Eine gewöhnliche Familie - Sylvie Schenk - E-Book

Eine gewöhnliche Familie E-Book

Sylvie Schenk

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Beschreibung

Die Geschwister Cardin sind zu viert. Als Tante Tamara und Onkel Simon sterben, werden am Tag der Beerdigung jedoch nicht nur die Trennlinien zwischen den vier Geschwistern sichtbar, sondern die Gräben in der gesamten Familie. Die Verstorbenen waren es, die alle zusammenhielten. Nun hinterlassen sie neben Uneinigkeit vor allem eine Auseinandersetzung um das Erbe, die schon auf dem Weg zur Trauerhalle ihren Anfang nimmt. Die gefühlte Ungerechtigkeit in der Verwandtschaft ist außergewöhnlich groß – und genau darin ist diese französische Familie so ziemlich gewöhnlich.
Sylvie Schenk hat einen Roman geschrieben, der auf wenigen Seiten poetisch, klar und klug die Geheimnisse einer ganzen Familie ausleuchtet.

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Seitenzahl: 173

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Über das Buch

Die Geschwister Cardin sind zu viert. Als Tante Tamara und Onkel Simon sterben, werden am Tag der Beerdigung jedoch nicht nur die feinen Trennlinien zwischen den vier Geschwistern sichtbar, sondern die Gräben in der gesamten Familie. Die beiden Verstorbenen waren es, die alle zusammenhielten. Nun hinterlassen sie neben Uneinigkeit vor allem eine Auseinandersetzung um das Erbe, die schon auf dem Weg zur Trauerhalle ihren Anfang nimmt. Die gefühlte Ungerechtigkeit in der Verwandtschaft ist außergewöhnlich groß — und genau darin ist diese französische Familie so ziemlich gewöhnlich.

Sylvie Schenk

Eine gewöhnlicheFamilie

Roman

Carl Hanser Verlag

Für meine Geschwister

Die Verstorbenen

Simon und Tamara Cardin

Die Neffen und Nichten

Aline, Céline, Pauline, Philippe

Hélène (und ihr Sohn William)

Bernard (und seine Mutter,

die flotte Kati)

Frankfurt liegt schon weit zurück, und bis Lyon ist noch genügend Zeit. Aus den Fenstern des TGV starrt sie in das schummrige Licht des neuen Tages. Dunkel und nah erheben sich die Vogesen. Sie möchte sich auf die Begegnungen vorbereiten. Sie möchte Worte finden, die ihre Empfindungen übertragen, sie möchte sich die Situation ausmalen, die sie erwartet, sie möchte sich sammeln. Aber immer wenn sie sich ein Gesicht aufruft, verschluckt sie es sofort wieder, wie eine Uhr den Kuckuck, dann befindet sie sich wieder in dem vollgestopften Abteil des Zuges. Man kann sich hier nicht konzentrieren. Die Schwätzer, die Telefonierenden, die greinenden Kinder, die Butterbrot-Essenden.

Sie verzichtet auf sich. Möchte diese Leute am liebsten mit einem Fingerschnippen aus der Welt schaffen, schämt sich kaum solcher Ungeduld und dafür, dass sie ihre Mitreisenden schief ansieht, die sich benehmen, als wären sie allein in ihrem Wohnzimmer, schämt sich kaum, dass sie ihre Stimmen verabscheut (zu nasal, zu plärrend, zu hell, zu dunkel, zu metallisch, auf jeden Fall alle zu laut), dass sie ihren Hunger nach Schinkenbroten verabscheut, ihr Zeitungsknittern, ihr Rotzhochziehen, ihre dicken Schenkel, ihren Geruch.

Ihr Beruf bringt sie in die Gesellschaft vieler Menschen, aber dort spiegelt sie nur die Meinungen und Ideen anderer. Was sie denkt, muss sie für sich behalten. Sie verträgt Schwafler immer schlechter. Wenn sie deutsches Blabla ins Französische dolmetschen muss, möchte sie immer öfter dazwischengehen: Junge, bring’s auf den Punkt, verdammt. Obwohl dieses Geschwätz ihr gelegentlich hilft, sich zu erholen, Anlauf für stärkere Sätze zu nehmen.

