Eine kurze Geschichte der Zukunft - Ille Gebeshuber - E-Book

Eine kurze Geschichte der Zukunft E-Book

Ille Gebeshuber

0,0

Beschreibung

Ille Gebeshuber ist eine der gefragtesten Expertinnen im Bereich der Bionik und Nanotechnologie. In diesem Buch wirft die gläubige Wissenschaftlerin einen Blick in die Zukunft der Menschheit. Auch wenn der Unterschied zwischen realer und nicht-realer Welt nur noch marginal sein wird, muss die Zukunft aus ihrer Sicht nicht düster sein. Ihre These: Wurde die Vergangenheit vom Glauben dominiert, und die Gegenwart vom Wissen, könnten in der Zukunft Glauben und Wissen verschmelzen. Am Ende ist für sie eines sicher – die Zukunft der Menschheit wird viel dynamischer und spannender verlaufen als wir heute annehmen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 306

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-​Book 978-​3-​451-​81979-​7

ISBN Print 978-​3-​451-​38852-​1

Inhalt

1.Vorwort

2.Die Zukunft –​ Verstehen

2.1Im Informationssturm

2.1.1Der böse Traum

2.1.2Der sogenannte Mehrwert

2.1.3Das Daedalus- und Ikarus-Problem

2.2Der Weg nach Babylon

2.2.1Der erweiterte Mensch

2.2.2Die parallelen Ebenen

2.2.3Divergenz –​ die Schlange im Paradies

2.3Hoffnung

2.3.1Neue Lehren –​ Neue Lehrer

2.3.2Die zweite Renaissance

2.3.3Utopia

3.Fazit: Was tun?

Quellennachweise

Über die Autorin

1. Vorwort

The important thing in science is not so much to obtain new facts as to discover new ways of thinking about them.

William Lawrence Bragg

Vorworte sind ein Problem. Sie sind nicht wirklich Teil des Buches und werden darum oft auch nicht gelesen. Und das ist schade. Denn einige der besten Texte, auf die ich in meinem Leseleben traf, waren in Vorworten versteckt. Dies liegt vielleicht daran, dass die meisten Bücher einer Konvention folgen, die einen gewissen Schreibstil und eine konkrete Vorgehensweise fordern. Eine Art Unterwerfung unter die Ernsthaftigkeit des gedruckten Wortes. Das Vorwort bietet hier eine kleine Flucht. Der Autor ist diesem Zwang im Vorfeld der literarischen Ordnung, die sich in Form des Inhaltsverzeichnisses manifestiert, noch nicht völlig unterworfen. Im Vorwort herrscht eine gewisse Freiheit. Und diese Freiheit will ich nutzen mit dem Ziel, dass dieses Buch zu einem einzigen Vorwort wird. Einem Beginn für ein Buch, das die Leser schlussendlich selbst zu Ende denken. Denn nicht das ist wertvoll, was in einem Buch geschrieben steht, sondern das, was die Menschen daraus mitnehmen. In diesem Sinne – willkommen am Anfang unserer Reise.

In meinem letzten Buch habe ich beschrieben, wie meine Reise ins alternative Denken an der Grenze zwischen Großstadt und Dschungel begann. Die Wunder der Natur und deren Fähigkeit, den Härten der Umwelt mit immer neuen Lösungen beizukommen, haben mich fasziniert und sind zum Schwerpunkt meiner Forschungstätigkeit geworden. Nun, einige Jahre und viele Gedankengänge später, habe ich meine Überlegungen zu einigen Aspekten niedergeschrieben, die das Geschick der Menschheit und deren Verhältnis zur Natur bestimmen. Und das war nicht einfach. Auf meinen Reisen und auch beim Studium von Publikationen, Berichten und Datensammlungen sind mir viele Dinge bewusst geworden, die mich traurig gemacht haben. Die Art und Weise, wie wir unseren gegenwärtigen Lebensstandard aufrechterhalten, ist falsch. Wir verdrängen und verschmutzen die belebte Natur und haben verschiedenste eng miteinander verwobene und voneinander abhängige lebensnotwendige, globale Abläufe gestört. Im Rahmen der Notwendigkeiten und Sachzwänge, die dem Zusammenleben der Milliarden Menschen auf dieser kleinen Erde entspringen, kann oft keine Rücksicht auf das Schicksal der Schwächeren genommen werden. Und schon gar auf die für uns so notwendige Natur. Es läge hier auf der Hand, Schuldzuweisungen zu verteilen und auf das kollektive Versagen auf allen institutionellen, kulturellen und wirtschaftlichen Ebenen hinzuweisen.

Aber wäre das gerecht? Auch wenn sich viele die menschliche Gesellschaft als gierigen Moloch vorstellen, sind die Intentionen der einzelnen Akteure oft anständig und gut. Vielmehr ist die Menschheit ein aus dem Gleichgewicht geratener Riese, der in immer größeren und ungelenken Schritten vorwärts stolpert. Dies, um entweder schwer zu fallen und in einer ultimativen Katastrophe auszusterben, oder doch die „sanfte Landung“ zu erreichen, die wir uns für unsere Nachkommen wünschen. Diese so erstrebenswerte sanfte Landung kann nur erreicht werden, wenn wir alle die Kraft haben, gute, langfristige Lösungen für möglichst Viele zu erreichen. Und dies ist, wie ich in diesem Buch zeigen werde, gar nicht so einfach. Ein erster Schritt, um bessere Lösungen zu erreichen, wird sein, die Menschheit von einem der größten Missverständnisse aller Zeiten abzubringen: Wir sind nicht die Herrscher der Natur, sondern ein Teil von ihr. Ein Teil, der sich nahezu unlösbaren Problemen gegenübersieht, der aber noch eine gute Chance hat, die Dinge zum Positiven zu verändern. Man muss es nur wollen und versuchen, anders zu denken.

