Ein Winter in New York - Josie Silver - E-Book

Ein Winter in New York E-Book

Josie Silver

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Beschreibung

Ein Geheimnis aus der Vergangenheit führt sie zusammen. Doch kann ihre Liebe das Weihnachtsfest überstehen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt?

In der Stadt der Träume will Iris ganz neu anfangen und endlich ihre schmerzhafte Vergangenheit vergessen. Auf einem Straßenfest entdeckt sie eine Eisdiele, die ihr merkwürdig bekannt vorkommt. Inhaber Gio verzaubert sie mit seinem italienischen Charme und einer köstlichen Kreation, die Iris nur allzu vertraut ist. Gios Familienbetrieb steht jedoch kurz vor dem Aus, und Iris begreift: Sie ist die Einzige, die ihm helfen kann. Denn sie beide verbindet ein Geheimnis, das niemals ans Licht kommen darf. Während es draußen kälter wird und die Stadt in einem Meer aus Weihnachtslichtern versinkt, kommen sich Iris und Gio immer näher. Doch am Weihnachtstag muss Iris sich entscheiden: Soll sie Gio die Wahrheit sagen und damit riskieren, ihn für immer zu verlieren?

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Seitenzahl: 457

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Zum Buch

In der Stadt der Träume will Iris ganz neu anfangen und endlich ihre schmerzhafte Vergangenheit vergessen. Auf einem Straßenfest entdeckt sie eine Eisdiele, die ihr merkwürdig bekannt vorkommt. Inhaber Gio verzaubert sie mit seinem italienischen Charme und einer köstlichen Kreation, die Iris nur allzu vertraut ist. Gios Familienbetrieb steht jedoch kurz vor dem Aus, und Iris begreift: Sie ist die Einzige, die ihm helfen kann. Denn sie beide verbindet ein Geheimnis, das niemals ans Licht kommen darf. Während es draußen kälter wird und die Stadt in einem Meer aus Weihnachtslichtern versinkt, kommen sich Iris und Gio immer näher. Doch am Weihnachtstag muss Iris sich entscheiden: Soll sie Gio die Wahrheit sagen und damit riskieren, ihn für immer zu verlieren?

Zur Autorin

Josie Silver ist eine hoffnungslose Romantikerin, die ihren Ehemann an seinem 21. Geburtstag kennenlernte, nachdem sie ihn fast über den Haufen gerannt hätte. Mit ihm, den beiden Söhnen und einer wachsenden Zahl von Haustieren lebt Josie Silver in einer kleinen Stadt in den Midlands. Seit ihrem Debüt Ein Tag im Dezember stürmt sie mit ihren Büchern weltweit die Bestsellerlisten.

JOSIE SILVER

Ein Winter in New York

ROMAN

Aus dem Englischen von Babette Schröder

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe A Winter in New York erschien erstmals 2023 bei Penguin Books, Penguin Random House UK, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 09/2024

Copyright © 2023 by Josie Silver

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sandra Ladwig

Umschlaggestaltung: Favoritbuero GbR, München

Cover Design & Illustration: Josie Staveley-Taylor

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32326-4V001

www.heyne.de

Für Sally und Rose, meine inspirierenden Freundinnen

Valentinstag

Logan’s Bookstore, Lower East Side, New York

Um die Spannung zu steigern, werden dramatische Szenen in Filmen manchmal in Zeitlupe gezeigt. Mit angehaltenem Atem verfolgt man, ob die Person auf der Leinwand es wohl schafft, den brennenden Abgrund zwischen den Hochhäusern zu überwinden oder die unbezahlbare Vase aufzufangen, bevor sie in hundert Scherben zerspringt. Einen solchen Zeitlupenmoment erlebe ich, als ich das letzte Exemplar des Buches nehmen will, auf das ich seit einem Jahr warte, und jemand anders im selben Moment danach greift. Ich sehe, wie dieser Jemand neben mir den Arm ausstreckt, und stürze nach vorn wie eine siegeshungrige Staffelläuferin. Meine Fingerspitzen berühren den Einband, ja, ich habe es, nein, doch nicht – der verdammte Arm meines Gegenübers ist länger, und ich spüre, wie mir das Buch im letzten Moment entgleitet, als er es nimmt.

»Aber ich habe es berührt«, platze ich unwillkürlich heraus und umklammere in meiner Panik eine imaginäre Perlenkette um meinen Hals. Dieses Buch wollte ich mir selbst zum Valentinstag schenken, und ich finde, nach allem, was ich durchgemacht habe, habe ich mir das verdient. Mit Unschuldsmiene dreht sich der Mann zu mir um.

»Ich war zuerst hier«, murmle ich wie ein Kind, das bei einer Stuhlpolonaise gerade vom letzten Platz geschubst wurde.

Er wendet das Buch, um die Rückseite zu lesen. »Ich habe Sie nicht gesehen, tut mir leid.«

Dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Roman – offenbar ist unser Gespräch beendet –, und ich sehe mich nach Verstärkung um. Irgendjemand muss doch dieses Verbrechen beobachtet haben. Mit einem solchen Kampf mag man beim letzten Glas Champagner auf einer Hochzeit oder um den übrig gebliebenen Keks beim Montagmorgen-Meeting rechnen, aber Herrgott, wir sind doch Büchermenschen. Wir benehmen uns nicht so. Woraus folgt, dass dieser Kerl kein Büchermensch ist. Also kann ich hier vielleicht doch noch gewinnen.

»Entschuldigen Sie.« Ich räuspere mich, als ob ich gleich eine Lautsprecherdurchsage machen wollte.

Er wendet sich mir erneut zu und sieht mich aus seinen dunklen Augen fragend an. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht recht deuten, aber es kommt mir so vor, als würde er ein triumphierendes Lächeln unterdrücken, was ich ihm zutiefst verübele. Er ist eindeutig kein Büchermensch.

»Das ist sicher nichts für Sie.« Ich deute mit dem Kopf auf mein – ich meine, das – Buch. »Es ist der dritte Teil einer Trilogie, und wenn man die ersten beiden Teile nicht gelesen hat, versteht man nichts.« Verzweifelt blicke ich auf das Bestsellerregal und greife nach dem neuesten Lee Child. »Versuchen Sie lieber das hier. Jack Reacher ist sehr beliebt. Es ist wie der Film mit Tom Cruise. Eigentlich ist der mindestens eineinhalb Köpfe zu klein für die Rolle, aber er ist trotzdem überzeugend als Reacher. Doch das hier ist besser, weil es das Buch ist.« Ich plappere wie eine Vollidiotin, und er blickt von dem Buch in seiner Hand zu dem in meiner.

»Aber ist das nicht immer so?« Er seufzt. »Dass das Buch besser ist als der Film, meine ich?«

Ich schlage mir die Hand vors Herz, irritiert von dieser unbestreitbaren Wahrheit. »Ja, oder?« Ich nicke energisch. »Jedes Mal. Die Frau des Zeitreisenden sehe ich mir sicherheitshalber gar nicht erst an, wissen Sie.«

Er lächelt zurückhaltend und höflich, und ich halte ihm ermutigend den Lee-Child-Roman hin.

»Sie würden mir also empfehlen, nach mehr als zwanzig Bänden in die Jack-Reacher-Reihe einzusteigen, aber nicht mit dem dritten Band dieser Reihe zu beginnen?«

»Aber ja, das sind alles eigenständige Geschichten.« Ich tippe auf Lee Child und bemühe mich, nicht genervt zu klingen. »Sie müssen die anderen Bände nicht gelesen haben, um den hier zu genießen.«

»Aber das hier …?« Er dreht das Buch in seinen Händen um, sodass das Cover zu sehen ist. Ein fast schmerzhafter Seufzer entfährt meiner Kehle. Wie oft habe ich dieses Cover im Internet studiert und nach Hinweisen gesucht, wie die Geschichte wohl ausgeht. Die Umschlaggestalter sind teuflisch geschickt darin, kleine Andeutungen in den aufwendigen Illustrationen zu verbergen – das steigert den Reiz des Buches noch zusätzlich.

