Eine böhmische Serenade - Franz Spichtinger - E-Book

Eine böhmische Serenade E-Book

Franz Spichtinger

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Beschreibung

Ferdinand Hrdlicka, Archivoberrat in der Stadtarchiv-Bibliothek, kann die historischen Fakten des Dreißigjährigen Krieges wie die der Weimarer Republik umfassend erklären und er legt größten Wert auf ein geordnetes Leben. Kaum hat ihn seine Frau Antonia verlassen, gerät sein Leben aus den Fugen. Als sie schließlich zurückkommt, kehrt damit die Beschaulichkeit aber nicht wieder ein. Antonia wird von ihrer Tante das Restaurant Treibsand übernehmen, und so steht auch für Ferdinand Hrdlicka eine berufliche Veränderung an. Es sind schließlich die Erfahrungen von Liebe und Freundschaft, die ihn lehren, sein Los zu meistern. In diesem bunten Bilderbogen ergreifender Geschichten scheinen unterschiedliche Lebensentwürfe von Menschen auf, wie das Schicksal der dem Leben zugewandten Bertil, die nach Krieg, Vertreibung und Flucht aus Böhmen ihr Geschick in die Hand nimmt und in Argentinien neu beginnt, oder der Aufbruch, den Christiane Wordes in späten Jahren auf dem amerikanischen Kontinent wagt. Eine böhmische Serenade ist eine Erzählung, in der es um Abschied und Verzicht geht, um Neuanfang und Tapferkeit, vor allem aber um couragierte Unverzagtheit.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

Kapitel 120

1

Es war einer jener Träume, die Ferdinand Hrdlicka den ganzen Tag verfolgten. Gespenstisch bewegte sich ein Trauerzug den langen Friedhofsweg entlang. Die mit Eisen beschlagenen Räder des Leichenwagens drückten sich knirschend in den Kies. Er stand hinter einem der mächtigen Ahornbäume, hielt ein weißes Blatt Papier in der linken Hand und beobachtete die Trauergäste, die hinter dem schwarzen, mit Blumen geschmückten Sarg her schritten. Der Friedhofswärter klopfte an den Sarg: »Wir sind gleich so weit, Herr Hrdlicka!«

Das Entsetzen packte Ferdinand. Eine geheime Macht hielt ihn mit Gewalt davon ab, auf den Friedhofswärter zu-zugehen: »Ich bin nicht der da drinnen«, wollte er schreien. »Ich stehe hier, es geht mir gut. Ich bin nicht tot. Sehen Sie meinen Entlassungsschein aus dem Krankenhaus«, wollte er sagen. Seine Kehle war zugeschnürt. Die Trauergäste liefen auseinander, waren plötzlich verschwunden. Der Sarg stand auf dem Wagen.

Im nächsten Augenblick sah er sich in einem riesigen Krankenbett liegen, verkabelt mit einer Unmenge von roten, grünen und blauen Schläuchen. Eine weiß gekleidete Krankenschwester beugte sich über ihn. Ihre großen, geweiteten Augen schienen unter seine Stirn zu kriechen: »Der Oberarzt kann leider nicht kommen. Wir werden Sie jetzt waschen und in die Kammer schieben.« Die makabre Situation, die ganze Ausweglosigkeit seiner Lage waren ihm dabei voll bewusst. Er versuchte die Schwester von sich wegzudrücken. Er presste mit großer Anstrengung einen heiseren Schrei aus der Kehle und erwachte wohl im gleichen Moment.

Albträume dieser Art machten ihm das Leben schwer. Tagsüber konnte er keinen normalen Gedanken fassen, immer wieder bedrängten ihn diese makabren Hirngespinste.

Er duschte, frühstückte und war dankbar, dass er einen recht gesegneten Appetit hatte.

Seit er allein zu Hause dahinvegetierte, neigte Ferdinand Hrdlicka zudem zum Leichtsinn. Sein Tagesablauf war geordnet. Er verließ täglich um sieben Uhr am frühen Morgen das Haus und vergewisserte sich, dass er die Haustür abgeschlossen hatte. Er drehte den Schlüssel zweimal im Schloss. Dann steckte er ihn in die linke Innentasche seines Sakkos. Mit der rechten Hand schlug er an die Geldbörse, die er in der rechten Gesäßtasche verstaut hatte. Die Geldbörse erinnerte ihn an Antonia, seine Frau, die ihn vor einem guten halben Jahr verlassen hatte. Auf einer Reise in die Normandie hatte sie ihm vor Jahren das edle Stück aus echtem Rindsleder gekauft.

»Damit du immer an mich denkst, wenn du unterwegs bist«, hatte sie gesagt.