Aus dieser Sicht ist Ordnung eine zeitliche Abfolge von Gleichgewichten, die sich langsam verschieben. Von den Sonnen des Universums über die Entstehung des Lebens bis hin zu unserer Gesellschaft und ihrem Verhältnis mit der Umwelt. Die Ordnung, die uns umgibt, ist ebenso komplex wie die Wunder der DNA. Und vielleicht noch viel komplexer, denn wir erkennen erst jetzt langsam, in welchem Zusammenhang sich Materie, Raum, Zeit und Energie zueinander befinden. Die Entstehung von Gleichgewichten, die Beeinflussung der Ordnungen untereinander und die daraus folgende Selbstregelung von Systemen folgt Gesetzen, die sich im Moment noch unserem Verständnis entziehen. Vielleicht existiert das wichtigste Naturgesetz außerhalb unserer Vorstellungskraft. Nur ganz knapp, aber doch in seiner Gesamtheit unerreichbar. Vor allem auch, weil jedes System nach den Gesetzen der Urordnung unvollkommen sein muss und unser Denken in diesem Zusammenhang keine Ausnahme darstellen kann. Selbst der weiseste Mensch kann aus dieser Perspektive nur „nicht dumm“ sein. Das bedeutet aus der Sicht der Ordnung der Dinge aber noch lange nicht, dass er wirklich „intelligent“ ist. In gewisser Weise mag dies vielleicht auch gut sein. Denn eines Tages wird der Mensch, ausgesetzt auf diesem endlosen Ozean von vermeintlich wissenswerten Dingen, erkennen müssen, dass es nicht wichtig ist, alles zu wissen, sondern so viel wie möglich zu verstehen. Es ist unser Leben, um das es geht. Um das Wesentliche. Und von den Dingen nur zu wissen, oder an sie zu glauben, ist hier zu wenig.

Aufbauend auf diesen Gedanken soll das hier vorliegende Werk kein Fachbuch sein. Es wurde bewusst einfach gehalten, um als Basis für eigene Überlegungen der Leserinnen und Leser zu dienen. Es soll eine Anregung sein, einige Zusammenhänge zu erkennen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Dieses Buch soll einen Ausblick auf eine mögliche Entwicklung der Zukunft geben. Gezwungenermaßen durch die verzerrte Optik unserer Zeit; denn es ist ja nahezu unmöglich, den gegenwärtigen Denkmodellen zu entfliehen und dennoch verständlich zu bleiben. Aber es wird meiner Meinung nach eine Zukunft sein, die sich anders entwickeln wird, als viele denken, und die Anlass zur Hoffnung gibt. Es wird natürlich nicht alles eitel Wonne sein, und die von so vielen herbeibeschworenen Katastrophen können natürlich, schon rein statistisch gesehen, nicht ausbleiben; aber es gibt gewichtige Gründe, auch das Positive zu sehen. Die Menschheit hat einen weiten Weg zurückgelegt und schon oft gezeigt, dass sie zu signifikanten Veränderungen im Stande ist. Denn nichts ist so stark wie Ideen, deren Zeit gekommen ist. Es ist nicht undenkbar, dass die globale Zivilisation plötzlich zusammenbrechen muss; aber eine Alternative, also eine sanfte Landung der Menschheit in der Zukunft –​ mit einem weltweit hohen Lebensstandard, einem leicht rückläufigen Bevölkerungswachstum und einer sich erholenden Umwelt –​ ist durchaus möglich. Dazu bedarf es aber einer grundlegend anderen Philosophie, die in der Folge auch andere Menschen hervorbringen wird. Diese würden uns heutigen Menschen ähnlich fremd vorkommen, wie wir den Menschen des Mittelalters erscheinen müssten. Und es steht zu befürchten, dass der Mensch der Zukunft unserer heutigen Zeit kein gutes Zeugnis ausstellen wird. Diese Wahrheit ist zugegebenermaßen unangenehm; vielleicht einer der Gründe, warum alle wollen, dass die Welt sich ändert, aber die Mehrheit der Menschen konkreten Veränderungen dennoch negativ gegenübersteht. Wir müssen uns bewusst werden, dass es an uns liegt, wie wir mit unserem Umfeld umgehen und wie einst über unsere Zeit geurteilt werden wird.

Ich habe lange darüber nachgedacht, wie einige Gedanken ­einfacher zu vermitteln wären, ohne im Detail zu trocken zu werden. Auch sollen sich einige Gedankengänge aus den Zusammenhängen erschließen. Aus diesem Grund soll dieses Buch den Leser auf eine Art Reise in die Zukunft mitnehmen. Mit der ers­ten Renaissance endete vor 500 Jahren das Mittelalter. In der Zukunft wird es eine zweite Renaissance geben, die ich für mich als „Reveillance“, das Erwachen, bezeichne. Diese zweite Renaissance wird meiner Meinung nach ähnliche Veränderungen bringen wie die erste und weitere Meilensteine des Denkens und der Wissenschaft ermöglichen. Leider im Positiven wie im Negativen. Neue Gedankenwelten werden niemals ohne Schmerzen und Konflikte geboren.

Auf Basis einer vereinfachten Illustration der Entwicklung ­unseres Denkens ist es möglich, einige Annahmen über die Zukunft und über absehbare Entwicklungen zu tätigen. Eine Perspektive, die zwar weniger düster ist als die gegenwärtigen Standardszenarios, die aber im Rückblick einige Entwicklungen unserer Zeit offenbart. Am Ende ist aber eines sicher –​ die Zukunft der Menschheit wird in den kommenden Jahrzehnten viel dynamischer und spannender verlaufen, als wir heute annehmen. Und das ist gut so, denn Veränderung tut not.

Ille C. Gebeshuber

Wien im September 2020

2. Die Zukunft –​ Verstehen

Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.

Albert Schweitzer

Die Zukunft ist uns allen wohlbekannt. Denn zu leben bedeutet, sich auf einer ständigen Reise in die Zukunft zu befinden. Mit jeder Sekunde, die vergeht. Die Erinnerung an die Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit machten, formen aus uns jene Menschen, die wir heute sind und die den immer neuen Herausforderungen des Lebens im Jetzt begegnen müssen. Dabei schaffen die vergessene Vergangenheit, die verkannte Gegenwart und die verborgene Zukunft Probleme, die uns im Alltag ständig begegnen. Und so kompliziert diese Probleme oft für den einzelnen Menschen sind, umso schwerwiegender sind sie für die ganze Menschheit. Scharen von Experten versuchen den Weg unserer Zivilisation in der Zeit zu ordnen und die daraus gewonnenen Informationen zu einer kontinuierlichen und schlüssigen Geschichte zu verarbeiten. Am Ende entsteht daraus unsere Realität, die eine Verbindung von vielen individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Wahrheiten ist. Wir nehmen diese Realität so gut es geht an, um in ihr unsere Lebenszeit zu verbringen.