»Richtig kompliziert«, sage ich. »Eine große, epische Geschichte, die sich über drei Teile hinzieht. Keine Chance, dass man da nachträglich noch reinkommt. Es wäre im Grunde so, als würde man Französisch lesen.«

»Französisch, ja?«

Plötzlich kommt mir der Verdacht, dass er gleich fließend Französisch sprechen könnte. »Oder Niederländisch oder Chinesisch oder – ich weiß nicht – Suaheli. Also unmöglich.«

»Aber es ist ein gutes Cover.« Er sieht es sich genau an. »Ist das ein Kaninchen?«

Unwillkürlich wandert mein Blick zu dem Buch. Verdammt, er hat recht. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, was das für die Geschichte bedeuten könnte.

»In dieser Geschichte kommen keine Kaninchen vor.« Ich blättere durch die Seiten des Lee-Child-Romans wie ein Zauberer, der ein Kartenspiel auffächert. »Hier gibt es jede Menge Verfolgungsjagden, Observationen und kernige Sprüche.« Ich werbe für das Buch, obwohl ich noch nie einen Reacher gelesen und keine Ahnung habe, was da passiert.

»Lapin«, sagt er.

Ich lege den Kopf schief.

»Französisch für Kaninchen«, erklärt er.

»Können Sie das auch auf Suaheli?«

»Das wäre echt witzig, oder?«, erwidert er. »Aber leider nein. Ich weiß jedoch, dass hinter diesem Kaninchen mehr als nur ein Kaninchen steckt.« Er tippt auf das Buch. »Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass Steph eine Höhle mit Fluchttunneln unter dem Schloss entdeckt, oder vielleicht etwas subtiler, dass sie ins Ungewisse springen muss, um Estelina zu retten?«

Als mir dämmert, dass er das Buch so schnell nicht aus der Hand legen wird, lasse ich die Schultern nach unten fallen. Seine triumphierende Miene sieht aus wie die von David Rose aus Schitt’s Creek. Er nickt, versucht, ein Lächeln zu unterdrücken, und suhlt sich in seinem Triumph. Ich entschuldige mich im Stillen bei Lee Child und schiebe sein Buch zurück ins Regal.

»Sie könnten es selbst einmal mit Jack Reacher versuchen«, sagt er. »Angeblich sind die Bücher voller kerniger Sprüche.«

Einen kernigen Spruch wünsche ich mir in diesem Moment mehr als alles andere, aber was aus mir herausbricht, ist alles andere als das.

»Wissen Sie was? Nehmen Sie das Buch. Nehmen. Sie. Das. Verdammte. Buch. Schon in Ordnung. Das bringt mein Leben auf den Punkt.«

Er weicht einen kleinen Schritt zurück, streicht sich mit der Hand übers Kinn und beobachtet mich. Das Licht fängt sich in seinem goldenen Ehering, was mich noch mehr aufregt. Das hat nichts mit diesem Fremden zu tun, aber er bekommt es trotzdem ab.

»Nehmen Sie das Buch, obwohl Sie heute Abend wahrscheinlich gar keine Zeit haben werden, es aufzuschlagen, weil Sie Ihre Frau schick zum Essen ins Empire State Building ausführen. Oder mit ihr auf einer karierten Decke auf der Ladefläche eines Pick-ups liegen und nach Sternschnuppen Ausschau halten, oder irgendeinen anderen genauso trivialen Valentinstagsmist machen.«

Meine Stimme klingt unangenehm schrill. Seine Miene gefriert, als sein Blick den markanten, herzförmigen Siegelring meiner Mutter streift, den ich am Ringfinger trage.

»Na, hoffentlich weiß Ihr Mann, dass er heute Abend keinen trivialen Mist von Ihnen erwarten kann«, äfft er meinen britischen Akzent nach. Es klingt lächerlich, und seine Antwort fühlt sich wie eine schallende Ohrfeige an.

»Er ist tot, wenn Sie es genau wissen wollen, und ich hatte nur einen einzigen beschissenen Plan für heute Abend, nämlich auf der schäbigen Couch zu liegen und dieses Buch zu lesen, aber dank Ihnen und Ihren verdammt langen Armen kann ich selbst das nicht mehr tun.«

Er sieht beschämt aus und schiebt mir eine Entschuldigung stammelnd das Buch zu. Doch ich habe mich zu weit hinauf auf den Gipfel der moralischen Überlegenheit begeben. Von hier oben kann ich jetzt nicht mehr danach greifen und es nehmen. Die Luft hier oben ist so dünn, dass mir sogar das Atmen schwerfällt. Ich stoße ein letztes wütendes Schnaufen aus, stapfe aus dem Laden, nicht ohne dabei eine Herzchengirlande aus dem Weg zu schlagen.

Mist. Was war das? Warum habe ich das gesagt? Ich könnte vor Scham im Boden versinken. Es ist eine Sache, mir einzureden, dass Adam Bronson tot ist, damit ich nicht ständig auf der Hut bin. Es in einer Buchhandlung einem Fremden gegenüber zu behaupten, ist allerdings etwas ganz anderes. Adam ist zwar für mich gestorben, aber in Wahrheit lebt er noch und war nie mein Ehemann, und ziemlich sicher führt er sich gerade in diesem Moment zu Hause in London bei einer anderen wie ein Monster auf. Ich ziehe mir meine blau-weiß gestreifte Pudelmütze über die Ohren, vergrabe mein puterrotes Gesicht in meinem Schal und schlittere über den matschigen Bürgersteig nach Hause. Ich hätte heute zu Hause bleiben sollen. Ich habe keine Lust auf Schaufenster voller Glitzerrosen und Verkaufsständer mit schrecklichen rosa Grußkarten. Der Valentinstag löst in mir ausschließlich negative Gefühle aus – dieses künstlich hochgejubelte Ereignis scheint nur dazu da zu sein, mich an all meine schlechten Entscheidungen und die furchtbaren Konsequenzen zu erinnern. In den letzten Jahren bin ich einmal durch die Hölle und zurück gegangen – von einem aufsteigenden Stern der Londoner Kochszene wurde ich zu einer Frau, die Angst vor ihrem eigenen Schatten hat. Oder, um nicht ganz so streng mit mir zu sein, zu einer einsamen, trauernden Tochter, die das Opfer eines kontrollsüchtigen Mannes wurde, der ihr Leben zerstörte und sie quasi in seinem Haus einsperrte. Es kostete mich ungeheuren Mut, da herauszukommen, und noch mehr, ein One-Way-Ticket nach New York zu buchen. Vor sechs Wochen bin ich hier gelandet, all meine Habseligkeiten in ein paar abgenutzten Koffern, mich mit aller Kraft an die letzten Fetzen meiner Würde klammernd.

Ich möchte eigentlich nicht auf der Ladefläche eines Pick-ups liegen und die Sterne betrachten oder heute Abend im Empire State Building zu Abend essen. Derart kitschiges Zeug überlasse ich liebend gern Frauen wie Meg Ryan, die weniger verbittert sind. Und ja, ich weiß, dass meine Anspielungen auf Liebeskomödien aus den Achtzigern veraltet sind, dass es eine Million coolere Filme gibt, die ich stattdessen zitieren könnte. Aber ich werde meine Liste nicht aktualisieren, denn die Erinnerung, wie ich diese Filme gemeinsam mit meiner Mutter sah und wir dabei aus den alten rosa Melaminschalen unser selbst gemachtes Eis aßen, ist das, was mich am Leben hält. Ihre geliebten Geschichten über diese Stadt haben mich auf gut Glück hierhergebracht, eine von Sinatra inspirierte Nostalgie. Wenn sie es hier schaffen konnte, kann ich es vielleicht auch. Ein Neuanfang an einem neuen Ort, an dem mir der für mich gestorbene Ex keine Angst machen kann. Seufzend beschließe ich, mir diese eine Lüge durchgehen zu lassen, schwöre mir aber, sie nie mehr zu wiederholen. Wenigstens war es ein völlig Fremder.

Sieben Monate später …

1

Hatte ich recht, oder hatte ich recht?«

Bobby hakt sich bei mir unter, als wir unter dem rot-grün-weiß beleuchteten Bogen mit der Aufschrift »Willkommen in Little Italy« hindurchgehen. Dahinter herrscht ein bunter Trubel mit Straßenhändlern, Trommelklängen und verlockenden Gerüchen – Menschen, so weit das Auge reicht.

