Ein widerspenstiger Engel - Barbara Cartland - E-Book

Ein widerspenstiger Engel E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Die schöne Tochter der Herzogin von Forthampton ist mit Maximilian verlobt, dem Prinzen von Obernia. Da sie den Prinzen von Angesicht nicht kennt, nimmt Lady Tilda an, daß er besonders häßlich sein muß. Mit gemischten Gefühlen macht sie sich auf die Reise nach Obernia, die über mehrere deutsche Fürstenhöfe führt. König Ludwig II. lädt sie sogar auf Schloß Linderhof ein, aber der bayerische Märchenkönig ist recht launenhaft, und so kommt es zu einer ungewollten Verzögerung der Reise. In München, wo Lady Tilda inkognito Zwischenstation macht, trifft sie Rudolph wieder, einen jungen Mann, der schon früher einmal tiefen Eindruck auf sie gemacht hat. Als sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt, beginnen die Komplikationen, aus denen es nur einen Ausweg zu geben scheint: die Flucht…

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Ein widerspenstiger Engel

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2019

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

Vorbemerkung der Autorin

Obernia ist ein fiktives Land, aber als ich im vergangenen Jahr Schloß Linderhof besuchte, war es ebenso mystisch, erregend und schön, wie Tilda es gefunden hatte.

Meiner Geschichte zuliebe habe ich München ein wenig näher beim Königsschloss Ludwigs II. angesiedelt, als es in Wirklichkeit ist.

Erstes Kapitel

Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof von Windsor ein.

Obwohl er nicht abgesperrt worden war, wie es gewöhnlich geschah, wenn Königliche Hoheiten reisten, erwarteten mehrere prunkvoll gekleidete Herren in mit Goldlitzen verzierten Uniformen Prinzessin Priscilla, Herzogin von Forthampton, und deren Tochter.

Eine königliche Kutsche stand vor dem Bahnhof. Man half den Damen beim Einsteigen, und sie brachen zum Schloß auf.

»Denke daran, Tilda, daß du die Königin nicht ansprechen darfst, bevor sie das Wort an dich gerichtet hat«, sagte Prinzessin Priscilla.

»Ja, Mama.«

»Und vergiß nicht, einen Knicks zu machen, die Hand Ihrer Majestät zu küssen und danach ihre Wange.«

»Ja, Mama!«

»Und höre ihr aufmerksam zu, Tilda.«

»Ja. Mama!«

»Versprich mir, Tilda, daß du ihr keine Fragen stellst. Du bist immer zu neugierig. Ich habe dir das. schon so oft gesagt.«

»Aber wie soll man etwas erfahren, Mama, wenn man keine Fragen stellen darf?«

»Genau diese Antwort habe ich von dir erwartet. Ich wollte, dein Vater wäre mitgekommen! Du benimmst dich nicht so unmöglich, wenn er dabei ist.«

Tilda schwieg.

Lady Victoria Matilda Tetherton-Smythe hatte ihre Mutter dies alles schon hundertmal sagen hören, seitdem die Einladung aus Schloß Windsor eingetroffen war.

Sie wußte aus langer Erfahrung, daß es am klügsten war, einfach allem zuzustimmen, was ihre Mutter sagte, und dabei den eigenen Gedanken nachzugehen.

Sie war erregt bei dem Gedanken, das Schloß sehen zu dürfen, und sie blickte interessiert aus dem Wagenfenster.

Bis jetzt waren zu beiden Seiten der Bahnlinie nur gewöhnliche Häuser zu sehen. Sie konnte noch keinen Blick auf das berühmte Bauwerk werfen, dessen Geschichte ihre Fantasie beflügelte.

Ihre Lehrer hatten ihr erzählt, daß Wilhelm I. der Erbauer des Schlosses gewesen war.

Die Lage auf dem Berg hoch über dem Fluß hatte ihn dazu angeregt, denn er wollte das unterworfene, unfreundliche einheimische Volk ständig an seinen furchteinflößenden normannischen Eroberer erinnern.

Sie müssen ihn gehaßt haben, dachte Tilda.