Schlimmer ist nur, was die Franzosen »Holzsprache« nennen, langue de bois, hölzerne Sprache, Betonsprache, Phrasendrescherei, leeres Gerede, was sie für sich als »Verblendungssprache«, »Furniersprache«, »tote Sprache« bezeichnet. Die sprachlichen Holzspäne müssen von ihr so exakt wie möglich wiedergegeben werden. In ihrem Gehirn spaltet und entzündet sich jedoch etwas. Das Etwas wird zu einem wütenden Feuer. Sie möchte falsch übersetzen und Richtiges sagen. Sie darf nicht. Ein Simultandolmetscher ist ein Wortverwandler und darf nicht abweichen.

Sie gähnt und gähnt. Schlecht geschlafen. Atmet gleichzeitig den Rasierwassergeruch ihres telefonierenden Sitznachbarn ein. Sie steht auf, vertritt sich die Beine, kommt zu ihrem Platz zurück. Und versucht wieder, sich auf das Bevorstehende zu konzentrieren. Gleich muss sie zwei Toten und drei lebendigen Geschwistern gegenüberstehen. Onkel Simon und Tante Tamara sind gestorben.

Ist sie zu einer introvertierten Einsiedlerin geworden? Und: War es jemals anders? Sie hört die Stimme der kleinen Mutter: Céline, wo steckst du? Céline las, verborgen hinter dem breiten Ohrensessel des Vaters, und wollte nichts als ihre Ruhe. Sie wollte schon immer ihre Ruhe und hat sie nie bekommen.

Sie schließt die Augen, und, ach, da kommen sie doch alle auf einmal, ihr Bruder Philippe in gelber Latzhose, ihre Schwester Pauline auf einem kaputten Roller, Aline, die einen von der Mutter gestrickten Pulli anprobiert. Was sich jetzt vor ihr herumwälzt, ist ein Knäuel von zappeligen, gebräunten Kinderbeinen mit aufgeschürften Knien, sie selbst ist acht oder neun, sie raufen sich im Gras, plötzlich ein Bellen, ein schwarzer Hund fällt die Kinder an, Célines Wade erwischt er, Indianer weinen nicht, aber schreien wie am Spieß, der kleine Philippe sucht im Gras das Stückchen Fleisch, das an der Wade fehlt, vergiss es, der Hund hat es gefressen. Céline hinkt ins Haus. Philippe und Pauline rennen voran: Der Hund hat Céline gefressen!

Onkel Simon und Tante Tamara sind zu Besuch. Der Onkel ist untersetzt und hat ein freundliches Pfannkuchengesicht, darin ein kleiner, verbrannter Schnurrbart, er schäkert gern mit der kleinen Mutter, die kichert: Oh Simon, oh Simon. Jetzt wird sie blass. Wieso gefressen? Tante Tamara trägt einen knallroten Lippenstift und einen Zigeunerinnenrock, lang und buntscheckig. Sie hat eine Schallplatte aufgelegt. Mit hochgereckten Armen dreht sie sich um die Achse, ihr Zigeunerrock kreiselt um sie herum, sie drechselt sich aus einem anderen Planeten. Beide sind viel jünger als die Eltern von Céline und ihren Geschwistern, eigentlich noch junge Leute, wahrscheinlich noch keine dreißig. Ihr Hund hat Céline gebissen, ein schwarzer Terrier. Tamara und Simon werden ihr Leben lang Hunde haben und Céline ihr Leben lang Angst vor Hunden. Tamara entschuldigt sich für das Tier, das eine Hündin ist und auf den lächerlichen Namen »Frivole« hört. Die Tante bringt Céline zum Wadennähen ins Krankenhaus, die kleine Mutter hat keinen Führerschein. Das Mädchen ist froh, Tamara mal für sich allein zu haben, und während diese viel zu schnell fährt, erklärt Céline ihr, dass sie einen Roman geschrieben habe, zwei volle Schulheftseiten. Tamara spricht mit ihr wie mit einer Erwachsenen, sie fragt, ob Céline auch über sie, Tante Tamara, einen Roman schreiben könnte, sie wäre gern eine Romanheldin. Oh ja, sagt Céline, ich verspreche es dir. Sie hat ihr Versprechen nie eingelöst, hat ihrer Heimat den Rücken gekehrt, einen Deutschen geheiratet, ist Dolmetscherin geworden.