2

Ferdinand war ein gebranntes Kind. Vor zwei Monaten, an einem Montagmorgen in der ersten Aprilwoche, war er in großer Eile und wie meistens etwas zu spät aus den Federn gekrochen. Geistesabwesend hatte er dann die Haustür hinter sich zugeschlagen. Der Haustürschlüssel hing noch an seinem Haken im Korridor. Er bemerkte das Debakel, noch bevor er überprüfen konnte, ob die Geldbörse am rechten Platz war.

Dass ihm so etwas immer wieder passieren musste! Es war jedoch das erste Mal, dass er durch eigene Schuld ausgesperrt blieb. Er wollte nach Antonia rufen, da fiel ihm ein, dass sie nicht mehr bei ihm lebte. Er nahm den Autoschlüssel zur Hand, den er an einem Ringanhänger an einer Gürtelschlaufe eingefädelt hatte, und wollte zur Garage, um den Wagen auf die Straße zu fahren. Das Garagentor ließ sich nun aber auch nicht öffnen, weil der Garagentorschlüssel im Verbund mit dem Haustürschlüssel am Haken an der Wand im Korridor hing. Er überlegte, was nun zu tun sei. Künftig würde er Duplikate der drei Schlüssel im Garten oder auf der Terrasse deponieren.

Er nahm sein klobiges Handtelefon, das er in seiner Aktentasche mit sich führte, und rief seine Frau an. Antonia hatte ein Appartement in der Stadt, nahe der Bibliothek, wo er als Archivar beschäftigt war.

»Verzeih, mein Liebes, dass ich dich am frühen Morgen schon störe, aber ich stehe nun vor dem Haus und kann nicht hinein. Die Garage kann ich ebenfalls nicht öffnen …«

»Weil beide Schlüssel am Haken im Korridor hängen. Natürlich. Wo sollten sie auch sonst sein. Und da reißt du mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Schlaf! Typisch Ferdinand Hrdlicka, ich bin unendlich froh, dich nicht mehr zu sehen. Du hast mir nur Unglück gebracht. Übrigens bin ich nicht dein ›Liebes‹, das war ich nicht und werd ich nicht mehr sein.«

»Antonia, ich brauch dich jetzt.«

Antonia hatte aufgelegt. Hrdlicka machte sich auf den Weg. Er würde zu spät zur Arbeit kommen, der Portier würde anzüglich grinsen, sein Chef würde ihn fragen, was denn nun schon wieder gewesen sei.

»Herr Soltobany, verzeihen Sie bitte«, sagte er zu Victor Soltobany, dem Leiter des Städtischen Archivs, »ich war heut früh in Gedanken und habe die Haustür hinter mir zugeschlagen und …«

»Hrdlicka, nehmen’s Platz, fangen’s zum Arbeiten an und verschonen’s mich mit Ihrer Geschichte.«

»Wie kann ein Mensch mit einem so phänomenalen Gedächtnis für Namen und Zahlen so weltfremd und vergesslich sein. Ein leichtsinniger Tropf ist er, da werden wir noch viel erleben«, grinste Soltobany zur Madelene Serve hinüber, die unter der Tür zu ihrem Sekretariat stand und gerade den Frühstückskaffee für den Herrn Chef aufgebrüht hatte.

»Nehmen’s das nicht zu schwer, Herr Soltobany, er ist ja im Grunde ein sehr netter Kollege, der Herr Hrdlicka.«

Ferdinand Hrdlicka suchte die Werkstatt eines Schlüsseldienstes im Telefonbuch, schilderte der eilfertigen Dame das morgendliche Ereignis und beauftragte dann einen Herrn Liebermann, wie sich der Schlüsseldienstmensch am Telefon vorstellte, seine Haustür zu öffnen, den Haustürschlüssel vom Brett im Korridor zu nehmen und damit ins Archiv zu fahren. Er werde ihn selbstverständlich anständig entlohnen. Rechnung bräuchte er keine.

3

So stand nun Ferdinand Hrdlicka am Treppenabsatz, vergewisserte sich noch einmal, dass er den Haustürschlüssel, den Garagenschlüssel, die Geldbörse bei sich hatte, zog die Tür ins Schloss und ging zur Garage. Er öffnete sie und musste feststellen, dass das Auto nicht drinnen stand.

Das Adrenalin schoss ihm durch alle Kapillaren seines Körpers und jagte seinen Blutdruck in ungeahnte Höhen. »Die haben mir mein Auto aus der Garage gestohlen. Das darf doch nicht wahr sein«, rief er fassungslos. Von schnellem Angstschweiß durchnässt machte er kehrt, lief ins Haus, griff sich das Telefon und wollte mit zitternden Händen die Polizei anrufen.

