Maman - Sylvie Schenk - E-Book

Maman E-Book

Sylvie Schenk

0,0

Beschreibung

Sylvie Schenks neuer Roman - "Ein tief berührendes Lesevergnügen." Franziska Hirsbrunner, SRF2 Kultur

Eine Annäherung an die eigene Mutter und eine schmerzhafte Abrechnung: 1916 wird Sylvie Schenks Mutter geboren, die Großmutter stirbt bei der Geburt. Angeblich war diese eine Seidenarbeiterin, wie schon die Urgroßmutter. Aber stimmt das? Und welche Geschichte wird den Nachkommenden mit auf den Weg gegeben? Als Kind leidet Sylvie Schenk unter dieser Unklarheit, als Schriftstellerin ist sie deshalb noch immer von großer Unruhe geprägt. Mit poetischer Präzision spürt sie den Fragen nach, die die eigene Familiengeschichte offenlässt. „Maman“ ist waghalsiges Unterfangen und explosive Literatur zugleich. Nach „Schnell, dein Leben“ hat die Autorin erneut einen Text voll Schönheit und Temperament geschrieben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das ist das Cover des Buches »Maman« von Sylvie Schenk

Über das Buch

Eine Annäherung an die eigene Mutter und eine schmerzhafte Abrechnung: 1916 wird Sylvie Schenks Mutter geboren, die Großmutter stirbt bei der Geburt. Angeblich war diese eine Seidenarbeiterin, wie schon die Urgroßmutter. Aber stimmt das? Und welche Geschichte wird den Nachkommenden mit auf den Weg gegeben? Als Kind leidet Sylvie Schenk unter dieser Unklarheit, als Schriftstellerin ist sie deshalb noch immer von großer Unruhe geprägt. Mit poetischer Präzision spürt sie den Fragen nach, die die eigene Familiengeschichte offenlässt. »Maman« ist waghalsiges Unterfangen und explosive Literatur zugleich. Nach »Schnell, dein Leben« hat die Autorin erneut einen Text voll Schönheit und Temperament geschrieben.

Sylvie Schenk

Maman

Roman

Hanser

Für die Enkel und Urenkel von Cécile

Bockspringen

Lass uns Bockspringen

über die Schmerzen des Tages

in weichen Mulden landen

in der Schürze der Hebamme

wiedergeboren werden

»Unsere Mutter, die sprach nur mit der Wäsche und mit Babys.« So habe ich es gerade zu meiner Schwester Pauline am Telefon gesagt. Mit welcher Stimme habe ich da gesprochen? Mit meiner Alltagsstimme oder mit einer Kleinmädchenstimme? Mit meiner Bühnenstimme? Oder mit einer Stimme, die mir schon nicht mehr gehörte? Eine Stimme, die sich im Kunstflug der Worte selbstständig macht und nun zur Stimme dieses Textes wird?

Ich schreibe hier »Text«, weil ich noch nicht weiß, ob ich einen Roman schreibe und weil »Text« und »Textil« zusammenhängen. Meine Mutter war die Tochter und Enkelin von Seidenarbeiterinnen aus Lyon.

Mamans Geburtsname war Renée Gagnieux, dieser Name steckt in mir, dreht sich schon lange unter meiner Brust, viel schneller, seit meine Schwester Lisa in den Archiven von Lyon recherchiert hat. Etwas Hartes und Krummes und Hakeliges wie ein Fragezeichen. In meiner Mutter selbst rumorte ihre unbekannte Mutter, Cécile Gagnieux, die sie verdrängt, verschluckt und nie verdaut hat. Sie hat nicht mal ihren Namen erfahren. Auch das Leben von Cécile will ich in diesen Text einflechten, um endlich die Fragen zu beantworten, die meine Mutter sich wahrscheinlich gestellt hat — damit sie Ruhe gibt, damit ich selbst endlich meinen Frieden finde. Der Text wird gespickt sein mit den bei mir unbeliebten Adverbien »wahrscheinlich« und »vielleicht«, es wird ein approximativer Text sein, ein sich annähernder Text. Ich habe früh gespürt, dass das Rätsel um ihre Herkunft das Leben meiner Mutter ausgehöhlt hat, eine mittelalterliche Tropfenfolter. Unruhe breitete sich auch in Hirn und Herz ihrer Kinder aus. Nun, da keine Frage sich selbst beantworten kann, muss ich nach Antworten suchen.