Der Onkel und die Tante, der Vater und die Mutter. Simon und Tamara, Ernest und Suzanne. Die ersten selbstsicher, kinderlos und leicht herablassend, die zweiten bescheiden und unsicher. Beide Brüder Zahnärzte. Aber die Praxis von Simon in Lyon können wir nicht mit der altmodischen Praxis von Ernest in der kleinen Alpenstadt vergleichen.

Simon will Ernest dazu bringen, ein bestimmtes Röntgengerät zu kaufen, Ernest fragt sich, mit welchem Geld. Einen Kredit aufnehmen? Ein Kredit sei ein Vorbote des Konkurses. Er habe vier Kinder zu füttern und sie wachsen und wachsen, brauchen neue Kleidung. Tamara spricht von ihrer Unterwäsche-Manufaktur, Suzanne nickt demütig. Beim Aperitif schäkert Simon mit seiner Schwägerin auf der Terrasse, sie schauen in die untergehende Sonne, er lobt ihr Kleid, er senkt die Stimme, seufzt: Ach, Suzanne, Ihre blauen Augen in diesem Licht. Am Tisch hört er auf, das Röntgengerät zu preisen, lobt das Kartoffelgratin von Suzanne, aber Tamara trägt zu dick auf, hebt dramatisch Messer und Gabel: Das Gratinieren ist in der Tat eine große Kunst, allein Suzanne kann ein solches Kartoffelgratin gelingen, nur ihr! Tamaras Goldarmbänder rasseln.

Noch dreißig Jahre lang hat die kleine Mutter Aufläufe überbacken, dann, an einem heißen Sommertag, stirbt sie in einer Krebsklinik.

Céline ist in der letzten Minute gekommen. Die kleine Mutter hat aber auf ihre zweite Tochter gewartet. Céline kann noch ein paar Stunden bei ihr sitzen, bei ihr schweigen, sie traut sich nicht, die wesentlichen Fragen zu stellen, sie traut sich auch nicht, von sich zu erzählen. Ihre Ehe ist unglücklich. Ihr Mann hat eine Affäre. Nicht die erste. Sie hat sich ihr nie anvertraut, um ihrer Mutter keine Sorgen zu bereiten, um ihrem Vater nicht recht zu geben, dem die Heirat mit einem Deutschen nicht gefiel, vielleicht aber auch, weil sie sich ihres Unglücks schämt, als trüge sie selbst die Verantwortung dafür. So ist es auch. Sie trägt die Verantwortung.

Am Nachmittag verliert die Mutter das Bewusstsein. Vielleicht auch nur die Sprache. Kurz danach gesellen sich Pauline, Aline, Philippe und der Vater dazu. Céline erinnert sich nicht gern an die Ungeduld in den Augen der Mutter, als Ernest versucht, sie zu streicheln (sie hat noch nie eine Geste der Zärtlichkeit zwischen ihren Eltern beobachtet). Es war auch keine Ungeduld, Céline will es nur so deuten und weiß es doch besser: Was in den Augen der kleinen Mutter durchschimmerte, war Hass.

Sie verbringt die Nacht allein bei der sterbenden Mutter, will wach bleiben, will ihre Hand nicht loslassen. Aber Céline schläft ein, erschöpft. Als sie wieder aufwacht, sind die Augen der Mutter leer. Endlich spricht sie mit ihr, erzählt ihr leise die Geschichte des Findelkindes aus Lyon. Dann erschrickt sie und schweigt, als sie merkt, dass sie deutsch gedacht und gesprochen hat. Du, hat sie gesagt oder nur gedacht,

