sehr wenig Zeit habe.

Schnell durchquere ich den Vorbereitungsbereich und steige die wundervoll romantische Steintreppe in den Keller hinab. Ich taste nach einem Lichtschalter, während ein verdammter Sensor anspringt, doch dieses Mal wird alles in ein warmes Gelb getaucht. Meine Augen gewöhnen sich daran, und ich staune kurz über diesen Raum.

Der Keller breitet sich in der Dunkelheit aus, hier unten gibt es jedoch nicht nur Wein. Riesige Käselaibe liegen gestapelt in modernen Stahlregalen und große Schinken- und Speckkeulen hängen an Edelstahlhaken von der Decke. Und dahinter noch mehr Käse. Gott, ich liebe Käse.

Aber ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich nehme mein Handy zur Hand und lege die ellenlange Weinkarte und das Menü vor mir ins Regal. Scheiße! Das war ganz sicher nicht die Weinkarte, die ich von der Homepage ausgedruckt habe. Auf der, die ich mir im Cottage in die Tasche gestopft habe, standen etwa ein Dutzend Rot- und Weißweine, in verschiedenen Abstufungen von günstig bis weniger günstig.

Der Plan bis jetzt – wenn man überhaupt von einem Plan sprechen kann – war ein Crashkurs mit meiner brandneuen Ausgabe von Wein für Neulinge und Sir Google als Tutor später am Abend. Oberflächliches Wissen. Das zum Bluffen reicht. Gerade genug, um mich einen Sommer lang in einem abgeranzten Laden mitten im Nirgendwo durchzumogeln. Leider war dieses olle Drecksloch nicht aufgetaucht, und stattdessen befinde ich mich in einem edlen Boutique-Hotel mit gehobener Küche. Man bräuchte eine erstklassige Sommelière, um diese brandneue, zwanzig Seiten lange Weinkarte zu entziffern. Und die bin ich natürlich nicht.

Es ist Zeit, um Hilfe zu rufen.

Es ist Zeit, die echte Heather anzurufen.

2

Zwei Wochen zuvor

»Hast du jetzt alles gepackt?«, fragte ich und schüttelte den Kopf, während ich mich in ihrem Schlafzimmer nach Dingen umschaute, die ich mir in ihrer Abwesenheit ›ausleihen‹ könnte. Ich erspähte ihre Spangenpumps, die unter einem Stuhl hervorschauten, und ihr Glätteisen – für’s Erste. Dann sah ich die Bikinis, die auf dem Bett drapiert waren. Wie fancy war dieses schottische Hotel wohl?

Heather war schon seit der Grundschule meine allerbeste Freundin – sie war kurz nach dem Tod ihrer Mutter in unsere Heimatstadt Plymouth gezogen. Ich konnte gleich erkennen, wie viel Angst sie hatte, sie zerrte an ihren Locken und drehte sie sich um den Finger, hatte den Blick fest auf den Boden gerichtet. Das mit ihrer Mum verbreitete sich auf dem Spielplatz wie ein Lauffeuer. Ich wusste direkt: Dieses Mädchen braucht mich.

Ich ging zu ihr. »Du brauchst keine Angst haben. Ich zeig dir alles. Ich heiße Elizabeth Finch und ich bin schon sechs.«

»Finch? Also wie der Fink?«, flüsterte sie als Antwort. »Ich habe einen Stift, auf dem sind ganz viele kleine Vögel. Willst du den haben?«

»Klaro.« Ich staunte über die bunten kleinen Bilder und den schnabelförmigen Radierer. Ich hatte noch nie einen besonderen Stift gehabt.

»Jetzt gehört er dir. Wollen wir Freunde sein?«

»Sicher, aber dafür brauchst du noch viel mehr Stifte«, antwortete ich und grinste sie an. Aber natürlich ging es mir nie um die Stifte.

Von diesem Tag an waren wir unzertrennlich. Ich, ihre entschlossene Beschützerin, und Heather, der liebenswürdigste Mensch in meinem Leben, der mich unterstützt hat wie niemand sonst.

Daran hat sich nicht viel geändert. Es waren bloß fünfundzwanzig Jahre vergangen, und sie hatte eine Wohnung in London, schicke Klamotten, teures Make-up und ein festes Einkommen. Und, weil sie in die Fußstapfen ihres Vaters getreten war, war sie nun eine der vielversprechendsten jungen Weinexpertinnen im Land. Heather war ihren Weg gegangen. Ich fühlte mich immer noch wie das Kind, das keinen coolen Stift hatte.

Sie hockte auf der Bettkante, atmete tief ein, dann blickte sie mich nervös an. »Birdy, es ist etwas Krasses passiert. Es geht mir gut. Alles ist gut. Eigentlich sogar großartig.«

»Oh-kay, das hört sich aufregend an«, antwortete ich und spürte ein leichtes Kribbeln in meinem Inneren, weil ich Drama witterte. Ich hockte auf dem Rand ihres Schminktisches und wappnete mich. »Glück für dich: Ich bin nun ganz offiziell arbeitslos und habe deswegen viel Zeit für viel Drama. Also schieß los, ich bin bereit.«

»Nix mit Drama«, entgegnete sie und runzelte verletzt die Stirn.

»Shit! Sorry, ich wollte nicht unsensibel sein. Tut mir leid. Was ist los?«

»Ich glaube, ich habe mich in Cristian verliebt«, sagte sie und verzog den Mund zu einem nervösen Lächeln.

»Oh«, antwortete ich und versuchte, fröhlich zu klingen, während mir ganz mulmig wurde.

»Ich weiß, ich weiß.« Sie wurde rot und grinste, und ich wollte etwas kaputt machen. Doch nicht diesen Cristian, den zugekoksten Schuhtypen.

»Echt?«, fragte ich und bereitete mich seelisch auf die Unterhaltung vor. »Den Schuster?«

»Den Schuh-Designer – Cristian, ja«, sagte sie und seufzte. »Egal, ich werde auf jeden Fall den Sommer mit ihm in Rom verbringen, um herauszufinden, ob das mit uns etwas werden könnte.«

Deswegen also die Bikinis.

