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Immer mehr Angehörige wissen sich nicht anders zu helfen und heuern für ihre alten Eltern eine Pflegekraft aus Osteuropa an. Die Pflegekräfte arbeiten rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, für etwa 1000 Euro im Monat. Mehr als 200 000 Pflegebedürftige werden so bereits betreut, Tendenz steigend. Ingeborg Haffert hat Angehörige, polnische Pflegekräfte und Pflegebedürftige begleitet und berichtet von gravierenden Missständen und Problemen auf allen Seiten. Doch sie zeigt auch, wie sich der Pflege-Alltag durch einfache Grundregeln verbessern lässt, und liefert dazu konkrete Hilfsangebote.
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Das Buch
Wenn alte Menschen plötzlich pflegebedürftig werden, stehen Angehörige von einem Tag auf den anderen vor der großen Frage: Gebe ich meine Eltern ins Seniorenheim oder pflege ich sie selbst? Wenn ein Heim zu teuer und die Pflege zu Hause zu zeitaufwendig ist, greifen viele Angehörige auf eine Pflegekraft aus Osteuropa zurück. Meist sind es polnische Frauen, die ihre Familien und ihre Heimat verlassen, um in Deutschland unter schwierigen Bedingungen einen alten Menschen zu pflegen.
Ingeborg Haffert schildert die Not von Angehörigen und die enorme Belastung der Pflegekräfte, indem sie Betroffene zu Wort kommen lässt. Sie berichtet von Missverständnissen zwischen Pflegenden und Angehörigen, von Sprachbarrieren, Druck und Einsamkeit und von Arbeitsbedingungen in einer rechtlichen Grauzone. Das Buch benennt offen Probleme, mit denen die Betroffenen alleine gelassen werden: Wie finde ich eine gute Pflegekraft und wie sieht ein seriöser Arbeitsvertrag aus? Was tue ich, wenn mein Vater oder meine Mutter die Pflegekraft ablehnt?
Eine Polin für Oma gewährt völlig neue Einblicke in das von der Politik verschuldete Pflege-Dilemma. Und es leistet konkrete Hilfestellung, wie wir die Pflege unserer Eltern menschenwürdig organisieren, ohne uns und die Pflegekräfte dauerhaft zu überfordern.
Die Autorin
Ingeborg Haffert, geboren 1960, ist Redakteurin und Reporterin beim ARD-Morgenmagazin. Zuvor hat sie in der WDR-Wirtschaftsredaktion und im ARD-Studio Brüssel gearbeitet.
Ingeborg Haffert
DER PFLEGE-NOTSTAND IN UNSEREN FAMILIEN
Econ
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ISBN: 978-3-8437-0921-7
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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Für Danuta
Über das Buch und die Autorin
Titelseite
Impressum
Widmung
Vorwort
Einleitung
1. Angehörige unter Druck – Wenn die Eltern plötzlich Hilfe brauchen
Schwieriger Rollentausch zwischen Eltern und Kindern
Erfahrungen deutscher Familien mit polnischen Pflegekräften
Brigitte: Häusliche Feldzüge
Marlies: Gemeinsam stark
Bettina: Pflege ohne Worte
Christine: Die Letzte beißen die Hunde
Anne: Die »Feindin« im eigenen Haus
Rita: Die Bäuerin und ihre Mägde
Verlockende Vollkaskopflege – Die Vermittlungsagenturen
Die Vertragsformen
Die Entsendung: Geschäfte in der Grauzone
Der Spesentrick: Pflegekräfte auf Dienstreise
Faire Vermittlung: Gibt es die?
2. Im Leben der Anderen – Was polnische Pflegekräfte in deutschen Haushalten erleben
Fern der Heimat: Nomaden aus Not
Ausgeliefert: Pflegekräfte ohne Lobby
Inkognito: Geheime Treffen am Straßenrand
Erfahrungsberichte polnischer Pflegekräfte in deutschen Haushalten
Donata: Ausgebrannt
Magda: Kleine Stiche erhalten die Feindschaft
Róża: Der alte Mann und der Alkohol
Goska: Verlorene Jahre
Justyna: Die langen Schatten der Vergangenheit
Kasia und Jakub: Zwei Engel für Frau Müller
Gabriel: Vom Bau ans Pflegebett
Rafał: Pflege mit Herz und Verstand
3. Die Fremde im Haus – Wie deutsche Senioren die Vollzeitbetreuung durch polnische Pflegekräfte erleben
Die Kunst des Älterwerdens
Erfahrungen deutscher Senioren mit polnischen Pflegekräften
Erste Allgemeine Verunsicherung: Allein mit »Ausländern«
Was haben Sie gesagt? Sprachbarrieren
Hauptsache »Ich«: Die Pflegekraft als Erfüllungsgehilfin
Vorsichtige Annäherung: Die Pflegekraft als Vertraute
Enttäuschungen: Wenn die Kinder nur noch selten kommen
Wahlverwandtschaften: Wie aus Pflegekräften Enkel werden
4. Es geht auch anders – Anregungen zur häuslichen Pflege
Hilfestellungen für Angehörige
Faire Bedingungen: Verträge, Arbeitszeit, Unterbringung und Bezahlung
Aufgaben und Erwartungen
Wichtige Umgangsformen im täglichen Miteinander
Pflegerelevante Lebensgeschichte(n)
Familiäre Teamarbeit
Wohnortnahe Alltagshilfen
FairCare
Caritas24 – So fair wie möglich
Hilfestellungen für polnische Pflegekräfte
Hilfestellungen für pflegebedürftige Senioren
Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die häusliche Pflege
Fazit
Wichtige Adressen
Literaturverzeichnis
Dank
Anmerkungen
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Im Jahr 2012 drehe ich für das ARD-Morgenmagazin einen Film über eine Familie, die eine polnische Pflegekraft beschäftigt. Der Sohn hatte entschieden, seine 88-jährige Mutter von einer Polin versorgen zu lassen, weil er und sein Bruder beruflich sehr eingespannt sind. Mich interessiert, wie es allen Beteiligten in dieser Situation geht.