kleine Mutter,

warst ein stilles Wesen, das sein Taschentuch in den Ärmel stopfte und in Kleiderschränke hineinflüsterte. Du wuchst als einziges Kind eines Apothekers und dessen Frau in Lyon auf und warst von den Alpen, in die dein Mann dich brachte, nur eingeschüchtert. Du hattest Angst vor den Bergen, vor den Abgründen, vor der Sonne, die einem die Haut versengte, vor dem Schnee, vor bösen Gerüchten, du fürchtetest dich aber noch viel mehr vor deiner Schwiegermutter, die uralt wurde. Sie hatte 1918 als junge Frau sogar die Spanische Grippe überlebt, im Gegensatz zu Guillaume Apollinaire oder Egon Schiele. So hattest du eine Theorie entwickelt, die du in dieser Formel zusammenpresstest: La méchanceté conserve. »Bosheit hält frisch.« (Wie der Alkohol.) Obwohl keine Statistiken das Verhältnis von Bösartigkeit und Lebenslänge belegen, beruht deine Einsicht auf Erfahrung, jeder könnte sie in seiner Umgebung überprüfen. Jemand mit einer harten Schale ist sicher weniger empfindlich für die Auswitterungen des Lebens. Der legendäre weiche Kern kann unberührt und ungenutzt bleiben. Deine größte Befürchtung war es, vor der uralten Schwiegermutter zu sterben, was, Gott sei gelobt, nicht geschah. Aber beinahe.

Deine eigenen Wünsche fanden wenig Beachtung. Samstags kauftest du ein Sträußchen auf dem Markt, dein wöchentlicher Luxus. Anemonen, Ringelblumen, Nelken. Du hattest zwei Freundinnen, mit denen du ab und zu Tee trankst. Ich, freche Tochter, dachte: Kaffeekranz, Totenkranz. Die Damen siezten sich, ihr saßt aufrecht und spracht über Belangloses.

Erst einige Monate vor ihrem Tod hat die kleine Mutter Céline ihre Geschichte erzählt, ein paar gestammelte Stichworte nur, die wir uns hier erlauben (da Céline jetzt weiter in ihrer Muttersprache spricht), behutsam weiterzuspinnen.

Als Heranwachsende nahm Suzanne Ballettunterricht und durfte bald zum ersten Mal mit ihren Eltern in die Oper. Schwanensee von Tschaikowski. Sie war vierzehn und pummelig, mit glänzenden Augen bestaunte sie die anmutigen Balletttänzerinnen, beneidete sie und betastete daraufhin ihren unförmigen (glaubte sie) Körper deprimiert vor dem Garderobenspiegel. Sie fragte ihre elegante, schlanke Mutter: Sag mal, Mama, in welchem Mülleimer habt ihr mich gefunden? Die Mutter wurde rot und erstickte beinahe an ihrem künstlichen Lachanfall: Kind, was erzählst du für einen Unsinn? Ihre Verlegenheit machte sie suspekt, Suzanne aber traute sich nicht nachzubohren. Ab diesem Abend untersuchte sie täglich ihr Gesicht, ihren Körper auf Gemeinsamkeiten mit den Eltern und fand keine. Gar keine. Auch ihr Geist, ihr Intellekt wies nur auf Fremdheit hin. Sie war dumm, lieb, gab ihr Bestes in der Schule, bekam Fleißpunkte und sonst nichts. Ihre Mutter aber war eine feine Dame, elegant, geistreich, belesen (sie besaß eine schöne Ausgabe von Colettes Romanen, die Céline geerbt hat), und ihr Vater war ein studierter Mann, ein Apotheker, der wegen seiner Tapferkeit im Ersten Weltkrieg den Ritterorden der Ehrenlegion an sein Sakko heften durfte. Sie aber glänzte durch ihre Bedeutungslosigkeit. Und war doch nicht so dumm, dass sie es selbst nicht gemerkt hätte. Ab dem Tschaikowski-Abend lebte sie in einer obskuren Welt von Mutmaßungen und Befürchtungen, die sie tagsüber verdrängte. Nachts aber verdunsteten und kondensierten diese zu dunklen Wolken, bliesen sich zu fleischigen Figuren auf, die ihr die Luft nahmen. Ihr eigener Körper wurde schmerzlos gevierteilt, sie suchte angeekelt nach ihren Händen, ihrem Kopf, ihren Beinen.