»Er wird sich von seiner Freundin trennen«, sagte sie rasch. Um mich zu beruhigen, vermute ich. Und dann atmete sie tief ein. »Birdy, ich glaube, ich könnte … Ich meine, ich glaube, wir sind ineinander verliebt. Ich glaube, so sieht es aus.«

»Oh-kay«, antwortete ich und drehte mich um, um Heathers Bambus-und-Keramik-Paddlebrush zu inspizieren, damit ich sie nicht anschauen musste. Ich fuhr mit den Fingern über die Borsten und nahm mir vor, mein struppiges Haarchaos häufiger ordentlich glatt zu föhnen. »Und was ist mit dem Job? Du wirst ihn nicht wegen Cristian sausen lassen, oder?«

Ich wusste die Antwort bereits. Das war ihre Achillesferse. Heather wollte Liebe. Wenn sie sie bloß witterte, war sie nicht mehr zu halten. Allein in den vergangenen zwei Jahren gab es Vile Kyle, den achtundvierzigjährigen Haustiertherapeuten, der sie ›kleines Kätzchen‹ nannte; Kahlil, den Bäckermeister, der im Schlafzimmer keinen hochbekam und Heather erklärte, das läge an ihr; Woke Warren, den Feministen mit dem meisten Sex-Appeal weltweit; und nun Cristian. Cristian mit einer Freundin, von der er sich anscheinend trennen wollte, und einer innigen und stabilen Beziehung – zu harten Drogen. Ich bin keine Psychologin, aber der frühe Verlust der Mutter und kurz darauf des Vaters musste irgendeinen Einfluss auf ihr verzweifeltes Liebesbedürfnis haben.

Das war total frustrierend, denn falls jemand einen megaguten Lebenspartner verdient hatte, dann Heather. Sie war ein megaguter Mensch.

»Das war sowieso nicht mein Traumjob.«

»Wie meinst du das? Du wolltest doch genau dorthin. Du hast eine Ewigkeit darauf gewartet, dass dir ein Job angeboten wird. Warum willst du das nun sausen lassen?«

»Es war nur ein Sommerjob«, zischte sie.

Unterstütze sie, Elizabeth Finch.

»Ach so, na dann«, antwortete ich und nickte.

»Und ich habe ihn nur deswegen angenommen, weil ich dachte, ich müsste irgendwann im Leben mal nach Schottland, weil ich ja halbe Schottin bin. Bei dem Ding handelt es sich um ein heruntergekommenes Hotel mitten im Nirgendwo. Aber es liegt in der Nähe von Skye und ich wollte mir die Insel anschauen. Du weißt, dass ich immer schon einmal nach Skye wollte. Meine Mum wurde dort geboren.«

»Ich weiß, ich weiß«, sage ich rasch.

»Wie dem auch sei, dieses Etablissement hat miese Bewertungen auf Tripadvisor. Ganz ehrlich, die brauchen keine Sommelière, sondern ein völlig neues Konzept. Aber, Birdy, ich muss herausfinden, ob das mit Cristian etwas taugt. Würdest du dir die echte, wahre Liebe entgehen lassen?«, fragte sie mich mit ihren großen Kulleraugen.

Versteht mich nicht falsch, ich mag ein gutes Happy End, aber das gab es mit Cristian nicht. Ugh. Ich konnte den Gedanken an ein weiteres nichtsnutziges Arschloch nicht ertragen, das sich in ihrem guten Herzen einnistete. Aber das konnte ich ihr nicht sagen. Ich hatte in bitteren Lektionen gelernt, dass Vorträge halten und mich einmischen bei Heather nicht halfen, wenn es um die liebe Liebe ging.

Meine Aufgabe als Heathers beste Freundin bestand darin, sie zu unterstützen, trotz all meiner Vorbehalte.

»Wenn du das willst, dann nimm den Schuster. Verlieb dich!«, seufzte ich.

»Ach, sei still. Du verarschst mich.«

»Nein, das tue ich nicht. Es kommt nur alles sehr plötzlich«, sagte ich. Unterstütze sie, Elizabeth Finch. Ich blickte ihr in die Augen. »Wenn du das willst, dann freue ich mich für dich.«

»Du freust dich für mich?«

»Muss ich das?«

»Nein. Aber es würde helfen.«

»Klar bin ich ein wenig besorgt, aber das ist unter diesen Umständen ganz normal. Aber ich freue mich für dich, wenn es dich wirklich glücklich macht«, sagte ich. Das alles gefiel mir nicht, ganz und gar nicht, und ich fand es furchtbar, dass ich ihr das nicht sagen konnte.

»Ich hatte nur das Gefühl, ich müsste der Sache mit Cristian eine Chance geben. Ich weiß, du hältst ihn für einen Schönwettermann, aber er ist eigentlich total sensibel. Der Sex ist magisch. Wir sind dermaßen miteinander verbunden und ich habe mit ihm echt ganz schöne Abenteuer im Bett erlebt. Wenn wir Liebe machen …«

»Bah, sag bitte nicht ›Liebe machen‹, davon bekomm ich Ausschlag.«

»Lieeeeeebe machen?«, sagte sie ganz sexy.

»Ja, ja, reicht jetzt«, unterbrach ich sie. »Okay, Italien. Viel Kaffee und Kohlenhydrate. Darf ich wenigstens mal vorbeikommen?«

»Aber klar doch! Also, wenn ich mich ein wenig eingelebt habe«, sagte sie kleinlaut. »Danke, Birdy, ich bin total erleichtert, dass ich es dir erzählen konnte.«

»Hast du es denen schon gesagt? Dem Hotel?« Ich seufzte und richtete mich darauf ein, drei bis vier Monate zu warten, bis die ganze Sache in Flammen aufging und alle verbrannte, natürlich auch Cristians arme Freundin. Ich wäre da, um die Scherben aufzusammeln, klar, das war ich nämlich immer.

»Nein. Das werde ich nicht. Ich kann mich der Sache nicht stellen.«

Sie versuchte, das Gespräch abzubrechen, und ich hielt kurz inne. Das passte nicht zu Heather. Sie war normalerweise total professionell. Vorhin hatten bei mir schon die Alarmglocken geläutet, nun dröhnte der Fliegeralarm.

»Heather, sei nicht albern. Du musst denen Bescheid sagen«, erklärte ich ungläubig. »Denk dir eine Entschuldigung aus.«

»Ich kann nicht lügen. Ich muss mich schon mit genug anderem herumschlagen.« Ihre Stimme klang gepresst und hoch, und ich merkte, wie ich mich aufrichtete, als ich sie zur Vernunft bringen wollte.

»Erzähl ihnen einfach, du hättest einen Unfall gehabt. Oder Ebola. Oder du wurdest mit einem Messer angegriffen, weil man dich mit jemandem verwechselt hat. In letzter Zeit wird andauernd jemand mit einem Messer angegriffen.«

»Das ist nicht witzig«, erklärte sie nachdrücklich.

»Erzähl doch, du wärst vor einem Internetcafé in Benidorm in die Rippen gestochen worden«, sagte ich, weil ich in Fahrt war.