Er schaute aus dem Fenster und entdeckte vor dem Haus auf der Straße sein Auto. Er hatte es am Vorabend nicht in die Garage gefahren, sondern auf der Straße stehen lassen. Ursprünglich hatte er am Abend noch in die Städtischen Bühnen fahren wollen, um sich abzulenken; dort hatte er ein Jahresabonnement. Er war aber dann zu müde geworden, hatte sich in den Lehnsessel gesetzt und nicht mehr an das auf der Straße geparkte Auto gedacht.

»So darf es mit mir nicht mehr weitergehen«, murmelte er. Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Dabei stellte er fest, dass er heute auch die Rasur vergessen hatte. »Nur langsam«, ermahnte er sich, »sonst schnipsle ich mir noch die Lippe weg.«

4

Der Hieb, den ihm die Antonia mit ihrem, so hoffte er, vorübergehenden Auszug aus der gemeinsamen Wohnung versetzt hatte, brachte den Ferdinand Hrdlicka zunehmend aus dem seelischen Gleichgewicht. Sollte er sich tatsächlich einem Psychiater auf die Couch werfen, wie ihm die Madelene geraten hatte?

»So was macht man heut, wir leben in einer anderen Zeit, Herr Hrdlicka. Lassen Sie sich helfen. Sie müssen wieder in die Gänge kommen. Nur keine Angst, so schnell landen Sie nicht in der Klapsmühle. Junge Männer sind heute besonders gefährdet, gerade wenn sie so alleine sind. Dem Kowaltzky aus dem Städtischen Bauamt sind auch die Sicherungen durchgebrannt.«

Ferdinand Hrdlicka trat noch einmal vor die Haustür, zerrte die Tageszeitung aus dem Briefschlitz und vergewisserte sich mit einem Blick, dass tatsächlich noch nicht Samstag war. Er fühlte sich elend. ›Es könnte auch der Rotwein sein, mit dem ich mich gestern Abend abgefüllt habe‹, dachte er. Er hatte schlecht geschlafen, wüste Träume hatten ihm die Brust abgeschnürt. ›Das ist das Herz‹, sagte er sich. ›Ich lasse mir heute noch einen Termin beim Kardiologen geben. In diesem Zustand kann ich nicht ins Archiv.‹

5

›Das liegt alles nur daran, dass die Antonia mich verlassen hat. Seitdem kränkle ich, werde ängstlich, unzuverlässig und leichtsinnig.‹ Trotz seines desolaten Zustandes analysierte er sein Befinden messerscharf.

Ein schwüler Tag kündigte sich an. Er stieg in seinen Wagen, legte die Aktentasche auf den Nebensitz, schob den Rückspiegel in die rechte Position, schaute in den Seitenspiegel und trat auf das Gaspedal.

›Wie ein alter Mann‹, fuhr es ihm durch den Kopf, ›schlapp und müde fühle ich mich, wie ein alter Mann. Mit mir stimmt irgendetwas nicht.‹

»Was drängeln die so, der fährt mir noch in den Kofferraum hinein«, mokierte er sich über einen Chauffeur, dem es anscheinend ebenso wie dem Ferdinand Hrdlicka pressierte.

Er sollte früher aufstehen. Aber der Wecker hatte nicht funktioniert und er war auf die Antonia angewiesen. Die hatte ihn immer rechtzeitig geweckt und ihm, wenn es sein musste, den Vortritt im Bad gelassen. Sie hatte das Frühstück auf den Tisch gestellt und musste selber zumeist frühzeitig aus dem Haus. Antonia war immer pünktlich, gewissenhaft und adrett gekleidet. Am frühen Morgen schon war sie schön anzuschauen.

Hrdlicka parkte auf dem Parkplatz des Städtischen Archivs, den sich die Angestellten mit denen des Städtischen Bauamtes teilen mussten. Das Wetter hatte in den letzten Minuten gewechselt, die Schwüle war wie weggeblasen. Der Wind fuhr ihm durchs Haar. Er rannte mit der Aktentasche auf dem Kopf durch den einsetzenden Regen und wischte am Portier vorbei ins Archiv. Hier fühlte er sich wohl und behütet. Da hatte alles seine Ordnung. Die Mitarbeiter waren ihm wohlgesinnt, der Chef hielt große Stücke auf ihn. Hier im Archiv leistete er sich keinen Fehler, er wusste genau, wo dieser Foliant, jenes Buch zu finden war. In seinem Gedächtnis waren sie alle gespeichert.

Er stürzte ein Kännchen Kaffee hinunter und fühlte sich wohler.