Mein Vermieter und bester Freund hat mich überredet, mit ihm auf das San-Gennaro-Fest zu gehen – ein italienisches Kulinarik- und Kulturfestival, auf das sich Bobby zufolge die New Yorker jedes Jahr freuen. Bobby weiß, dass meine Liebe zum Essen in diesen Tagen so ziemlich das Einzige ist, was mich aus dem sicheren Kokon meiner Wohnung lockt. Zu behaupten, dass ich zu einer eingefleischten New Yorkerin geworden sei, seit ich vor neun Monaten vor seiner Tür stand, wäre ziemlich übertrieben. Als ich ankam, sehnte ich mich nach Veränderung und träumte von dem New York, das ich aus den Lieblingsfilmen meiner Mutter kannte. Angesichts meines jetzigen Jobs ist es lächerlich, aber ich bildete mir ernsthaft ein, eine Chance zu haben, bei Katz’s Deli Pastrami-Sandwiches zu füllen. Oder dass in den hektischen Küchen vom Plaza wenigstens eine winzige Position auf mich warte.

Wie sich herausstellte, stellten beide gerade niemanden ein. Ich brachte nicht einmal den Mut auf, lange genug bei Katz’s Deli auszuharren, um zu fragen – die Schlange der dort Wartenden reichte einmal um den Block. Das Very Tasty Noodle House suchte jedoch Personal. Bobby Han hatte vor Kurzem das gesamte Gebäude geerbt – vom schicken Penthouse im obersten Stockwerk bis zum heruntergekommenen Nudelrestaurant im Erdgeschoss, dabei hatte er in seinem Leben noch nie einen Wok auch nur angefasst. Ich stelle mir gern vor, dass der Geist meiner Mutter neben mir ging, als ich kurz nach meiner Landung durch die dunkler werdenden New Yorker Straßen stapfte und von einem Lokal nach dem anderen abgewiesen wurde. Mein Instinkt führte mich durch die Chrystie Street und geradewegs zu Bobby Han, der just in diesem Moment ein Schild KOCH/KÖCHINGESUCHT in das staubige Fenster seines Restaurants klebte. Innerhalb einer Stunde hatte ich nicht nur den Job bekommen, sondern auch die Schlüssel für die winzige, altmodische Wohnung darüber, aus der seine alte Tante, die Nudelkönigin, gerade erst ausgezogen war. Mein winziges Appartement ist der Puffer zwischen dem Penthouse, das Bobby mit seinem Mann Robin bewohnt, und dem Restaurant im Erdgeschoss. Wie ein Schwamm saugt es allen Lärm und Küchendunst auf, damit die zwei dort oben unbehelligt leben können, ohne dass ihre Kleidung oder die Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle nach Erdnussöl stinken.

Was ich an jenem ersten Tag noch nicht wusste, war, dass ich außerdem gerade die größte platonische Liebe meines Lebens gefunden hatte. Bobby entpuppte sich als bester Freund und großer Bruder, ein herrlich lautes und sarkastisches Prachtstück – menschlicher Goldstaub für eine einsame Frau, die über dreitausend Meilen von zu Hause entfernt ganz neu anfängt.

Der verregnete graue Himmel tut der Stimmung auf dem Festival an diesem Nachmittag keinen Abbruch. Eine ansteckende Energie und Begeisterung treibt die Menschen von Stand zu Stand – wo sie Spezialitäten kosten und lautstark genießen.

»Du hattest so recht«, sage ich und lasse das bunte Treiben auf mich wirken. »Ich will alles probieren.«

Wir halten an, um die goldene Statue des heiligen Januarius, des Schutzpatrons von Neapel, zu betrachten – ein kurzer, ruhiger Moment, bevor wir uns von der Menschenmenge weiter durch die Straße tragen lassen.

»Wir müssen mit Wurst anfangen«, sagt Bobby und lenkt mich zu einem beeindruckend großen Foodtruck, der mit flatternden italienischen Fähnchen geschmückt ist. Auf riesigen Grillplatten brutzeln Wurstringe, bereit, in Stücke geschnitten und mit Bergen von saftigen Zwiebeln und Paprika in Brötchen gefüllt zu werden. Fasziniert beobachte ich einen Mann mit Schürze, der hinter dem Grill steht und die Wurst schnell und geschickt einrollt, während ein anderer die Sandwiches aufschneidet und belegt.

»Das ist wahrlich ein Essen für Götter«, sagt Bobby und bestellt zwei Sandwiches. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich sie ihm abnehme. Es schmeckt so, wie ich es mir vorgestellt habe – nur etwa hundertmal besser.

»Wenn ich das alles aufesse, bin ich pappsatt«, sage ich.

Bobby hat schon mehr als die Hälfte von seinem Sandwich gegessen. »Aber du tust es trotzdem, oder?«

Ich nicke und habe nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei. Das Sandwich schmeckt einfach himmlisch. Wir essen im Gehen und genießen die Atmosphäre; das leise Brummen der Generatoren im Hintergrund verleiht dem Ganzen einen Hauch von Jahrmarkt. Die Leute rufen und lachen, es ist ein Gedränge wie an einem Markttag, und ich merke, wie ich mich entspanne. Was für eine Atmosphäre. Zwischen den Gebäuden sind glitzernde Girlanden und Lichterketten gespannt, und alle, die sich darunter tummeln, sind aus dem gleichen Grund hier – um zu schlemmen. Das lässt mein Köchinnenherz höherschlagen. Gleichzeitig erschüttert mich, wie sehr ich es vermisse, mir neue Gerichte auszudenken und dabei zuzusehen, wie die Leute sie genießen. Eine Schüssel Nudeln nach der anderen zu kochen, hat zwar etwas Beruhigendes, aber eigentlich versuche ich nur, die Handschrift von Bobbys Tante zu imitieren, anstatt einen eigenen Weg zu gehen oder eigene Gerichte zu kreieren. Die Kreativität und die Freude an den kulinarischen Delikatessen um mich herum rufen mir ins Gedächtnis, was mich ursprünglich in die Küche gezogen hat: die Hitze, der Druck, die Erfüllung. Das alles fehlt mir unendlich – ein weiteres Teil von mir, das mir durch Adam Bronson abhandengekommen ist. Es gibt viele dieser Teile – meine Karriere, mein Selbstwertgefühl, mein Selbstvertrauen – die Dinge, die mir das Gefühl gaben, ich selbst zu sein. Ich stelle mir vor, wie sie alle im Regal eines emotionalen Fundbüros aufgereiht sind und darauf warten, dass ich sie zurückhole. Das werde ich. Langsam, aber ich werde sie mir zurückholen.

Nach den Sandwiches essen wir süße, mit Ricotta gefüllte Cannoli, und ich lehne mich lachend an Bobby und schwärme.

»Das war die beste Idee, die du bisher hattest«, sage ich.

»Ich habe noch viele andere«, antwortet er. »Du brauchst nur einen Ton zu sagen.«

Seine unaufdringliche Art schätze ich sehr, er ist ein so unkomplizierter Begleiter. Ich weiß, er macht sich Sorgen, dass ich nicht oft genug vor die Tür gehe. Womit er wahrscheinlich recht hat. Der Zahnarztbesuch stellt vermutlich den gesellschaftlichen Höhepunkt in meinem Kalender dar. Ich bin nicht etwa von Natur aus der zurückgezogene Typ, aber bei meiner Ankunft in New York war ich am Tiefpunkt, und es braucht Zeit, wieder auf die Beine zu kommen. Vielleicht wirkt mein Leben von außen wie das einer Einsiedlerin, vor allem im trubeligen New York, aber bis jetzt hat es mir sehr gutgetan. Ich habe Bobby und Robin, und dann ist da noch Bobbys Nichte Shen. Mit ihren neunzehn Jahren könnte sie eben mal so die Welt regieren, zieht es aber vor, Bobbys Gästen Nudeln zu servieren, wenn sie nicht gerade Unterricht hat oder sich abends durch die Clubs tanzt. Obendrein ist sie eine ziemlich gute Köchin, die immer gern am Herd einspringt, wenn ich mal einen freien Abend brauche, was allerdings nicht oft vorkommt. Und dann ist da noch Smirnoff, der weder mein noch Bobbys Kater ist; er wohnt schon länger in unserem Haus als wir beide und scheint allein darüber zu entscheiden, wo er seinen pelzigen orangefarbenen Hintern parkt. In manchen Nächten wählt er meinen grünen Sessel, während er sich in anderen auf Bobbys Fensterbank ausstreckt und die Straße beobachtet. Und dann gibt es Nächte, in denen er überhaupt nicht nach Hause kommt. Ich stelle mir gern vor, wie er die Feuerleiter hinunterschleicht, um die Umgebung des Gebäudes zu durchstreifen oder sich zu einem spätabendlichen Techtelmechtel mit einer glamourösen Perserkatze zu treffen. In Wirklichkeit sitzt er wahrscheinlich bei jemand anderem auf dem Sofa und schlägt sich dort den Bauch voll – er nimmt sich ziemlich schamlos, was er will. Wir sollten alle ein bisschen mehr wie Smirnoff sein.