Neben der Haustür an der Klingel entdecke ich ein weißes Stück Klebeband mit einem fremd klingenden Namen darauf. Olga W. öffnet mir, lächelt verlegen und bittet mich und das Fernsehteam herein. Ihr Gesicht ist freundlich, ihr Blick warmherzig. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem wir zusammen in der kleinen Küche des Hauses verweilen, ehe ich sie frage: »Wie geht es Ihnen?« Olga W. bricht sofort in Tränen aus. Sie kann sich gar nicht wieder beruhigen. Ich bin völlig irritiert über diesen Gefühlsausbruch und frage mich, warum diese unscheinbare Frage sie so sehr trifft. Als sie sich wieder gefasst hat, erklärt sie mir, dass sich in all den Jahren, die sie in Deutschland als Pflegekraft arbeitet, noch nie jemand danach erkundigt hat, wie es ihr geht. Dieses Erlebnis hat mich tief bewegt und lange beschäftigt. Schließlich fasste ich den Plan, mehr über die Lebens- und Arbeitssituation polnischer Pflegekräfte zu erfahren.
Bevor ich mit den Recherchen begonnen habe, war mir diese Form der häuslichen Pflege fremd. Unverständlich war für mich vor allem, wie deutsche Familien ihre nächsten Familienangehörigen von Menschen versorgen lassen, die aus wirtschaftlicher Not ihre Koffer packen und die eigenen Angehörigen verlassen. Menschen, die oftmals unsere Sprache nicht verstehen und für die Arbeit, die sie hier leisten, meistens nicht qualifiziert sind. Und das alles, damit unsere Welt sich in ihren gewohnten Bahnen weiterdrehen kann? Kaufen wir uns auf diese Weise nicht von der Pflege unserer Eltern und Schwiegereltern frei? Auf der anderen Seite konnte ich auch nicht nachvollziehen, warum sich polnische Frauen und Männer einer Situation aussetzen, in der sie mit fremden, gebrechlichen und oft geistig verwirrten Senioren Wochen, Monate, manchmal Jahre unter einem Dach leben. Warum entscheiden sie sich freiwillig dafür, mit alten, häufig einsamen und verzweifelten Menschen zusammenzuleben, die oft keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen? Nicht wenige Pflegebedürftige blicken auf ein Leben voller Entbehrungen zurück. Viele haben noch den Krieg erlebt und sind nicht gerade begeistert, wenn sie ihr Haus ausgerechnet mit einer Polin teilen müssen. Die alten Klischees und Vorurteile sind in vielen Köpfen noch immer lebendig.
Im Laufe meiner Arbeit an diesem Buch habe ich einen differenzierteren Blick auf das Thema häusliche Pflege durch polnische »GastarbeiterInnen« gewonnen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse für mich ist, dass es bei diesem Thema keine einfache Wahrheit gibt. Sowohl die Angehörigen als auch die Pflegekräfte handeln aus einer Notsituation heraus. Die Angehörigen finden keine andere Lösung, die ihnen und den Eltern einigermaßen gerecht wird. Die Pflegekräfte müssen Geld verdienen, was ihnen zu Hause nicht oder nicht ausreichend möglich ist.
Was sich in Deutschland über die Jahre als stets wachsender grauer Arbeitsmarkt entwickelt hat, zeigt symptomatisch, wie wenig wir auf die zunehmende Zahl von pflegebedürftigen Senioren vorbereitet sind. Es gibt keine nachhaltigen politischen Konzepte zur Bewältigung des Pflegenotstands, stattdessen wird an den Symptomen herumgedoktert. Deutlich wird das unter anderem am Konzept von Caritas 24. Der Wohlfahrtsverband arbeitet mit Hochdruck daran, Angehörige und Pflegekräfte bei der Bewältigung ihrer schwierigen Aufgabe durch Beratung und konkrete Hilfsangebote zu unterstützen. Er bietet Qualifizierungs- und Sprachkurse für die Pflegekräfte an, kümmert sich um die Lücke, die die Frauen in ihren Familien in Polen hinterlassen, und vermittelt im Konfliktfall zwischen deutschen Familien und Pflegekräften. Besser kann man es kaum machen. Am eigentlich kranken Pflegesystem ändert es dennoch nichts.