»Heut scheinst du einen guten Tag erwischt zu haben, Herr Hrdlicka.« Madelene wechselte mit Charme vom Sie zum Du und umgekehrt. Sie legte ihm ein paar Kekse auf den Schreibtisch. »Das ist gegen den Unterzucker, falls du noch nichts gegessen hast.«

Ferdinand Hrdlicka schenkte ihr ein liebenswürdiges Lächeln. ›Wenn du wüsstest‹, dachte er, ›wie es in mir aussieht.‹

Für neun Uhr war eine Gruppe von Studenten von der Universität angesagt. Die wissenschaftliche Assistentin, die die jungen Leute begleitete, stellte sich als Frau Doktor Ada Holub vor. Gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges seien einige Trecks mit Protestanten aus dem Salzburgischen nach Bayern gekommen, meinte sie, und hätten in der Stadt Asyl erhalten, und ihre Studenten würden nun gerne für ihre speziellen Facharbeiten die städtischen Matrikeln zwischen 1645 und 1650 einsehen. Sie bat Ferdinand Hrdlicka, falls ihm diese Thematik zufällig näher bekannt sei, zunächst die Studierenden mit der Schlussphase des Dreißigjährigen Krieges vertraut zu machen. Es seien einige angehende Germanisten und Historiker dabei, die ihm ebenfalls gerne ein paar Fragen stellen wollten. Nun war Hrdlicka ausgewiesener Fachmann für die neueste Geschichte, insbesondere für Fragen zur Weimarer Republik. Aber seine Ausführungen waren kurzweilig und der Vormittag war schnell vorbei. Victor Soltobany schaute herein und begrüßte die Besucher von der Universität.

»Da ist er ja unübertrefflich, der Hrdlicka, in jeder Hinsicht. Er ist ein Schussel, aber immer nett und zuvorkommend. In seinem Fach macht ihm keiner was vor«, sagte er zur Madelene. »Dem kannst du das ganze letzte Jahrtausend vorlegen, er hat den Überblick. Der Hrdlicka könnte es zu was bringen.«

»Mein Emil hat gesagt, der Herr Hrdlicka käme erst wieder zu sich, wenn seine Antonia wieder bei ihm ist«, meinte sie.

»Das wird sie sich gut überlegen, da müsste ja ein Wunder passieren, wenn sich der Hrdlicka ändern würde, der ist ja auch nicht mehr der Jüngste.«

»Ja, aber doch im besten Mannesalter«, ereiferte sich die Madelene, »da kann sich beim Menschen noch viel tun.«

Ferdinand Hrdlicka stand den jungen Leuten von der Universität und der Frau Dr. Holub den ganzen Tag zur Verfügung, nahm ihre Einladung zum Abendessen im Café Violett an und kam erst spät abends zu Hause an.

Antonia musste in seiner Abwesenheit durchs Haus flaniert sein. Sein Blick fiel auf die argentinische Kiste, wie sie in der Familie seit jeher genannt wurde. Sie stand seit Monaten auf einem Wohnzimmerschränkchen. Als Schüler noch hatte er sie mit drei horizontal liegenden Streifen beklebt. Den mittleren, weißen Streifen zierte ein goldenes, lachendes Sonnengesicht, von Strahlen umgeben. Den oberen und unteren Streifen hatte er mit dunkelblauer Wasserfarbe akribisch sauber bemalt. Das Blau der Streifen war bleich geworden. Antonia hatte die Kiste vom Schränkchen genommen und auf den Tisch im Wohnzimmer platziert. Daneben lag ihre handschriftliche Notiz: »Die Kiste mit den Briefen Deiner argentinischen Tante solltest auch pfleglicher behandeln. Sie steht seit Wochen auf dem Wohnzimmerschrank. Solche Andenken versenkt man nicht einfach im Müll. Und schreiben könntest ihr auch einmal. Typisch Hrdlicka.«

Er hatte ja nicht vor, die argentinische Kiste im Müll abzuladen. Nachdem die Eltern gestorben waren, hatte er die Kiste mit anderen Erinnerungsstücken, dem Christbaumschmuck, altem Schnitzwerkzeug seines Vaters und der Koffernähmaschine der Mutter im Keller verstaut. Er war seit Jahr und Tag nicht mehr in den alten Keller gekommen und die Schachteln moderten vor sich hin. Antonia hatte ein Faible für alte Erinnerungsstücke und überlegte genau, was wegzuwerfen war. Er wollte die Kiste mit den Erinnerungen an die Tante Bertil, wie sie im Elternhaus genannt worden war, bei nächster Gelegenheit durchsehen. Er genehmigte sich einen Roten und meinte, es sei der rechte Zeitpunkt, die Schreibschulden an Tante Bertil abzutragen. Er wusste, dass sie mit Onkel Albert Koslanter in Verbindung geblieben war. Der redete aber wenig davon.