Dabei bedeutet leben, dass wir entsprechend unseren Absichten, Bedürfnissen oder Verpflichtungen agieren. Wir müssen planen. Dazu ist es notwendig, dass wir uns ein Bild von der Zukunft machen, und unsere Umgebung hilft uns dabei. Ob es Fahrpläne sind oder Sprechstunden, Termine oder Feiertage: Die Kenntnis der Zukunft gibt uns Sicherheit. Schwierig wird es, wenn wir weiter in die Zukunft sehen wollen. Bei mehr als zehn Jahren werden Vorhersagen schwer und ab 25 Jahren, also einer Generation, ist der Blick in die Zukunft fast schon ein Rätselraten. Dies vor allem auch, weil die Entwicklung der Menschheit nicht konstant voranschreitet. Zeiten mit rasanten Entwicklungen wechseln sich mit geruhsameren Perioden ab, kleine, anfangs oft als insignifikant wahrgenommene Dinge werden zu bestimmenden Größen unseres Alltags. Viele hielten die ersten Automobile für einen Irrweg, die ersten Computer für überflüssig und die ersten Mobiltelefone für Spielzeuge reicher Manager. Aber diese Erfindungen veränderten ihre Zeit und unsere Leben bis heute. Das macht verlässliche Vorhersagen sehr schwer. Fest steht nur, dass jede Periode einmal endet und Veränderungen oft schnell und unerwartet kommen. Und wie es gegenwärtig aussieht, stehen uns solche Zeiten unmittelbar bevor. Alles wird anders werden. Vor allem, weil wir alle lernen müssen, anders zu denken.

Wie aus den Ereignissen der letzten Jahrhunderte hervorgeht, sind weder der Glaube noch das Wissen dazu angetan, die großen Probleme der Menschheit zu lösen. Beide verlangen im Rahmen der notwendigen Autorität absolute Unterwerfung der Menschen. Ein Hinterfragen der „Wahrheiten“ ist oft nicht erwünscht. Natürlich hat das System Wissen dem System Glauben, das Gott in den Mittelpunkt stellt, einiges voraus. Die Einführung des auf der Natur aufbauenden wissenschaftlichen Systems erlaubte nicht nur die Schaffung einer gesicherten Wissensbasis, sondern auch die Vernetzung des Wissens. Die gesellschaftliche Entwicklung, die auf diesem Wissen aufbaute, führte zum Umdenken der Renaissance. Das Interesse der Menschen an ihrem Umfeld wuchs, und wer um die Dinge weiß, den kümmern sie. Das Wissen hat, durch den mit ihm zusammenhängenden Humanismus, die Welt ebenso zum Besseren verändert, wie es dazu führte, dass im Namen von Ideologien schreckliche Dinge passierten. Die Wunder der Technik, die so vielen Menschen Gutes bringen, führten zu einem ständigen Hunger nach mehr. Inzwischen bedroht der ungebremste industrielle Raubbau die für unser Überleben essentielle Natur.

Jede Lösung führt zu einem neuen Problem. Dies vor allem, weil es für die Menschheit durch Sachzwänge erforderlich ist, die erprobten Methoden immer und immer wieder zu verwenden, auch wenn sich diese inzwischen als nachteilig herausgestellt haben. Zu wenig Wissen hat die gleichen Auswirkungen wie zu viel Wissen. In beiden Fällen ist der Mensch gezwungen zu glauben, da er die Informationen entweder nicht besitzt oder nicht mehr verarbeiten kann. Er muss in der Folge Autoritäten vertrauen, die blinden Gehorsam fordern. Die moderne Gesellschaft geht noch weiter und überschüttet den Menschen mit Überinformation, die zu einer generellen Orientierungslosigkeit führt. Daraus resultiert die Sehnsucht nach einer Vereinfachung der Welt –​ eine Sehnsucht, die den Erfolg von falschen Informationen begünstigt. Erkannte Fehlinformation führt zu einem Vertrauensverlust gegenüber dem System, während erfolgreich Fehlinformierte zu fanatischen Gläubigen werden können. In beiden Fällen wird das Gegenteil von dem, was die Humanisten am Beginn ihrer idealistischen Reise anstrebten, erreicht. Diese Perspektive macht nachdenklich. Es kann sein, dass die Folgen derartiger Entwicklungen dazu führen werden, dass unsere Zeit, die eigentlich den Höhepunkt der Zeit des Wissens darstellen sollte, in Zukunft als das zweite Mittelalter, das Mittelalter des Wissens, bezeichnet werden wird.

Eine Flut von Wissen ist somit genauso schlecht wie fanatischer, blinder Glaube, der nichts hinterfragt. Wie kann man dem begegnen? Die Lösung ist bekannt. Menschen, die verstehen, sind viel schwerer zu verführen. Und um Verständnis zu erzeugen, genügt es, einen anderen Zugang zum Wissen zu wählen. So ist weniger Information, gut verarbeitet, oft ebenso erfolgreich wie eine Flut von Information, die mit großem Aufwand gesichtet werden muss. Es wird wohl notwendig werden, in der generellen ­Ausbildung das additive Wissen der Wissenschaft – also Wissen, das einfach auf einen Haufen geworfen wird – durch mutatives, also angepasstes Wissen zu ersetzen, das auf ein klares, aber anwendbares Minimum reduziert wird. So seltsam es klingt, aber der antike Ansatz der Scholastik, der in der Hochphase des Glaubens den Mangel an Wissen durch systematische Überlegungen ausgleichen sollte, kann den modernen Menschen auch heute noch helfen, die immer komplexer werdende Welt zu verstehen. Dazu ist es im Prinzip nur notwendig, ein gesichertes Maß an Grundwissen zu besitzen und die Regeln zu kennen, mit denen die verfügbaren Informationen zu neuem Wissen zusammengefügt werden können. Mit der Erfahrung einiger Lebensjahre können wichtige Zusammenhänge so selbst erkannt und verstanden werden. Der riesige Haufen an Wissen, der parallel dazu in unserem System verfügbar ist, kann zur Überprüfung der eigenen Schlüsse herangezogen werden.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich daran, wie mich als kleines Mädchen die braun-​schwarzen Körnchen in den verblühten Pflanzen im Garten meiner Kindheit verwundert haben. Nach langen Monaten des Beobachtens verstand ich, wozu diese Körnchen gut sind. Die selbständige Erkenntnis von Samen bezeichne ich immer noch als meine größte wissenschaftliche Entdeckung.