Die Pflege und Betreuung der älteren Generation ist ein wichtiger, wenn nicht gar entscheidender Indikator für den sozialen Gesundheitszustand unserer Gesellschaft. Deutschland ist dringend therapiebedürftig.
Bis zu 200000 osteuropäische Pflegekräfte, so schätzt der Deutsche Gewerkschaftsbund, pflegen in Deutschland Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr unsere Eltern, Schwiegereltern und Verwandten. Die Dunkelziffer dürfte noch weit höher liegen. Die meisten kommen aus Polen, genaue Zahlen kennt allerdings niemand.
Sicher ist aber, dass der Pflegebedarf in Deutschland bis zum Jahr 2030 um circa 40 Prozent steigen wird. Bis 2050 soll die Zahl der Pflegebedürftigen von heute 2,5 Millionen auf bis zu 4,5 Millionen ansteigen. Das Gleiche gilt für die Zahl der Demenzkranken. Während heute etwa eine Million Menschen unter dieser Krankheit leiden, sollen es im Jahr 2050 bereits doppelt so viele sein. Diese Zahlen sind alarmierend. Nach heutigem Stand müsste jeder dritte Schulabgänger in die Altenpflege gehen, um den zukünftigen Bedarf zu decken. Undenkbar.
In den letzten Jahrzehnten hat sich außerdem die Lebenssituation der Senioren gravierend verändert. Die Zahl der Senioren, die zu Hause von den eigenen Angehörigen versorgt werden, sinkt stetig. Früher wurden Menschen in der Gemeinschaft einer Großfamilie alt. Die hilfsbedürftigen Eltern wurden von der nachfolgenden Generation, die oft im selben Haus lebte, aufgefangen. Heute wohnen die erwachsenen Kinder oft Hunderte von Kilometern entfernt. Hinzu kommt, dass Frauen, die in vergangenen Generationen die Versorgung und Pflege der Alten wie selbstverständlich übernommen haben, heute berufstätig sind. Neben der Erwerbsarbeit kümmern sie sich außerdem noch um Haushalt und Kinder.
Beide Entwicklungen – die steigende Zahl der Pflegebedürftigen und die rückläufige familiäre Betreuung – führen dazu, dass sich heute immer mehr Familien für eine polnische Pflegekraft entscheiden. »Die Dimension ist gewaltig«, so Professor Heinz Rothgang vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen. Aus seiner Sicht können ausländische Pflegekräfte diese enorme Versorgungslücke auf gar keinen Fall schließen. »Wir reden hier nicht über kleinere Arbeitsmarktverwerfungen. An der Dimension dieses Trends kommen wir nicht vorbei«, betont Rothgang. Pflege als Menschenrecht löse sich nicht über den Markt. Es müsse eine breitere Debatte um Erwerbs- und Pflegearbeit geführt werden. Bis diese Früchte trage, könnten Strategien wie Pflegemigration das Problem lindern, aber nicht lösen.
Um mir ein Bild über die häusliche Pflege durch ausländische Pflegekräfte zu machen, habe ich zahlreiche Angehörige von Pflegebedürftigen ausführlich befragt. Die Kontakte entstanden über Bekannte sowie Wohlfahrtsverbände und Internetforen. In allen Fällen waren es die Töchter, die sich um die Organisation der häuslichen Pflege gekümmert haben. Dies ist kein Zufall, sondern ein Spiegel der gesellschaftlichen Realität: Noch immer sind es fast ausschließlich Frauen, die die Pflege ihrer Eltern oder Schwiegereltern koordinieren. Um Beruf, Familie und Pflege überhaupt über einen längeren Zeitraum vereinbaren zu können, greifen Angehörige in vielen Fällen auf Pflegekräfte aus dem Ausland, zumeist aus Polen, zurück. Viele machen sich Vorwürfe, weil sie ihre Eltern oder Schwiegereltern nicht selbst pflegen können. Andere wiederum wollen sich bewusst nicht um ihre Eltern kümmern. Die plötzliche Nähe, auch die körperliche, ist ihnen unangenehm und passt für sie nicht zu der bis dahin gelebten Beziehung. Zudem haftet der Beschäftigung von polnischen Pflegekräften noch immer das Stigma der Illegalität an. Wie Angehörige die häusliche Pflegesituation erleben und welche typischen Konflikte dabei auftreten, wird im ersten Kapitel ausführlich beschrieben und ausgewertet.
Im Zentrum der Interviews stehen Fragen nach dem persönlichen Verhältnis zur Pflegekraft, nach Sprachproblemen und ihren Auswirkungen auf die Pflegesituation. Viele Pflegekräfte sprechen kaum deutsch. Wie und worüber unterhalten sie sich mit der Polin? Inwieweit erzählen sie ihr im Vorfeld von den Eltern oder Schwiegereltern, so dass diese zumindest einen kleinen Einblick in die Lebensgeschichte der Senioren bekommen? Was wissen sie über die persönlichen Hintergründe der Pflegekraft? Welche Aufgaben übernimmt sie in der Familie? Wo gibt es im Pflegealltag die meisten Probleme?