»Du hörst mir ja gar nicht zu, Tilda«, sagte ihre Mutter tadelnd. »Was habe ich dir eben gesagt?«

»Es tut mir schrecklich leid, Mama, aber ich habe eben an etwas ganz anderes gedacht.«

»Du denkst immer an etwas anderes«, sagte Prinzessin Priscilla vorwurfsvoll. »Bitte, höre mir endlich zu, Tilda!«

»Ich höre, Mama.«

»Ich habe dir gesagt, du sollst daran denken, daß dich von jetzt an jeder mit Victoria anreden wird. Du wurdest nach Königin Victoria benannt. Das war ganz selbstverständlich, weil sie deine Patin ist.«

»Ich hasse den Namen Victoria«, sagte Tilda.

»Deinem Vater gefällt er auch nicht«, sagte Prinzessin Priscilla. »Deshalb nannten wir dich auch Matilda, und bald wurde daraus Tilda.«

»Dieser Name gefällt mir, Mama.«

»Deine Vorlieben und Abneigungen sind nicht von Belang, Til…, ich wollte sagen, Victoria.«

»Es ist zwecklos, Mama. Du wirst dich niemals daran gewöhnen, mich Victoria zu nennen, ganz gleich, wie man mich in Obernia nennen wird.«

»Für die Obernianer wirst du natürlich Victoria sein«, erwiderte ihre Mutter streng. »Und vergiß nicht, Tilda, die Königin selbst hat diese Ehe arrangiert.«

»Ich will daran denken, Mama.«

»Es ist eine große Ehre, Tilda. Du solltest sehr stolz darauf sein!«

Tilda schwieg.  

»Nur wenige Mädchen in deinem Alter haben den Vorzug, regierende Fürstin eines Landes zu werden, dem in Europa beträchtliche Bedeutung zukommt«, sagte ihre Mutter.

»Aber es liegt so weit weg«, murmelte Tilda.

In diesem Augenblick sah sie Schloß Windsor, eindrucksvoll und imposant, genau wie sie es sich vorgestellt hatte.

Sie mußte unwillkürlich an die alten Ritter denken, die hier Turniere ausgefochten hatten. Sie sah sie im Geist mit ihren Schilden, den reich verzierten Sätteln und den kostbaren Schwertern, deren Hefte vergoldet waren.

Ich wollte, ich hätte damals gelebt, dachte Tilda. Jeder Ritter hatte seine Herzensdame, die er liebte und verehrte und der er Liebe schwor und sich ihr antrug, nachdem er in den Turnieren seine Tapferkeit und Männlichkeit bewiesen hatte.

Die Kutsche fuhr die Anhöhe zum Schloß hinauf, und Tilda dachte daran, daß auch schon Königin Elisabeth den gleichen Weg gefahren war., Diese Herrscherin hatte gern im Park gejagt und konnte einen großen, kräftigen Hirsch mit eigener Hand töten. Ihre Anmut, ihre robuste Trinkfestigkeit und ihre Vorliebe für Bier waren allgemein bekannt - jedermann huldigte Ihrer Majestät, und doch hatte sie nicht geheiratet...

Vielleicht wollte sie nicht, daß man ihr einen Mann zuwies. .

Die Kutsche hielt an.

»Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe Tilda«, sagte ihre Mutter aufgeregt. »Die Königin hat dich seit Jahren nicht mehr gesehen. Du mußt einen sehr guten Eindruck auf sie machen.«

»Ich werde mein möglichstes tun Mama.«

Sie gingen durch die aus dem 14. Jahrhundert stammende Eingangshalle und dann einen Korridor entlang, dessen reich geschnitzte Simse und Fensterrähmen von Grinling Gibbons waren.

Holzarbeiten faszinierten Tilda immer. Die Blätter, Früchte, Fische, das Wild waren anmutig symmetrisch angeordnet, und Tilda fühlte sich beim Anblick von solcher Kunstfertigkeit immer innerlich angerührt.

Ein sehr ernst aussehender Haushofmeister führte sie durch das Gebäude.

Tilda wußte, daß ihre Mutter nervös war. Sie hatte die Angewohnheit die Lippen einzuziehen und zusammenzupressen, wenn sie aufgeregt war. Außerdem zupfte sie dauernd an ihrem Schal und nestelte an ihrer Handtasche und dem Kleid herum.