Er griff sich den Telefonhörer, rief Onkel Albert an und fragte nach weiteren Briefen, vielleicht auch einem neueren Foto von Tante Bertil. Gerne hätte er ihr geschrieben. ›Argentinien ist heutzutage ja nicht aus der Welt‹, sagte er sich. Albert Koslanter versprach ihm, die Bündel Briefe in den nächsten Tagen mit der Post zu schicken.

6

Victor Soltobany hatte seinen Doktor in alter Geschichte gemacht und war ein mit allen Wassern gewaschener Archivar. Das Städtische Archiv leitete er seit neun Jahren und hatte erst vor einigen Wochen seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Er wohnte in der Vorstadt, fuhr jeden Morgen mit dem Bus zum Archiv und trank dann seinen Kaffee im Büro.

»Wenn Sie mir einen Kaffee kochen, dann ist das ein Freundschaftsdienst«, hatte er zu Madelene gesagt, als er seinerzeit die Leitung übernahm. Er war ledig, hatte aber eine Tochter, Melanie, die ihm die junge Mutter bald nach der Geburt sozusagen vor die Haustür gelegt hatte. Sie war Studentin und wollte Journalistin werden.

»Ich kann das Kind nicht ernähren, zuerst muss ich mein Studium beenden und dann reden wir weiter. Du bist genauso beteiligt«, erklärte sie seinerzeit ihren Notstand. Gehört hatte er nichts mehr von der Mutter seines Mädchens. Soltobany war damals noch keine dreißig Jahre alt gewesen, seine Mutter lebte noch. »Mit einer solchen Frau hast du ein Verhältnis angefangen. Hab ich dich nicht gewarnt?«

Die Mutter war eine agile Frau, aber mit der Aufzucht des kleinen Wesens überfordert. Sie nahmen sich eine Kinderfrau ins Haus, deren Mann früh gestorben war. Die Frau Kohlmann hatte eine Aufgabe gesucht, war von einer Bekannten empfohlen worden und versah ihren Dienst all die Jahre mit großer Liebe und Bravour. Für die Melanie war sie die Mutter und der Victor war der Vater. Dass die beiden nicht verheiratet waren, wurde ihr erst mit neun oder zehn Jahren bewusst.

Die Melanie Soltobany studierte dann Betriebswirtschaft und arbeitete bei einer großen Gesellschaft, die mit der Beratung von Banken ihr Geld verdiente. Frau Kohlmann war gestorben, als die Melanie keine zwanzig Jahre alt war. Sie hatte lange zu leiden an einer Nierengeschichte und ging von Arzt zu Arzt. Schließlich hatte sie sich damit abgefunden, dass ihr diese Not zugedacht war.

7

Bei einer Vortragsreihe über die Beziehungen der Salzburgischen Fürstbischöfe zu den bayerischen Herzögen Ende des siebzehnten Jahrhunderts in der österreichischen Alpenmetropole lernte Victor Soltobany die Anuschka Horvath kennen, eine ebenso kompetente wie liebenswürdige Kollegin, die sich in Salzburg um die Stadtchronik kümmerte.

Anuschka Horvath kam aus Wien. Ihr Vater war Veterinär gewesen, die Mutter hatte sie bald verloren. Nach der Geburt ihres jüngeren Bruders begann die Mutter zu kränkeln, hustete viel. Sie suchte Heilung in einem Sanatorium in den Kärntner Bergen, aber alles half nichts. Dr. Horvath stand nach dem Ableben seiner Frau mit den beiden Heranwachsenden allein da. Die beiden wurden in seiner Tierarztpraxis groß, der Sohn übernahm sie vom Vater und die junge Anuschka verlegte sich auf das Studium der Geschichte.

Anuschka erkannte in Victor Soltobany den guten Menschen, er erinnerte sie an ihren Vater. Es wurde eine lockere Beziehung und Salzburg war leicht zu erreichen. Anuschka wollte vorerst nicht heiraten, sie strebte eine Stelle als Dozentin an, wartete auf die Berufung und noch war ungewiss, ob sie in Salzburg bleiben konnte oder gar nach Graz oder Wien ausweichen würde.

8

Als Ferdinand Hrdlicka das Café Violett und die Studentengruppe verließ, hüllte ihn die abendliche Wärme eines lauen Junitages ein. Es hatte tagsüber ausgiebig geregnet. Die Luft war gereinigt.

Ferdinand fuhr sein Auto in die Garage und wand sich aus dem Gefährt. Nachdem das Garagentor ins Schloss gefallen war, öffnete er die Haustür, streifte die Straßenschuhe ab, ging zum Kühlschrank und holte sich ein frisches Bier.