Erst fünf Jahre später, als Suzanne eine arrangierte Heirat mit dem Arztsohn Ernest eingehen sollte und die zukünftigen Schwiegereltern auf einem Vertrag, Gütertrennung, vor dem Notar bestanden, entpuppten sich ihre Eltern als Adoptiveltern. Die Schande (für Suzanne, für ihre Eltern, für die Schwiegereltern) stand schwarz auf weiß im Familienbuch. Sie war entsetzt. Ihre Albträume waren nun Gewissheit. Sie fühlte sich schuldig. Und sie schämte sich. Sie schämte sich, weil ihre Eltern sich schämten. Weil sie das merkte. Ihre Eltern schämten sich vor Ernests Eltern, und Suzanne schämte sich vor sich selbst.

Die Schwiegereltern? Empörte Pferdekäufer, die beim Jahrmarkt um den Gaul betrogen worden waren. Die Hochzeit drohte kurzzeitig zu platzen, aber schließlich siegte die Vernunft, siegten die Interessen: Die Messe war bestellt, die Einladungen verschickt, das Hochzeitsmenü gedruckt, die Gäste eingeladen und: Der Sohn des Arztes und die Tochter des Apothekers — das passte doch.

Suzanne wird in einem weißen, englischen Spitzenkleid mit großer Schleppe am Arm ihres Adoptivvaters das Mittelschiff der gotischen Kirche Saint-Bonaventure in Lyon betreten, Ernest im Frack und am Arm seiner bösen Mutter. Alle werden die Kommunion mit Herzen voll Groll, Kummer und Zweifeln empfangen. Als sie aus der Kirche treten, sieht Suzanne, wie jemand eine Bettlerin wegjagt. Ein Gesicht voller Furchen, Dreck und Traurigkeit, in denen sie glaubt, ihre wahre Mutter zu erkennen. Sie wird in ihrem Leben noch oft auf Bettlerinnen treffen und in den Gesichtern nach ihrer Mutter suchen.

Suzanne verschwieg ihre Adoption. Einige Jahre vor ihrem Tod hatte sie Céline, die im Gegensatz zu ihren gebärfreudigen Schwestern anscheinend keine Kinder bekommen konnte, davon abgeraten, ein Kind zu adoptieren. Die Mutter wusste nicht, dass Céline längst Bescheid wusste. Man wisse ja nicht, sagte Suzanne, was man sich da ins Haus bringe. Was im Blut des Kindes stecke. Man erfahre nichts über die Erzeuger, vielleicht kranke Leute, die unter Tuberkulose litten und ihr Kind nicht großziehen konnten. Oft seien auch die Armut oder die Scham einer ledigen Mutter die entscheidenden Gründe für eine Kindsaussetzung. Armut könne aber auf Alkoholismus zurückgeführt werden, das Kind eines Alkoholikers trüge zwangsläufig Erbspuren des elterlichen Lasters. Die Mutter könne sogar eine Prostituierte sein. Manche Kinder würden auch als Früchte einer inzestuösen Verbindung weggegeben. Céline hörte verblüfft der sonst so wortkargen kleinen Mutter zu. Sie nahm in dieser Warnung die vielen Fragen wahr, die ihre Mutter sich selbst über ihre Herkunft gestellt hatte, sie hätte gern mehr herausgelockt: Wie war es mit dir, Mama, was weißt du über dich? Doch Céline schwieg. Aus Feigheit, aus Rücksicht, aus Respekt, aus Angst. Sie fürchtete, wenn die Mutter begänne, ihr einen Zipfel Wahrheit zu reichen, und sie, die Tochter, daran zöge, bis sich der ganze Faden ausrollte, würde von ihrer Mutter nichts mehr bleiben, woran sie sich festhalten konnte.

Ihre Mutter sei einmal abgehauen, hatte die Cousine Hélène ihr verraten. Célines große Schwester Aline sei schon sieben gewesen, Céline noch ein Baby. Die Mutter habe ihren Verlobungsring verhökert. Warum? War sie in einen anderen verliebt gewesen? In Simon vielleicht? Noch Student, noch nicht mit Tamara verheiratet, das einzige Mitglied der Familie, das mit ihr freundlich war und sie oft besuchte. Die Eltern deiner Mutter, hatte Hélène weiter ausgeplaudert, haben Suzanne gezwungen, wieder zu Ernest zurückzukommen und ihre Ehe, als wäre nichts passiert, weiterzuführen. Suzanne fügte sich und bekam zwei weitere Kinder. So waren es vier. Aline, Céline, Pauline und Philippe.