Es ist alles gut, Mama. Die Königin wird dich nicht auffressen, hätte Tilda gern gesagt.

Aber sie wußte, diese Bemerkung hätte ihre Mutter noch mehr verunsichert.

Man hatte ihnen erzählt, wie ungewöhnlich es war, daß Königin Victoria in Schloß Windsor weilte.

Jahrelang hatte sie sich geweigert, Osborne zu verlassen, wo sie seit dem Tod ihres Gatten in der Abgeschiedenheit lebte und sich nicht in der Öffentlichkeit zeigte.

Aber die politischen Ereignisse des vergangenen Jahres und die Spannungen mit Rußland gaben ihr neue Vitalität.

Die fortwährenden Forderungen, die an sie gestellt wurden, bewirkten, daß sie sich wieder aktiv dem Leben zu wandte.

Bisher hatte sie sich überfordert gefühlt. Sie war voller Selbstmitleid gewesen und hatte sich als bedauernswerte, arme Königin gesehen. Aber damit hatte es jetzt ein Ende.

Sie beharrte nicht mehr darauf, in Osborne zu leben oder in Balmoral, sondern war zur Zufriedenheit der Regierungsmitglieder nach Schloß Windsor gezogen.

Nun war sie es, die ihre Minister zu mehr Aktivität antrieb. Zweifellos war die Tatsache, daß sie in Benjamin Disraeli einen Premierminister besaß, den sie schätzte und dem sie vertraute, ein wesentlicher Grund für ihren Sinneswandel.

Disraeli selbst drückte es später so aus:»Sie inspiriert ihren Premierminister, und er verehrt sie.«

Was immer auch den Ortswechsel bewirkt haben mochte, für die Staatsmänner, Politiker und auch für die Verwandten war es eine Erleichterung, daß Königin Victoria nun in Schloß Windsor lebte.

»Es wäre eine beschwerliche Reise nach Osborne gewesen«, sagte Prinzessin Priscilla zu ihrer Tochter. »Du weißt, ich lasse deinen Vater ungern allein.«

Der Herzog von Forthampton, für den es eine große Ehre gewesen war, eine Königliche Prinzessin und die Großnichte von Königin Victoria zu heiraten, war leidend.

Zweifellos war die Auszeichnung, Prinzessin Priscilla heiraten zu dürfen, der Tatsache zuzuschreiben, daß er einer der reichsten Männer Englands war.

Obwohl die Ehe arrangiert worden war, galt sie allgemein als glücklich.

Das einzige Manko war, daß der Herzog wesentlich älter war als seine Frau. Auf jeden Fall war der Ehe nur ein einziges Kind beschieden gewesen: Matilda.

 Das Herzogtum besaß dadurch bedauerlicherweise keinen direkten Erben.

Zu seiner Genugtuung hatte Königin Victoria Tilda, ihrem Patenkind, brieflich mitgeteilt, daß sie Heiratspläne für sie schmiedete und sie mit einem der gekrönten Häupter Europas, Fürst Maximilian von Obernia, zu verheiraten gedachte.

»Ich war der Meinung, Königin Victoria habe die Existenz Tildas völlig vergessen«, sagte Prinzessin Priscilla überrascht. »Als wir sie das letzte Mal in Osborne besuchten, sprach sie kein einziges Wort mit ihr, und jetzt arrangiert sie für sie sogar eine Ehe.«

 »Es ist eine große Ehre für, uns, meine Liebe«; sagte der Herzog.

Prinzessin Priscilla seufzte.

»Ich hoffe nur, Tilda denkt ebenso.«

 Tilda nahm die Nachricht gleichmütig hin und protestierte nicht, wie ihre Mutter es befürchtet hatte.

Aber Tilda war immer unberechenbar.

Ihre Mutter wußte allerdings nicht, daß Tilda mit ihren achtzehn Jahren das Forthampton-Besitztum in Worcestershire, in dem sie Jahr um Jahr gelebt hatte, äußerst langweilig fand.

