Eine Kroatin in der Schweiz - Mirjana Moser - E-Book

Eine Kroatin in der Schweiz E-Book

Mirjana Moser

0,0

Beschreibung

Mirjana Moser, gebürtige Kroatin, lebt seit 1983 in der Schweiz. In ihrer essayistischen Prosa erzählt sie, wie sie vierzig Lebensjahre in der Schweiz erlebt und wie sich die schweizerische Gesellschaft in diesem Zeitraum verändert hat. Ausserdem sinniert sie über: Warum die Heimat so wichtig und die Integration so schwierig ist, was Frausein in der Schweiz bedeutet, wie es ist, in einer fremden Sprache zu schreiben und zu kommunizieren, was die grössten Unterschiede sind zwischen der Schweiz und Kroatien, warum Jugoslawien zerfallen ist und was die Schweiz zusammenhält. Und sie wagt einen Blick in die Zukunft. Ein tiefgründiges, überraschendes und authentisches Zeitzeugnis, geschrieben aus einer besonderen Perspektive.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 159

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Zoe und Marco – für ihre farbige, friedliche Zukunft, in der Schweiz, in Kroatien, oder wo immer ihr Herz sie hinführen wird.

Inhalt

Vorwort

Eine Kroatin in der Schweiz – Wo ist das Herz?

Eine Eingewanderte

Heimweh

Heimat kommt mit

Wir

Wo ist mein Herz?

Schweizer Eingewanderte – Millionenschwere Unterschiede

Ich als ein Beispiel

Arbeitskräfte

Saisonniers

Kurzzeitaufenthalter

Grenzgänger

Sans-Papiers

Reiche Eingewanderte

Flüchtlinge

Das Land der glücklichen Menschen

Brain Drain

Der neue Wind

Was wenn?

Die Sprache Kroatisch trifft Berndeutsch

Emojis, Muttersprache, Fremdsprache

Als ich nach Bern kam

Mein Schreiben

Sprachliche Entwurzelung

Schweizerische Mehrsprachigkeit

Zugehörigkeit und die Renaissance der Dialekte

Zugehörigkeit – Warum Heimat so wichtig und Integration so schwierig ist

Zugehörigkeiten

Die Heimat

Heimatliche vs. nationale Zugehörigkeit

Integration

Zugehörigkeit der Secondos

Feste feiern und Zusammensein – Miteinander und nebeneinander

Der Unterschied

Märkte und Cafés

Feste feiern

Manchmal ist es doch zu viel – oder auch nicht

Zusammensein – eine Frage der Identität

Frauen – Genderstern zwischen Herd und Chef:innen-Etage

Als ich in die Schweiz kam

Unika

Veränderungen

Der Kampf geht weiter

Warum ist Jugoslawien zerfallen? Was hält die Schweiz zusammen?

Der Krieg, den niemand wollte

Meine jugoslawische Heimat

Der Zerfall

Geschichte der Kriege und der Zerfälle?

Warum zerfällt die Schweiz nicht?

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Gesellschaftsstrukturen

Balkan trifft Schweiz

Gesellschaftsstrukturen

Stärken und Schwächen – und die Formel der Diktatur

Migration und Gesellschaftsstrukturen

Balkanstrukturen in der Schweiz

Die Entwicklung?

Im Fenster der Geschichte – Die neue schweizerische Identität und mein Beitrag dazu

Im Fenster der Geschichte

Stabilität

Technologieentwicklung

Einwanderung

Die Schweiz von heute

Wie weiter?

Und ich?