Ich habe für dieses Kapitel sechs Erfahrungsberichte von Angehörigen ausgewählt, die mir besonders typisch für diese Form der häuslichen Pflege erschienen. Was Brigitte, Marlies, Bettina, Christine, Anne und Rita erzählen, spiegelt sich so oder ähnlich in vielen Erfahrungsberichten von Angehörigen wider.
Im zweiten Kapitel werden die Erfahrungen polnischer Pflegekräfte aufgegriffen und analysiert. Die polnischen Frauen und Männer erzählen von Ausbeutung und schlechter Bezahlung, von Einsamkeit, Sehnsucht und Trauer über »verlorene Jahre«. Durch ihre Schilderungen geben sie Aufschluss darüber, wie wir Deutschen mit Alter, Krankheit und Tod umgehen, und skizzieren dabei eine Gesellschaft zwischen Hilflosigkeit, finanziellen Zwängen und schlechtem Gewissen. In diesem Buch werden fast ausschließlich Erfahrungsberichte von Frauen aufgegriffen, da sie den Großteil der Pflegekräfte stellen.
Und wie erleben die alten Menschen die Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch eine polnische Pflegekraft? In den Gesprächen, die im dritten Kapitel aufgegriffen werden, erzählen sie von ihren innersten Befindlichkeiten, die von ehrlicher Dankbarkeit über Misstrauen bis hin zu Ablehnung reichen. Viele Senioren wünschen sich, von ihren eigenen Kindern versorgt zu werden. Das geben sie ihnen gegenüber aber nur selten zu. Stattdessen fügen sie sich gewissermaßen in ihr Schicksal, akzeptieren schweren Herzens die fremde Person im Haus, an der sie aber auch schon mal ihre Enttäuschung über die eigenen Kinder auslassen.
Die Sichtweisen und Empfindungen der Pflegekräfte, der Angehörigen und der Pflegebedürftigen werden im vierten Kapitel zusammengeführt. Konkrete Hilfestellungen fördern ein besseres und vor allem respektvolles Miteinander, und es wird erläutert, wie wichtig faire Arbeitsbedingungen für den Pflegealltag sind. Die Senioren werden die Not der Pflegekräfte und die Entscheidungen ihrer Kinder vielleicht etwas besser verstehen, die Angehörigen schauen nach der Lektüre dieses Buches gewiss anders auf den Menschen, der da plötzlich zu einem wichtigen Teil der Familie wird. Und die Pflegekräfte achten möglicherweise genauer darauf, dass sie sich mit der Vollzeitpflege im Nachbarland nicht völlig übernehmen und ihr eigenes Familienglück dabei aufs Spiel setzen.
Für bessere Rahmenbedingungen in der häuslichen Pflege tragen Wirtschaft und Politik eine besondere Verantwortung. Anhand von Beispielen wird aufgezeigt, was Firmen tun können, um ihre Mitarbeiter, die sich an der Pflege von Familienmitgliedern beteiligen möchten, zu unterstützen. Im eigenen Interesse. Denn welche ökonomische Dimension das Thema Pflege mittlerweile hat, zeigt die Verwarnung der Ratingagentur Standard & Poor’s. Die vielen alten Menschen könnten Deutschland über die Maßen belasten. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt stabil ist und der Export läuft, riskiere das Land, seinen Triple-A-Status zu verlieren – einfach weil es keine bezahlbaren Pflegemodelle für seine Senioren entwickelt hat.
Obwohl alle, sowohl die Bevölkerung als auch die Politiker, wissen, dass ausländische Pflegekräfte unter den jetzigen Bedingungen nur eine Notlösung für unseren Pflegenotstand sein können, geschieht wenig. Die Beteiligten halten noch still. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Angehörigen sind froh, eine Betreuung für die Eltern zu haben. Die Pflegekräfte sind dankbar, dass sie in Deutschland den Lebensunterhalt für ihre polnischen Familien verdienen können. Und die hilfsbedürftigen Senioren nehmen lieber die Betreuung durch eine fremde Person in Kauf, als in ein Altenheim zu gehen. Es ist angesichts der jetzt schon besorgniserregenden Notsituation in der Pflege unumgänglich, dass wir mit Nachdruck klare Forderungen an die politisch Verantwortlichen, die Verbände, die Kostenträger und die Versicherungen richten und das Thema ganz oben auf die Tagesordnung setzen. Jeder Einzelne muss Alter und Pflege endlich so ernst nehmen, wie es die Lage verlangt. Solange wir uns nicht alle für ein würdiges Altern und eine entsprechende Versorgung stark machen, wird die Politik nur notdürftige Reparaturdienste leisten. Wir müssen uns zum Beispiel auf kommunaler Ebene für Angebote starkmachen, die unseren eigenen Bedürfnissen nach einem menschenwürdigen Altern gerecht werden und die wir selbst für so attraktiv halten, dass wir sie im Alter nutzen möchten. Je eher wir beginnen, nachhaltige Lösungen für unsere alternde Gesellschaft zu entwickeln, umso besser für uns alle.