Nicht, daß sie sich nicht beschäftigen konnte. Sie hatte Gouvernanten und Hauslehrer und vielerlei Interessen. Sie ritt gern, und ihr Vater hatte ihr zwei temperamentvolle Pferde geschenkt.

Aber wegen der Arthritis des Herzogs von Forthampton, die ihn ans Haus fesselte, war keine Rede davon, daß Tilda an der Saison in London teilnehmen konnte oder daß man für sie einen Ball geben würde, wie sie es gehofft hatte.

Man war allerdings mit ihr nach London gefahren, um sie im Thronsaal des Buckingham Palastes vorzustellen und ihren Knicks machen zu lassen.

Die Königin war während der ersten Stunden dabei gewesen, hatte aber dann die anstrengende Aufgabe ihrem Sohn, dem Prinzen von Wales, und seiner schönen, dänischen Frau Alexandra überlassen.

Tilda hatte ihren Knicks als eine der ersten gemacht und danach die Vorgänge genauso förmlich und langweilig empfunden, wie sie es erwartet hatte.

Ihr fiel auf, daß die Menschen mit Königlichen Hoheiten anders sprachen als gewöhnlich, und da ihre Mutter zu den Königlichen Hoheiten zählte, waren die Gespräche, die die Gäste mit ihnen führten, nicht besonders interessant.

Der Haushofmeister, der sie nun durch das Schloß Windsor führte, blieb vor einer Doppeltür stehen.

Sie hatten die Gemächer von Königin Victoria erreicht und wurden nach kurzem Warten in den Salon geführt.

Die Königin saß in einem Armsessel neben einem Tisch. In ihrem unvorteilhaften schwarzen Seidenkleid, den glänzenden schwarzen Schuhen und der Witwenhaube sah sie alt und ehrfurchtgebietend aus.

Es fiel Tilda schwer, sich zu vergegenwärtigen, daß diese Frau die Herrscherin über ein riesiges Imperium war und praktisch alle europäischen Monarchen mit ihr verwandt waren.

Prinzessin Priscilla hatte ihrer Tochter erzählt, daß sich in den vier Räumen, die Königin Victoria bewohnte, nahezu zweihundertundfünfzig Bilder und Fotografien ihrer Verwandten befanden. Jedesmal, wenn sie sich von Schloß Windsor nach Balmoral oder Osborne begab, wurden sie mitgenommen.

Tilda sah sie auf dem Schreibtisch und auf verschiedenen Tischen vor schweren, roten Damastvorhängen stehen, zwischen gebündelten Briefen, Briefbeschwerern, Tintenfässern, Brieföffnern und dem Geburtstagsbuch der Königin.

Es war angefüllt mit den Unterschriften ihrer Besucher, und sie nahm es überallhin mit, so daß es manche für eine Bibel hielten.

Tilda beachtete die Möblierung des Raumes kaum, denn sie versuchte sich auf alle guten Ratschläge zu konzentrieren, die ihre Mutter ihr gegeben hatte.

Prinzessin Priscilla versank bereits vor Ihrer Majestät in einen tiefen Knicks, dann erhob sie sich und küßte Königin Victoria die Hand und die Wange.

»Das ist also Victoria!« sagte die Königin, und ihre Stimme klang unerwartet hoch.

Königin Victoria musterte Tilda interessiert, als diese wie befohlen ihren Knicks machte und danach die blasse Wange der Königin küßte und ihre bläulich geäderte Hand.

»Ja, das ist Victoria, Madam«, sagte Prinzessin Priscilla ein wenig atemlos.

»Ich habe mit dir zu sprechen, Victoria.«

»Ja, Madam.«

Tilda mußte unwillkürlich daran denken, daß es sich meistens um etwas Unangenehmes handelte, wenn man ihr sagte, man wolle mit ihr sprechen.

»Deine Mutter hat dir berichtet, daß du Fürst Maximilian von Obernia heiraten sollst«, fuhr die Königin fort.

»Ja, Madam.«

»Es ist aus mehreren Gründen eine wichtige Heirat.«

»Ja, Madam.«

»Der erste Grund ist der, daß ich Fürst Maximilian für würdig halte, eine Engländerin zur Frau zu nehmen und einer meiner Verwandten zu werden.«

»Ich bin sicher er weiß die Ehre zu schätzen, Madam«, sagte Prinzessin Priscilla.