Aus den Lautsprechern an der Straße dröhnt Musik, und Bobby zieht mich an der Hand hinter der Menge her und trällert eine beinah beeindruckende Interpretation von »That’s Amore«.

»Das musst du dir ansehen«, sagt er und sucht uns einen Platz an der Seite. »Fleischklößchen-Wettessen.«

In dem Moment teilt sich die Menge und lässt applaudierend eine Reihe von Kellnern mit riesigen Silberplatten voller Fleischbällchen passieren, die zu einer Tribüne marschieren, wo die kampfbereiten Teilnehmenden sitzen.

»Ich frage mich, wie man Champion in einem Essenswettbewerb wird.« Staunend betrachte ich die Durchschnittsgesichter der Männer und Frauen, die gleich so viel essen werden, dass es jeweils für ein kleines Dorf reichen würde.

Eine mit einem Paillettenkleid bekleidete Frau singt mitreißend die amerikanische Nationalhymne, und dann geht es los. Die Männer und Frauen stopfen sich so viele Fleischbällchen wie möglich in den Mund und spülen sie mit einer Flasche Wasser herunter. Das Publikum ist außer sich und feuert sie an, und ich staune, wie die Teilnehmenden mit unterschiedlichem Genuss essen – Soße läuft an ihrem Kinn hinunter und tropft auf die T-Shirts. Es ist verrückt, völlig übertrieben und macht Spaß – ein Fest des Genusses in diesem lebendigen italienischen Viertel von New York.

Anschließend kaufen wir belebende Limoncello-Shots und heiße, gezuckerte Zeppole in Pappschalen. Und flüchten uns in den gekachelten Eingang eines geschlossenen Ladens, als der Himmel seine Schleusen öffnet.

»Ich gebe es zu. Das hat Spaß gemacht.« Ich stütze mich an dem traditionellen hölzernen Fenstersims des Ladens ab. Meine Jacke hält schön warm, und der starke Alkohol in meinem Blut wärmt mich zusätzlich.

»Ich habe dich durchschaut, Iris Raven. Essen ist der magische Schlüssel, um dich aus deiner Wohnung zu locken.« Bobby dreht sich mit dem Rücken zur Tür. »Ich werde noch mehr Abenteuer rund ums Essen für uns ausfindig machen.«

»Wenn es so ist wie hier, bin ich dabei.«

Ich werde mindestens eine Woche lang nichts mehr essen müssen, trotzdem greife ich nach einer weiteren zart schmelzenden Zeppola und wische mir den Puderzucker von den Fingern. Bobby zieht sein Handy aus der Gesäßtasche seiner hautengen Jeans, dabei fällt ihm eine Kaugummipackung heraus. Als er sich bückt, um sie aufzuheben, sehe ich die bemalte Glastür des Ladens hinter ihm. Ich lege den Kopf schief und betrachte sie aufmerksam: Sie kommt mir schrecklich bekannt vor. Ich bin mir sicher, dass ich sie schon einmal gesehen habe – aber wo?

»Was ist das für ein Laden?«, frage ich und schirme meine Augen ab, um besser durch das Seitenfenster schauen zu können. Drinnen ist es dunkel, aber ich kann einen schwarz-weißen Schachbrettboden und ochsenblutrote Lederhocker an der Theke erkennen.

»Belotti’s Gelateria«, sagt Bobby, ohne von seinem Handy aufzusehen. »Ich bin überrascht, dass sie während des Festivals geschlossen hat, da ist sonst immer eine lange Schlange.«

Ich werfe ihm einen gereizten Blick zu. »Ist deren Eis so gut wie meins?«

»Unmöglich!« Bobbys Seufzer ist reines Theater. »Wenn ich dir etwas bedeuten würde, würdest du mich das Zeug im Restaurant auf die Karte setzen lassen.«

»Niemals.« Ich lache, während mein Blick immer noch an dieser ungewöhnlichen Tür haftet. Bobby ist derzeit der wichtigste Mensch auf Erden für mich, aber das Eis meiner Mutter wird im Very Tasty Noodle House nicht serviert. Und auch nicht im Katz’s Deli, wenn wir schon dabei sind. Auch nicht im superschicken Speisesaal des Plaza, nicht einmal, wenn der Chefkoch auf die Knie gehen und mich anflehen würde. Meine Mutter war ein Freigeist, aus deren Augen stets der Schalk funkelte, aber wenn es um ihr Vanille-Eiscreme-Rezept ging, hatte sie eine unumstößliche, eiserne Regel: Es war geheim, und ich durfte es niemals mit einer anderen lebenden Seele teilen. Es ist das beste Vanilleeis auf dem Planeten und bleibt meine Speise, die ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Sie bereitete es für mich zu, als ich ein kleines Kind war und auch noch, als ich erwachsen war, serviert in ihren alten zuckerwatterosafarbenen Melaminschalen. Und als sie krank wurde, habe ich es für sie gemacht, bis es das einzige Essen war, das ihr Körper vertrug. Bis es mehr um die Erinnerungen als um den Geschmack ging. Wenn ich den Löffel an ihre trockenen Lippen hielt, schloss sie die Augen, und die kleinste Menge reichte aus, um den Hauch eines Lächelns auf sie zu zaubern.

Ich öffne die Kamera meines Handys und mache ein Foto von der markanten Tür, obwohl das eigentlich gar nicht nötig ist, weil sie so einprägsam ist. Der schmale Rahmen aus altem Mahagoniholz umschließt eine Glasscheibe mit geschliffenen Rändern. Darauf ist von Hand ein grün gestreifter Becher mit einer geschwungenen Eisspirale gemalt, die mit Kirschen garniert ist. An der Seite steckt ein neonfarbener Löffel. Die leuchtenden Farben schimmern auf dem Glas, als wäre es erst gestern frisch bemalt worden, obwohl es unverkennbar ein stilvolles Ambiente alter Zeiten verströmt.

»Ich glaube, ich bin fertig«, sage ich und werfe einen langen, letzten Blick auf die Tür. »Wenn ich noch mehr esse, platze ich.«

»Also nach Hause?« Bobby bietet mir seinen Arm an, und wir treten hinaus in die Menschenmenge und ducken uns vor dem Regen.

2

Auf dem Heimweg schießt mir plötzlich die Erinnerung an ein Bild der Tür durch den Kopf und lässt meinen Adrenalinpegel in die Höhe schnellen – es ist ein Bild, das ich im Laufe meines Lebens Hunderte Male gesehen habe. Sobald Bobby und ich durch die Seitentür mit der abblätternden roten Farbe neben dem Noodle House gehen, murmle ich eine Entschuldigung, ich wolle noch ein Nickerchen machen, bevor meine Abendschicht beginnt. Als ich die Wohnungstür hinter mir zuschlage, bin ich jedoch aufgekratzt und nicht müde. Meine Gedanken rasen, und ich gehe direkt ins Schlafzimmer und streife unterwegs den Mantel ab. Dort hole ich das Sammelalbum meiner Mutter oben aus dem Schrank und lasse mich aufs Bett fallen. Ich habe mir dieses prall gefüllte Buch im Laufe der Jahre unzählige Male angesehen – sowohl allein als auch mit meiner Mutter zusammen, damit sie die Lücken füllte. Es erzählt von den Hoffnungen und Träumen ihrer Jugend und ist ein Beweis dafür, dass sie ihrem Künstlerherz gefolgt ist, auch wenn die Dinge am Ende anders liefen als von ihr erhofft. Offizielle Werbefotos ihrer Band aus den Achtzigern stehen neben Schnappschüssen von Auftritten, die die pulsierende Energie der Konzerte erahnen lassen. Es gibt Ausschnitte aus Fachmagazinen, Zeitungsrezensionen, einige abgerissene Eintrittskarten und die Vorderseite einer Zigarettenschachtel, auf der alle Bandmitglieder unterschrieben haben. Ich kann ihr Gekritzel nicht entziffern und erinnere mich nicht an ihre Namen, abgesehen von der selbstbewussten roten Unterschrift am unteren Rand, die von Charlie Raven, dem Schlagzeuger der Band, stammt, meinem Vater. Meine Mutter hatte über mehrere Jahre hinweg eine On-off-Beziehung mit ihm, eine körperliche Beziehung, von der sie immer wusste, dass sie keine Zukunft hatte. Sie endete an dem Tag, an dem sie es ablehnte, von ihm Geld für einen Schwangerschaftsabbruch anzunehmen. Ich habe keinerlei Erinnerung an ihn; er starb bei einem Hubschrauberabsturz, als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter sagte, die Nachricht von seinem Tod habe sie nicht sonderlich überrascht, denn er habe zu jenen Menschen gehört, die mit Vollgas durchs Leben rasten und selten alt würden. Sie sprach nie schlecht von ihm. Wahrscheinlich dachte sie, es sei beruhigend für mich zu hören, dass ich außer meinem Nachnamen, den sie ihrem Allerweltsnamen Smith vorgezogen hatte, wenig mit ihm teilte. Der Tod meines Vaters war immer nur eine Fußnote in meiner Geschichte. Er war jemand, der wenig Einfluss darauf hatte, wer ich heute bin. Charlie Raven, für immer zweiunddreißig.