Es kann ein einziger Sturz sein, der alles verändert. Obwohl alle Angehörigen wissen, dass ihre Eltern oder Schwiegereltern irgendwann Unterstützung benötigen, empfinden sie deren plötzliche Hilfsbedürftigkeit fast immer als Schock oder als ein kaum vorhersehbares Ereignis. Sie neigen dazu, dieses unangenehme Thema zu verdrängen, weil es mit zahlreichen Ängsten verbunden ist.
Plötzlich müssen innerhalb kürzester Zeit wichtige Entscheidungen getroffen werden. Welche Form der Unterstützung brauchen die Eltern? Wie sieht der Zeitrahmen aus, in dem sich die Angehörigen in die Pflege mit einbringen können? Ist es möglich, dass die Eltern oder Schwiegereltern in ihrem eigenen Haus oder der eigenen Wohnung bleiben? Müssen vielleicht Umbauten erfolgen? Ist das Altenheim die bessere Alternative, und wenn ja, welches Heim ist das richtige? Welche finanziellen Mittel stehen überhaupt für die Pflege bereit? Ein Pflegeplatz in einem Altenheim kostet im Schnitt immerhin 3000 Euro monatlich.
Angehörige überlegen in einer solchen Situation deshalb auch, ob sie die Eltern zu sich nehmen können. Alte Menschen tun sich aber oft schwer mit einem Ortswechsel, sie möchten lieber so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Wollen die Eltern zu Hause bleiben und soll die Betreuung bezahlbar bleiben, erscheint eine polnische Pflegekraft vielen Angehörigen als die einzige Lösung.
Im Schnitt kostet diese Art der Vollzeitpflege zwischen 1000 und 2000 Euro. Mit deutschen Kräften wäre diese Arbeit kaum zu finanzieren, weil pro Tag mindestens drei Personen für jeweils acht Stunden bezahlt werden müssten. Die Krankenkassen unterstützen die Angehörigen aber nur nach den Kriterien der drei Pflegestufen. In Pflegestufe I betragen die Pflegesachleistungen monatlich 450 Euro, in Pflegestufe II sind es 1100 Euro und für Pflegebedürftige der Pflegestufe III werden monatlich 1550 Euro ausgezahlt. Diese Pflegesachleistungen sind in allen Pflegestufen für die Unterstützung der häuslichen Pflege durch einen zugelassenen professionellen Pflegedienst gedacht. Alternativ dazu können sich Angehörige auch für das sogenannte Pflegegeld entscheiden, wenn sie die Pflege komplett selbst übernehmen. Die Höhe der Summe beträgt in der Pflegestufe I235 Euro, in Pflegestufe II440 Euro und in Pflegestufe III700 Euro. Die beiden Leistungsarten können auch kombiniert werden.1
Eine Vollzeitpflege im eigenen Haus ist vom Staat nicht vorgesehen. Es gibt im Rahmen der Pflegeversicherung bislang keine Möglichkeit, eine solche 24-Stunden-Pflege durch deutsche Pflegekräfte zu finanzieren.
Die Familien wissen sich oft nicht mehr anders zu helfen, als sich eine Polin ins Haus zu holen. Deshalb ist es wichtig, den Angehörigen keine Schuld zuzuweisen. Sie fühlen sich häufig alleingelassen. Das bestätigt auch Margret Steffen, Pflegeexpertin bei der Gewerkschaft ver.di: »Ich halte nichts davon, die Familien zu diffamieren. Sie wollen ihre Eltern nicht ins Heim geben, haben aber auch kein Vermögen zur Hand.«2
Dabei bleibt festzuhalten, dass es derzeit in erster Linie Familien aus dem Mittelstand und dem gehobenen Mittelstand sind, die sich eine polnische Pflegekraft leisten (können). Das bestätigen auch die zahlreichen Interviews mit Pflegekräften, Angehörigen und Pflegebedürftigen in diesem Buch. Es waren fast immer gutsituierte Familien, mit denen ich zu tun hatte. 1000 bis 2000 Euro monatlich, die muss man erst mal übrig haben! In den neuen Bundesländern ist das Phänomen der Pflege durch osteuropäische Migrantinnen sicher auch deshalb weit weniger verbreitet, weil dort der Durchschnittsverdienst noch immer unter dem in den alten Bundesländern liegt.
Wenn ein Elternteil plötzlich nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, gelangen Angehörige oftmals in einen Strudel sich widersprechender Gefühle von Ohnmacht, Wut, Scham und Schuld. Da ist einerseits die Verpflichtung den eigenen Eltern gegenüber und andererseits der Wunsch, ein eigenes Leben zu führen. Unbewältigte Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend, familiäre Verstrickungen sowie Ängste in Bezug auf die eigene Sterblichkeit, aber auch Gefühle wie Dankbarkeit, Liebe und Mitgefühl treten in einer solch akuten Situation häufig zutage. Unter dem Einfluss dieser Emotionen müssen die erwachsenen Kinder jetzt noch einen schwierigen Rollentausch bewältigen, denn sie sind plötzlich mit gebrechlichen, kranken Eltern konfrontiert, die ihnen vielleicht ihr Leben lang Vorbild waren und Orientierung gaben.