Die Königin wandte den Blick nicht von Tildas Gesicht.

»Der zweite Grund ist der«, fuhr sie fort, als habe die Prinzessin nicht gesprochen, »daß Obernia in unserer Strategie eine wichtige Rolle spielt.«

Tilda hörte aufmerksam zu. Sie fand die Gedanken der Königin interessant.

»Da Obernia an Bayern, Österreich und Württemberg grenzt, ist es ein wichtiger Faktor im Gleichgewicht der Kräfte, und es ist wichtig, daß es unabhängig bleibt.«

Königin Victoria hielt kurz inne, schien aber keine Antwort zu erwarten und fuhr dann fort: »Dadurch, daß Preußen Wilhelm zum Kaiser gekrönt und viele kleine Staaten geschluckt hat, ist eine Situation entstanden, die uns beunruhigt.«

Die Stimme der Königin klang scharf, und es bestand kein Zweifel daran, wie sehr sie dies mißbilligte.

Die Prinzessin wußte, daß ihr das Verhalten ihres Enkels Wilhelm von Preußen äußerst mißfiel.

Man hatte sie davon unterrichtet, daß er sich protestlos beleidigende Bemerkungen über seine englische Mutter — ihre älteste Tochter Vicky — mit anhörte.

»Warum Bayern den Vorschlägen Fürst Bismarcks zugestimmt hat, werde ich niemals begreifen«, sagte die Königin, als spräche sie zu sich selbst.

»Ich habe gehört, Madam, daß es nur deshalb geschah, weil König Ludwig Zahnschmerzen hatte«, sagte die Prinzessin.

Es war vorgeschlagen worden, daß ein preußischer und ein bayerischer Monarch gemeinsam oder abwechselnd über das Deutsche Reich herrschen sollten. Aber der König von Bayern scheute vor einer Auseinandersetzung in einem so wichtigen Punkt zurück und war damit einverstanden, daß Preußen die Führungsrolle übernahm.

»Ich kenne die Umstände, unter denen diese bedauerlichen Beschlüsse gefaßt wurden«, sagte Königin Victoria mürrisch.

Die Prinzessin errötete.

»Was immer auch vor acht Jahren geschehen ist«, fuhr die Königin fort, »die Tatsache bleibt bestehen, daß Bayern jetzt ein Teil des Deutschen Reiches ist,  obwohl ich glaube, König Ludwig werden mehr Rechte zugestanden als den anderen Mitgliedern. Auf jeden Fall muß Obernia um jeden Preis unabhängig bleiben«, sagte sie nachdrücklich.

Sie wandte sich an Tilda.

»Du bist indirekt eine Gesandte Englands, Victoria. Du mußt deinen künftigen Gatten dahingehend beeinflussen, daß er stets eine Zusammenarbeit mit uns anstrebt und keine Verbindungen mit Deutschland knüpfen möchte.«

Die Königin sprach sehr energisch. Plötzlich sagte sie:»Du siehst noch sehr jung aus, Victoria.«

Tilda wirkte in der Tat noch wie ein Kind. Sie war klein und zierlich, und ihre porzellanblauen Augen schienen ihr kleines Gesicht zu beherrschen. Sie sah sehr unreif und viel zu jung aus, um schon zu heiraten.

»Victoria ist achtzehn Jahre alt«, sagte Prinzessin Priscilla nervös.

»In diesem Alter wurde ich Königin, und ich sah auch sehr jung aus.«

»Haben Sie sich gefürchtet, als man Ihnen sagte, daß Sie nun regieren sollen?« fragte Tilda.

Ihre Mutter hielt entsetzt den Atem an.

Da waren genau die Fragen, die sie gefürchtet hatte, und die Königin würde es zweifellos als Unverschämtheit empfinden.

Aber zu ihrer Überraschung sagte Königin Victoria: »Ja, ich habe mich gefürchtet, als ich es um sechs Uhr früh von meiner Mutter erfuhr und sie mir sagte, der Erzbischof von Canterbury und Lord Conyngham wünschten mich zu sprechen.«

»Es muß sehr aufregend für Sie gewesen sein«, sagte Tilda. Sie blickte die Königin interessiert an.