Vorwort

Ende 2020 leben in der Schweiz 8,6 Millionen Menschen. 38 Prozent davon sind Eingewanderte. Ein Drittel von ihnen ist eingebürgert, zwei Drittel nicht, damit hat die Schweiz einen der höchsten Anteile ausländischer Bevölkerung in Europa. In jedem zweiten Schweizer Haushalt lebt mindestens eine Person mit Migrationshintergrund. Von 7,2 Millionen in der Schweiz wohnhaften Personen über 15 Jahre sind 2,2 Millionen nicht in der Schweiz geboren. Die grösste Gruppe Schweizer Eingewanderter bilden Personen aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens – eine halbe Million. Jeder zehnte Kosovoalbaner lebt in der Schweiz. Albanisch ist, nach Schweizerdeutsch, Französisch, Hochdeutsch, Italienisch, Englisch und Portugiesisch, die meistgesprochene Sprache in Schweizer Haushalten. 35 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind römisch-katholisch, 25 Prozent evangelisch-reformiert, 5,7 Prozent muslimisch und 0,2 Prozent jüdisch. Fast 800 000 Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. All das geht aus den statistischen Daten des Bundesamtes für Statistik und des Staatssekretariats für Migration hervor. Interessante Zahlen. Falls Zahlen an sich interessant sein können. Mein ganzes Berufsleben habe ich mit dem Interpretieren von Zahlen verbracht, bedeutungsvolle Zusammenhänge gesucht, um dahinter versteckte physikalische und biologische Prozesse besser zu verstehen. Nun möchte ich Migrationsdaten auf ähnliche Art und Weise analysieren. Es geht mir darum herauszufinden, welche Gesichter, welche Menschen, welche Geschichten sich hinter diesem statistischen Vorhang verstecken. Diese Untersuchung fällt mir leichter, weil ich selber ein Teil dieser Zahlen bin. So muss ich den Vorhang nicht ziehen, um an die Geheimnisse dahinter zu gelangen, sondern kann diese in aller Ruhe von innen her betrachten. Allerdings ist mein persönliches Migrationsdossier dünn und unspektakulär. Ich kam wegen meiner Doktorarbeit aus Kroatien, ehemals Jugoslawien, in die Schweiz, und blieb aus Liebe zu einem Schweizer da. Eine Geschichte ohne Spannung und Dramatik. Und doch. Bei näherer Betrachtung merkte ich, dass dieses auf mich bezogene, eng abgegrenzte Migrationsfeld in vielen Punkten sehr wohl die Gesamtheit der Migrantinnen und Migranten betrifft. Im Vordergrund stehen Fragen der Identität und der Zugehörigkeit. Wer bin ich? Wohin gehöre ich? Bin ich mit meinem Schweizerpass nach vierzig Jahren in der Schweiz tatsächlich Schweizerin geworden? Kann frau Schweizerin sein, ohne Schweizerdeutsch zu sprechen, und kann frau überhaupt diesen unmöglichen Dialekt lernen, wenn ihr als Kind nie Kinderverse in dieser Sprache vorgelesen wurden? Dazu kommen die Fragen von Integration und Akzeptanz. Werde ich in der Schweiz je als eine Schweizerin akzeptiert, so wie ich in Kroatien Kroatin bin – bedingungslos, ohne Fragen und Vorbehalte? Wo liegen die Grenzen der Integration und der Akzeptanz? Wie ist es, wenn eine voll integrierte Ausländerin, oder noch schlimmer, eine in der Schweiz geborene Migrantin der zweiten Generation immer noch als Fremde behandelt wird – wegen ihres Aussehens oder des iċ im Namen? Gibt es da grundlegende Unverträglichkeiten?

Und dann: das Heimweh – die grösste Gemeinsamkeit von uns Homo migrans. Wir alle, Eingewanderte und auch Ausgewanderte, egal woher und aus welchem Grund wir aus- und wohin wir eingewandert sind, wir alle kranken ausnahmslos an der gleichen Störung, an der schon die Schweizer Söldner im 17. Jahrhundert litten und teilweise zugrunde gingen – an der Sehnsucht nach der Heimat, die sie, die wir, verlassen haben. Warum ist dem so? Was ist überhaupt die Heimat, warum ist diese so wichtig, und was bedeutet Heimweh? Es gibt keine messbaren Grössen, die den Phänomenen von Heimat und Heimweh eine quantitative Dimension geben würden, nur millionenfache Geschichten von Heimweh-Betroffenen, darunter meine eigene.