Zwischen den Fronten

Ich habe mich oft gefragt, ob ich lieber eine andere Mutter gehabt hätte, eine Mutter, die einen anregenden Dialog mit mir geführt hätte, eine wie die Mutter meiner Schulfreundin Suzanne, eine solide Frau, die Erdkunde unterrichtete, Esperanto lernte, Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir las, den Maler Picasso schätzte, eine erziehende Mutter, deren Töchter Klavierunterricht bekamen, die nach den Hausaufgaben schaute und wusste, wo es langging. Nein, ich denke nicht, dass ich mir eine andere Mutter gewünscht habe. Ich möchte nicht dahin gehen, wo es langgeht, auch wenn ich immer noch keinen ausgeprägten Orientierungssinn habe. Ich stelle meine Mutter nicht infrage. Ich habe sie geliebt, wie man ein seltsames Wesen liebt, das zu einem gehört, ein Geheimnis, das man bewahrt. Eine Raritätenmutter, die man beschützen muss, auch wenn ich sie manchmal abstoßend fand. Ich wurde streitlustig, sobald jemand aus der bürgerlichen Familie meines Vaters die kleinste Kritik gegen sie äußerte. In seiner schrecklichen Familie wurde meine Mutter als Idiotin abgestempelt, ich hasste diese arroganten Lyoner Ärsche. Ich wünschte der Mutter meines Vaters den Tod, aber sie lebte lange.

Maman hat uns in die Welt gesetzt und wild wachsen lassen wie Unkraut. Es hatte Vorteile. Dank ihres Spleens bekamen wir frische Luft. Wir haben mit ihr keine Zärtlichkeiten ausgetauscht, sie hat uns nicht viel beigebracht, das Übliche vielleicht, was gerade passte oder sich unbedingt gehörte, und das auch nur wie nebenbei, weil es eben nicht zu ihr gehörte. Aber lieber nichts als etwas Künstliches, Steifes, Prätentiöses. Sie mochte Blumen vom Wochenmarkt, Blumen von den Feldern. Ich brachte ihr Sträuße mit wilden Narzissen, Kornblumen, Anemonen von meinen kleinen Fluchten in die Berge mit. Sie bedankte sich freundlich und freudlos. Sie beherrschte keinerlei Kunst, bevorzugte triviale Lektüren, strickte Pullis, einfache Muster, und nähte, aber schlecht (fürchterliche Trägerkleider für meine Schwester Pauline und mich, hellblaue Falten, als Latz ein Herz, und für meinen Bruder ein Hemd mit zu großem Kragen, er sah aus wie der kleine Lord Fauntleroy). Sie schwieg viel. Ich habe nie gewusst, ob sie nachdachte, träumte, sich erinnerte oder Pläne schmiedete. Sie war ein stummer Mensch mit blauen Augen und einem Verstand, der damit beschäftigt war, seine Mängel zu kaschieren.

Ich wohne in Deutschland und meine Schwester Pauline hat mir neulich eine Tüte Papillotes, französische Weihnachtspralinen, geschickt. In jeder findet man ein Zettelchen mit einem Sprichwort oder einer Weisheit. Bei der ersten, die ich öffnete, fand ich ein Zitat von Konfuzius: »Der größte Reisende macht eine Rundreise in sich selbst.« Vorerst muss ich Mamans No Man’s Land kartieren und bereisen, damit sie Konturen und ein Relief annimmt, damit sie nicht verloren geht.