 »Ja, das war es. Ich stand rasch auf, zog meinen Morgenrock an und ging in den Salon, wo Lord Conyngham und Lord Chamberlain mich mit der Tatsache bekanntmachten, daß mein Onkel, der König, verstorben und ich infolgedessen die neue Königin war.«

Tilda holte tief Luft.

»War das ein großer Schock für Sie, Madam?« fragte Tilda.  

»Allerdings«, antwortete die Königin, »aber ich war entschlossen, eine gute Königin zu sein.«

Als würde ihr plötzlich bewußt, daß sie zu vertraulich geworden war, sagte sie scharf:

»Und das mußt du auch sein, Victoria — gut! Und du mußt dich deinem Land gegenüber immer loyal verhalten und daran denken, welchen Namen du auch trägst und welche Stellung du auch einnimmst, es ist englisches Blut, das in deinen Adern fließt.«

»Ich werde immer daran denken, Madam.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile, und dann wurden Prinzessin Priscilla und Tilda entlassen.

Sie nahmen zusammen mit zwei Hofdamen der Königin ein leichtes Mahl ein, ehe die Kutsche sie zum Bahnhof brachte und sie nach London zurückfuhren.

»Nun, das wäre geschafft«, sagte Tildas Mutter.

Sie setzte sich bequem in eine Ecke des für sie reservierten Zugabteils und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Du hast dich so sehr vor Königin Victoria gefürchtet«, sagte Tilda. »Ich kann mir überhaupt nicht denken warum?«

»Alle fürchten sich vor ihr«, sagte ihre Mutter. »Du hattest Glück, sie war sehr liebenswürdig zu dir. Aber sie kann auch sehr streng sein.«

»Das muß sie als Königin sein«, sagte Tilda. Und dann lachte sie: »Ich glaube nicht, daß sich irgend jemand vor mir fürchten würde, Mama.«

»Du wirst auch nicht Königin, sondern nur eine regierende Fürstin, Tilda. Ich frage mich, weshalb Obernia niemals einen König besaß, wo es in Europa doch so viele Könige gibt.«

»Ich glaube, es ist zu winzig«, sagte Tilda.

»Du sprichst ziemlich abfällig über das Land, das bald das deine sein wird«, bemerkte ihre Mutter vorwurfsvoll.

»Es ist zwar klein, Mama, aber es hat große Bedeutung, wie Königin Victoria uns gesagt hat. Papa hat es mir auch schon zu erklären, versucht. Aber ich hätte Königin Victoria wirklich gerne gefragt, ob unter den vielen Fotografien in ihrem Zimmer auch ein Bild von Fürst Maximilian dabei war.«

»Ich habe dir doch schon gesagt, es gibt von ihm keine Bilder oder Fotografien. Er läßt sich weder fotografieren noch malen. Er erlaubt es einfach nicht.«

»Und warum nicht?«

»Das weiß ich auch nicht. Er wird seine Gründe haben. Vielleicht will er auch einfach nicht, daß Krethi und Plethi ihn sehen«, antwortete, ihre Mutter.

»Aber du kennst den Grund nicht«, beharrte Tilda.

»Wenn du den Fürsten kennenlernst, wird er es dir selbst sagen«, erwiderte Prinzessin Priscilla.

Ihr Tonfall sagte ihrer Tochter nur allzu deutlich, daß sie sich ihre eigenen Gedanken darüber machte, weshalb der Fürst nicht fotografiert werden wollte.

Seine Abneigung dagegen kam Tilda seltsam vor, da doch alle Leute von ihrem eigenen Abbild fasziniert waren.

In jedem Haus standen Fotografien auf Klavieren, Tischen, Kaminsimsen und Schreibtischen, so daß manchmal Feder und Papier kaum Platz fanden.

»Ich hätte gern wenigstens eine kleine Vorstellung davon, wie er aussieht«, sagte Tilda.