Jede Seite des Albums meiner Mutter ist bis zum Rand gefüllt, eine dicht gedrängte Chronik der Band auf ihrem Weg nach oben. Aber das ist es nicht, wonach ich suche. Schnell blättere ich zur allerletzten Seite. Nur zwei wertvolle Dinge sind dort eingeklebt: ein Foto und die eine Hälfte einer beschriebenen Serviette. Ich ziehe die Schutzschicht ab und hebe das Foto vorsichtig an. Ich habe keinen Zweifel. Derselbe Mahagonirahmen, dieselbe Messingklinke, dieselbe auffällige Bemalung. Es ist dieselbe Tür. Bislang wusste ich nicht, wo das verblichene Foto einer Urlaubsromanze aufgenommen worden war, und meine Mutter hatte sich stets geweigert, etwas dazu zu sagen.

Ich drehe es um und lese ihre vertraute Schrift: Santo, 1985, neben seinen Namen ist ein Herz gemalt. Beim Anblick ihrer geschwungenen Handschrift, die meiner eigenen so ähnlich ist, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Ich drehe das Foto wieder um. Der junge Mann sieht mich an. Er lacht, und das dichte dunkle Haar fällt ihm über die Hand, mit der er seine Augen vor der Sonne schützt. Die unverwechselbare Ladentür hinter ihm ist angelehnt, das Sonnenlicht bricht die Farben in einem Bogen über dem Bild. Alles an dem Foto ist retro, von der handgemalten Tür bis hin zu dem Mann selbst, der mit seiner Lederbomberjacke aus den Achtzigern, dem weißen T-Shirt und den gebleichten Jeans auf Coolness à la Breakfast Club macht. Ich grabe in meinem Hirn nach irgendwelchen Informationsfetzen, aber da ist nicht viel. Meine Mutter erzählte gerne Geschichten, aber wenn es um dieses Foto und die Serviette daneben ging, lenkte sie immer ab. Stets sagte sie nur, dass dieser Typ wahrscheinlich die Liebe ihres jungen Lebens gewesen war. Die mintgrüne Serviette ist in der Mitte zerrissen, sodass nur noch die eine Hälfte eines goldfarbenen Logos zu sehen ist: otti’s. Ich überlege. Belotti’s? Ich wusste bislang nicht, wie das vollständige Logo aussieht, aber was mit blauer Tinte dort geschrieben steht, kenne ich auswendig: unser geliebtes Eiscreme-Rezept.

Eine schnelle Internetrecherche führt mich auf Belotti’s Homepage – ein Foto des Ladens unter einer grün-weiß-gestreiften Markise in der Sommersonne. Der Anblick der bemalten Glastür auf meinem Bildschirm kommt mir seltsam vertraut vor, als würde ich ein altes Foto aus meiner Kindheit von einem längst vergessenen Ort finden. Ich weiß nicht, ob meine Mutter mich als Kind jemals dorthin mitgenommen hat, glaube es aber nicht. Ich wurde ein paar Sommer nach Beginn ihrer Tournee geboren, und als wir Amerika endgültig verließen, war ich erst drei; viel zu jung, um mich an solche Einzelheiten zu erinnern. Wie seltsam, dass ich, ohne es zu ahnen, so nah bei einem für sie so wichtigen Ort lebe. Aber vielleicht auch nicht – es lag nahe, nach New York zu ziehen, weil meine Mutter so viel Gutes darüber erzählt hatte. Die Erinnerungen an ihre Band und die frühen, ruhmreichen Tage führten mich zur Lower East Side. Mein Blick geht zu meinem Kleiderschrank, ich denke an die silberne Urne, die dort ganz hinten verstaut ist. Es ist ein kleiner Trost zu wissen, dass sie hier bei mir ist, dass ich sie an den Ort gebracht habe, an dem sie sich zuerst zu Hause gefühlt hat. Vielleicht finde ich eines Tages den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort, um sie gehen zu lassen in der Stadt, die sie so liebte.

Wieder sehe ich mir das Foto an, mein Herz ist schwer und mein Kopf voller Fragen. Ich wusste immer, dass der Mann auf dem Foto Italiener war und natürlich auch, dass das Rezept italienisch ist. Doch ich hatte immer angenommen, dass das Foto und das Rezept von einer Italienreise stammen, nicht aus der New Yorker Zeit meiner Mutter. Hatte meine Mutter mir das jemals erzählt? Ich kann mich nicht daran erinnern, aber ich bin mir auch nicht sicher, dass sie es nicht getan hat. Vielleicht habe ich es einfach angenommen, und sie hat mich über die Jahre hinweg in dem Glauben gelassen. Und jetzt sitze ich hier, nur einen Steinwurf von diesem Ort entfernt, betrachte die Website der Familie Belotti und weiß nicht, wie ich an ihr Rezept gekommen bin. Sie blicken stolz auf eine lange Geschichte in Little Italy, die bis ins Jahr 1911 zurückreicht. Schwarz-Weiß-Fotos der Gelateria aus verschiedenen Jahrzehnten, Fotos der Familie in Schürze, aufgenommen hinter der Glastheke, die ich vorhin durchs Fenster gesehen habe. Ich überfliege die Website, verschlinge ihre Geschichte und stolpere vor allem über eine immer wiederkehrende Tatsache: ihr berühmtes und geliebtes Vanilleeis-Rezept. Die einzige Geschmacksrichtung, die sie verkaufen – was schon sehr besonders ist –, hat eine streng gehütete Geheimrezeptur. Das Rezept ist so geheim, dass nur zwei Mitglieder der Familie Belotti es gleichzeitig kennen dürfen. Mein Blick fällt zum aufgeschlagenen Sammelalbum auf dem Bett und dem eilig auf eine durchgerissene Serviette geschriebenen Rezept. Die Belottis haben es seit mehr als hundert Jahren streng gehütet, warum also wurde es meiner Mutter verraten? Jetzt verstehe ich, warum sie immer darauf bestand, dass ich es mit niemandem teilen sollte – weil wir es eigentlich nie hätten kennen dürfen. Vorausgesetzt natürlich, es ist dasselbe – was ich wohl als Nächstes herausfinden sollte.

Wenn ich wissen will, was die Lebensgeschichte meiner Mutter mit den Belottis zu tun hat, muss ich als Erstes deren Eis probieren.

3

Die Mulberry Street ist heute Morgen deutlich ruhiger als gestern Abend während des Festivals, es herrscht eine Atmosphäre voller Geschäftigkeit und Vorfreude auf den nächsten Festivalabend. Unter den Markisen der Straßencafés werden Stühle aufgestellt, und die Foodtrucks werfen ihre Öfen an. Die Stimmung ist so ähnlich wie vor einer Theatervorstellung, wenn die Musiker im Orchestergraben ihre Instrumente stimmen und man darauf wartet, dass sich der Vorhang hebt. Heute regnet es nicht, aber es ist so kalt, dass ich über meiner Jeansjacke einen dicken Wollschal trage. Er gehört Bobby; meine Wohnung dient ihm als zusätzlicher Kleiderschrank für seine umfangreiche Klamottensammlung. Oder als Testlager, wie er es nennt, denn er besitzt in der Stadt drei Boutiquen und steht kurz vor der Eröffnung einer vierten. Der Mann mag nicht viel von Nudeln verstehen, aber er ist ein gewiefter Geschäftsmann und wieselflink. Irgendwie scheinen seine Tage mehr Stunden zu haben als bei allen anderen Menschen. Er ist Geschäftsmann, ein aufmerksamer Ehemann und nimmt rege am gesellschaftlichen Leben teil, trotzdem findet er immer noch Zeit für mich, vor allem, wenn ich die Eismaschine anstelle.