Vielleicht sitzt meine Mutter an der Quelle meiner von Neid und Faszination gemischten Furcht vor Intellektuellen, vor Menschen, die mit abstrakten Begriffen jonglieren, vor überheblichen Besserwissern aus gebildeten Familien, auch vor starken und MeToo-Frauen, die Bescheid wissen, gescheit reden und recht haben, überhaupt vor positiven Menschen, die ihre dunklen Seiten verleugnen, auch vor denen, die sagen: »Jeder ist seines Glückes Schmied« oder »Der Tod gehört zum Leben« oder »Gib der Bettlerin nichts, sonst bist du ein Teil ihres Problems«. Ich stehe auf beiden Seiten. Einerseits auf der Seite der Studierten, der Ärzte, der Professoren mit großen Bibliotheken, der doppelzüngigen Rechtsgelehrten, der politisch korrekten Lehrer, andererseits auf der Seite der Ungebildeten, der Einfachen, der Stummen, der Loser, der Idioten, der Ängstlichen, der Abhängigen, der Irrenden. Ich bin da, bin dazwischen, als Künstlerin zwischen den Fronten, als Schreibende. Worte sind flüssiges Leben, sie sickern in die Spalten des Alltags.

Die Unglückliche

Maman war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte. Sie war mysteriös, ja vielleicht beschränkt, eine, die kniend vor offenen Kleiderschränken leise erzählte, so leise, dass man sie nicht verstehen konnte. Im Vorbeigehen hörte man nur ein schwaches Murmeln und sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Man verhielt sich diskret, als würde sie im Beichtstuhl knien, ging weiter. Sie war authentisch und verlogen, falls das Unterlassen auch Lügen und nicht nur Verschlossenheit bedeutet. Sie, ihre Adoptiveltern, mein Vater, dessen Familie, alle haben uns, ihren Kindern, ihre Herkunft verheimlicht. Sie war eine, die schwieg und sich schämte, dabei zu sein, weil ihre Eltern und Schwiegereltern sich ihrer Abstammung schämten und sie verschwiegen, aber als Zahnarztfrau wollte sie standesgemäß leben: mit Dienstmädchen und Pelzmantel. Sie hatte keine Moral, aber zwei Prinzipien. Erstens: nicht unpünktlich zum Essen kommen, »Kinder, euer Vater wartet nicht gern«, zweitens: bitte, bitte nicht unverheiratet schwanger werden, lieber abtreiben, wenn wir jemanden finden, der es tut. Unter ihren Kindern mochte sie am liebsten den Jüngsten oder die Jüngste. Sie liebte Säuglinge, weil sie unschuldig, unkritisch und von ihrer Mutter ganz abhängig sind. Sie konnte sie festhalten. Sie war die Lebensquelle dieser Wesen. Sie sang schief, aber für Babys hat sie versucht, Wiegenlieder zu summen. Sie hatte keine Stimme und auch keine Milch und musste uns, Pauline und mich, in der Kriegszeit mit dem Fläschchen ernähren, aber es waren die besten Momente ihres Lebens: Sie hielt in den Armen einen kleinen warmen Körper. Das Baby lebte, aß, verdaute, es weinte, es quietschte vor Vergnügen. Sie empfand, denke ich, beim Füttern eines Kindes eine große Ruhe. Niemand verurteilte sie, niemand lachte über sie, ihr zahnloses Kind lächelte sie an. Diese Augenblicke waren real und ideal. Sie spürte sie durch und durch. Das Baby und sie waren da, echt, sichtbar. Der Zauber verschwand, wenn ein Säugling zum Kind wurde, weglief, einen eigenen Willen entwickelte, die Tür hinter sich zuschlug, freche Antworten gab. Es gibt ein Foto aus den Fünfzigerjahren von ihr und uns größeren Kindern. Wir gehen ernst und zerknittert mitten auf einer schmalen Straße in Gap, an ihrer rechten Hand meine Schwester Pauline, ich an der Hand von Pauline, an der linken Hand meiner Mutter mein Bruder Philippe (das letzte Kind war noch nicht geboren, das älteste zu Hause), wir nahmen die gesamte Breite der Straße ein. Wir sehen aus wie eine Girlande nach einem Fest. Ich selbst war erst zwei Jahre alt und schon die ältere Schwester von jemandem, von Pauline.