Die Vorgehensweise des selbständigen Denkens ist auch deswegen wichtig, weil sich der Alltag und die Arbeitsweise infolge des technischen Fortschritts verändern. In der Vergangenheit leitete sich Erfolg davon ab, dass Menschen das Wissen mit sich trugen und im Rahmen ihrer Arbeit verwendeten. Relativ einfache Tätigkeiten wurden unter Verwendung des Wissens, über das die Menschen verfügten, bewältigt. Quantitatives Wissen, also klassische Bildung, war in der nicht digitalen Welt essentiell. Mit dem wachsenden und immer leichter zugänglichen Informationsangebot in den modernen Netzwerken wurde es zusehends wichtig, die verfügbaren Informationen zu verbinden und aufzubereiten. Weit komplexere Tätigkeiten können nun durch konkrete Erfahrung und die Fertigkeit, Informationen in den elektronischen Datenspeichern zu finden, bewältigt werden. Das qualitative Wissen rückt in den Vordergrund. Das Problem ist, dass durch diesen Ansatz Spezialisten entstehen, die außerhalb ihres Spezialgebietes sehr wenig wissen und noch weniger erkennen. Die Auseinandersetzung mit dem Umfeld wird zum Problem und selbst das Internet kann keine Antwort auf Fragen geben, die nicht gestellt werden. Die flexible, interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Natur bleibt auf der Strecke und somit die Fähigkeit, neue ­Lösungen zu finden.

Dies sehe ich ganz besonders in meinem Fachgebiet, der Bionik. In ihr verbinden sich Biologie, Ingenieurswissenschaften und weitere Disziplinen. Gute Bioniker sind schwer bis unmöglich zu finden; ebenso schwer ist es, eigenes Fachwissen, das über Jahrzehnte gewachsen ist, an Studierende weiterzugeben. Meistens werden auch diese zu Spezialisten in einem ganz engen Gebiet.

Die Fähigkeit neue Lösungen zu finden, ist umso wichtiger, als die Probleme der Menschheit immer drückender werden. Die Globalisierung vernetzte die Welt, aber die Auswirkungen von Massenmigration, Schädlingsbefall, Epidemien und kultureller Kontroversen könnten die kommerziellen Vorteile bei weitem überwiegen. Daher wird hinterfragt werden müssen, ob die weltweite Anwendung westlichen Profitdenkens, sowie die unangepasste Verbreitung konventioneller Industrieprozesse und -netzwerke wirklich der richtige Weg war. Die westliche Welt hat sich durch Reformen im Umwelt- und Sozialbereich von diesem Modell bereits wegentwickelt. Ähnliche Schritte werden weltweit notwendig sein. Der rapide technische Fortschritt könnte sich so durch die strategische Regionalisierung von Produktion, Verbrauch und des sozialen Kontexts weltweit in eine völlig andere Richtung entwickeln, als gegenwärtige Trends vermuten lassen. Auch wird das Leben der betroffenen Menschen sich durch die intensive Verbindung mit ihren elektronischen Helfern verändern. Neue Wege des Zusammenlebens und der Kooperation zwischen Mensch, Technik und Natur werden darob gefunden werden müssen.

Auf der Arbeitsseite der Menschen ist das Zeitalter der Digitalisierung angebrochen. Unsere Welt wird digital abgebildet und man versucht, alle Informationen und greifbaren Vorgänge möglichst automatisch zu verarbeiten. Die dynamischen Abläufe in unserer Gesellschaft können so erfasst und gegebenenfalls vorhergesagt werden. Das ist spannend und macht für viele Industriezweige Sinn. Im Prinzip wird diese Entwicklung aber überbewertet. Was sich auf der anderen Seite der Bildschirme tut, ist oft nicht relevant. Komplexe automatisierte Systeme ersetzen einfache, mit Menschen arbeitende Systeme. Die Frage ist nur, ob sie wirklich besser sind, oder ob nur mehr Intelligenz und Aufwand für deren Planung verwendet wurde. Die detaillierte Darstellung von Komplexität und deren Beherrschung macht nur dann Sinn, wenn dadurch nicht noch komplexere Systeme und somit noch unkontrollierbarere Zustände geschaffen werden. Zumal auch in der absehbaren Zukunft menschliche Arbeitskraft in ausreichendem Maße vorhanden sein wird. Generelle Richtungsentscheidungen, veränderte Leitprozesse und Lebensweisen werden in diesem Zusammenhang wichtiger sein als Effizienzsteigerungen im Sinne des Weiterbestands des bereits umstrittenen derzeitigen Systems. Kurz: Wenn immer komplexere Lösungen nur eingeführt werden, um nicht mehr zeitgemäße Systeme durch steigende Effizienz am Leben zu erhalten, kann dies langfristig nicht gelingen. Sie werden immer weniger effektiv sein. Die kommenden Veränderungen könnten einfache, konsequent umgesetzte Lösungen begünstigen, die uns helfen, ­unser System effektiver werden zu lassen. Die neue Effizienz ergibt sich dann von selbst und im besten Fall entsteht Nachhaltigkeit als emergentes Phänomen aus dem neuen System an sich.