Für die Söhne und Töchter ist diese Situation sehr belastend. Als Familienangehörige bekommen sie mit, dass die Senioren in vielen Lebensbereichen nur noch schlecht oder gar nicht mehr allein zurechtkommen, was einen regelrechten Spagat seitens der Kinder erfordert. Einerseits verlangen die Eltern, dass ihre Wünsche nach Eigenständigkeit respektiert werden. Auf der anderen Seite aber führt ihr körperlicher und geistiger Abbau unweigerlich dazu, dass die erwachsenen Kinder die Verantwortung für immer mehr Lebensbereiche der Eltern übernehmen müssen. In manchen Fällen entstehen dadurch unüberwindbare Fronten. Wenn die Kinder die Defizite, die sie bei den Eltern wahrnehmen, offen ansprechen, reagieren diese oft verletzt. Sie wollen nicht einsehen, dass sie Unterstützung brauchen, und erleben die Handreichungen ihrer Kinder als Eingriff in ihr Privatleben und als unumkehrbares Eingeständnis ihrer Hilfsbedürftigkeit. Dies wirkt sich auch auf das Selbstwertgefühl der Senioren aus. Viele wehren sich lange dagegen, der Realität ins Auge zu sehen, und reagieren geradezu aggressiv, wenn Angehörige ihnen helfen wollen.
Ilse Biberti, Autorin des Buches »Hilfe, meine Eltern sind alt«, kennt die Schwierigkeiten, die sich durch die Hilfs- und Pflegebedürftigkeit der Eltern ergeben, aus eigener Erfahrung: »Jeder hatte bislang sein eigenes Leben. Die Eltern genauso wie die Kinder. Nun verliert eine Seite einen Teil des gewohnten Lebens, und die andere Seite bekommt mehr Verantwortung und Fürsorge dazu«, so die Autorin.3 »Es gehört dazu, dass Eltern irgendwann nicht mehr alles wie früher schaffen und nun Hilfe brauchen.« Kinder sollten den Eltern nicht vorwerfen, dass sie etwas nicht mehr schaffen, sondern sich sagen: Das ist jetzt so, das ist normal. Es bringe nichts, sich zu ärgern. Stattdessen sei es hilfreicher, sich konstruktiv mit der jeweiligen Situation auseinanderzusetzen.
Humor ist aus Bibertis Sicht ebenfalls wichtig für eine gute Beziehung zwischen Angehörigen und Pflegebedürftigen. Beide Seiten sollten sich nicht scheuen, immer wieder gemeinsam über sich und lustige Situationen, die sich auch im Pflegealltag ergeben, herzlich zu lachen. Auch mir haben Angehörige geschildert, wie wichtig und beziehungsfördernd das für sie war. Eine 54-jährige Frau erzählte, dass ihre Mutter nachts oft intensive Träume hatte. Sie wähnte sich ständig in den Wohnungen anderer Familien im Dorf und wunderte sich im Traum darüber, dass sie alle dieselben Möbel, dieselben Tapeten und dieselbe Bettwäsche hatten wie sie selbst. Jeden Morgen nach dem Aufstehen fragte die Tochter: »Und Mutter, bei wem warst du heute Nacht wieder zu Besuch?« Der Tag begann damit für beide fast immer mit einem lauten Lachen.
Schwierig hingegen wird es laut Biberti bei intimeren Themen wie Inkontinenz, die mit viel Scham besetzt sind. »Da könnte es gerade für Töchter eine Hemmschwelle geben, mit ihrem Vater darüber zu reden«, sagt Biberti. In solchen Fällen helfen vielleicht andere Angehörige oder Freunde. »Möglicherweise gibt es einen Onkel, mit dem der Vater reden kann, oder der Hausarzt bietet Hilfe an.« Auch wenn es für Eltern anfangs unangenehm ist, würden die meisten Hilfe annehmen. Dabei komme es darauf an, sie weiterhin mit Respekt zu behandeln. »Man muss die Unterstützung auf Augenhöhe anbieten und darf niemanden einfach bevormunden«, erklärt die Autorin. Die Hierarchie sollte gewahrt werden: »Vater und Mutter bleiben Vater und Mutter. Ich wurde eine Tochter mit erweiterten Kompetenzen.«
Ob illegal oder offiziell mit Vertrag, das macht heute kaum noch einen Unterschied. Viele deutsche Familien bezeichnen eine Pflegekraft, die sich rund um die Uhr um die alten Eltern oder Schwiegereltern kümmert, als »die beste Pflege-Lösung«. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Senioren können in ihrem vertrauten Umfeld bleiben. Außerdem kostet die ausländische Pflegekraft weit weniger als ein Pflegeheim. In den meisten Fällen sind es Frauen aus Polen, die diese Arbeit übernehmen. Fast immer sind es die Angehörigen der älteren Menschen, die sie einstellen.
Brigitte lebt seit über zwanzig Jahren mit ihrem Mann in der Schweiz. Als ihre Mutter plötzlich an Krebs erkrankt und kurz darauf stirbt, bleibt ihr Vater allein zurück. Brigitte wird schnell klar, dass er nicht mehr allein zurechtkommt und Hilfe braucht. Ihre Schwester, die ganz in seiner Nähe wohnt, weigert sich jedoch, ihn zu unterstützen. Sie hat nach einem heftigen Familienstreit keinen Kontakt mehr zu ihm. Zu Beginn kann Brigitte die Haltung ihrer Schwester nur schwer akzeptieren und fühlt sich von ihr im Stich gelassen.