Als Teenager forderte ich Maman immer wieder heraus, schüchterte sie ein. Ich provozierte sie gern, trieb sie zum Äußersten, dann schlug sie mich, im Grunde nur, weil sie um sich schlug. Was ich damals gewiss mehr liebte als sie, war die Natur, die die Alten pathetisch, aber treffend, »Mutter Natur« nannten.

»Unsere Mutter«, sagte ich zu Pauline, »die sprach nur mit der Wäsche und mit Babys.« Es stimmte. Das Baby aber, das nur ein Wort am Telefon war, rundete sich in mir ab, nahm eine Urform an, bekam einen Babyleib — und schrie. Sie war es. Maman kam am 29. Dezember 1916 um 17 Uhr in Lyon als Renée Gagnieux zur Welt. Ihre Mutter Cécile starb eine Stunde später.

Cécile stirbt (1)

Bald werden die Glocken am Krankenhaus Hôtel-Dieu sechsmal läuten. Der eilig gerufene Priester hat ihr die letzte Ölung gespendet, eine Hospizschwester sitzt an ihrem Bett und wartet geduldig auf den nahen Tod der alten Gebärenden. Vielleicht lässt die Krankenschwester ihren Rosenkranz zwischen den Fingern gleiten oder sie wirft einen schnellen Blick auf Le Progrès, die Tageszeitung vom 29. Dezember 1916, die auf einem Beistelltisch liegt. Sie betrachtet voll Ehrfurcht das Foto von zwei Helden aus Verdun, der eine hat einen Verband um den Kopf, der zweite steht auf Krücken, zwei der exemplarischen Sieger an der Front, die die Deutschen zum vorläufigen Rückzug gezwungen haben. Die Nonne freut sich über die Niederlage der Deutschen. Sie weiß nicht, dass der Krieg noch zwei Jahre dauern und Millionen Tote fordern wird. Die Nonne seufzt oder hustet, raschelt mit der Zeitung, Céciles Augenlider aber sind zu schwer, sie nimmt nichts davon wahr. Sie hört auch nicht mehr, dass die Frau, erschrocken von dem Wort »Inferno«, Verdun als Inferno, die Zeitung wieder zusammenfaltet, sich am Waschbecken die Hölle aus den Händen reibt, dann ans Fenster tritt. Die Nacht ist hereingebrochen, bald werden die Straßenlaternen leuchten. Sie trottet zum Bett der alten Gebärenden, um den schwachen Puls zu prüfen, ja, die arme Sünderin lebt noch, jedoch wird sie nie erfahren, dass sie ein Mädchen zur Welt gebracht hat, nach ihrem Wunsch Renée genannt, traurig für die Frau, traurig für die kleine Bastardin, traurig für uns alle, man sollte zum barmherzigen Gott beten, dass Er die Waise zusammen mit ihrer Mutter zu sich nimmt, denn was wird aus dem winzigen, einsamen Ding, falls es bei dem Federgewicht überhaupt am Leben bleibt?

Ich lege mich zu Cécile und flüstere ihr ins Ohr, dass aus Renée eine Mutter werden wird, mit fünf Kindern, zehn Enkelkindern und neunzehn Urenkeln.