Schon zu allen Zeiten gab es optimistische und kritische Phasen und immer behaupteten die Menschen, dass gerade ihr Jetzt besonders herausfordernd wäre. Doch nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv gesehen ist dies nun der Fall, und es ist an der Zeit, dass die Menschheit erwachsen wird. Und die gegenwärtige Krise bietet auch eine Chance: Die Menschheit stößt an die Grenzen ihrer Entwicklung und der Belastbarkeit der Natur; gleichzeitig hat sie aber ein Entwicklungsniveau erreicht, das die Einführung von wirkungsvollen technischen und organisatorischen Maßnahmen erlaubt, um dieser Krise zu begegnen. Dieser mächtige Schritt kann aber nur dann gelingen, wenn wir verstehen, dass wir selbst das Problem sind, und daran arbeiten, uns gemeinsam als Gesellschaft zu verändern. Die nächsten Kapitel sollen zeigen, wie dies geschehen kann.

2.1Im Informationssturm

Die Physik kann nur mit messbaren Kräften rechnen und so das Universum erklären, die ur-​menschlichen Kräfte, wie Liebe, Gier, Hass und Hoffnung, sind ihr naturgemäß fremd.

Ille Gebeshuber

Wenn wir an unsere Schulzeit denken, erinnern sich viele von uns an eine gute, alte Zeit. An den ersten Schultag und die Nervosität, die wir alle verspürten, als die Lehrerin die ersten Worte an die Tafel schrieb. Wir waren dort, um zu lernen, also um Wissen anzusammeln. Das erste, was wir aber in der Schule lernten, war, dem Wissen, das dort vermittelt wurde, zu vertrauen. Und dies war zunächst einfach, da wir nur das Lesen und die Grundrechnungsarten beherrschen mussten. Erst später kamen nach und nach die Gegenstände dazu, deren Wahrheitsgehalt wir nicht mehr so einfach nachprüfen konnten. Wir lernten die Entdeckungen der großen Forscher kennen und nahmen sie, ohne uns lange damit auseinandersetzen zu müssen, als selbstverständlich hin. Darunter waren so faszinierende Lektionen wie dass die Erde rund sei, das Universum viele Milliarden Jahre alt und dass Licht sich im Vakuum mit einer Geschwindigkeit von 299.792.458 Metern pro Sekunde ausbreitet. Langsam formte sich aus den vielen Schulstunden das moderne Weltbild, das wir heute fast alle teilen. Die Gesellschaft vollbringt hier ein nicht gerade geringes Kunststück, denn immerhin sind von unserer Wahrnehmung 97% subjektiv und nur 3% objektiv. Es ist also keine Selbstverständlichkeit, dass viele Menschen in vielen Bereichen das Gleiche erkennen und fühlen. Im Laufe der Reise durch die Schule wird die Ausbildung immer ernster und komplizierter. Nach und nach wird erkennbar, dass das Wissen, das uns beigebracht wurde, nur ein kleiner Teil einer riesigen Wolke von Wissen ist, das die Menschheit angesammelt hat. Aus wenigen Lehrbüchern werden viele, und junge Studierende erkennen mit glänzenden Augen, dass Universitätsbibliotheken unvorstellbar groß sind. Viele dieser Wissensspeicher haben heute einen Bestand von mehreren Millionen Büchern und Zeitschriften sowie über das Netz Zugang zu Abermillionen von elektronischen Publikationen. Niemand auf der Welt kann all das lesen oder den Inhalt auch nur erahnen. Die Bibliotheken sind Monumente der Ära des Wissens. Ihr Umfang lässt uns erkennen, dass über uns Menschen ein Sturm aus Wissen hereingebrochen ist, mit dem wir erst lernen müssen zu leben.

Um in der Welt des Wissensüberangebots zu überleben, haben die modernen Menschen sich anpassen müssen. Sie haben dazu spezielle Strategien entwickelt. Die wichtigste davon ist das Ausblenden von Informationen. Wir haben sehr gut gelernt, die vielen Werbeplakate am Straßenrand und die Annoncen auf Internetseiten zu ignorieren. Auch der Umgang mit den vielen Ergebnissen, die uns Suchmaschinen liefern, ist kein wirkliches Problem; ein schneller Blick genügt und die Suchkriterien werden weiter eingegrenzt. Zudem haben viele gelernt, sehr schnell und selektiv zu lesen. Eine Kunst, die nicht einfach ist und dabei auch in Kauf nimmt, dass so manches übersehen wird. Fehlen dann Informationen, ist dies oft kein Problem, denn die heute gezielte Suche im Internet fördert sie schnell zu Tage. Die Wissenselite von heute besteht nicht mehr nur aus Menschen, die viel wissen, sondern aus Menschen, die auf Basis ihrer Erfahrung eine Vielzahl von Informationen finden und verarbeiten können, um daraus Wissen zu erzeugen.

Und das ist extrem wichtig, denn die Diskrepanz zwischen dem, was der Einzelne wissen muss, und dem was er tatsächlich weiß oder wissen kann, nimmt zu. Der Umgang mit Information hat heute nichts mehr mit dem klassischen Umgang mit Wissen zu tun. Das meiste Wissen wird in unserer sich schnell verändernden Zeit nicht mehr für das ganze Leben gelernt, sondern es wird gezielt aufgenommen und hat ein Ablaufdatum. Lernen und Vergessen sind zu dynamisch miteinander verknüpften Prozessen geworden. Das menschliche Gehirn mit seiner begrenzten Kapazität baut neues Wissen, je nach Priorität, in die vorhandene Wissensmatrix des Individuums ein. Zum Ausgleich wird altes Wissen vergessen; vor allem das, was subjektiv nicht wichtig scheint bzw. in Zukunft vermeintlich nicht unbedingt benötigt wird. Die Reaktion der Menschen auf den gegenwärtigen Informationssturm findet in Form einer geringen Verweildauer bestimmter Informationen in den Köpfen statt. Dabei wird zwischen relevanten Informationen und kurzfristigen Gebrauchsinformationen unterschieden. Das Vergessen von Gebrauchsinformationen setzt sehr schnell ein; lediglich mit der Ausnahme, dass auf rasche Wiederbeschaffungsmöglichkeit der Information geachtet wird. Der Pfad zur Information ist im Zeitalter der Überinformation wichtiger als die Information selbst. Vergessen ist somit nicht mehr nur ein „Fehler“ im Speichern von Informationen, sondern ein für die geistige Flexibilität notwendiger Prozess.