Lyon-Part-Dieu. Pauline und ihr Mann stehen am Ende des Gleises. (Er ist groß, massiv, steht immer hinter der schmalen Pauline, schützt sie vor Stürmen und Schlägen aus dem Hinterhalt, beide unzertrennlich wie Rahmen und Spiegel. In dieser Geschichte jedoch wird er ihre stumme Einfassung bleiben.) Auch Aline steht am Gleis. Ebenso Philippe und seine Frau (die wir ebenfalls kaum noch erwähnen werden, da sie sich in die Geschichte der Cardins nicht einmischen will). Alle tragen schwarze Schals über den Mänteln, eine Trauermannschaft, die auf der Stelle tritt. Man küsst sich. Gleich werden sie gemeinsam ins Krematorium fahren.

Was für ein Glück, dass dein Zug keine Verspätung hatte, sagt Pauline, du kommst auf den letzten Drücker; wir wollen noch zusammen einen Kaffee trinken. Ja, und wir müssen noch einiges besprechen. Célines Blick fällt auf die kleinen Füße ihrer Schwester, Schuhgröße 34, zwei Füßchen in schwarzen Nylonstrümpfen und schwarzen Ballerinas. Sie ist froh, dass diese kleinen Füße auf dem Boden stehen, schon immer hatte sie Angst, es könne ihrer Schwester irgendein Unglück passieren. Pauline ist der Treffpunkt aller möglichen bizarren Krankheiten, die sich im Verborgenen bei ihr verabreden. Depressionen wühlen ihr Leben auf, zuletzt vergifteten es Gürtelrose und Ekzem. Auch jetzt stimmt sie ihr Klagelied an: Ach, Céline, ich wäre am liebsten im Bett geblieben heute Morgen. Ja, sie sei erschöpft. Die letzten Tage haben sie übel mitgenommen. Jeden Tag im Krankenhaus, die Organisation der Beerdigung, der Kummer, sie beide quasi gleichzeitig verloren zu haben, das Vakuum.

Céline fürchtet, dass Pauline in ein großes Loch fallen wird, anstatt Erleichterung zu spüren, ein Loch, das sie nur schwerlich mit neuen Idealen und Beschäftigungen wird ausfüllen können. Sie sieht mitgenommen aus, ihr Gesicht ist verrunzelt, als wäre es verschnürt worden, als hätten Bindfäden diese Spuren hinterlassen.

Sie sitzen im Bahnhofscafé, die Bedienung trottet zwischen den Tischen umher und scheint erst alle Tische und Stühle sauber wischen zu wollen, bevor sie zu ihnen kommt. In Céline flammt eine schüchterne Freude auf: Man ist wieder beieinander, alle nicht mehr jung, aber lebendig. Sobald sie zusammenkommen, sind sie Geschwister, aufgeregt, schelmisch. Verbündet, vertraute Spielkameraden, alte Komplizen. Sie stecken die Köpfe zusammen, betatschen sich, wie geht es dir, wie geht es euch? Es geht uns gut, alles klar, nee, alles unklar, sagt Philippe, wenn nur diese blöde Geschichte nicht wäre. Aber leider. Welche Geschichte? Der Bruder räuspert sich und spricht zögernd, als fiele es ihm schwer, das zu erzählen, was man ihr unbedingt erzählen sollte, bevor sie die anderen treffen.

Die anderen, das sind die Cousine Hélène und Bernard, der Neffe von Tamara, samt Anhang. Émile, Hélènes Mann (den wir meist außen vor lassen, obwohl er sich gern einmischen möchte), ihr behinderter Sohn William und die flotte Kati, Bernards Mutter und Schwester von Tamara.

Das Testament der Tante, beginnt Philippe, gleicht dem Testament des Onkels. Das Vermögen sollte dem Überlebenden zukommen — und nach dessen Tod schließlich allen Neffen, sowohl ihren Neffen als auch seinen Neffen.