»Das habe ich mir gedacht, dein tägliches Prozedere. Jetzt musst du dich in deinen Lehnstuhl setzen, dann stimmt es wieder. Der Herr ist zu Hause.« Antonia saß in einem Korbsessel, drehte sich zu Ferdinand und musterte ihn mit prüfenden Blicken: »Kultiviert, der Herr, kultiviert.«

Den Ferdinand umflutete die Aura seiner Antonia. Warum sie ihn verlassen hatte, konnte er immer noch nicht nachvollziehen.

»Wieso hab ich dir nur Unglück gebracht, Antonia, kannst du mir das näher erläutern?«

»Wer sagt denn das?«

»Es ist noch nicht lange her, da hast du mir deine Sicht der Dinge an einem frühen Morgen ins Ohr geschrien und hast mich verlassen. Von einem Tag auf den anderen.«

»Die Zeiten ändern sich, mein Lieber. Wir Frauen haben auch Gefühle. Vielleicht waren es nur die überreizten Nerven. Ich musste heute einmal wieder nachschauen, wie es dir geht. Aber rechne dir nichts aus, gleich bin ich wieder weg. Ich muss morgen nach Bern, hab dort zu tun. Willi Kernemann begleitet mich.«

»Ach, der Kernemann, der ist ein Schönling, aber nichts dahinter.«

»Wie geht es im Archiv? Du bist unentbehrlich?«

Antonia schaute ihren alleingelassenen Gemahl an, prüfte noch einmal sein Aussehen von oben bis unten, zog die Augenbrauen hoch und verabschiedete sich: »Ich denk an dich.«

Ferdinand Hrdlicka nahm die zweite Flasche Bier aus dem Kühlschrank, trank einen großen Schluck und öffnete die Flügeltür zur Terrasse. Dann zündete er sich eine Zigarette an. ›Das Rauchen kann sie zum Teufel nicht leiden.‹ Genüsslich zog er an der Zigarette, trank die Flasche Bier und begann sich zu entspannen.

9

»Sie husten mir schon seit zwei Stunden etwas vor, Hrdlicka. Sollten Sie nicht einen Arzt aufsuchen?«

»Wenn Sie meinen, Herr Soltobany.«

»Natürlich meine ich das. Gehen Sie, bevor Sie noch kränker werden und uns alle anstecken. Wer weiß, was Ihnen fehlt.«

»Vielleicht hat er gar eine offene TBC und wir sind schon alle infiziert.« Madelene grinste, als sie ihm eine Tasse heißen Tee auf den Schreibtisch stellte. »Aber ein Herr, so alleine, der muss ja umkommen.«

Ihr süffisantes Lächeln regte ihn heute nicht auf.

»Ich kann recht gut auf mich aufpassen. Ich saß gestern Abend zu lange auf der Terrasse und habe meditiert.«

Doktor Habermann untersuchte ihn gewissenhaft. »Tun Sie sich nicht aufregen, Herr Hrdlicka, jetzt machen wir noch ein Blutbild. Aber soweit ich das jetzt überblicken kann, genügen ein paar Tage Ruhe. Trinken Sie viel, vor allem heißen Tee, und lassen’s das Rauchen sein. Die Glimmstängel haben noch immer ihre Opfer zur Strecke gebracht.«

10

»Warum rennst du zum Doktor Habermann, der Rudolf hätte dich umsonst untersucht«, redete die Antonia ins Telefon. Der Rudolf war ihr Bruder, ein Internist in einem Krankenhaus. Er hatte seinen Facharzt schon längst gemacht und könnte sich, wenn er nur endlich wollte, auch selbstständig machen.

»Woher weißt du überhaupt, dass ich nicht im Dienst bin?«

»Die Madelene hat es mir gesagt. Ich komme heute Nachmittag bei dir vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Lamentiere nicht ständig, wenn ich bei dir bin. Wer ist eigentlich die Frau Dr. Ada Holub? Die Madelene hat dich nun schon zweimal mit ihr in der Stadt gesehen.«

Hrdlicka ignorierte die Frage seiner Frau.

»Dein Herr Bruder hätte mich ins Krankenhaus eingewiesen, nur damit die Betten belegt sind. Du solltest doch mit dem Herrn Kernemann in Bern unterwegs sein.«

»Die Reise musste verschoben werden, das ist ärgerlich, aber der Wunsch der Kunden ist einem eben heilig. Und was den Rudi angeht, red’ nicht so, du weißt, dass er ein guter Arzt ist.« Sie knallte den Hörer aufs Telefon.

Ferdinand Hrdlicka bekam wieder Schmerzen in der Brust. ›Es wird doch nicht das Herz sein‹, redete er sich ein. Nachts hatte er Schweißausbrüche gehabt. Am Morgen war er erschöpft gewesen und hatte den Doktor Habermann angerufen.