»Ich habe ihn zum letzten Mal gesehen, als er noch ein Kind war«, sagte ihre Mutter. »Damals sah er sehr gut aus, und allen Erzählungen über ihn entnehme ich, daß er attraktiv ist.«

»Warum scheut er sich dann davor, daß andere Menschen ein Bild von ihm sehen?« fragte Tilda. Ihre Mutter schwieg, und einen Augenblick lang hörte man nur das Rattern der Räder und das Pfeifen der Lokomotive.

Dann fragte Tilda: »Hat der Fürst eine Fotografie von mir?«

»Als die Absprache über eure Hochzeit getroffen wurde, erkundigte sich dein Vater, ob Fotografien ausgetauscht werden sollten. Man teilte ihm mit, der Fürst sei noch nie gemalt oder fotografiert worden. Aus diesem Grund hielt dein Vater es für unangebracht, ihm eine deiner Fotografien zu schicken, die im Januar von dir aufgenommen worden waren.«

»Du meinst also, der Fürst kauft die Katze im Sack?« fragte Tilda.

Ihre Mutter richtete sich empört auf.

»Also wirklich, Tilda, das ist ein äußerst vulgärer und unpassender Ausdruck. Ich kann mir nicht vorstellen, woher du ihn hast.«

»Aber es ist doch wahr«, sagte Tilda.

»Wir sprechen über dieses Thema nicht mehr!« sagte ihre Mutter resolut. »Wenn du über deine Zukunft sprechen möchtest, können wir die Liste deiner Brautausstattung durchgehen. Sie ist noch nicht vollständig.«

»Dazu habe ich keine Lust«, erwiderte Tilda. »Ich habe sowieso schon zu viele Kleider. Sie werden unzählige Jahre halten.«

Tilda seufzte.

»Ist es nicht schrecklich, sich vorzustellen, daß ich in zehn Jahren immer noch meine altmodischen Kleider abtragen muß?«

Ihre Mutter biß sich auf die Lippen.

»Ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit dir los ist, Tilda. Du bist so aufsässig geworden. Ich hoffe nur, Papa hört dich nicht so sprechen. Es würde, ihn ärgern.«

»War dir, als du jung warst, nicht auch manchmal danach zumute, etwas ganz anderes zu tun als das, was die Leute von dir erwarten, Mama?«

Ihre Mutter schwieg, und Tilda fuhr fort: »Hast du nicht weglaufen wollen, als man dir sagte, du mußt Papa heiraten? Wolltest du zur Abwechslung nicht auch mal eine ganz andere sein?«

 »Nein, Tilda, ich war sehr dankbar und glücklich darüber, deinen Vater heiraten zu dürfen. Im Gegensatz zu dir hatte ich fünf Schwestern, und meine Eltern machten sich jahrelang Sorgen, wo und wie sie geeignete Ehemänner für uns finden sollten.«

Ihre Stimme wurde weicher, als sie fortfuhr: »Man erlaubte mir erst mit fünfundzwanzig Jahren, eine Ehe einzugehen. Ich hatte großes Glück, daß ich die Frau eines so liebenswürdigen und guten Mannes wurde wie es dein Vater ist.«

»Hast du niemals aufbegehrt, Mama?« fragte Tilda.

 »Nein, kein einziges Mal. Und du mußt mir versprechen, derartig unerhörte und verwerfliche Gedanken nicht einmal zu erwägen, Tilda.«

Tilda antwortete nicht und ihre Mutter fuhr fort: »Du weißt nicht, wie glücklich du sein kannst, so jung heiraten zu dürfen und überdies noch einen regierenden Fürsten.«

»Glaubst du, Fürst Maximilian heiratet mich gern?« fragte Tilda.

»Es ist das Bestreben eines jeden Kleinstaates in Europa, eine Verwandte unserer Königin zur Frau zu bekommen. England ist eine Weltmacht, Tilda, das weißt du sehr gut. Und jedes Land bemüht sich um unsere Sympathie, um unsere Freundschaft und wenn nötig um unsere finanzielle Hilfe.«

»Auch Deutschland?« fragte Tilda.

»Auch Deutschland!« erwiderte Prinzessin Priscilla, aber nicht mehr ganz überzeugend.