Über eine Nachbarin des Vaters erfährt sie von einer Polin namens Viola, die in der Nähe ihres Elternhauses eine alte Frau gepflegt hat und nach deren Tod jetzt eine Anschlussstelle sucht. Brigitte ruft direkt bei Viola an. Die Polin ist dankbar für das Angebot, und schon wenige Tage später treffen sich die beiden Frauen im Haus von Brigittes Vater. »Wir haben uns gesehen und waren uns gleich sympathisch. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie auch mit meinem Vater zurechtkommen würde.« Doch der zeigt sich bei dieser ersten Begegnung skeptisch. Als ihm aber im Gespräch mit den beiden Frauen klar wird, dass die einzige Alternative zu dieser Lösung ein Pflegeheim ist, willigt er schließlich ein.
Viola hat bereits in vielen deutschen Familien als Pflegekraft gearbeitet, bisher allerdings immer schwarz, was sie zunehmend belastet hat. Nun möchte sie endlich raus aus der Illegalität und von jetzt an nur noch offiziell mit Vertrag arbeiten, allein schon wegen der Kranken- und Rentenversicherung. Auch Brigitte wünscht sich ein legales Arbeitsverhältnis, das ihr Sicherheit und Verlässlichkeit garantiert. Sie entscheidet sich schließlich, Viola fest als Haushaltshilfe mit einem deutschen Arbeitsvertrag einzustellen. Sie möchte sich hundertprozentig darauf verlassen können, dass ihr Vater verlässlich und gut betreut wird. Würde sie Viola über eine Vermittlungsagentur anstellen, hätte das zur Folge, dass die Pflegekräfte alle zwei bis drei Monate wechseln würden. Das möchte sie sich und ihrem Vater nicht antun.
Violas Festanstellung beschert Brigitte einen Wust an Papierkram, den sie aus der Schweiz zu erledigen versucht. Viola und Brigittes Vater haben sich unterdessen besser kennengelernt, und die ersten Konflikte treten offen zutage. Bereits nach wenigen Tagen erhält Brigitte den ersten telefonischen Hilferuf der Pflegekraft. Viola erzählt ihr unter Tränen, dass der alte Mann sie häufig beschimpft und schlecht behandelt. »Geh doch zurück nach Hause. Hier kommt mir keine Polin mehr rein« ist noch eine der milderen Beleidigungen, die sie zu hören bekommt. Mit Gegenständen vom Frühstückstisch stellt er in ihrem Beisein die siegreichen Polenfeldzüge der Deutschen im Zweiten Weltkrieg nach, um ihr wieder und wieder zu zeigen, wer in diesem Haus Sieger und wer Verlierer ist. Mit voller Wucht bekommt Viola seinen angestauten Hass auf die Polen zu spüren. Brigitte ist das Verhalten des Vaters sehr unangenehm, wirklich helfen kann sie Viola aber nicht.
In meinen Interviews mit Angehörigen führt das Gespräch über ihre pflegebedürftigen Eltern irgendwann immer in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die Werte, Ansichten und Gesellschaftsbilder der Senioren wurden in dieser Zeit geprägt und wirken bis heute in die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern hinein. Die Eltern erlebten die Schrecken des Krieges am eigenen Leib. Flucht, Vertreibung und Obdachlosigkeit durch Bombentreffer sind die Ursachen für Traumata, die so gut wie nie verarbeitet wurden. Therapeutische Behandlungen waren damals völlig unüblich, vieles wurde totgeschwiegen. Ihre nicht verarbeiteten Kriegserlebnisse schleppen viele Senioren wie eine große Last bis ins hohe Alter mit sich herum. »Sie haben den Bombenkrieg oder die Vertreibung miterlebt, ihre Väter waren im Feld, in Gefangenschaft oder sind gefallen. Diese Erinnerungen haben sie bislang in sich verschlossen gehalten, sie trösteten sich mit der Einstellung: Andere haben es noch viel schlimmer gehabt als wir. So wurde eine ganze Generation geprägt. Man funktionierte, baute auf, fragte wenig, jammerte nie, wollte vom Krieg nichts hören – und man konnte kein Brot wegwerfen.« So skizziert die Autorin Sabine Bode die Kriegsgeneration in ihrem Buch »Die vergessene Generation«.