Meine Erfahrungen und Beobachtungen beziehen sich auf das mir zugängliche Zeitfenster von vierzig Jahren. Es ist eine sehr bewegte Zeit mit einem Millenniumswechsel in der Mitte, mit einem Krieg in Jugoslawien und der anschliessenden Überflutung der Schweiz mit den sogenannten Jugos, mit der Bildung einer neuen europäischen Ordnung. Und all dies ist begleitet von einer enormen technischen und technologischen Entwicklung. Verbesserte Mobilität sowie das Aufkommen neuer Telekommunikations- und Informationstechnologien machen die Welt kleiner und zugänglicher – und die Migrationsströme stärker und globaler. Die Voraussetzungen für eine neue Ära des Homo migrans werden geschaffen. Vereinfachte Verbindungen zur Heimat ermöglichen es heute Ausgewanderten, schnell und einfach hin- und herzupendeln und, mit Ausnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen, jederzeit wieder zurückzukehren. Das erleichtert die Entscheidung wegzugehen. Auswanderung ist immer öfter ein Experiment und nicht aus Not entstanden, auch wenn Kriege und wirtschaftliche Gründe immer noch die Hauptgründe dafür sind. Die grössten Migrationsströme bewegen sich von dort, wo ein Krieg ausbricht und es wenige Ressourcen gibt, dorthin, wo Frieden herrscht und demgemäss alles im Überfluss vorhanden ist.

Dadurch ist die politisch stabile, reiche Schweiz zum ausgesprochenen Einwanderungsland geworden. Diesbezügliche statistische Zahlen sind eindeutig: Seit den 1980er-Jahren ist der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz von 15 auf 25 Prozent gestiegen. Damals war in nur 5 Prozent der Haushalte die Hauptsprache keine Landessprache, 2018 waren es viermal mehr. Als ich in die Schweiz kam, war der Anteil an Personen mit einem Migrationshintergrund Jugoslawien sehr klein, heute bilden sie die grösste Gruppe der Eingewanderten. Damals waren dunkelhäutige Menschen auf Berner Strassen eine Seltenheit, heute nicht mehr. Der Anteil an aussereuropäischen Personen hat sich in den vierzig Jahren fast verdreifacht, von 6 Prozent im Jahr 1980 auf 17 Prozent im Jahr 2020.

Diese starke Migration führt unausweichlich zu sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen – so unaufhaltsam wie Kontinentalverschiebungen. Die Schweiz ist heute eine andere als vor vierzig Jahren. Ist das gut oder schlecht? Wohin führt diese Entwicklung? Ist der Kurs, den die Schweiz mit ihrer Zuwanderungspolitik fährt, falsch? Wenn möglich bitte wenden? Ist das noch möglich? Ist das überhaupt nötig?

Die nachfolgenden Beiträge beinhalten meine persönlichen Erfahrungen, Beobachtungen und Reminiszenzen zum Thema Migration, so wie ich sie in den letzten vierzig Jahren erlebt habe, erweitert durch allgemein zugängliche Statistiken, Berichte und Recherchen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität. Es ist ein Bild der Schweiz aus der Perspektive einer Homo migrans, einer Schweizerin mit kroatischem Migrationshintergrund. Trotzdem hoffe ich, dass es helfen kann, das komplexe Migrationswesen der heutigen Zeit und der dadurch verursachten Veränderungen besser zu verstehen.

Anmerkung: Dieses Buchprojekt entstand vorwiegend in den Jahren 2021 und 2022. So beziehen sich die meisten Zahlen und Fakten auf Veröffentlichungen aus diesen Jahren. Die Folgen der Corona-Pandemie und insbesondere des Krieges in der Ukraine werden viele dieser Zahlen nachhaltig verändern. Diesbezügliche Auswertungen waren bei der Fertigstellung meines Buchprojekts aber noch nicht vorhanden. Wo möglich, habe ich auf denkbare Abweichungen hingewiesen.

Wie sich die Migration in Zukunft entwickeln wird, ist schwer vorherzusagen. Die Prognose ist umso schwieriger, als die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg, aber auch die politischen Diskussionen zur schweizerischen Neutralität und die kriselnde Beziehung zur EU auf einen Umbruch hindeuten. Ich konnte aber feststellen, dass meine persönlichen Erfahrungen, Beobachtungen und Reminiszenzen in dieser neu entstandenen Situation keinesfalls an Aktualität verloren haben. Im Gegenteil.

Eine Kroatin in der Schweiz – Wo ist das Herz?