Cécile stirbt (2)

Vielleicht sieht sie noch ihr Leben vorüberziehen. Oder sie erblickt darin nur das Großgedruckte, die Überschriften, ein paar Schwarz-Weiß-Bilder, so wie die wachende Krankenschwester, die nun die Zeitung zerknüllt, in den Papierkorb wirft und gleich wieder herausfischt und glättet, im Gefühl, den zwei Helden von Verdun ein zweites Mal Verletzungen zugefügt zu haben, ach Gott, die Krücken zerknittert, den Verband und die Nase darunter zerfurcht. Sie streicht das Blatt glatt, legt es zurück auf den Tisch, wäscht sich erneut die Hände, kramt wieder ihren Rosenkranz aus der Tasche. Lieber Gott erbarme dich dieser Sünderin, lass sie zu dir ins Himmelreich steigen. Cécile aber klettert gerade rittlings auf das weiße Pferd eines Karussells, ein Jahrmarkt, 1875. An diesem Frühlingssonntag strahlt die Sonne über die Stadt. Mit einer Hand über den Augen blinzelt das Kind zu seiner Mutter (der habe ich die Lippen rot geschminkt und einen kecken Hut aufgesetzt) und deren Begleiter, die neben dem Karussell stehen. Cécile guckt, ob die Mutter guckt, als sie die Pferdemähne streichelt, die sich glatt und kalt anfühlt. Und dann startet das Karussell, das ein Junge und ich zusammen antreiben und schieben, Farben fließen im Kreis, die Kinder kreischen und winken, auch Cécile beginnt zu kreischen und zu zeigen, wie sehr sie sich amüsiert. Als sie an ihrer Mutter vorbeireitet, merkt sie, wie der Mann den Kopf zum Nacken der Mutter senkt und ihn küsst, sie ruft, aber schon sind die beiden aus ihrem Blick geraten, bald sind sie wieder da, sie ruft und ruft abermals, die Mutter schaut jetzt leider zum Mann hoch, der Cécile gleich vom Pferd hebt, weil die Runde so schnell vorbei ist. Später begleitet der Mann sie nach Hause. Cécile läuft und trödelt hinterher. Das Pflaster der Straße glänzt. Am Rand wächst Löwenzahn. Sie pflückt eine Pusteblume, bläst sie weg und staunt über die weiße Milch an ihren klebrigen Fingern. Ich schicke ihr den Mann, der sie hochhebt und huckepack trägt. Cécile drückt sich gegen seinen Rücken und spürt seine Wärme. Sie riecht an seiner Haut und lässt den Kopf auf seine Schulter sinken. Der Mann wiehert und trottet die Straße hoch. Ich bleibe mit Cécile draußen, als ihre Mutter sich mit dem Mann in das einzige Zimmer der Wohnung einschließt. Wir sitzen auf den Steintreppen vor dem Wohnhaus. Sonne und Wind fegen über den Bürgersteig. Eine Eidechse sonnt sich auf einem Pflasterstein. Eine Katze stürzt sich drauf und Cécile schreit und macht die Augen zu. Als sie sie wieder öffnet, sind Katze und Eidechse verschwunden. Als der Onkel geht und Cécile wieder ins Zimmer darf, ist ihre Mutter dabei, sich zu waschen, Mit der linken Hand hält sie den hochgerafften Rock. Sie hat zwei lange weiße Beine, die Cécile plötzlich an die gestreckten Hinterbeine des weißen Karussellpferds erinnern. Dann ordnet die Mutter ihr Kleid, zeigt auf den Geldschein auf dem Tisch. »Geh zum Metzger«, sagt sie.

Cécile mag nicht.

»Deine Mutter ist eine Hure«, hat der Metzgersohn einmal zu ihr gesagt.

»Und dein Vater ihr bester Kunde«, hat Cécile geantwortet, wie von der Mutter eingetrichtert.