Céline weiß das. Bei ihrem letzten Besuch hat der Onkel ihr sogar gesagt, dass beide Testamente in den Nachttischschubladen liegen. Sie hatte gesagt, er solle sie beim Notar abgeben oder bei irgendeiner offiziellen Stelle. Der Onkel hatte gekichert, na ja, keine schlechte Idee, aber getan hat er nichts. Das war seine Art. Er widersprach selten, lebte nach dem Prinzip des geringsten Widerstands.

Nun, leider ist das Testament von Tamara verschwunden, fährt Philippe fort. In der Schublade des Nachttischs wurde nur eine Fotokopie gefunden, eine verdammte Fotokopie.

Eine Fotokopie? Ist das sicher? Céline lächelt, obwohl es nichts zu lächeln gibt.

Ja, fährt Philippe fort, der Notar hat gesagt, er habe das Papier gewissenhaft unter die Lupe genommen. Und eine Fotokopie ist leider kein gültiges Dokument.

Alle sprechen jetzt gleichzeitig. Céline hört zu, versteht noch nicht ganz die Tragweite. Außerdem hat sie Hunger. Und der Hunger trübt ihre Auffassungsgabe. Erst Paulines Stimme erreicht sie wieder, laut, übertrieben artikuliert. Ihre Schwester bildet eine Drei mit den Fingern, als spräche sie mit einer Ausländerin.

Tante Tamara ist drei Stunden, nur drei Stunden nach Onkel Simon gestorben, also wurde sie drei Stunden lang seine Erbin, bevor sie ihn eingeholt hat. Verstehst du?

Jedes Wort.

Das bedeutet, dass das gesamte Vermögen für drei Stunden von Simon an Tamara vererbt wurde — und weil von Tamara kein richtiges Testament vorliegt, vererbt sie nun alles dem nächsten Angehörigen. Und das ist Bernards Mutter. Catherine.

Die flotte Kati?, sagt Céline.

Die flotte Kati, Tante Tamaras Schwester, selbstsicher, siebenundachtzig Jahre alt und geldgieriger als ein Mafiaboss.

Die flotte Kati, sagt Pauline, denkt natürlich an ihren geliebten Sohn, verstehst du?

Ja, Céline versteht: Bernard wird nicht gern auf das komplette Vermögen des Onkels und der Tante verzichten, wenn ein tückischer Zufall es ihm in den Schoß wirft. Er ist zwar Rentner, aber er war mal Wirtschaftsanwalt.

Unsere einzige Hoffnung ist, sagt nun Philippe, dass Kati und Bernard die Fotokopie als echtes Dokument anerkennen. Das wäre gerecht. Aber wir sind einzig und allein auf ihren guten Willen angewiesen.

So ist das, sagt Aline, die bisher gar nichts gesagt hat.

Céline fällt auf, dass Alines Stimme gar nicht so alt klingt wie am Telefon. Ihr gefällt auch das kleine, ohnmächtige Lachen ihrer älteren Schwester.

Was sagt Hélène dazu?

Bislang noch gar nichts, sagt Philippe.

In Célines Kopf verschwimmen alle Eindrücke und Gedanken, die Müdigkeit, die Trauer um ihre Tante und ihren Onkel, die Freude über das Wiedersehen der Geschwister, der Ärger wegen dieser Offenbarung. Sie steht neben sich, aber ja, sie sieht ein, wie unerfreulich diese Testamentsgeschichte ist, vor allem für Pauline und ihren Mann, die sich seit Jahren um die beiden gekümmert und sie mit gepflegt haben.

Sie werden sich nicht trauen, euch derart zu übergehen, versucht sie, die Geschwister zu beruhigen.

Philippe schweigt, Aline stimmt zu, Pauline hält das für naiv und schüttelt ihre braun gefärbte Johanna-von-Orléans-Frisur — seit jeher schulterlang. Sie will damit ihre abstehenden Ohren verbergen.

Ihr Vater etikettierte die Geschwister stets: Aline war die Schöne, Céline die Intellektuelle, Pauline die Lustige, Philippe der Sportliche.