Eine Eingewanderte

Es ist der 13. November 2020. Ich koche Trockenbohnen mit Sauerkraut, Speck und Wurst und habe das digitale Küchenradio angestellt, ein wunderbares Geschenk meines Mannes. Während des Kochens höre ich immer Nachrichten, Reportagen und Hintergrundinformationen aus aller Welt. Heute wird, nebst den Zahlen zu Covid-19, über die neuesten Daten des Bundesamtes für Statistik berichtet. Von etwa 7 Millionen Personen der ständigen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren in der Schweiz haben 38 Prozent einen Migrationshintergrund. Etwa zwei Drittel sind Ausländerinnen und Ausländer, ein Drittel davon hat den Schweizer Pass. Ich gehöre dazu. Ich bin eine Schweizerin mit Migrationshintergrund. Mein Migrationshintergrund ist Kroatien. Dort bin ich geboren, zur Schule gegangen, und dort habe ich studiert.

Nun, was bedeutet es für die Schweiz, mich und fast 3 Millionen Personen ausländischer Herkunft im Land zu haben? Was sind wir für Menschen? Ticken wir anders als die echten Schweizerinnen und Schweizer? Werden wir das wunderbare Schweizer Uhrwerk aus dem Takt bringen? Oder haben wir es schon getan? Und was bedeutet es für mich persönlich, eine Schweizerin mit kroatischem Migrationshintergrund zu sein?

Seit vierzig Jahren lebe ich in der Schweiz. Fast gleich lange bin ich mit einem Schweizer, genauer mit einem Berner, verheiratet. Unsere Kinder sind in einem Berner Vorort geboren und aufgewachsen. Die Sprache in unserer Familie ist Berndeutsch. Bern ist mein Zuhause. Hier fühle ich mich wohl und akzeptiert. Ich besitze den Schweizer Pass, gehe wählen und abstimmen, ärgere mich über die schweizerische Politik, verteidige jedoch die Bundesverwaltung, wo ich jahrzehntelang gearbeitet und meine Rente verdient habe. Mit grösster Wahrscheinlichkeit werde ich hier sterben. Aber bis ans Lebensende werde ich nicht sagen können, wir Schweizerinnen oder mir Schwiizerinne. Warum nicht? Weil ich erst mit dreissig Jahren hierhergezogen bin. Weil mein Akzent unweigerlich zur Frage führt, woher ich komme. Weil ich in einer Gruppe echter Schweizerinnen nicht als ihresgleichen wahrgenommen werde und weil ich mich selber nicht so fühle, oder besser gesagt, ich habe Hemmungen, mich so zu fühlen.

Ein Unterschied zwischen einer echten Schweizerin und mir liegt schon auf der Hand, beziehungsweise auf dem Teller. Keine echte Schweizerin, und auch kein echter Schweizer, kocht zum Mittagessen Trockenbohnen, das Standardgericht der kroatischen Küche. Auf den Märkten Kroatiens gibt es unzählige Stände mit verschiedensten Sorten Trockenbohnen. Mir sind die hellen, zarten Butterbohnen die liebsten. Auf Schweizer Märkten sind keine Trockenbohnen zu finden und in den Verkaufsregalen der Supermärkte liegen nur aus China importierte Borlotti-Bohnen.

Trockenbohnen sind aber kein Grund für meine Hemmungen, mich als Schweizerin zu bezeichnen. Der Hauptgrund ist die Sprache. Ich rede zwar Berndeutsch, es ist die Sprache in unserer Familie, die mir sehr gut gefällt. Ich empfinde es als Privileg, in die magische Welt dieser Mundart eintauchen zu können, diese lustigen, nicht übersetzbaren Idiome zu benutzen, das Eigentümliche in den Liedern der Berner Troubadoure zu entdecken. Als ich nach Bern kam, bemerkte ich gleich, wie schwer es der Familie meines Mannes und seinen Freunden fiel, mit mir Englisch oder Hochdeutsch zu sprechen. Sie waren nicht sie selber. Auch die übersetzten Berner Witze waren nicht lustig. Somit erlernte ich den Dialekt. Aber halt erst mit dreissig Jahren – zu spät. Die Sprache ist die Seele eines Volkes. Erst wenn wir uns in unserer gemeinsamen Muttersprache verständigen können, wenn wir genau verstehen, warum jemand diesen und nicht einen anderen Ausdruck wählt, rein intuitiv, nicht intellektuell, wenn wir aus der Seele sprechen können, unsere Gefühle, die Wut, die Liebe, die Enttäuschung, die Freude, mit genau passenden Worten ausdrücken können, wenn wir gemeinsame Kinderverse kennen, in unserer Sprache schimpfen, wenn wir die Pointen der Witze in unserem Dialekt verstehen, erst dann sind wir Wir. Schweizerdeutsch oder irgendeine Fremdsprache in dieser Tiefe zu erlernen, ist für erwachsene Eingewanderte kaum lernbar. Wenn ich heute, nach fast vierzig Jahren in Bern, Berndeutsch spreche, mich dabei stark bemühe und obendrauf einen guten Tag erwische, kommt trotzdem immer die Frage, woher ich komme und wie ich den Dialekt so gut gelernt habe. Das ist frustrierend, aber das ist nun mal so.