Ein Resultat dieser Evolution der Informationsbeschaffung ist die signifikante Veränderung der herkömmlichen Denk-​ und Entscheidungsprozesse. Meinungen bilden sich nicht mehr auf Grund von Erfahrungen, sondern auf Grund von Informationen. Und da der Anteil der veränderlichen Gebrauchsinformationen an der Gesamtinformationsmenge immer größer wird, sind Meinungen in der Informationsgesellschaft durchaus volatil und die Blöcke, die das Denken der Menschen bestimmen können, mit geeigneten Methoden durchaus beeinflussbar. Das in diesem Zusammenhang auftretende Problem ist, dass sich inzwischen viele Medienkonsumenten in vielen Bereichen als Experten betrachten, weil sie die Komplexität der Zusammenhänge durch eine leichte Verfügbarkeit von Informationen unterschätzen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall; der Bereich der eigenen Expertise, also jener Bereich, den man versteht und in dem die Prozesse genau bekannt sind, wird angesichts der Wucherung des quantitativen Wissens immer kleiner. Im Endeffekt wird immer weniger von immer mehr verstanden. Und die Kenntnis der Pfade zum Wissen allein erlaubt noch keine dynamische Vernetzung des dort verfügbaren Informationen. Das klassische Nachdenken kann so nicht mehr stattfinden und die Information wird ungefiltert aufgenommen. Vor allem, wenn der Empfänger der Herkunft der Information vertraut. Überspitzt ausgedrückt könnte man behaupten, dass der Glaube an Gott durch den Glauben an die Informationsquellen abgelöst wurde. Vor allem ältere Leute mit wenig Erfahrung mit modernen Medien tendieren dazu, alles zu glauben, was im Internet steht. Sie nehmen automatisch an, das sei von einer höheren Instanz abgesegnet.

Spezifisches Wissen erlaubt den Anwendern, in Kombination mit persönlicher Erfahrung Probleme zu lösen. Die im Vergleich zum verfügbaren Wissen begrenzte Aufnahmefähigkeit des Menschen erzwingt eine Spezialisierung in einem Bereich. Unsere Gesellschaft hat im Laufe der Zeit solche Spezialbereiche definiert und das Wissen über sie im Allgemeinwissen verankert: so zum Beispiel die wirtschaftlichen Berufe und die wissenschaftlichen Fachgebiete. Menschen, die sich so spezialisieren, erhalten im Rahmen ihrer Ausbildung die Gelegenheit, sich die Grundlagen des benötigten, spezifischen Wissens anzueignen. Dieses Wissen wird in mehreren Stufen vermittelt. Im Handwerk sind dies Lehrling, Geselle und Meister; in der akademischen Welt in den meisten Disziplinen Bachelor, Master und Doktor.

Die Kompetenz von Experten ist auf einen relativ kleinen Bereich beschränkt, obwohl das Tätigkeitsspektrum und die Verantwortung sich im Fortschreiten des Berufslebens immer mehr ausweiten. Und hier tut sich ein Dilemma auf, das im gegenwärtigen System und der damit zusammenhängenden Hierarchie zu Tage tritt. Wissen verliert mit der Zeit an Bedeutung. Das, was Experten nach einiger Zeit tun und zu verantworten haben, ist nicht immer das, wofür sie ausgebildet wurden. Als Konsequenz geht viel Fachwissen verloren; auf der anderen Seite werden Fehler gemacht, die auf den Mangel an Wissen an der richtigen Stelle zurückzuführen sind. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist die Präferenz von Entscheidungsträgern, Systeme zu installieren, die selbständig arbeiten und nicht durch fehlerhaften Input gestört werden können. In Zukunft wird die Tätigkeit der Mitarbeiter sich mehr und mehr auf die Schaffung neuer Prozesse und Produkte konzentrieren. Die Abarbeitung der Standardprozesse wird automatisierten Systemen überlassen werden.

Intelligente Fertigungssysteme sind heute in der Lage, selbst komplexeste Prozesse abzuarbeiten. Dies führt teilweise zu einer Belastung der klassischen Beziehung von Mensch und Gesellschaft. Der traditionelle Beitrag des Einzelnen, also dessen Leistung, wird zunehmend von Maschinen übernommen. Darüber hinaus verstärkt die Tendenz zur Gewinnmaximierung in der Wirtschaft die Konkurrenz von Mensch und Maschine. Die stete Evolution des Werkzeugs wird diese Konkurrenzsituation in fast alle Bereiche ausweiten. Wenn die Entwicklung so weitergeht, ist zu erwarten, dass modernste automatisierte Produktionsstätten schon in absehbarer Zukunft global mit der menschlichen Arbeitskraft konkurrieren werden. Diese Entwicklung als Teil der Evolution des Werkzeugs könnte solange voranschreiten, bis auch die am schlechtesten bezahlten Arbeitskräfte keinen Kostenvorteil mehr bringen. Spätestens hier drängt sich die Frage nach dem Nutzen der ungehemmten Automatisierung auf. Sie wird der Mehrheit der Menschen immer weniger Möglichkeiten lassen, ein Erwerbseinkommen zu erwirtschaften und Sinn in ihrer Arbeit zu finden. Sie verarmen geistig wie wirtschaftlich und fallen als Konsumenten größtenteils aus. Der Wert des Menschen wird unter dieser Substitution leiden. Und ohne die Möglichkeit, zum System etwas beizutragen, fällt der früher als durchaus positiv wahrgenommene Individualismus des Menschen aus dem Rahmen. Im schlimmsten Fall würde am Ende nicht der Mensch das Werkzeug automatisiert haben, sondern das Werkzeug uns. Der für das System bequemste Mensch ist eben der berechenbare Einheitsmensch.

Der Sturm des Wissens verändert die Gesellschaft und schafft auch neue Herausforderungen. Wir sehen dunkle Pfade der Entwicklung, aber auch Wege zur Hoffnung. Wichtig ist, dass wir das vorhandene Wissen dazu verwenden, reifer zu werden sowie das weit verbreitete Quantitätsdenken durch eine höhere Wertschätzung von Qualität zu ersetzen. Doch der Weg dorthin ist weit.