»Fürst Bismarck muß ein sehr außergewöhnlicher Mann sein«, sagte Tilda. »Er hat das Deutsche Reich gegründet, und nun ist Hannover nicht mehr unabhängig, ebenso wenig sind es Hessen-Kassel, Bayern und Braunschweig.«

»Es freut mich, daß du belesen bist«, bemerkte ihre Mutter.

»Das hat mir alles der Professor beigebracht«, sagte Tilda. »Du hast ihn gebeten, mich die europäische Geschichte zu lehren, und er hat mich mit Wissen vollgestopft wie eine elsässische Gans mit Futter.«

»Ich habe die größte Hochachtung vor Professor Schiller«, erwiderte ihre Mutter. »Ich wünsche, daß er dich auf deiner Reise nach Obernia begleitet.«

»O nein, Mama, ich möchte nicht die ganze Reise von ihm belehrt werden!«

»Es wird nur zu deinem Vorteil sein, Tilda. Außerdem hat dein Vater Lady Crewkerne gebeten, dich als Anstandsdame nach Obernia zu begleiten.«

»Ausgerechnet Lady Crewkerne«, stöhnte Tilda. »Sie ist alt, langweilig und humorlos! Ich habe sie noch niemals über irgend jemanden ein freundliches Wort sagen hören.«

»Aber sie ist sehr weit gereist, Tilda. Ihr verstorbener Mann war einmal unser Botschafter in Wien. Sie kennt sich im Protokoll aus, und du mußt es unbedingt beherrschen, wenn du in Obernia eintriffst, dem Land, das du einmal mitregieren sollst.«

»Lady Crewkerne und Professor Schiller!« rief Tilda entsetzt. »Das wird eine grauenhafte Reise! Ich werde mich sicherlich freudig in Fürst Maximilians Arme werfen, ganz gleichgültig, wie er aussieht.«

»Das hoffe ich auch, Tilda. Und ich bin sicher, du wirst mit ihm sehr glücklich sein«, sagte ihre Mutter. Sie seufzte tief.

»Ich wollte, ich konnte dich begleiten, aber du weißt, ich kann deinen Vater nicht lange alleinlassen.«.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Tilda »Aber, es wäre für mich wesentlich amüsanter, mit dir zu reisen, als mit diesen beiden alten Herrschaften, die ihr für mich ausgesucht habt.«

»Es ist sehr wichtig, daß du mit einer respektablen und standesgemäßen Begleitung in Obernia eintriffst«, sagte Prinzessin Priscilla. »Dir ist doch klar, wie teuer und kostspielig diese Reise ist?«

Sie seufzte wieder.

»Wir können es uns wirklich nicht leisten, dir mehr Reisebegleiter mitzugeben, als absolut notwendig sind. Zwei Kutschen mit je sechs Pferden kosten eine Menge Geld.«

Obwohl der Herzog sehr, reich war, wußte man, daß er äußerst sparsam und knauserig war, wenn es darum ging, Geld außerhalb seines Besitztums auszugeben.

Es war Prinzessin Priscilla nicht leicht gefallen, ihm das Geld für Tildas Aussteuer zu entlocken.

»Zwei Kutschen, Mama?« fragte Tilda erstaunt.

 »Ja, eine für die Zofen und dein Gepäck«, erwiderte ihre Mutter. »Denn abgesehen von deiner Aussteuer wirst du viele Hochzeitsgeschenke erhalten, die du nach Obernia mitnehmen mußt.«

Ihre Mutter begann an den Fingern abzuzählen: »Zwei Kutschen mit je zwei Kutschern, dazu zwei Diener, das sind allein schon sechs Dienstboten. Außerdem brauchst du vier Vorreiter. Denn selbst in unserem aufgeklärten Zeitalter lauern überall auf den Straßen Banditen den Reisenden auf und rauben sie aus.«

»Das klingt aufregend«, sagte Tilda, und plötzlich leuchteten ihre Augen.

»Es ist eine Aufregung, die dir hoffentlich erspart bleibt«, erwiderte ihre Mutter. »Die Vorreiter, die dein Vater dir mitgeben will, sind erfahrene Pistolenschützen. Sie werden dafür sorgen, daß du dein Ziel sicher erreichst.«

»Es wird eine lange Reise«, sagte Tilda.