»Wie bitte?«

»Da würde niemand von einer Ausrede ausgehen. Das ist gut. Vertrau mir. Du bist in Benidorm mit dem Messer angegriffen worden. Heißt es in oder im Benidorm?«

»Warum wurde ich mit einem Messer angegriffen? Das hört sich an, als hätte ich etwas mit Drogen zu tun.«

»War ein Zufall.«

»Warum war ich in Benidorm?«

»Um dich weiterzubilden.«

»Worin?«

»In spanischem Wein natürlich.«

»Spanischer Wein. Hmmm. Nein. Aber Sherry ginge. Würde so etwas nicht in der Zeitung stehen?«

»Nein. Es wird ständig irgendwer mit einem Messer angegriffen.«

»Du musst aufhören, diese Schundblätter zu lesen.«

»Das ist ein Überbleibsel meiner schrottigen Kindheit«, sagte ich. Und bevor sie protestieren und sagen konnte, dass ich aber kein Schrott sei, witzelte ich: »Egal, vertrau mir einfach. Niemand wird spanische Lokalzeitungen durchforsten, um herauszufinden, ob ein feines englisches Mädchen mit einem Messer angegriffen wurde.«

»Haben sie den Typen geschnappt?«

»Nein.«

»Also ist er damit davongekommen?«

»Also, ich meine, die Polizei sucht natürlich noch nach ihm.«

»Puh, da bin ich ja beruhigt.«

Kurze Stille, dann brachen wir beide in Gelächter aus.

»Du solltest es ihnen wirklich sagen, Heather«, erklärte ich, als wir uns wieder beruhigt hatten.

»Das ist für die nicht so schlimm. Es ist nur eine Sommervertretung, und sie werden mich umgehend ersetzen können. Paris im Herbst, da will ich als Nächstes hin. Das hier war nichts. Also fast nichts. Ich werde sie wahrscheinlich nie wieder sehen oder mit ihnen sprechen müssen …«

Ich konnte nicht zulassen, dass sie das tat. »Wie wäre es, wenn ich sie für dich anrufe? Ich sage nicht, dass du mit dem Messer angegriffen wurdest. Ich denke mir etwas Passendes aus, okay?«

»Würdest du das wirklich tun?«, fragte sie und riss aufrichtig erleichtert die Augen auf.

»Das ist kein Problem.« Es war nicht das erste Mal, dass ich etwas für Heather erledigte, wovor sie Angst hatte.

»Okay«, sagte sie und entspannte sich sichtbar. Das konnte ich ganz einfach für sie erledigen – meinen Teil der Miete zahlte ich hingegen nicht ebenso mühelos. »Ich glaube, ich sollte wirklich nicht riskieren, dass sich das auf meinem Tätigkeitsnachweis wiederfindet«, fügte sie hinzu.

Ich erschauderte, wenn ich an meine ›Karriere‹ dachte, die ein Trümmerhaufen war. Diese ›Karriere‹, die zum Großteil aus Jobs ohne Zukunft bestand, von denen der letzte der beste gewesen war – etwas mit ›Digitale Medien‹ in der Jobbeschreibung –, wo ich mich, um ehrlich zu sein, hineingemogelt hatte, weil ich unnützes Wissen über Influencer bei Instagram habe. Als die anderen von meiner Ahnungslosigkeit Wind bekamen, wurde ich gefeuert. Davor hatte ich mich ein paarmal in der Schauspielerei versucht, aber ich konnte die anderen Schauspieler nicht ausstehen; dann gab es den Job im Buchgeschäft, der mir wirklich gefiel, bei dem ich aber auch entlassen wurde; die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, schrecklich; etliche Phasen der Arbeitslosigkeit und zwei Sommer, in denen ich auf Teneriffa in einer Bar arbeitete, das hatte Heather für mich arrangiert. »Nur zur Überbrückung, bis du weißt, was du als Nächstes machen möchtest. Bis du deine Berufung findest«, hatte sie gesagt.

Aber inzwischen bin ich einunddreißig und dieser geheimnisvollen Berufung keinen Schritt näher.

»Ich werde mir eine gute Entschuldigung für dich ausdenken, die deinen Ruf wahrt, okay? Aber du wirst dich bedeckt halten müssen. Du kannst nicht einen Job absagen und dich dann für alle im Internet sichtbar an der Riviera sonnen.«

»Cristian möchte auch, dass ich mich bedeckt halte, also ist das kein Problem.«

Natürlich will er das, dachte ich und fand ihn gleich noch ätzender.

»Ich kümmere mich drum«, sagte ich.

»Danke, Birdy.« Sie atmete tief aus, und es herrschte kurz Stille. »Ich wünsche mir wirklich, ich könnte es mir leisten, dich einfach weiter hier wohnen zu lassen, aber du weißt, dass ich die Wohnung untervermieten muss. Du hast dir eine Bleibe gesucht, oder? Du musst nicht zu deinen Eltern zurück?«

»Mach dir keine Sorgen, ich frag mal bei meinem Cousin in Tooting nach«, sagte ich. Ich brachte es nicht über’s Herz, ihr zu sagen, dass er schon abgelehnt hatte.

»Dein Metzgercousin?«

»Ja.«

»Aber der hasst dich.«

»Nein, ich hasse ihn. Das wird schon irgendwie gehen. Ich lass mir etwas einfallen. Du kennst mich doch. Keinen Stress«, erklärte ich.

Sie runzelte die Stirn.

»Heather, entspann dich. Sobald du weg bist, werde ich mich bei ganz vielen Stellen bewerben und etwas anderes finden, bei dem man nicht vor dem Computer sitzt. Etwas Praktisches. Etwas, das ich mit meinen Händen mache vielleicht«, sagte ich und versuchte, so positiv wie möglich zu klingen. »Ich wünschte, ich hätte so eine große Leidenschaft für etwas wie du.«

»Du wirst jemanden finden, Birdy.«

»Ich meine damit nicht Leidenschaft für einen Typen – ich meine für einen Beruf. Dieses Weinding. Und – falls du es vergessen hast – irgendwie bin ich wieder mit Tim zusammen.«

»Birdy«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Du kannst es nicht mit jemandem ernst meinen, den du im Nachtbus kennengelernt hast.«

Ich stockte kurz. Ich wusste, wie Tim war, und hatte mich trotzdem dafür entschieden, mit ihm abzuhängen. Heather hingegen hatte eine völlig falsche Meinung von Cristian, das war der Unterschied.

»Ich verschließe nicht die Augen vor Tims wahrer Persönlichkeit«, erklärte ich nachdrücklich. »Aber ich schließe im Bett die Augen, sonst könnte ich nicht an Jason Momoa denken.«

»Ich will nur, dass du glücklich bist. Er würde dich nicht mal übergangsweise bei sich wohnen lassen. Und er ist Versicherungsvertreter.«

»Versicherungsdetektiv«, korrigierte ich sie. »Nicht jeder ist scharf auf die große italienische Liebesgeschichte, Heather. Du vergisst eins: Ich wurde einmal von einem Typen verlassen, der in einer Shopping-Mall als Weihnachtsmann gearbeitet hat. Ich muss nehmen, was ich kriegen kann«, witzelte ich und wollte das Gespräch schnell wieder auf sie richten, um von meinen Unzulänglichkeiten abzulenken.