2.1.1 Der böse Traum

Die einstige Vision, dass mit dem Fortschritt der Menschheit alle Probleme gelöst werden würden, ist verblasst. Der Traum von einer besseren Welt ist in unserem so skeptischen 21. Jahrhundert im Begriff, zu einem Albtraum zu werden. Es wird mehr und mehr offensichtlich, dass unsere Welt vor einer Zeit des radikalen Wandels steht. Die so erfolgreichen Methoden, die den radikalen Fortschritt der letzten Jahrhunderte ermöglicht haben, erzeugen Nebeneffekte, die die Grundlage unserer Existenz bedrohen. Um das besser zu verstehen, müssen wir uns unsere Zivilisation als Blase vorstellen, die in der natürlichen Umgebung unseres Planeten existiert. Innerhalb dieser Blase verändert der Mensch seine Umgebung massiv. Da die Menschheit ein Teil der Natur ist und unsere Zivilisationsblase nur im Kontext mit der Natur existieren kann, findet pro Zeiteinheit an den Außengrenzen der Menschheit eine riesige Anzahl von Interaktionen zwischen den beiden Bereichen statt. Und diese Grenzen zwischen Mensch und Natur sind signifikant. Man kann sie manchmal sogar sehen. An den Wildzäunen entlang der Autobahn, an den genau eingezeichneten Naturschutzgebieten oder auch nur an der Existenz von Unkrautvernichtern, die gegen natürliche Eindringlinge in unser System gerichtet sind. Diese Vorstellung erlaubt kaum die Erstellung eines genauen und auswertbaren Gesamtmodells, da die Grenze zwischen der Menschheit und der Natur extrem variabel und teilweise unbestimmbar ist. Die vereinfachte Sichtweise hat aber den Vorteil, dass der Einfluss des Menschen auf die Umwelt relativ einfach dargestellt werden kann.

Der Erfolg unserer kooperativen und kompetitiven Gesellschaften führte zu vielen Jahrhunderten des Wachstums. Relativ kleine, verstreute Siedlungsräume breiteten sich aus, wuchsen zusammen und entwickelten sich mit der Zeit zu einer globalen Zivilisation. Die Blase expandierte und drängte die wilde Natur unaufhaltsam immer weiter zurück. Neben der Ausdehnung der Blase nahm auch der innere Energieverbrauch und somit der Umsatz an Rohstoffen zu. Zuerst durch die steigende Leistungsfähigkeit der wachsenden Bevölkerung mit immer besseren Werkzeugen und später durch die Nutzung fossiler Brennstoffe und der Atomkraft. Dies bedeutet, dass der Austausch an der Grenze immer noch zunahm. Ein exponentielles, also immer steiler anwachsendes Wachstum des Ressourcenverbrauches der Menschheit war die Folge. Unser Traum war, durch die bessere Nutzung der Wunder der Natur die Menschheit in eine bessere Welt zu führen. Es kann aber auch sein, dass wir nicht anderes erreicht haben, als einfach nur zu wachsen, wie es im Rahmen der Evolution ohnehin der Fall gewesen wäre. Wir brauchen intelligente Veränderung und nicht nur pures Wachstum.

Wasser

Für viele ist es eigentlich das Selbstverständlichste auf der Welt. Sie stehen auf und betätigen den Wasserhahn, der frisches, meist reines Wasser in ihr Glas fließen lässt. Manchmal halten sie das Glas ins Licht und betrachten gedankenverloren die klare Flüssigkeit. Wie wertvoll jeder einzelne Tropfen eigentlich ist, wird kaum erkannt. Und doch ist es so, dass die Menschheit langsam verdurstet, obwohl die Erde zu über 70% von Wasser bedeckt ist. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Hier spielt unsere Abhängigkeit von Süßwasser eine Rolle, denn Meerwasser mit seinem Salzgehalt von ca. 35 Gramm pro Liter ist für uns unbehandelt nicht nutzbar. Und Süßwasser ist selten; nur etwa 2,5% des Wassers auf der Welt fallen in diese Kategorie. Wasser in der Atmosphäre sowie in Bächen, Flüssen und Süßwasserseen machen nur einen winzigen Teil aus; etwa 70% sind im „ewigen“ Eis gebunden. Was bleibt, ist das fossile Grundwasser, das in vielen durstigen Regionen intensiv ausgebeutet, oder besser gesagt ausgepumpt wird. Und meist wird mehr abgepumpt, als Grundwasser nachfließen oder aufgefangen werden kann. Ein Austrocknen von weiten Landstrichen und weite Absenkungen des Untergrunds, vor allem unter den schweren Großstädten, ist die Folge.

Süßwasser ist der von der Menschheit am meisten geförderte Rohstoff. Derzeit benötigt unsere Zivilisation etwa 4.500 Kubikkilometer pro Jahr. Ein Kubikkilometer misst tausend mal tausend mal tausend Meter und nimmt in Haushaltsmengen umgerechnet die schwindelerregende Zahl von tausend Milliarden Litern Wasser auf. In Masse umgerechnet reden wir von 4.500 Milliarden Tonnen Wasser, die jährlich von unserer Zivilisation aufgenommen und wieder abgegeben werden. Pro Mensch wird weltweit etwa die unfassbare Menge von 1,4 Millionen Litern pro Jahr verbraucht. Im deutschen Sprachraum benötigt die Versorgung etwa 1,6 Millionen Liter pro Jahr und Kopf, während es in China nur etwa 700.000 Liter sind. So mancher wird sich nun fragen, warum so viel Wasser gebraucht wird. Ein paar Liter Wasser pro Tag sind doch wirklich genug zum Trinken. Allerdings ist nicht der Durst des Menschen der Grund für die hohen Wasserkonsum, sondern die Wasserkosten der Produkte, die wir zum Überleben benötigen. Die Herstellung eines Liters Milch benötigt derzeit etwa 1.000 Liter, die eines Kleidungsstücks mehrere tausend Liter und die eines Computers etwa 20.000 Liter. Um mit den vorhandenen Wassermengen langfristig auszukommen, müssen sich unsere Produktionsprozesse drastisch ändern.