Cécile stirbt (3)

Woran stirbt sie? An Hämorrhagie, Blutvergiftung, totaler Erschöpfung? Das Krankenhaus Hôtel-Dieu in Lyon, alle Krankenhäuser sind überfüllt. Ob es für eine bettelarme Frau ohne Mann und ohne Begleitung, Zeit und Kapazitäten genug gibt? Taucht in den Nebelschwaden ihres Komas der Metzger, andere Freier oder eine Jugendliebe auf? Sie ist 1871 geboren und hat nur 45 Jahre gelebt, ein kurzes, beschissenes Leben zwischen zwei Kriegen gegen Deutschland. Denkt sie noch kurz an ihre Kinder? Renée war ihr drittes Kind, alle drei von unbekannten Vätern, und die zwei ersten sind längst tot. In ihrem Totenschein wurde sie als ménagère registriert, der Deckname von Berufslosen, Hausfrauen, Putzfrauen, Dienstmädchen, Straßenmädchen, in anderen Dokumenten als Hilfsweberin oder Wäscherin. Man darf annehmen, dass sie sich wie viele Arbeiterinnen auch prostituierte, im Kielwasser ihrer ebenfalls ledigen Mutter. Nach einer Revolte im Jahr 1831 hatten die Seidenarbeiter, Frauen und Männer, vergebens versucht, einen Mindestlohn auszuhandeln. Drei Jahre später gab es eine neue Rebellion, ebenfalls blutig im Keim erstickt, die 320 Tote forderte, allein in La Croix-Rousse. In der Dritten Republik bis ins zwanzigste Jahrhundert konnte keine Seidengehilfin, Wäschefrau, Dienstmädchen, Munitionsfabrikarbeiterin ohne Mann ihre Kinder mit ihrem Hungerlohn ernähren, der nur die Hälfte des ohnehin miserablen Männerlohns betrug, und viele überlebten nur dank der Prostitution. Der Generalgouverneur der Stadt Lyon war äußerst besorgt, nein, nicht um das Elend der Mädchen und Frauen, sondern um die »durch die illegale Prostitution bedrohte Gesundheit der Truppen«. Man müsse schnell und unmittelbar den Feind (die Syphilis) angreifen, der »noch gefährlicher sei als der Boche«. Und was hat Maman uns Mädchen, Aline, Pauline, Lisa und mir, anderes weitergegeben als diese Verachtung und Selbstverachtung der Frauen, die obskure Angst vor Männern, vor der Liebe, vor der Schande, »Mädchen, passt auf, alle Männer sind Schweine«, als wäre auch unser Vater ein Schwein, dieser mal melancholische, mal cholerische Mensch ein Schwein? Das Grunzen im Bett meinte sie, dem Mann haftet seine Geilheit an, dem Tier die Brunst, das hatte mit Liebe nichts zu tun. Das Schwein, das Maman in jedem Mann zu erkennen glaubte, das Schwein grunzte als Freier, als die Menge der Freier ihrer Mutter und ihrer Großmutter, ohne dass sie irgendetwas über sie erfahren hätte. »Mädchen, alle Männer sind Schweine.« Unbewusst geißelte sie mit dem primitiven Spruch die bürgerliche Ordnung wie die patriarchale Haltung einer Epoche, die bis zur Erfindung der Pille andauert: Die Hilfsarbeiterin eines Seidenproduzenten, die Wäscherin, das Dienstmädchen eines bürgerlichen Hauses konnte ihre Kinder nicht von ihrem Lohn ernähren. Im Ersten Weltkrieg sowieso nicht. Prostitution war gang und gäbe. Die Männer bumsten und zahlten. Die Frauen entbanden und starben.

Cécile stirbt (4)

Sie verblutet. Die inneren Blutungen breiten sich in der Bauchhöhle aus, sickern sogar aus dem grob zusammengenähten Kaiserschnitt. In ihrem letzten Erinnerungsfluss ragt jetzt das Kruzifix des großen Asylsaals, la salle d’asile, in dem sie mit hundert Kindern zusammen die ersten Buchstaben lernte. Ich stehe hinter ihr, als eine Nonne wie jeden Morgen auch ihr das Gesicht und die Hände wäscht, bevor sie mit den anderen kleinen Kindern der Armen aus La Croix-Rousse auf den Bänken Platz nimmt und, im Angesicht Christi, die großen Farbtafeln der vier Jahreszeiten auf dem Land ansehen oder Buchstaben und Silben im Chor schreien: »ba ca da fa — be ce de fe — bi ci di fi — bo co do fo — bu cu du fu.«