Brigittes traumatisierter Vater hat nie mit ihr über den Krieg gesprochen, zu schlimm waren offenbar die Erlebnisse. Im Unbewussten wirken diese Geschehnisse jedoch weiter und finden ihren traurigen Ausdruck in einem fast despotischen Verhalten gegenüber seiner Familie und der polnischen Pflegekraft. Bis heute ist das Verhältnis zwischen Vater und Tochter kühl und distanziert. Brigitte empfindet keine wirkliche Nähe, geschweige denn Liebe für ihren Vater. Vielmehr beschreibt sie ihn als gefühlskalt und streng, als einen Vater, der sich nie besonders für seine Kinder interessiert hat. Umgekehrt konnte auch sie ihren Vater aufgrund der bedrückenden Sprachlosigkeit in der Familie nie wirklich kennenlernen. Entsprechend wenig wusste sie über ihn. Eltern aus der Kriegsgeneration und ihre Kinder bleiben sich oft ein Leben lang fremd. Viele Senioren haben nie eine wirkliche Beziehung zu ihren Töchtern und Söhnen aufgebaut. Kinder gehörten ganz selbstverständlich zum damals üblichen Lebensmodell dazu. Viele Eltern der Kriegs- und Nachkriegsgeneration haben große Opfer für ihre Kinder gebracht. So ist es nicht verwunderlich, dass sie enttäuscht sind, wenn ihre Kinder ihnen aus ihrer Sicht nichts davon zurückgeben. Die Kinder hingegen fühlen sich oft von den Eltern ungeliebt. Sie haben keine innige, warmherzige Beziehung zu ihnen. Deshalb sind sie häufig nicht dazu bereit, sich um sie zu kümmern. Sie wollen keine Verantwortung für ihre Eltern übernehmen, weil sie ihren Eltern aus ihrer Sicht nicht wirklich wichtig waren.
Die psychischen und physischen Verletzungen, die die Elterngeneration erlitten hat, gibt sie nicht selten an ihre eigenen Kinder weiter. Die Konflikte, die daraus erwachsen, sind oft unüberbrückbar. So hat Brigittes Schwester den Kontakt zu ihrem pflegebedürftigen Vater ganz abgebrochen. Auch Brigitte tut sich schwer, ihren alten Vater zu pflegen, zu tief sitzen die Wunden aus Kindheit und Jugend. Ähnlich wie sie umgehen viele Angehörige das konfliktreiche Verhältnis zu ihren Eltern, indem sie Distanz herstellen und mit einer polnischen Pflegekraft eine »neutrale« Person engagieren, die nicht vorbelastet ist. Aber nur wenigen ist bewusst, dass diese Beziehung einen ganz eigenen Konfliktstoff birgt.
Das Polenbild der Kriegsgeneration ist bis heute von hartnäckigen Vorurteilen und Klischees geprägt, die aus der Geschichte beider Länder herrühren. Viele der heute pflegebedürftigen Senioren haben polnischen Soldaten als Feinde im Feld gegenübergestanden und erlebten Polen als Flüchtlinge und Zwangsarbeiter in deutschen Fabriken. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass die Pflegebedürftigen nicht gerade begeistert sind, wenn sie ihr Haus oder ihre Wohnung ausgerechnet mit einer Polin teilen müssen. Viola bekommt die Ablehnung des alten Mannes fast täglich zu spüren. Sie muss sich Beleidigungen anhören, die häufig mit ihrer Herkunft zu tun haben. Brigitte ist sehr erschrocken über das Verhalten ihres Vaters. Sie versucht, Viola zu trösten und ihr Mut zuzusprechen, ändern kann sie allerdings wenig. Und doch zeigt sich, wie wichtig das Gespräch zwischen Brigitte und Viola ist. Beide Frauen realisieren, dass die Beleidigungen und Beschimpfungen nichts mit ihnen persönlich zu tun haben, sondern Folgen von Kriegstraumata sind. Nur mit diesem Wissen kann Viola das Zusammenleben mit Brigittes Vater überhaupt weiter ertragen.
Brigitte erzählt im Interview von dem Buch »Vatertage«, das sie kürzlich gelesen hat. Die Autorin Katja Thimm beschreibt darin die Geschichte ihres eigenen Vaters, die zugleich die Geschichte Hunderttausender »Kriegskinder« ist. Sie berichtet, wie die schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit in ihrem Vater fortwirken, der mit zunehmendem Alter immer häufiger von den Kriegserinnerungen heimgesucht wird und in das Denken der damaligen Zeit zurückverfällt. »Genauso erlebe ich jetzt meinen Vater. Er lässt alles an Viola aus.« Die zierliche, zurückhaltende Frau weiß der brachialen Kriegsrhetorik des alten Mannes nichts entgegenzusetzen. Brigitte versucht, Viola nach Kräften zu unterstützen, denn ihre größte Hoffnung ist, dass sie noch möglichst lange als Haushaltshilfe und Pflegekraft bei ihrem Vater bleibt.
Dass ihr Vater heute wie selbstverständlich erwartet, dass sie sich als Tochter um ihn kümmert, macht sie ärgerlich. »Ich bin für meinen Vater immer das Kind geblieben. Und Kinder haben sich gefälligst um die Eltern zu kümmern. Das sind wir ihm seiner Meinung nach schuldig.« Das kann und will Brigitte nicht einsehen. Sie würde auch ihre eigene Tochter nicht auf diese Weise an sich binden wollen. »Unsere Eltern haben keinerlei Visionen von einem Leben im Alter. Sie haben sich darüber nie Gedanken gemacht. Bei meiner eigenen Tochter und mir ist das anders. Wir haben einen sehr persönlichen, warmherzigen Kontakt. Sie wünscht sich sogar, dass ich eines Tages, wenn ich mal alt und hilfsbedürftig bin, zu ihr und ihrer Familie ziehe. Mittlerweile kann ich mir das sogar vorstellen.«