»Liebes«, setzte sie an, und ich wusste, dass nun ein Vortrag darüber kam, wie wunderbar ich bin und warum ich es nicht selbst erkennen könnte. Doch dann seufzte sie, und ich fühlte mich noch schlechter.

Ich legte die Bürste neben mich – plötzlich wollte ich keine in die Länge gezogene Verabschiedung mehr. »Hey, hör zu, Heather, du musst dich beeilen.«

»Oh, da hast du recht. Das heißt, dass wir uns verabschieden müssen«, sagte sie, stand auf und umarmte mich. »Aber, Birdy, ich kann mich nicht amüsieren, wenn ich weiß, dass du unglücklich bist.«

»Es geht mir gut. Wirklich, ich habe dadurch die Gelegenheit, mein Buch Wie man sich bei fast allem aus der Verantwortung stiehlt zu schreiben, von dem ich schon so viel geredet habe.«

»Nur du kannst ein Selbsthilfebuch schreiben, in dem es um nichts geht«, erklärte sie stolz. Ich versuchte, das leichte Zucken zu ignorieren, das ihr Witz in meiner Brust verursachte.

»Nicht wahr?«

Wir lächelten nicht mehr, weil wir traurig über den bevorstehenden Abschied waren, dann umarmte Heather mich fest.

»Sagst du mir Bescheid, wenn du da angerufen hast? Könntest du das heute machen?«

»Mach ich.«

»Danke. Und sag mir auch Bescheid, wo du unterkommst, ja? Ich werde schlaflose Nächte haben, wenn ich weiß, dass du wieder zurück in dieses furchtbare Haus musst. Ich meine es ernst, Birdy, deine Eltern …«

»Ja, mach ich, mach ich«, unterbrach ich sie schnell. Ich wollte jetzt nicht über meine Eltern sprechen. Wir hatten diese Unterhaltung schon eine Million Mal geführt, und es änderte nichts daran, dass sie schon immer komplett scheiße waren.

»Oh, gut«, sagte sie, ließ sich wieder aufs Bett fallen und atmete erleichtert aus. Ich spürte einen Stich im Herzen. Ich wusste: Ein Teil von mir wollte einfach nicht, dass es jemals mit ihr und einem Mann ernst wurde, weil das bedeutete, ich würde sie ein klein wenig verlieren. Heather und ich waren vielleicht wie Familie füreinander, aber mit jedem vorübergehenden Jahr spürte ich, dass sie sich ein neues, ganz eigenes Leben erfand, während ich immer noch ziellos unterwegs war und hoffte, dass mir die Antworten auf Lebens- und Liebesfragen irgendwann in den Schoß fallen würden.

Ich unterdrückte die Tränen, die in mir aufstiegen.

Plötzlich setzte sie sich auf.

»Ach, eine Sache habe ich noch vergessen. Heute Abend ist im Ritz diese piekfeine Abendveranstaltung, zu der ich eingeladen bin. Mein Name steht auf der Gästeliste – mach es einfach so wie immer und sag, dass du ich bist. Niemand wird Fragen stellen. Und es gibt Wein umsonst. Und viele hübsche Kellner.«

»Was ist der Anlass?«

»Die British Wine Awards. Ehrlich, du musst nur irgendwie reinkommen. Es gibt kein Galadinner oder so. Geh einfach! Ich lasse dir das Trapezkleid und die Spangenpumps da, okay? Glaub ja nicht, ich hätte nicht gesehen, dass du ein Auge auf sie geworfen hast!«

Ich grinste. »Klar, warum nicht? Stehst du mit plus eins drauf?«

»Ja, aber du nimmst auf keinen Fall Tim mit.«

3

Mai

Die Zeit ist um. Ich bin so weit.

Ich sitze am Rand der Bar und warte auf James und den berühmten Russell, vor mir liegen meine Notizen, die ich bei meinem Notfalltelefonat mit Heather hingekritzelt habe. Sie hat sich gefreut, dass ich bei meinem Cousin untergekommen bin, und ihre Freude wurde noch größer, als ich ihr erklärte, ich bräuchte Hilfe dabei, Wein für eine Dinnerparty auszusuchen, die er schmeißen würde.

»Dass es mal dazu kommen würde«, hatte sie gequietscht. »O Gott, wo soll ich anfangen?«

Großer Fehler, hatte ich gedacht und mir geschworen, sie nie wieder anzurufen – zumindest nicht, um über etwas zu reden, was ich vermeintlich in London mache, während sie nicht da ist. Ich kann nicht mit mehr als einer Lüge jonglieren. Und ich will Heather definitiv nicht mehr anlügen als unbedingt nötig.

Aus ihr sprudelten zahlreiche Vorschläge heraus, die ich schnell mit der Weinkarte abglich, dann sagte ich ihr ganz freundlich, ich müsse jetzt gehen, weil der Weinladen gleich schließt.

Ich dachte, der Anruf hätte meine Angst irgendwie verringert, aber als Bill wie ein Springteufel hinter der Bar hervorschnellt, schrecke ich zusammen. Er hält eine Flasche Rotwein in der einen, eine Spirituose in der anderen Hand, und seine Wangen sind geröteter, als sie es draußen waren. Ich frage mich, ob er sich zu einer Geschmacksprobe hat hinreißen lassen. Und dann frage ich mich, wie ich ihm zu verstehen geben kann, dass ich es weiß.

»Biste fertig?«, fragt er.

»Fast. Ich bin in die Küche gegangen, um es James zu zeigen, aber Anis meinte, ich solle hier auf den Chef warten«, sage ich und starre sehnsüchtig auf die Whiskyflasche in Bills Hand und frage mich, ob sich hier alle nach der Arbeit betrinken. Dieser ganze Alk und diese ganzen jungen Kellner, die nur für eine Saison hier sind. In Loch Dorn muss es viel Sex geben.

»Den findest du gut, oder?«, fragt Bill, und ich nicke nachdrücklich, bis ich merke, dass er nicht den Whisky in seiner rechten, sondern den Wein in seiner linken Hand meint. »Das ist ein sehr, sehr alter Châteauneuf-du-Pape.«

»Ooohh«, antworte ich. »Darf ich mal schauen?«

»Natürlich«, sagt er und reicht mir vorsichtig die Flasche, das Etikett zeigt nach oben.

»Verdammt, der ist ja älter als ich«, plappere ich wie eine fröhliche Ahnungslose. »Ähm, ich meine natürlich: vorzüglicher Jahrgang …« Ich spreche nicht weiter.