Das verbrauchte Wasser wird nicht ins Grundwasser, sondern einfacherweise meist über Flüsse ins Meer zurückgeleitet. Die Idee dahinter ist, dass das Wasser über Verdunstung, Wolken und Regen wieder ins Grundwasser zurückfinden soll. Aber das tut es nicht in dieser Größenordnung. Statt 4.500 Kubikkilometern regnen nur etwa 4.000 über den relevanten Regionen ab; und das nicht immer dort, wo wir es uns wünschen. Dies hat zur Folge, dass Wasser durch strukturelle Mängel und durch die übermäßige Ausbeutung immer knapper wird. Derzeit haben etwa zwei Milliarden Menschen keinen dauerhaften Zugang zu sauberem Trinkwasser. Auch kann über die Hälfte der Weltbevölkerung keine sanitären Anlagen nutzen. In den Medien wird dies nicht thematisiert. Offenbar steht die Öffentlichkeit in der westlichen Welt solchen Zuständen gleichgültig gegenüber. Artikel mit diesbezüglichem Inhalt wandern in den Online-​Nachrichtendiensten binnen kurzer Zeit aus dem Bereich der Top-​Meldungen.

Die größte Sorge in Hinsicht auf den Wasserbedarf der Zukunft verursacht die Landwirtschaft. Der Klimawandel macht es in einer wachsenden Zahl von Regionen notwendig, die Intensität der Bewässerung zu erhöhen. Fallweise geht dies, wie zum Beispiel in Kalifornien, bis an die Grenze der Versorgungsnetze. Der Ausfall ganzer Ernten droht und die Perspektive ist langfristig nicht ermutigend. Die Industrie ist ebenfalls ein Großverbraucher; dort werden aber, motiviert durch steigende Wasserpreise, zunehmend wirksame Sparmaßnahmen eingeführt. Ein Sorgenkind sind die Megacities, deren Wasserinfrastruktur zu sehr auf das Abpumpen des Grundwassers ausgerichtet ist. Die begrenzten Mengen des direkt verfügbaren Grundwassers nehmen ständig ab. Eine dramatische Unterversorgung ist in Sichtweite. Zudem wird durch das abgepumpte Wasser der Untergrund geschwächt und die durch intensive Bebauung schweren Städte sinken langsam ab. Beschädigungen und Überschwemmungen sind die Folge; man denke nur an Jakarta in Indonesien.

Der Ausblick ist besorgniserregend und Wassermangel wird in der Zukunft in vielen Regionen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel werden. Die klassische Volkswirtschaftslehre nennt elementare Mittel und Leistungen, die an der Entstehung von Gütern mitwirken. Diese Produktionsfaktoren waren zu Beginn: Land, Arbeit und Kapital. Mit dem Fortschreiten der Technik kamen Wissen und Energie dazu. Die Sonderstellung von Wasser und die Tatsache, dass dessen Verfügbarkeit keine Selbstverständlichkeit mehr sein wird, könnte es theoretisch ebenso zu einem eigenständigen Produktionsfaktor machen. Die ausreichende Verfügbarkeit von Wasser ist eine Überlebensnotwendigkeit für jede menschliche Gesellschaft. Es steht zu erwarten, dass es bei den größten kriegerischen Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts nicht um ideologische Differenzen, sondern um Rohstoffe, und hier vor allem um Wasser, gehen wird.

Nahrung

Das vorrangige Problem der Landwirtschaft ist ihr Flächenbedarf. Denn zur Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten wird Sonnenlicht benötigt. Um die Nutzbarkeit des Lichts zu maximieren, werden die landwirtschaftlich genutzten Flächen von der natürlichen Konkurrenz abgeschirmt. Speziell gezüchtete Nutzpflanzen können auf diese Weise das Sonnenlicht exklusiv nutzen und bringen hohe Erträge. Hier hat der hohe Versorgungsdruck die Menschheit aber in die Nutzung weniger Pflanzenarten getrieben, deren Anpassungsfähigkeit und Leistung hoch war. So nutzt die Landwirtschaft von ca. 6.000 verzehrbaren Pflanzenarten nur etwas weniger als 200. Davon decken fünf Pflanzenarten etwa drei Viertel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion in Tonnen. Diese sind nach Produktionsmenge gereiht: Zuckerrohr, Mais, Weizen, Reis und Kartoffeln.

Die Erträge können durch ständige Optimierung des Pflanzenschutzes und bessere Düngemittel noch weiter gesteigert werden. Sie müssen es sogar. Der Druck auf die Landwirtschaft, die ­Nachfrage nach Nahrungsmitteln zu sättigen, steigt ständig. Wenn Nahrungsmittel knapp sind, steigen die Preise und die geforderte Leistung zu erbringen wird besonders belohnt. Das in diesem Zusammenhang auftretende Problem ist, dass der Mensch grundsätzlich quantitativ denkt; er glaubt unterbewusst, dass er mit mehr Kraft mehr erreichen kann. Das war in den Zeiten der frühen Menschheit durchaus zutreffend, aber heute ist dies meist nicht mehr der Fall. Mehr Dünger oder mehr Pflanzenschutzmittel erreichen sogar oft den umgekehrten Effekt. Und nicht nur das, diese leistungsfähigen Chemikalien geraten durch Ausschwemmung und Verwehung in die Natur, wo sie massiven Schaden anrichten. So werden Gewässer überdüngt und können oft nur durch menschliche Eingriffe vor dem Umkippen gerettet werden. Auch setzt ein Insektensterben ein, das sich auch auf die Vogelpopulationen auswirkt. Der durch das Insektensterben verursachte Verlust an Biomasse erreichte in Mitteleuropa seit Beginn der genaueren Erfassung in den 1980er Jahren erschreckende Ausmaße. Je nach Region und Art kann von einem Verlust von 50 bis 80% ausgegangen werden. Ein Teil dieses Phänomens ist das Bienensterben, das die Bestäubung von Pflanzen massiv beeinträchtig und bald alternative Formen der Bestäubung durch Drohnen notwendig machen wird. Die erzielten Vorteile durch das Einführen einer für Arten tödlichen Grenze der Menschheit haben ihren Preis; auch wenn man den Verlust einzelner Arten nicht mit Geld bemessen kann.