Mittlerweile lebe ich länger in der Schweiz als in Kroatien, und trotzdem – ich bin, und bleibe, Kroatin.

In Kroatien fragt mich niemand, woher ich komme und wo ich so gut Kroatisch gelernt habe. Kroatisch ist und bleibt meine Muttersprache, Kroatien ist und bleibt meine Heimat - so wie die Mutter die Mutter bleibt, egal was passiert.

Trotzdem. Ein bisschen, oder auch ein bisschen mehr, bin ich auch Schweizerin geworden. Ich schaue keine kroatischen Nachrichten mehr, ausser wenn sich dort ein Erdbeben oder Vergleichbares ereignet. Ich lese fast ausschliesslich Bücher in deutscher Sprache, sogar in Dialekt. Irgendeinmal habe ich aufgehört, die Publikationen in Kroatien mitzuverfolgen. Ich weiss nicht mehr, wann und wieso. Nur wenn meine Freundinnen mich auf ein gutes Buch aufmerksam machen oder es mir schenken, lese ich es. Dann merke ich, dass sich die kroatische Sprache nach dem Krieg durch eine Art sprachliche Bereinigung verändert hat. Wie vieles andere auch. Diese Veränderungen habe ich nicht unmittelbar mitbekommen, und so ist mir meine alte Heimat bis zu einem gewissen Grad fremd geworden, natürlich nicht bis auf die Stufe einer Fremden. Und die Schweiz ist mir heimisch geworden, doch nicht bis auf die Stufe einer Einheimischen.

Zu Hause sein in der Fremde und fremd sein in der Heimat - das ist der Fluch von uns Migrantinnen und Migranten der ersten Generation. Begleitet von den Fragen: Was bin ich nun, mehr Kroatin, weil ich in Kroatien geboren und die ersten dreissig Jahre meines Lebens dort gelebt habe, oder Schweizerin, wo ich seit vierzig Jahren lebe und wo ich wahrscheinlich sterben werde? Als wer fühle ich mich? Als wer werde ich wahrgenommen?

Wenn ich meine Kinder fragen würde, ob ich mehr Schweizerin oder Kroatin sei, würden sie antworten: «Kroatin», oder um mir zu schmeicheln: «Beides, aber eher Kroatin.» Was mein Mann antworten würde, das weiss ich genau – es sei gar nicht wichtig. Vielleicht hat er recht. Vielleicht ist es nicht wichtig. Trotzdem. Es wurmt mich – wo gehöre ich eigentlich hin?

Meine französische Freundin, sie ist in der gleichen Situation wie ich, obwohl sie eine der hiesigen Landessprachen spricht und somit keine Sprachbarriere hat, beschreibt unser Einheimisch- und Fremdsein so: «Hier in der Schweiz bin ich ‹la petite française›, aber wenn ich in der Bretagne meine Eltern und alte Freunde besuche, bin ich für sie ‹la petite suissesse›.»

Ich fragte unseren befreundeten, kalabrischen Handwerker, der länger in der Schweiz lebt als ich, mit einer Schweizerin verheiratet ist und erwachsene Kinder hat, wo er mehr zu Hause sei – hier in der Schweiz bei seiner Familie, oder in Kalabrien, wo er ein Haus gebaut hat und alle seine Ferientage verbringt. «Klar hier», sagte er, «hier bin ich mehr zu Hause, aber mein Herz ist in Kalabrien.»