»Nicht unser ältester«, antwortet er stolz, als er den Whisky wieder vor die Spiegelwand hinter der Bar stellt. »Du kannst Weinverkostungen anbieten, weißt du. Red einfach mit Russell, wenn er mal da ist. Du bist die Sommelière. Er wird es okay finden.«

»James meinte, es gebe eine Uniform?«, sage ich und erhasche einen Blick auf mich im Spiegel, als Bill eine Gin-Flasche verschiebt. Mein neuer schicker, fransiger Bob à la Heather hat sich in eine Frisurkatastrophe verwandelt, und ich weiß, dass ich langsam anfange zu müffeln. »Ich würde mich gerne frisch machen.«

»Oh, wie unhöflich von mir.« Bill dreht sich um und schmeißt dabei einen Brandy-Ballon von der polierten Theke. Ich warte auf das Klirren, aber nichts, und er greift nach unten und hebt das Glas vom Boden hinter der Bar auf. »Gummimatten«, erklärt er grinsend. »Wenn Russell mit dir fertig ist, bringe ich dich zurück, und du kannst dich auf der Personaltoilette frisch machen.«

Ich atme tief ein. Ich habe alles im Griff, klar.

»Und was ist mit der Musik?«, frage ich ihn.

»Ganz traditionell. Leiern und Harfen und so was in der Art.«

»Gott sei Dank keine Dudelsäcke.«

»Magst du die nicht?«

»Mag die überhaupt irgendwer? Ich glaube nicht. Ein Dudelsack war noch nie Headliner beim Glastonbury, nicht wahr?«

Er lacht und blickt ängstlich zur Tür. Wir warten beide auf den berühmten Russell. Ich vermute, Bill ist nervös, weil er unbedingt seine neue Mitarbeiterin vorstellen will, und ich setze mich ein wenig aufrechter hin, weil ich ihn stolz machen will.

»Du bist nicht so, wie ich mir dich vorgestellt habe«, sagt er ruhig. »Und du siehst ganz anders aus, als auf deinem Facebook-Bild.« Mir bleibt das Herz stehen. Ich hatte mir dieselbe Frisur wie Heather schneiden lassen, ihre Schönheit und Eleganz konnte ich leider nicht beim Friseur dazukaufen.

»Ich bin sehr fotogen. Das erschwert mir das Online-Dating«, antworte ich Bill und versuche, nicht zu eingeschnappt zu sein. »Männer sind immer enttäuscht, wenn sie mich in echt sehen – weil meine Bilder so gut sind.«

»Das meinte ich nicht. Du hast eine Katze als Profilbild.«

Kurz bin ich verwirrt, dann erinnere ich mich wieder an den Tipp, den ich Heather gegeben hatte. Nimm ein Profilbild, auf dem du nicht zu erkennen bist.

»O ja«, sage ich und meine Gedanken rasen. »Ich liebe Katzen total.«

Teil nicht zu viel auf Social Media. Stell deine Freundesliste auf »privat«. Du musst den Großteil des Sommers offline sein. Ein Katzenbild ist okay. Ich kann drei Monate lang so tun, als fände ich Katzen toll.

Ich drehe mich auf meinem Barhocker mit Ledersitz und betrachte den Speisesaal. Frisches weißes Leinen liegt auf großen, rechteckigen Tischen und hängt über Stühlen, wo der Stoff am Rücken zu Schleifen gerafft ist. Es ist ein wenig kitschig, aber auch total niedlich.

Auf jedem Tisch steht eine kleine Kerze auf einem kurzen silbernen Kerzenhalter, an dem unten eine Schleife mit Schottenkaromuster befestigt ist. Die mächtigen Vorhänge sind mit passenden karierten Raffhaltern befestigt. Die Wände sind in dunklem Bordeauxrot gestrichen, oben an der Wand sind einige Mauersteine freigelegt. Außerdem entdecke ich Bilder in Goldrahmen von Männern in Schottenkaros, mit Spaniels und Waffen. In dem Raum hängt ein Hauch von Zigarrenrauch in der Luft, und ich kann mir in dieser Atmosphäre nur rundliche Männer um die siebzig vorstellen, die Brandy trinken und auf alte Karten blicken.

»Das hier ist der einzige Raum, der noch nicht renoviert wurde«, erklärt Bill.

»Renoviert?«, frage ich verwirrt.

»Oh, du hast den Rest wahrscheinlich noch nicht gesehen! Wir haben alles schon verschönert, nur diesen Speisesaal noch nicht. Sie fangen nächste Woche hier an, deswegen werden wir einige Wochen lang etwas weniger Gäste haben, während ein neuer Teppich verlegt und dem Raum ein neuer Anstrich verpasst wird. Die Gäste werden nur im Barbereich empfangen, das Menü wird abgespeckt. Und dann, ab der ersten Juniwoche, eröffnet alles wieder in neuem Glanz. Sommer, neues Hotel, neues Restaurant. Dann geht’s richtig los!«

»Oh«, sage ich. Ein neuer Küchendirektor, eine neue Weinkarte und Renovierungsarbeiten?

»Siehst du diesen alten Kerl?«, fragt Bill und zeigt auf ein Gemälde in einem Goldrahmen. »Das ist der Urgroßvater des aktuellen Besitzers des Anwesens, Michael MacDonald.«

»Erzähl mir nix!«, sage ich und grinse Bill an, der gerade ein Weinglas poliert.

»Doch, wirklich. Gemeinsam mit Duke, seinem treuen Jagdhund. Ich frage mich, was er zu den ganzen Veränderungen hier sagen würde.«

Die Küche ist offen und nimmt die halbe Rückwand ein, gleich neben der Bar. Wenn ich drüber nachdenke, ist es tatsächlich seltsam, einen derart traditionellen Ort so modern zu gestalten. Von fast dem gesamten Speisesaal aus kann man den Servicebereich sehen, mit Edelstahllampen und der rustikalen Eichenverkleidung. James steht dort, trägt nun eins dieser schwarzen Kochbandanas zum Zuknoten und kostet mit einem Teelöffelende etwas aus einem kleinen silbernen Krug. Bei ihm sieht das Probieren wie eine sehr ernste Angelegenheit aus.

Er lächelt, als die Türflügel auffliegen und ein riesiger Berg Männlichkeit reingewalzt kommt. Er trägt einen taubenblauen Tweedanzug mit Weste, ein leuchtend gelbes Taschentuch ragt aus seiner Brusttasche. Er hat verwuschelte dunkle Locken, und seine Augen sind dunkel und strahlend zugleich. Ein Supermodel vierzig plus, wie aus einer Werbeanzeige für Luxusuhren in GQ; der Mann, der aus der mit Eichenholz ausgekleideten Kabine eines alten Segelbootes steigt, dessen Hemd weit aufgeknöpft ist und der die Arme nach einer gesichtslosen Frau in einem goldenen Bikini ausstreckt.