Ich hole mein Handy heraus und checke die Uhrzeit. Kurz nach neun. Auf der rechten Seite kommt das Belotti’s in Sicht, und ich bin überraschend nervös. Schließlich wird mich niemand erkennen. Ich sehe meiner Mutter zwar verblüffend ähnlich, aber seit sie hier war, sind über dreißig Jahre vergangen. Ich bleibe stehen, trete zur Seite und stelle mir vor, wie sie Mitte der Achtzigerjahre genau über diesen Bürgersteig ging. Was hatte sie wohl an den Füßen gehabt? Ich blicke auf meine apfelgrünen Converse-Sneaker. Wahrscheinlich am liebsten nichts. Sie war viel jünger als ich jetzt, höchstens achtzehn oder neunzehn, mit glänzenden Augen und voller Ehrgeiz. Bei dem Gedanken an sie schnürt sich meine Brust zusammen, und noch mehr, wenn ich daran denke, dass sie nicht mehr da ist.

Nach ihrem Tod konnte ich mir eine Zeit lang eine Welt ohne sie nicht vorstellen. So ganz gelingt mir das noch immer nicht. Meine Mutter war immer voller Leben, ein wundervoller menschlicher Regenbogen. Zuzusehen, wie der Krebs sie systematisch ihrer Farben beraubte, war sehr belastend. Ihr Leuchten wurde immer schwächer, ganz gleich, was die Ärzte taten, um den Prozess zu verlangsamen. Ich habe mich nie hoffnungsloser gefühlt als in jenen letzten Tagen, als ich an ihrem Bett saß und sie unbedingt noch für ein weiteres Gespräch oder ein weiteres Lächeln bei mir behalten wollte, oder damit sie noch einmal beruhigend meine Hand hielt. Sie bestand darauf, umgeben von ihren Habseligkeiten und Erinnerungen in ihrer Wohnung zu bleiben und nicht ins Krankenhaus zu gehen. Genau in dem Moment, als sie starb, drehte sich der große gewebte Traumfänger langsam über ihrem alten gusseisernen Bettgestell. Manche hätten vielleicht gesagt, dass es der Wind war, der durch das leicht geöffnete Fenster hereinwehte. Doch ich glaube lieber, dass meine Mutter ihn in Bewegung versetzt hat, um mich wissen zu lassen, dass sie sicher auf dem Weg war, und es für mich an der Zeit, meinen eigenen zu gehen.

Was würde sie davon halten, dass ich zu dieser Gelateria gehe, von der sie mir anscheinend bewusst nichts erzählt hat? Warum sollte eines der Familienmitglieder ihr das Rezept verraten haben? Natürlich habe ich nicht die Absicht, ihr Geheimnis zu lüften, aber ich möchte verstehen, wie sich die Teile ihres damaligen Lebens mit meinem jetzigen überschneiden – eine Muschel an mein Ohr drücken und ihr Echo aus einer anderen Zeit einfangen.

Das Belotti’s sieht genauso aus wie gestern Abend: keine Warteschlange, nichts deutet darauf hin, dass es geöffnet ist. Ich trete in den überdachten Eingang und betrachte die Glasmalerei aus der Nähe. Mir fällt auf, wie frisch die Farben sind und wie sorgfältig gepflegt für ein so altes Kunstwerk. Von der Website der Gelateria weiß ich, dass sie das besondere Design zum zentralen Bestandteil ihrer Geschäftsausstattung gemacht haben, und dass es sich auf Schürzen, Speisekarten und Bechern wiederfindet. Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerke, wie plötzlich jemand von innen die Tür öffnet.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagt der Mann, als ich hastig einen Schritt zurückweiche.

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ich bin selbst schuld, weil ich so nah vor der Tür stand. Ich habe mir nur dieses Kunstwerk angesehen.«

Er blickt auf das Bild in der Tür, dann wieder zu mir. Einen Moment lang habe ich das gleiche Déjà-vu-Gefühl wie gestern bei der Tür – als würde ich ihn bereits kennen. Was verrückt ist, denn ich kenne ihn nicht, und er sieht auch nicht wie der Typ auf dem Foto meiner Mutter aus.

»Haben Sie schon geöffnet?« Ich schaue an ihm vorbei in den leeren Laden.

»Nicht ganz«, sagt er. »Ich fahre gerade die Kaffeemaschine hoch, aber es gibt kein Eis.«

Ich könnte jetzt gehen – schließlich bin ich genau deswegen gekommen. Doch ein Kaffee und die Chance, einen Blick hineinzuwerfen, sind besser, als zu gehen, wenn ich wissen will, was dieser Ort für meine Mutter bedeutet hat.

»Kaffee klingt gut«, sage ich, und er hebt die Schultern und tritt zur Seite, um mich vorbeizulassen.

»Für das Festival sind Sie zu früh«, sagt er und geht hinter den Tresen.

»Oh, ich weiß. Ich war erst gestern hier.«

Er bedeutet mir, auf einem der ochsenblutroten Lederhocker an der Theke Platz zu nehmen, dann wendet er sich ab, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Ich beobachte, wie er die Bohnen in den Trichter füllt, mit sicheren Griffen zwei Tassen auf den Tresen stellt und Milch in den Aufschäumer gibt. Ich bin ein Kaffee-Junkie, allein die Geräusche und Gerüche reichen aus, um meine Schultern zu entspannen. Ich wickele den Schal von meinem Hals, lege ihn auf den Drehhocker neben mir und genieße die altmodische Atmosphäre, die Mahagoni und Messing verströmen, und den behaglichen Schein der bunten Glaslampenschirme im Tiffany-Stil. In der hinteren Ecke steht ein Klavier, und an den Wänden hängen Familienfotos: Generationen von Belotti-Männern und -Frauen hinter demselben Tresen. Der Laden hat sich im Laufe der Jahre kaum verändert, was natürlich den Charme ausmacht.

»Was führt Sie so schnell wieder zurück?«

Als er eine schlichte weiße Tasse mit Untertasse, ein Kännchen mit heißer, aufgeschäumter Milch und eine Schale mit Würfelzucker vor mich hinstellt, zögere ich einen Moment. Sein eigener Kaffee ist schwarz. Ich weiß es zu schätzen, dass er mir die Wahl gelassen hat, rühre ein wenig Milch hinein und nutze die Ablenkung, um zu überlegen, wie ich die Frage beantworten soll.

»Kaffee bei Belotti’s?«, sage ich nach einer Weile lächelnd und komme mir dumm vor, aber die Antwort genügt.

»Zu mehr sind wir momentan nicht in der Lage«, sagt er und seufzt in seine Kaffeetasse.

Dann sehe ich ihn genauer an und bemerke die dunklen Schatten unter seinen Augen, eine Furche zwischen seinen Augenbrauen. Offenbar beunruhigt ihn etwas.

»Verkaufen Sie später auch Ihr Eis? Vielleicht komme ich dann noch mal vorbei. Mein Freund sagt, ich muss es unbedingt probieren.«

Er richtet den Blick an die Decke und schüttelt den Kopf. »Ganz ehrlich? Wahrscheinlich nicht.«

Ich bin enttäuscht und spreche aus, was mir durch den Kopf geht. »Ist alles in Ordnung? Normalerweise würde ich das einen Fremden nicht fragen, aber Sie sehen etwas mitgenommen aus.«

Er trommelt mit dem Zeigefinger auf den Tresen, als überlegte er, wie er antworten soll. »Ist es nicht meine Aufgabe, den Gast zu fragen, ob alles in Ordnung ist, und mir seine Probleme anzuhören?«

»Ich glaube, das machen vor allem Barkeeper, und für Alkohol ist es noch zu früh, selbst für meine Verhältnisse«, sage ich. »Außerdem sehen Sie momentan so aus, als bräuchten Sie ein offenes Ohr nötiger als ich.«

Langsam nickend richtet er den Blick auf die Straße, und ich frage mich, ob ich zu weit gegangen bin. Ich nippe an meinem Kaffee und widerstehe dem Drang, mich sofort für meine Frage zu entschuldigen.