Auch ich bin in der Schweiz zu Hause. Das ist unbestritten. Aber wo ist mein Herz? Ist es in Kroatien? Als meine Mutter starb, habe ich ihre Wohnung in Zagreb übernommen. Mein Mann und ich verbringen jeweils den grössten Teil unserer kroatischen Ferien in einer Mietwohnung am Meer, was wir nicht ändern möchten. Trotzdem musste ich diese überflüssige, unrentable Wohnung in Zagreb haben. Das war keine Kopf-, sondern eine Herzenssache. Ich wollte in Kroatien etwas besitzen. Weil ich immer noch dorthin gehöre, gehören möchte. Weil mein Herz immer noch dort ist? Obwohl ich nicht weiss und es mich nicht interessiert, wer der neue Bürgermeister von Zagreb ist.

Heimweh

Ich musste die Wohnung in Zagreb übernehmen, weil ich an dieser heimtückischen Krankheit leide, die ein junger Basler Arzt namens Johannes Hofer in seiner «Dissertatio medica de Nostalgia, oder Heimwehe» schon im Jahr 1688 beschrieb. Er hatte festgestellt, dass Schweizer Söldner, die in der Fremde dienten, eine dermassen grosse Sehnsucht nach ihrem Zuhause verspürten, dass sie krank wurden. Nostalgia oder Heimwehe nannte er die Krankheit. Nostalgija ist auch das kroatische Wort für Heimweh. Seit 1925 gilt Nostalgie nicht mehr als Krankheit, sondern nur als Störung. Meinetwegen. Die Tatsache ist, dass wir, die Eingewanderten der ersten Generation, egal woher und aus welchem Grund wir gekommen sind und wie gut wir uns am neuen Ort eingelebt haben und wohlfühlen, wir alle, ohne Ausnahme, leiden an dieser Störung – an der Sehnsucht nach der Heimat, die wir verlassen haben. Davon betroffen sind in der Schweiz 2,2 Millionen Menschen und auf gleiche Art und Weise auch die erste Generation der 800 000 schweizerischen Ausgewanderten. Erstere verspüren die Sehnsucht nach einer der 120 Heimaten weltweit, die anderen sehnen sich nach der Schweiz.

Am Anfang des Aufenthalts im Ausland ist Heimweh kein Thema. Entweder planen wir, nach kurzer Zeit wieder in die Heimat zurückzukehren, oder die Aussicht auf ein besseres Leben oder die pure Abenteuerlust lassen einfach keinen Platz dafür. Aber irgendwann, überraschend und in einer unerwarteten Ausprägung, taucht sie auf, diese Heimwehstörung, auch wenn sie in dem Moment noch nicht als solche erkannt wird. Ein Beispiel: Kaum in der Schweiz niedergelassen, stellt frau fest, dass es eine hundsgewöhnliche džezva, einen Kaffeekocher, in jedem kroatischen Haushalt ein obligatorisches Utensil, hier nirgends zu kaufen gibt und dass türkischer Kaffee, in einem gewöhnlichen Topf gekocht, nach gar nichts schmeckt. Die Sehnsucht nach dem Duft und dem Geschmack eines richtig guten türkischen Kaffees aus der rostigen, alten Email-džezva, rot mit weissen Tupfen und Rostflecken an den Rändern, schleicht sich ein. Also wird beim ersten Heimatbesuch eine džezva besorgt – eine rote mit weissen Tupfen. Damit ist die erste Heimwehstörung behoben und sie zieht sich in einen latenten Zustand zurück.

Heimat kommt mit

In der ersten Zeit im Ausland wird nach vorne geschaut. Ich bin frisch verliebt, lerne die Sprache, finde neue Freunde, bekomme eine Arbeit, mein Mann und ich gründen eine Familie, kaufen ein Haus. Ich geniesse meine neue, mir gegenüber wohlgesinnte Umgebung sehr. Ich werde Schweizerin. Bern wird immer mehr mein Zuhause.

Gleichzeitig mit meiner Integration findet ein paralleler Prozess der Interaktion statt, den man in meinem Fall als Kroatisierung