»Hallo, Heather. Willkommen«, säuselt er mit seinem nicht näher einzuordnenden britischen Akzent, seine Stimme gleicht dem gebrannten Karamell auf einem Vanilleeis. Er wirft eine Ausgabe von The Scotsman neben mir auf die Bar.

»James!«, ruft er und blickt mir dabei mit leicht geschürzten Lippen direkt ins Gesicht. Er ist zwar furchtbar gut aussehend, aber ich finde seinen Style total abtörnend – die arme Frau, die ihn geheiratet hat, muss sich ihr Leben lang den Intimbereich waxen, Sit-ups machen und sich – im schlimmsten Fall – einer Vaginalstraffung unterziehen. Es dauert weniger als einen Sekundenbruchteil, bis die Türflügel wieder aufgestoßen werden und James reinkommt; er hat den Kopf gesenkt und liest seine Notizen durch. Er ist viel mehr mein Typ. Wenn an Russell alles hart und poliert wirkt, ist an James alles weich und leicht. Sein Haar zum Beispiel, das nach Shampoo und nicht nach teurem Haargel riecht. Er sieht gut aus, aber nicht auf eine einschüchternde Art und Weise, und er rasiert sich auch sehr wahrscheinlich nicht die Eier.

»Willkommen in unserem kleinen Restaurant«, spricht Russell weiter und schiebt seinen Ärmel nach oben, um auf seine riesige silberne Uhr zu schauen. »Wir haben nur fünfundvierzig Minuten, bis es losgeht, und ich sehe, dass du dich von der Reise noch frisch machen musst, stimmt’s?«

»Ja, das wäre gut …«, antworte ich und klemme mir die Hände unter die Achseln, damit der Gestank bleibt, wo er ist.

»Gut, dann lass uns schnell die Karte durchgehen«, sagt er und nickt.

Ich nicke auch und blicke kurz zu James, der auf seinem Daumennagel herumkaut. Ich sage lautlos Alles ist in Ordnung zu ihm, doch er sieht verwirrt aus, und ich will mich daran erinnern, das nicht noch einmal zu machen.

Ich drehe meinen Hocker in Russells Richtung und nehme meine Notizen raus. Ich atme tief ein, dann erinnere ich mich an die Theater-AG in der neunten Klasse, spreche sehr laut und deutlich und baue noch ein klein wenig Claire Foy von The Crown ein, um autoritärer zu wirken.

»Es ist im Grunde unmöglich, den perfekten Wein zu einem Essen auszuwählen, ohne die Schätze aus deinem Keller einmal probiert zu haben«, erkläre ich.

»Du hast natürlich völlig recht«, sagt Russell und nickt zustimmend.

»Und außerdem habe ich auch noch kein Gericht gekostet, also rate ich bestenfalls ins Blaue hinein.«

»Du musst das nicht weiter ausführen, Heather«, sagt Russell und berührt mich am Arm. »Ich freue mich einfach, dass du hier bei uns bist und dass Bill nicht mehr die Weine aussucht.«

Bill verdreht die Augen und stellt einen Espresso vor Russell ab, der ihn in einem Zug herunterstürzt und mit einem zustimmenden Nicken in Bills Richtung schiebt.

»Für das Perlhuhn habe ich mich – wie du siehst – nicht für den üblichen Pinot Grigio entschieden. Ich bin davon ausgegangen«, ich halte inne und blicke über die Schulter zu James, »dass der Sellerie nicht geröstet ist …«

»Ja, darauf habe ich im endgültigen Menü hingewiesen«, antwortet James ruhig, während Russell die Lippen in seine Richtung schürzt.

»Großartig! Nun, dann würde ich definitiv den deutschen Riesling vorschlagen. Den trockenen. Und für die Rinderschulter widerspreche ich wegen des Cabernets – zu schwer, mit dem ganzen Mousse und Gedöns. Ich denke, der argentinische Pinot wird das Gericht perfekt ergänzen und«, ich schaue kurz auf meine Notizen, »und das Herzhafte mit einer Himbeernote abrunden.«

»Gut, gut«, Russell nickt, runzelt die Stirn, und ein Lächeln breitet sich auf seinem glatten Gesicht aus. »Und der Krebs?« Scheiße, ich habe den Krebs vergessen.

»Na, da gibt es doch nur einen Wein, der infrage kommt, oder?«, improvisiere ich. »Einen Merlot?«

Russells Stirnfurchen vertiefen sich, und er blickt zu James, dessen Mund ein wenig offen steht. Stille hängt in der Luft, die vom Scheppern eines Topfes unterbrochen wird, der auf den Küchenboden fällt.

Hinter mir fängt Bill an zu kichern, und dann, einen Augenblick später, beginnt Russell zu lachen und ich falle mit einem tiefen Gackern ein, behalte dabei alle im Auge, um den richtigen Augenblick abzupassen, wann ich mit dem Lachen aufhören kann.

»Spaß!«, sage ich und berühre Russell an der Hand. Ich schwöre mir, nie wieder zu raten.

»Sie meint den Chardonnay«, erklärt Bill nachdrücklich und wedelt mit dem erhobenen Zeigefinger vor mir, während er rot anläuft. »Oh, das ist so lustig. Einen Merlot. Donnerlittchen, fast wäre ich darauf reingefallen.«

»Tut mir leid«, sage ich. »Ich wollte nur nicht, dass euch langweilig wird.«

»Grandiose Arbeit, Heather«, sagt Russell und beendet damit die Unterhaltung.

»Ach, so clever ist das auch nicht«, antworte ich und werde rot. »Wir improvisieren ja gerade alle, nicht wahr?«

»Unsinn«, erwidert er und berührt mich wieder am Arm, doch dieses Mal drückt er ihn auch leicht. »Du bist eine der jüngsten, vielversprechendsten Sommelières des Landes.«

Ich unterbreche ihn: »Ich habe wirklich Glück gehabt. Dass ich bei einem Koch mit diesem unglaublichen Ruf arbeiten darf, ist wirklich ein wahr gewordener Traum.«

Ich sehe, dass Russell von mir gemocht werden will. Respektiert werden will. Angehimmelt werden will. Und was ist das Großartigste, das man mit einem zutiefst unsicheren und narzisstischen Mann machen kann? Ihn in diesem Glauben lassen, dann kommt man mit fast allem durch.

»Ich habe eine Bitte für den heutigen Abend«, sage ich mit leicht zitternder Stimme. »Ich würde gerne die Beobachterin spielen, damit ich lernen kann, wie ihr hier arbeitet.«

Russell blickt mich an, neigt den Kopf und streicht sich mit dem Finger über das Kinn, bevor er sein Einstecktuch richtet.