»Wir können gerade kein Gelato machen.« Er sieht mich immer noch nicht an. »Mein Papa hatte vor acht Tagen einen Schlaganfall. Er liegt auf der Intensivstation und niemand sonst kennt das Rezept.«

Ich erstarre, die Tasse auf halbem Weg zu meinem Mund. »Das tut mir so leid. Kommt er wieder in Ordnung?«

Sein Gesichtsausdruck ist kontrolliert. »Wir glauben schon, aber er hat einen Teil seines Gedächtnisses verloren. Nicht alles, so wie in Filmen – er weiß immer noch, dass er Santo Belotti ist und wer wir sind, aber einige andere Dinge sind weg, zumindest im Moment. Das Datum, an dem er Maria geheiratet hat, der Name des Heimatortes seiner Großeltern in Italien. Unser Gelato-Rezept.«

»Meine Güte, das ist hart«, bringe ich leicht verwirrt hervor, als ich den Namen Santo höre – den Namen auf dem Foto meiner Mutter. »Wird er sich mit der Zeit wieder an alles erinnern?«

»Das kann niemand mit Sicherheit sagen.« Er blickt auf die Glastheke hinunter und deutet auf die leeren Metallbehälter für das Eis. »Mein ganzes Leben lang war diese Theke voll. Der Laden war voll, die Leute haben sogar draußen Schlange gestanden, um hereinzukommen.«

Voller Sorge sieht er mich aus seinen dunklen Augen an.

»Gibt es sonst niemanden, der das Rezept kennt?«, frage ich und erinnere mich daran, dass auf der Website stand, immer zwei Mitglieder der Familie Belotti würden das Rezept gleichzeitig kennen. Vermutlich genau aus diesem Grund.

Er gibt ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Schnaufen und einem bitteren Lachen liegt. »Theoretisch gesehen, ja. Mein Onkel glaubt, dass er es irgendwo aufgeschrieben hat, aber er findet es einfach nicht.«

Ich runzle verwirrt die Stirn. »Entschuldigung, aber sagten Sie nicht, Santo ist Ihr Vater?«, frage ich und versuche, die Geschichte in meinem Kopf zu ordnen.

»Eigentlich ist er mein Onkel, aber ich nenne ihn Papa. Er hat mich wie einen Sohn aufgezogen, weil mein Vater nie da war, als ich klein war.« Er zuckt mit den Schultern. »Genauso wenig wie heute. Momentan ist er in Australien, und davor war er in Japan. In ein paar Wochen geht es weiter nach Europa, wenn ich mich recht erinnere. Er ist Musiker und ständig unterwegs – weshalb er anscheinend nicht auf ein verdammtes Rezept aufpassen kann. Vermutlich ist es leicht, unvorsichtig zu sein, wenn man die Folgen nicht zu tragen hat.«

»Oh«, sage ich. Eine völlig unzureichende Reaktion. Er spricht mit großer Zuneigung von Santo, und von seinem eigentlichen Vater mit großer Verbitterung. Ich verstehe dieses Gefühl, denn Charlie Raven hat sich nie bemüht, mir ein Vater zu sein. »So ein Mist.«

»Das können Sie laut sagen.« Er wischt sich mit den Händen übers Gesicht. »Das Geschäft existiert seit über hundert Jahren. Ich bin jetzt zum ersten Mal für alles verantwortlich und kann nichts tun, um uns vor dem Untergang zu bewahren.«

Jetzt bin ich an der Reihe, verwirrt auf meinen Kaffee zu blicken. Mir dämmert, dass ich im Gegensatz zu dem Mann vor mir, dem Laden durchaus helfen könnte. Doch damit würde ich auch etwas ganz anderes lostreten. Santo, der Mann von dem Foto, ist immer noch hier, aber er ist mit einer Maria verheiratet. Warum hat er dann vor all den Jahren das kostbare Geheimnis seiner Familie mit meiner Mutter geteilt? Jeder Zentimeter dieses Ladens erzählt von der Loyalität und dem Stolz der Familie, über ein Jahrhundert bildete das berühmte Geheimrezept den Kern ihres Geschäftes. Wie würden sie reagieren, wenn sie von seiner Indiskretion erführen?

»Haben Sie versucht, es nachzumachen?«, frage ich nachdenklich.

»Tag und Nacht«, seufzt er.

»Das erklärt die Augenringe.«

Er schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass das passiert ist. Papa war kurz davor, sich zur Ruhe zu setzen. Er kommt nur noch morgens vorbei, um die Maschinen aufzufüllen.«

In meinem Kopf entsteht eine vage Idee. »Ich behaupte nicht, dass ich etwas annähernd Vergleichbares erschaffen kann, aber ich könnte versuchen zu helfen, wenn Sie das möchten? Ich bin ausgebildete Köchin. Also, das war ich, in London. Hier rühre ich nur Nudeln zusammen. Aber ich habe das Kochen nicht verlernt, und es wäre einen Versuch wert, oder?«

Er sieht mich an und blinzelt ein paarmal, als wüsste er nicht, was er sagen oder tun soll.

»Ich habe noch etwas Gelato im Gefrierschrank«, sagt er. »Das ist an dem Tag übrig geblieben, als Papa seinen Schlaganfall hatte. Sie könnten es probieren? Es ist nicht perfekt, weil es nicht heute frisch gemacht wurde, aber es ist …«

»Besser als nichts«, beende ich den Satz, und er nickt.

»Wer sind Sie?«, fragt er, was längst überfällig ist. »Ich kenne nicht einmal Ihren Namen.«

»Ich bin Iris.«

»Iris«, sagt er. »Wie die Goo Goo Dolls.«

»Und die Lieblingsblume meiner Mutter.«

Er mustert mich. »Sind wir uns schon einmal begegnet?«

Wir sehen uns über den Tresen hinweg an, und wieder spüre ich dieses Déjà-vu-Gefühl. Vielleicht sind es die Schwingungen der Vergangenheit, vielleicht ist er aber auch ein Nudelfan und war schon einmal im Restaurant. Unrealistisch ist es nicht. Kurz frage ich mich, ob er ein Foto meiner Mutter gesehen hat, so wie ich ein Foto von Santo, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier irgendwelche Fotos von ihr gibt.

»Ich glaube nicht«, sage ich leise.

»Giovanni Belotti«, stellt er sich vor. »Gio.«

Wir sehen uns in die Augen. Iris und Gio, keine Fremden mehr.

»Ich hole das Gelato«, sagt er und verschwindet im hinteren Teil des Ladens.

Allein in der Gelateria sinke ich seufzend in mich zusammen. Tue ich das Richtige? Würde meine Mutter wollen, dass ich mich einmische? Nur das Summen der Kaffeemaschine und die gedämpften Geräusche der Außenwelt sind zu hören. Belotti’s ist ein Ort wie aus einem Film, an dem ein geheimes Tor in die Vergangenheit führt und man in der Zeit reisen könnte. Wie sehr wünschte ich, dass das wahr wäre, dass ich diese bemalte Tür öffnen und sehen könnte, ob meine Mutter auf genau diesem Hocker gesessen hat. Ich lege meine Hand auf die niedrige Rückenlehne des Hockers neben mir, die glatte Maserung des polierten roten Leders fühlt sich unter meinen Fingerspitzen geschmeidig an. Der Ort wirkt auf unerklärliche Weise sicher, es herrscht ein Gefühl von Zeitlosigkeit und Frieden.

Gio kommt zurück und stellt einen kleinen silbernen Behälter vor mir ab.

»Besser, man lässt es eine Weile antauen.«

Ich nicke. »Sieht gut aus.« Damit meine ich eigentlich, dass es genau die gleiche Farbe wie mein eigenes Eis hat.

»Normalerweise sind wir jetzt mit dem Festival beschäftigt«, sagt er kopfschüttelnd. »Schrecklich, dass wir es dieses Jahr verpassen.«

Ich weiß nicht, was ich Hilfreiches sagen könnte. »Ist es generell ein Saisongeschäft? Eiscreme, meine ich?«

»Ja.« Er zögert, dann nickt er. »Im Frühling und Sommer haben wir natürlich am meisten zu tun, und von März bis September fahren wir mit fünf Eiswagen durch die Stadt und beliefern Veranstaltungen, Partys, Hochzeiten und so weiter. Nach San Gennaro wird es ruhiger, und sobald das Wetter umschlägt, kommen die Leute mehr für Kaffee und Gebäck, aber wenn ich das Problem nicht bald löse …« Er verstummt, aber ich höre die Worte, die er nicht ausspricht. Wenn er das Rezept nicht bald herausfindet, wird Belotti’s Gelateria im nächsten Frühling vielleicht nicht mehr existieren.