»Ihr Blutbild ist in Ordnung, der Urin zeigt einige weiße Blutkörperchen zu viel, aber das ist normal. Bleiben Sie liegen, legen Sie sich eine Wärmflasche auf die Brust und geben Sie Ruhe.«

11

Der Bruder von Antonia, Rudolf Schlesinger, der Internist, war ein leidenschaftlicher Skifahrer, reiste jedoch gerne auch in heiße Länder. Ferdinand hatte ihn und seine Schwester Antonia in einem Hotel unterhalb des Dachsteinmassivs kennengelernt. Beim Après-Ski waren sie sich eines Abends näher gekommen, hatten den nächsten Tag gemeinsam eine Tour unternommen und beim Abschied die Adressen ausgetauscht.

Dann hatte sich lange nichts getan, bis ihm im nächsten Herbst ein Urlaubsangebot jenes Hotels ins Haus flatterte, das er vor Jahresfrist besucht hatte. Da fand er dann auch im Krawattenschub die Adresse der Antonia Schlesinger wieder, rief sie an und fragte, ob sie nicht vielleicht zur selben Zeit im Dachsteingebiet sei. Das ließe sich machen, meinte die Antonia. Da seien Semesterferien und sie bräuchte sowieso einen Ausgleich. Ferdinand wunderte sich über seine draufgängerische Art, und die letzten Tage vor dem Urlaub war er mobil wie sonst nicht.

»Sie brauchen keinen Urlaub, Hrdlicka«, sagte der Herr Soltobany, »Sie schauen viel zu gut aus.«

Als die Antonia ihr Studium beendet hatte, heirateten sie in Salzburg. Rudolf war einer der Trauzeugen.

»Hoffentlich hat dein Herr Bräutigam die Ringe nicht vergessen.« Rudolf lachte und spielte auf die oft recht verträumte Art des künftigen Schwagers an.

»Wenn er sonst keine Schwächen hat, die ich noch nicht kenne, werd ich’s mit ihm aushalten können.«

Der Charme des Ferdinand Hrdlicka übertünchte einige Jahre seine Schusseligkeit und seinen Leichtsinn.

12

»Mein Bruder hatte vielleicht Recht, als er mich vor dir warnte. Du bist ein Hypochonder und verträumst dein ganzes Leben. Wann wirst du ein Mann.«

Nun lag Ferdinand also mit Brustschmerzen den zweiten Tag im Bett, hustete pflichtschuldig einige Male und erhoffte sich mehr Mitleid von seiner Frau Antonia, die ihn anstierte, wie er meinte.

»Wenn du deine eheliche Auszeit beendet hast, könntest ja wieder zurückkommen. Ein so großes Haus alleine zu bewohnen ist ja eine Schande«, stöhnte er leidend aus dem Bett.

»So, es geht dir nur darum, dass das Haus alleine zu bewohnen eine Schande ist. An mir liegt dir wohl gar nichts. Meine Absenz soll dich lehren, selbstständig zu werden.«

»Absenz, wenn ich das schon höre.«

Hrdlicka freute sich über ihren Besuch, ließ sich sein Behagen jedoch nicht anmerken. »Ich komme gut zurecht. Morgen gehe ich wieder in die Arbeit. Du könntest mit mir am Mittwoch ins Theater gehen.«

»Wir werden sehen«, meinte Antonia.

Das Paket, das die Post am Vormittag zugestellt hatte, hatte sie auf die Couch platziert. Antonia meinte wohl, dass er es dort nicht übersehen konnte.

13

Antonia beendete abrupt ihren kurzen Besuch, schlug die Türe seines Schlafzimmers hinter sich zu, verließ das Haus und fuhr mit ihrem Cabrio in ihre Wohnung in der Stadt. Sie rief ihren Bruder an und verabredete sich mit ihm für das Wochenende. Rudolf kam das Angebot gelegen. Er würde gerne rüberkommen nach München, müsse jedoch bereits am Sonntagnachmittag wieder ins Krankenhaus nach Salzburg, er habe am Sonntagabend schon Bereitschaft.

»Ferdinand ist ein liebenswürdiger und netter Mann. Er muss jedoch lernen, etwas mehr auf eigenen Beinen zu stehen. Jetzt ist er bald vierzig und immer noch in einer Art spätpubertärer Abhängigkeit. Ich würde ihn nie verlassen. Aber er muss zu sich selber kommen«, ging Antonia auf die Fragen ihres Bruders ein.