»Ich vermute, das ist sinnvoll. Natürlich musst du einspringen, wenn ein Gast einen Sonderwunsch hat. Aber ja, gute Idee.«

»Ich denke, das wäre am besten«, sage ich nur und lächele Russell an, während mich Erleichterung durchströmt. Ich beginne, an meinem Kragen herumzunesteln. Mein Manöver ist total durchschaubar, und ich finde es selbst furchtbar, dass ich es gemacht habe, aber ich bin im Überlebensmodus, deswegen greife ich nach jedem Strohhalm.

»Vielleicht, Bill, könnten wir Heather zeigen, wo sie das Personal über die Weine briefen kann, während James und ich die neuen Gerichte zusammenstellen, und dann kann Heather sich frisch machen?«, fragt er ganz konkret.

»Klar«, antwortet Bill, wischt sich die Hände an seiner schwarzen Schürze ab und macht eine Kopfbewegung zu einer Tür am Ende der Bar. »Würdest du mir folgen, Heather?«

»Danke, Russell«, murmele ich, während ich mich an ihm vorbeiquetsche und mir ein beißender Geruch nach Sandelholz und Pfeffer in die Nase steigt. So viel Cologne, ich muss fast kotzen – obwohl gerade ich mich nicht über Gestank beschweren sollte.

Ich grinse Bill verlegen an, und wir gehen zur Bar.

»Erklär mir, wie du dieses verdammte Dessert anrichten willst. Dann können wir über dieses scheiß Steinbutt-Gericht sprechen«, sagt Russell zu James, und seine Stimme hört sich viel weniger beruhigend an als die, mit der er mit mir gesprochen hat.

»Gott, der ist aber vornehm. Ich wette, der hat eine Sommer- und eine Winterdecke«, flüstere ich Bill zu, während ich noch einmal zu James schaue, der lebhaft erklärt, warum die Schokoladenhülle um die Ganache unbedingt halbkugelförmig sein muss. James schlägt sie wenig feierlich mit einem Teelöffel auf und Russell runzelt die Stirn. Dann erscheint Anis mit dem Probenteller, den ich schon vor fünfundvierzig Minuten hätte bekommen sollen.

Ich wende mich wieder an Bill, als er die Tür zum Personalraum öffnet.

»Wo ist Irene?«

»Du wirst sie wahrscheinlich morgen sehen. Sie meinte übrigens, du wärst absolut hinreißend bei den Wine Awards gewesen. Was für ein Zufall, dass ihr euch da getroffen habt!«, fügt er hinzu.

»Ja. Ein wundervoller Zufall«, antworte ich. Und dann, als mir klar wird, dass ich wahrscheinlich von allem etwas eingeschüchterter wirken sollte, füge ich noch hinzu: »Hier wird für mich gerade echt ein Traum wahr.«

4

Zwei Wochen zuvor

»Heather Jones«, verkündete ich selbstbewusst, als Tim und ich an der Rezeption des Ritz ankamen. »Wir kommen zu den British Wine Awards.«

Der Türsteher fuhr mit einem Finger die Gästeliste entlang, und ich beobachtete, wie er Heathers Namen durchstrich.

Ich trug Heathers schwarzes Trapezkleid, was passte, aber nur, weil es eins dieser Kleider war, unter denen man eine Bierkiste schmuggeln konnte. Heather trug das Kleid immer mit einer pinken Schärpe, was ich auch versucht habe, doch damit sah ich aus wie zwei Müllbeutel aus Seidenorganza anstatt einem. Tim hatte schwarze Jeans und einen samtenen Blazer an, den er von seinem besten Saufkumpel Damon – oder ›Damo‹, wie er genannt wurde – ausgeliehen hatte. Er sah tatsächlich ziemlich elegant aus.

»Willkommen, Miss Jones. Und dürfte ich auch um Ihren Namen bitten, Sir? Entschuldigen Sie bitte, aber hier steht nur ›plus eins‹. Er schaute kurz zu mir, weil Heather das ›Um Antwort wird gebeten‹ ignoriert hatte.

»Ich heiße Tim«, sagte Tim und übertrieb es ein wenig mit einem total vornehmen Akzent, reckte das Kinn nach vorn und schürzte die Lippen ein wenig.

Der Mann nickte und schrieb den Namen dort auf, wo ich es nicht sehen konnte. »Und Ihr Nachname?«

»Ähm«, Tim blickte zu mir, und ich hob warnend eine Augenbraue. »McTimothy.«

»Tim McTimothy«, wiederholte der Mann aufmerksam, sein souveränes Auftreten triumphierte über seinen gesunden Menschenverstand. »Sehr gut.«

Und wir waren drin, hatten die VIP-Pässe um den Hals hängen und stellten uns an der Bar mit den Gratis-Getränken und den winzigen veganen Canapés an.

Der Ballsaal des Ritz’ war viel langweiliger, als ich ihn mir vorgestellt hatte: groß, aber er fühlte sich eher leer an, mit einer nur leicht protzigen Gipsdecke. Die Gäste unterschieden sich von denen, die ich normalerweise bei Heathers Arbeitsevents traf – der Eröffnung einer schicken Rooftop-Bar oder eines hippen Underground-Restaurants –, die Menschen hier waren spießig und altmodisch.

Perfekt! Tim und ich mochten nichts lieber als Quatsch mit Fremden zu reden: Am besten war es, wenn wir sie davon überzeugen konnten, dass wir jemand anderes waren. Und sogar noch besser, wenn ich es schaffte, überzeugend jemand Schicken oder Berühmten zu spielen, oder auch nur jemanden, der sein Leben besser im Griff hatte als ich. Das letzte Mal, als wir abends unterwegs waren, haben wir eine Veranstaltung der British Film Industry besucht, auf der Tim mit einer dunklen Sonnenbrille in der Ecke saß und ich den ganzen Abend lang junge Schauspieler auf ihn aufmerksam machte, um zu sehen, ob jemand anbeißen würde: »Oh, mein Gott, das ist Jim Reeves. Der Regisseur. Kennst du den nicht? Oh, der ist überaus erfolgreich. Und so talentiert. Nein, online findet man nichts über ihn. Er hält sein Privatleben streng geheim. Ich kann einfach nicht glauben, dass er hier ist.«

»Los jetzt, ich will mich in die Massen stürzen«, Tim zwinkerte mir zu, und ich grinste. »Zusammen? Oder allein und wir berichten uns später?«

»Allein und später berichten.«

Nicht mal eine Stunde später waren wir beide lächerlich betrunken und giggelten in einer Ecke über die Leute, die wir getroffen hatten.

»Ich habe mich über Land Rover, Hyper-Dekantieren, die Länge von Merinowollfasern und schnödes Joggen unterhalten. Ich habe sogar versucht, bei einer Unterhaltung über Kricket mitzumischen.« Das betonte ich besonders, weil Tim ein Fußball-Enthusiast ist. »Und jemand namens Bert musste sich entschuldigen, weil er den Seewetterbericht für morgen sehen wollte. Etwas in mir ist gestorben und in eine Hölle à la Buckinghamshire gekommen.«

»Ich hatte nur eine Unterhaltung über Bäume«, erklärte Tim. Dann rülpste er.