»Vielleicht erinnert sich Santo ja bald«, versuche ich zu trösten. Ich füge nicht hinzu, dass sein Weltenbummler-Vater seine Kopie des Rezepts finden könnte, denn ich befürchte, dass die Chancen gen null gehen.

Sein Lächeln ist dünn. »Vielleicht.«

Ich beobachte, wie das Eis an den Innenkanten des Metalls weich wird, und möchte es probieren und zugleich auch wieder nicht. Solange ich keine Gewissheit habe, besteht immer noch die Möglichkeit, dass ich mich irre.

Gio legt die Hände um das kalte Metall.

»Ich helfe etwas nach«, murmelt er.

Ich lächle schwach und stelle mir vor, was Bobby für ein Gesicht machen würde, wenn er hier wäre. Er schimpft immer über den Metallbecher, in dem ich das Eis zubereite, und sagt, dass er jedes Mal seine Fingerabdrücke abgibt, wenn er ihn anfasst. Ich bemerke, dass Gio geschickte Hände hat, und wende schnell den Blick ab. Was Männerhände angeht, bin ich etwas schräg. Sie sind einfach mein Ding. Manche Leute stehen auf einen knackigen Hintern oder kräftigen Bizeps, aber ich stehe auf kräftige Hände. Und Schultern im Übrigen auch. Als ich sehe, wie Gio das Gelato für mich mit den Händen erwärmt, bin ich überraschend unsicher. Schnell nehme ich einen Löffel, um zu probieren.

Mit prüfendem Blick sieht er in den Behälter, rührt dann um, damit sich die weichen Ränder mit dem harten Kern vermischen, bevor er ihn zu mir schiebt und mir dabei in die Augen sieht. Auf einmal bin ich nervös, an meinem Haaransatz bilden sich Schweißtropfen.

»Okay«, sage ich und schiebe den Löffel in das weiche Eis. »Also los.«

Instinktiv schließe ich die Augen, als ich ihn mir in den Mund schiebe, um meine Reaktion zu verbergen. Es ist genau so, wie ich es erwartet habe. Etwas besser, weil es in größerer Menge angefertigt wurde, und etwas schlechter, weil es nicht frisch zubereitet ist. Doch der allzu vertraute Geschmack ruft viele Erinnerungen wach. Wie ich als Kleinkind mit schmutzigen Händen im Garten eines Mietshauses irgendwo im Norden Englands nach Schätzen grub. Wie ich mit elf in London meine Hausaufgaben an einem Tisch machte, der auf einem Bücherstapel stand, weil ein Bein kaputt war. Wie ich mit fünfzehn in Cardiff über mein erstes gebrochenes Herz weinte und mit zwanzig in Birmingham meinen Erfolg an der Gastronomiefachschule feierte. Wie ich mit neunundzwanzig in London versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie mich die düstere Diagnose meiner Mutter in Panik versetzte. All diese Versionen von mir waren stets von unserem – von Belotti’s – Geheimrezept für Vanilleeiscreme begleitet, serviert in einer rosa Melaminschale. Dieses Eis und diese Schale waren die einzigen Konstanten in der ständig wechselnden Landschaft meiner Kindheit, und es hier zu schmecken, löst die unterschiedlichsten Gefühle aus.

Ich öffne die Augen und sehe, dass Gio mich mit einem Hauch von Hoffnung in den besorgten Augen ansieht.

»Es ist … es ist wirklich sehr besonders«, sage ich und bemühe mich, mit ruhiger Stimme zu sprechen.

Er nickt. »Das Rezept meiner Urgroßeltern, das nie verändert wurde.« Er nimmt einen Löffel in die Hand und bedient sich, dann seufzt er tief. »Es ist unmöglich, es nachzumachen, oder? Es ist viel zu besonders.«

Ich koste noch etwas. »Ich weiß nicht, Gio«, sage ich. »Lass mich ein bisschen nachdenken, mit ein paar Ideen spielen.« Ich wickele mir den Schal um den Hals, und er füllt einen der grün-weiß-gestreiften Becher mit Eiscreme.

»Für den Weg«, sagt er und legt einen Löffel und eine Kirsche dazu.

»Ich komme morgen wieder«, sage ich und gleite vom Hocker.

Er nickt. Ich nehme den Becher in die Hand und merke, dass die bemalte Tür in meinen Händen lebendig geworden ist.

»Ich werde hier sein.« Gio legt seine Hände flach auf den Tresen. »Ich bin immer hier.«

Vivien

Lower East Side, New York, Sommer 1985

Viv, hier drüben!«

Als sie ihren Namen hörte, drehte Vivien sich um. Er hatte ihn laut genug über das Künstlervolk hinweg gerufen, das sich spätabends in dem heruntergekommenen, verrauchten Club drängte. Sie blinzelte in die Dunkelheit und erblickte einen grinsenden Charlie Raven mit nacktem Oberkörper, der die Arme über den Kopf hob, damit sie ihn sah, zwischen den Fingern eine brennende Zigarette.

Sie schlängelte sich an den Tanzenden vorbei zu ihm durch, wobei sie ihr Glas so gut wie möglich schützte, um keinen Wein zu verschütten. Von dem Hungerlohn, den Louis ihr bisher gezahlt hatte, konnte sie sich keinen weiteren Drink leisten. Aber sie hatte nicht vor, mehr zu verlangen. Schon die Tatsache, dass sie überhaupt hier war, fühlte sich wie ein Wunder an – dass ausgerechnet Louis Brockman aus der U-Bahn-Station Hammersmith gekommen war und ihr Straßenkonzert im Regen gehört hatte. Er war wie angewurzelt stehen geblieben, Regentropfen rannen von seiner gegelten Frisur und sammelten sich auf seinen Augenbrauen, und hatte ihr zugehört, bis sie für den Tag Schluss machte. Dann hatte er sie auf einen Kaffee eingeladen und innerhalb einer Stunde ihr Leben verändert. Komm mit mir nach New York, hatte er gesagt. Sing in der Band, die ich manage. Die ursprüngliche Sängerin hatte in letzter Minute kalte Füße bekommen und war aufs College zurückgekehrt, aber Louis hatte bereits überall in den USA Gigs für die Band gebucht. Gib mir ein Jahr, und ich mache einen Star aus dir, hatte er gesagt, und Vivien hatte ihm jedes Wort geglaubt. Und sie glaubte ihm immer noch, auch wenn die Realität weit weniger glamourös war als das Bild, das er in jenem feuchtwarmen Café in London heraufbeschworen hatte. Nicht dass Viv Glamour gebraucht hätte. Louis hatte ihr ein Seil zugeworfen und sie aus dem kalten London herausgezogen, wo sie das schwierige Dasein eines Mädchens fristete, das gerade der staatlichen Fürsorge entwachsen war und von niemandem geliebt wurde. Und sie würde sich mit allen Mitteln an dieses Seil klammern, bis ihre Hände bluteten.

»Hab dich«, sagte Charlie, griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich heran. »Wir sind hier drüben in der Ecke.«

Er drehte sich um, hielt weiter ihre Hand und zog sie hinter sich her; die Menschenmenge machte ihm eher Platz als ihr. Ihr Blick fiel auf das Python-Tattoo, das sich um seinen Hals und zwischen den Schulterblättern hindurchschlängelte; der Kopf verschwand in der tief sitzenden Jeans, die sich eng um seine schmalen Hüften schmiegte. Er war der Schlagzeuger der Band, lässig außerhalb der Bühne, und wild, sobald er hinter dem Schlagzeug saß. In den wenigen Wochen, die sie zur Band gehörte, hatte sie bereits bemerkt, wie sich die Mädchen um Charlie Raven scharten; seiner schelmischen Art und seinem schiefen Lächeln konnte man nur schwer widerstehen. Sie fühlte sich ebenfalls zu ihm hingezogen, aber nicht genug, um sich auf ihn einzulassen. Dies war ihre einzige Chance, und die sollte ihr kein Mann verbauen.