Unzählige Kinder verheddern sich im Geschrei, es ist eine sinnlose Schlacht der Vokale, die Partisanen von Bucudufu gegen die Anhänger von Bocodofo, jedem seinen Schlachtruf, während Cécile aufs Geratewohl »bicidifi«, »becedefe« säuselt. Die Buchstaben an der schwarzen Tafel sind näher als die Sterne im Nachthimmel und doch so viel fremder. Manchmal singen die Kinder religiös abstruse und patriotische Lieder, »Der kleine Jesus geht in die Schule« oder »Ich bin Jeanne la Lorraine«. Cécile erfährt, dass die Heldin, Jeanne die Lothringerin, die den Vornamen von Céciles Mutter trug, Schafe und Ziegen hütete, bevor ihr ein Erzengel erschien und ihr befahl, in den Krieg gegen die Engländer zu ziehen, die sie gefangen nahmen und auf einem Scheiterhaufen verbrannten. Bei lebendigem Leib verbrennen tut schrecklich weh. Unsere Feinde sind nicht mehr die Engländer, sondern die Preußen. Die spießen kleine Kinder auf. Wer und wo sind die Preußen? Pschschscht … Man darf nicht fragen, man darf nicht sprechen, jetzt nicht. Auch viel später, in den Fünfzigerjahren durfte man das nicht. In der Pause begleite ich Cécile auf den Hof, wir blinzeln in die Sonne und bilden große Kreise mit den anderen Kindern. Wir singen: »Können sie Kohlköpfe pflanzen? Wir, wir, wir können es.« Cécile hat dauernd Hunger. Sie betrachtet die anderen, fast alle Kinder haben ihren Proviant aufgegessen, nur der blasse, dickere Junge, der immer hustet, kaut noch an seinem Brot und beißt mit seinen schlechten Zähnen winzige Stücke davon ab. Wir nähern uns ihm, zeigen auf das Brot: »Gibst du mir was ab?« Der Junge schaut Cécile lange an, mit blassen Augen, er runzelt die Stirn und eine kleine weiße Narbe gerät in Bewegung, dickflüssiger Schleim fällt auf das Brot. Wir drehen uns um, sagen nur: »Friss deinen Rotz selbst, du Idiot.« Dann gehen wir zu einer Nonne und brummen nur das Wort: »Hunger.«

Die Nonne sagt: »Cécile, mein Kind, jedes Opfer bringt dich dem Himmel näher.«

Cécile will keinen Himmel, nur ein Stück Brot und wir wiederholen höflicher, aber lauter: »Ich habe Hunger, Schwester.«

Die Nonne verwandelt sich, ihre Augen glühen gelb, sie zeigt die Zähne: »Dann friss deine Hand!«

»Friss deine Hand!«, singen die Kinder gemeinsam, »Friss, friss deine Hand!«

Wir gehen erst mit zehn Jahren in die Schule, erst seit 1881 kostet sie kein Schulgeld mehr, eine Hauptschule, endlich laizistisch, und wir schauen auf eine Zeitungsseite, die der Lehrer zeigt, darauf ein Foto: Ein kleiner Mann mit gefesselten Händen geht die Treppe hoch zur Guillotine, er trage, erklärt der Lehrer, das Hemd der Vatermörder. Schon als Kind und später bei seinen Herren habe er Sachen mitgehen lassen. Der Lehrer zeigt auf ein Kind, das in der Ecke der Klasse steht, ein Schild »Dieb« auf dem Rücken. Die Hinrichtung des Mörders haben sich fünftausend Leute angeschaut. Das Blatt wird weitergereicht. Wir zittern.

»Das kann dir nicht passieren«, flüstert Céciles Banknachbarin, »du hast keinen Vater.«

Cécile stirbt (5)

Ihr Puls schlägt nur schwach.