»Komm schon, wir sollten die Gewinnerweine mal genauer unter die Lupe nehmen. Deswegen sind wir hier.«

In der Mitte des Ballsaals stand ein riesiger runder Tisch mit ungefähr fünfzig Weinen, an denen verschiedene goldene, silberne und bronzefarbene Auszeichnungen klebten; und in der Mitte thronte ein alter Tafelaufsatz aus Weingläsern und Efeu, der ungefähr sechs Meter weit in die Höhe ragte. Es war atemberaubend.

»Wer hätte denn gedacht, dass Engländer Wein herstellen … Das ist so, als würde man mal einen stilvollen Australier kennenlernen«, sagte Tim, als er eins der Gläser nahm, das zum Probieren dastand, und sich selbst so großzügig einschenkte, dass es fast schon überschwappte.

»Hey, mach mal ein bisschen halblang, mein Freund«, sagte ich.

»Das ist für umme«, antwortete er und stürzte die Hälfte in einem Zug runter.

»Sav Blanc«, erklärte ich und nahm eine Flasche mit einem sehr modern aussehenden schwarzen Etikett und dem Umriss der Grafschaft Kent in die Hand. »Sav Blanc finde ich gut, und der hier hat sogar einen Preis bekommen. Schau mal. Silber!«

Ich schenkte mir eine bescheidenere Menge ein, aber es wurde langsam schwer, den Flaschenhals in die richtige Richtung zu halten.

»Er hat ein wenig Katzenurin in der Nase; ich weiß, das ist der letzte Schrei, aber mit vier Katern daheim bekomme ich das nicht runter«, erklärte eine Frauenstimme neben mir. Die Dame trug einen ausgestellten türkisen Hosenanzug, der in elegant nur von jemandem wie Alexa Chung designt werden konnte.

»Katzenurin?«, fragte ich.

»Ja, genau«, antwortete die Frau und sah überrascht aus. »Das ist eine Degustationsnotiz?«

»Ach ja, natürlich! Katzenurin. Ganz vorzüglich«, antwortete ich und versuchte, nicht in mein Glas zu kichern, das plötzlich tatsächlich ganz schön nach Katzenurin roch. Tim brüllte vor Lachen, und die Frau runzelte die Stirn und entfernte sich einige Schritte von uns. Wie zum Teufel schaffte Heather es, sich in diesen Kreisen zu bewegen? Das würde ich nie wirklich verstehen.

»Okay, ich weiß nicht, ob ich noch viel mehr vertrage«, sagte ich und blickte Tim mit einem geschlossenen Auge an, damit ich ihn nicht doppelt sah. »Ich bin hacke, Tim. Und ich will eine große Pizza mit gefülltem Rand und extra Salami. Und Chili. Und ein Bier.«

»Darauf stoße ich an«, entgegnete er, »aber zuerst muss ich mal aufs Scheißhaus.«

»Kannst du nicht wenigstens ›Toilette‹ sagen? Wir sind im Ritz, verdammte Scheiße«, rief ich, als er in die falsche Richtung lief.

»Heather Jones?«, ertönte eine Stimme hinter mir. »Ist das nicht eine wundervolle Überraschung! Ich wusste nicht, dass Sie hier sein würden, aber natürlich, wie könnte es anders sein! Und dann habe ich Ihren Namen auf der Gästeliste gesehen.«

Ich blinzelte kurz, dann blickte ich von ihrem warmen Lächeln zu ihrer fließenden senfgelben Bluse und dann zu ihrem VIP-Pass.

»Ich bin Irene Reid, meine Liebe. Bill muss mich bei Ihrem Vorstellungsgespräch erwähnt haben«, sagte sie strahlend, ihr weißes Haar wallte über ihre Schultern und ihre Arme waren ausgestreckt wie bei einer Marmorskulptur der Jungfrau Maria. »Ich freue mich so sehr, dass Sie zu uns kommen.«

»Ahh, Irene«, sagte ich, nickte und lächelte. Wer zum Teufel war diese Frau?

»Ja, genau«, strahlte sie. »Oh, das ist einfach wunderbar. Und, wissen Sie, Russell ist hier auch irgendwo. Zumindest meinte er, dass er kommen würde, aber ich habe ihn noch nicht gesehen.«

Bill, Russell, Irene. Wer zum Teufel war diese Lady und wie konnte ich mich schnell vom Acker machen? Und dann, als ich ihren sanften schottischen Akzent erkannte, schnappte ich nach Luft. »Irene!«

»Ja, Liebes«, sagte sie und lachte jetzt.

Oh Shit!

Ich hatte den Anruf noch nicht getätigt. Diesen sehr wichtigen Anruf, um dem schottischen Hotel mitzuteilen, dass Heather den Job in Schottland sausen lassen würde. Den Anruf, den ich am gleichen Tag hätte erledigen müssen. Und jetzt stand Heathers zukünftige Chefin vor mir und zog mich an sich, um mich fest zu umarmen. Weil sie dachte, ich wäre Heather. Natürlich dachte sie das. Der Name stand auf dem Schild, das mir um den Hals hing.

Ich wartete kurz, bis es nicht mehr unhöflich war, mich aus der Umarmung zu lösen.

»Hi, Irene«, sagte ich. Könnte ich das Missverständnis erklären? Ich versuchte, ein wenig Zeit zu schinden, während sich mein betrunkenes Gehirn bemühte, sich etwas auszudenken. »Haben Sie den Gewinner der Silbermedaille probiert? Der ist wirklich gut. Viel Katzenurin in der Nase.«

»Nein, nein, aber vielen Dank für die Empfehlung.« Sie zwinkerte mir zu, als ich gerade Tim auf dem Rückweg vom stillen Örtchen entdeckte. Ich wusste, dass er dieser Situation nicht würde widerstehen können – ein köstliches Missverständnis, immer wieder gut für Lacher beim vierten Pint Ale mit Damo. Ich wollte abhauen, aber Irene schenkte sich ein Glas ein, und ich wollte verhindern, dass Heather unhöflich wirkte, weil sie so plötzlich verschwand.

»Hallo, Madam«, sagte Tim, als er zu uns kam. »Mein Name lautet Tim McTimothy. Wie Sie auf meinem Namensschild lesen können.«

Ich kicherte, schnaubte und beobachtete das Schreckensszenario, ohne etwas dagegen unternehmen zu können.

»Irene Reid. Ich bin die Geschäftsführerin von Loch Dorn, und wir freuen uns so sehr, dass Heather für uns arbeiten wird. Auch wenn es nur einen Sommer lang ist.«