»Bei Kindern heißt es, sie würden nach jeder Krankheit ein Stück reifer sein. Vielleicht findet er sich.«

14

Am Abend kam dann noch die Madelene vom Archiv mit ihrem Emil bei Hrdlicka vorbei. »Bist ansteckend oder können wir reinkommen?«

»Es ist nur eine Bronchitis, hat der Doktor Habermann gemeint, und sie würde mich nicht ruinieren.«

Die Madelene räumte das Zimmer auf. »Viele Grüße von der Frau Ada. Die war heute im Archiv. Ob du bald wiederkommst, sie würde gerne nochmals mit einer Gruppe Studenten vorbeischauen. Es ginge ihr um die Bauernkriege. Ich habe ihr gesagt, wenn du wieder auf den Beinen bist, kümmerst du dich um ihre Bauernkriege. Da liegt ein Paket von deinem Onkel Albert auf der Couch, soll ich’s aufmachen?«

Im Paket lagen mehrere Bündel Briefe, wohlsortiert und mit Jahreszahlen beschriftet. Zudem hatte ihm der Onkel Albert einen dicken Streifen Schinken und einige Hartwürste beigelegt. »Ich kann dich doch nicht so allein dahinvegetieren lassen. Stärke dich«, schrieb er. »Auf dem Foto ist die Tante Bertil noch keine dreißig, sie sieht deinem Vater ähnlich. Ein neueres habe ich leider nicht. Vergiss nicht, ihr zu schreiben. Du machst ihr eine große Freude.«

Madelene hantierte noch eine Weile in der Küche und verabschiedete sich bald mit ihrem Emil.

15

Ferdinand schnürte die Päckchen auf, öffnete die Briefe und tauchte ein in das Leben dieser fernen argentinischen Tante. Mit dem Lesen verging die Zeit wie im Flug. In einem der ersten Briefe erzählte sie von ihrer Jugendzeit in Marienbad.

Viele böhmische Mädchen hätten damals in der Vorkriegszeit in der Saison von März bis Ende Oktober in Leipzig, manche in Berlin, andere in Karlsbad oder Marienbad gearbeitet, schrieb sie. »Gehst in Stellung?«, befragten sich die Mädchen, wenn sie sich an den Abenden in einem der Häuser zum Spitzenklöppeln trafen. In den Dörfern gab es keine Arbeit, keinen Verdienst, auf den die Familien jedoch oft angewiesen waren. Wenn eine der jungen Frauen keine Stellung in den Städten bekommen hatte, galt sie daheim als arbeitsscheu. Den Winter über arbeiteten sie auf den Höfen im Stall, klöppelten Spitzendecken, fertigten verschiedene Handarbeiten, kleine Armreifen und Halsketten. Bertil erlas sich die Welt und festigte in den Wintermonaten ihre Tschechisch- und Englischkenntnisse. Wer im Hotel in Marienbad bestehen wollte, kam mit Deutsch allein nicht aus; die feinen Herrschaften aus aller Welt wollten englisch angesprochen werden. Die Chefin des Hauses, Frau Rundstätt, eine vornehme, kultivierte Frau Ende fünfzig, hatte an der Bertil einen Narren gefressen.

»Lernen’s Englisch, Bertil. Tschechisch können Sie doch auch recht passabel. Ohne Englisch kommen Sie heutzutage nicht durch die Welt.«

Aber auch die Frau Rundstätt konnte nicht in die Zukunft schauen. Nichts ist gewisser als die Ungewissheit.

Jeden Morgen um sechs Uhr traten die Zimmermädchen im Hotel Europa in Marienbad zum Appell an. Das war ein Lachen und Drücken, bis jede ihren Platz gefunden hatte.

Der Herr Navratil kam pünktlich mit dem Glockenschlag, der von der Kirche der Heiligen Maria vom Goetheplatz herüberschwang.

»Sooo, Mädels«, sang er in seinem Marienbader Deutsch, »seid’s wieder da. Es ist heut viel zu tun. Neue Gäste hama. Ich hoffe, ihr seid gesund und munter, damit wir alle auch wieder scheen arbeiten kennen.«

»Ja, Herr Navratiiiil«, sangen die böhmischen Schönheiten und freuten sich über den netten Herrn Navratil, der keiner was zuleide tat. Wenn eine von ihnen einen Kummer hatte mit der ersten Liebe oder wegen unstillbaren Heimwehs Rotz und Wasser weinte, dann tröstete er sie oder nahm sie am Abend gar mit nach Hause, wo die Frau Navratil immer ein Stück Kuchen übrig hatte. Die Jüngsten der lachenden Garde hängten sich an Bertil und ließen sich von ihr in die Geheimnisse des ersten Hotels in Marienbad einführen.

»Du gehst nur durch den Boteneingang, merk dir das. Nur die Gäste gehen von der Straße durchs Hauptportal.«