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Wolf Biermanns Sohn erzählt seine packende Familiengeschichte Klaus Thaler, und der schrieb sie aus der Sicht einer Puppe auf. Ich bin eine Puppe, my name is Zorro der Bär. Mein schicksalhaftes Buch lebt von der Vermischung aus absurdem Puppenspiel mit realer Geschichte. Kommt mit auf meinem Flug durch die Ost-Berliner Boheme vor dem Mauerfall! Gleich landen wir im Utopia 1990, direkt auf dem Tacheles mit Eimern voller Niemandsland. Der rote Faden rock'n'rollt sich vor- und rückwärts auf. Er entpuppt Biermanns "Treuehand" und entknotet Freygangs "Firma". Ich finde eine Spur ins Barocke, erzähle von der legendären Hanswurst-Vertreibung der "Neuberin" und höre vom gemeinen Rammstein. Ein Märchenbilderbuch deutsch-deutscher Aufklärung von Lessing bis Corona. Klappe zu und Vorhang auf!
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Seitenzahl: 382
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KLAUS THALER
DOKUMENTARROMAN
Die Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.tdz.de
© 2023 Theater der Zeit
Korrektur: Sophie-Margarete Schuster und Harald Müller
Satz und Gestaltung: Bertram Schiel
Printed in Germany
1. Auflage 2023 (1000 Exemplare)
ISBN 978-3-95749-481-8 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-485-6 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-488-7 (ePUB)
Autor:
Klaus Thaler, Jahrgang 1965, lebt und schreibt in der Uckermark
Mentor:
Peter Wawerzinek
(Die Romanidee der erzählenden Puppe schenkte der Mentor dem Autor während der Schreibideenwerkstatt 2012 am Oberlin College, Ohio, USA)
Zeitzeugenflaschenpost:
Nina Hagen, Fränki Schäfer, Sabine von Oettingen, Dome Hollenstein, Robert Paris, Tatjana Besson, André Greiner-Pol, Key Pankonin, Gunter Franze, Leo Kondeyne, Dr. S.c.Happy (Peter Wawerzinek), Christian Grashof, Jonas Biermann Soubeyrand
Alle Briefeschreiber sind autorisiert, mit diesem Buch Lesungen zu veranstalten.
Fotos: (siehe Bildnachweis)
Roger Melis, Frieda von Wild, Helga und Robert Paris, Thomas Starck, Kuno Rudolph, Hartmut Beil, Peter Wawerzinek, Frank Müller, Christiane Roewer, Frau Janosch, Jonas B. Soubeyrand, Jürgen Hohmuth (Schrat)
Zeichnungen/Siebdrucke:
Martin Krönert, Mita Schamal, Bertram Schiel, Johanna Martin, Hacki Ginda, Walfischdruck
Für alle Puppen dieser Welt,
für meine Mutter, die Erde,
für meine vielen Väter, das Land,
für meine Freunde und Feinde
und für dich, dich und dich …
0. Zinnober der guten Vorsätze
1. Zorro der Bär
2. Die Vertreibung des Hanswursts
3. Auf der Mauer auf der Lauer
4. Spannung und Widerstand
5. Paris, Paris Ecke Winsstraße
6. Der Mob läuft um die Ecke
7. Stillgestanden!
8. Super-8-Mann nimmt kein Trinkgeld
9. Die T-Shirt-Manufaktur
10. Die Scharlatarne
11. Der Zauberring und das traurige Blauhemd
12. Wir sind das Volk
13. Die Flugblätter von Gethsemane
14. Der wilde Affe von Rummelsburg
15. Die Rakete vom Alexanderplatz
16. Das gemeine Feeling beim Mauerfall
17. Heiligabend in Amsterdam
18. Rendezvous im Rosenthal
19. Hätte popette
20. Charly, das Huhn und die Taube Europa
21. Tacheles oder Tach Less
22. Das fliegende Ohr
23. Alles im Eimer
24. Key, der Schlüssel zur Ichfunktion
25. Herr Spinner und der Lügendetektor
26. Kasbär und der Balast der Republik
27. Excalibur im portugiesischen Exil
28. Nachsätze mit Viren, Vorsicht
29. Hinweise zur Sekundär-Rezeptur
30. Bildnachweis
31. Werbung in eigener Sache
32. Zu guter Letzt: Ablassbriefe
33. Abspann
Die kleine miefige DDR-Diktatur war im Rückblick viel bunter und freier als wir dachten, es gab viel zu lachen bei all dem real existierenden Irrsinn. Die Gleichstellung der Frau war fortgeschrittener denn je, FKK und das Recht auf Abtreibung waren normal.
Erich Honecker küsste nicht nur Gorbatschow links und rechts, sondern auch den Papst in Rom.
Räuber-und-Gendarm spielen macht Spaß, solange man nicht erwischt wird und in den Knast kommt. Bombenleger, Geldsorgen, Drogen und bezahlter Sex waren in der Zone weitgehend unbekannt.
Die Waffen der friedlichen Revolution von 1989 hießen Kunst und Phantasie. Ein anarchistisches, äh Pardon nein, ein sozialistisches Chaos. Jeder kannte mindestens zwei Sprachen: eine in den vier Wänden der Familie und eine in der Öffentlichkeit.
Das Teekesselspielchen (Worte raten mit zwei Bedeutungen) und das „Ich sehe was, was du nicht siehst“-Spiel waren beliebt und verbreitet.
Dieses Buch will euch verleiten, alte Spiele wiederzuentdecken, zu schmunzeln und zu lachen, denn Totlachen ist besser als Totschießen.
Widersprüche sind eine Laichzeit des Lachens. Schon immer.
Achtung, dieses Buch ist verpuppt und entpuppt sich als Puppe in der Puppe in der Puppe, bitte nicht mit Matroschkas verwechseln, die immer kleiner werden. Dieses Buch wächst und du bist mittendrin.
Heidewitzka und Halleluja – die jüngsten Gerüchte.
Wieso Matthias BAADER 1989 den Startschuss zum Mauerfall gibt,
weshalb die Firma die Stasi an der Nase herumführt,
warum des Herrn Korruptus Treuhand nicht in Beugehaft sitzt,
wer seinen Esel nicht kämmt, hat die Wende verpennt,
nicht sein oder doch bleiben und Tacheles reden,
frag(t)mente deutsch-deutscher Verwicklungen,
bleibt unten oben, muss Mephisto toben,
dumm gelaufen – 1990 – Berlin im Eimer.
Ein Orakelbuch, das mit Z anfängt, jedoch mit A aufhört und demzufolge nicht von A - Z erlogen sein kann. Es passt zum absurden Theater der Zeit! Vorhang auf – das Spiel beginnt!
Zorro und die Zeitmaschine
Ich sehe was, was du nicht siehst,und das ist hinter den Kulissen.
Willkommen in der Zeitmaschine des ehrenwerten Herrn Mephistopheles, liebe Leser, steigt ein in das Luftschiff des Lügenbarons und macht es euch auf dem Sofa gemütlich, haltet euch gut fest an einer wohlschmeckenden Schale Tee, einem guten Glas Wein oder einem Becher Wasser.
Geht vorsichtshalber noch einmal auf die Toilette, stellt eure Handys auf Flugmodus. Steigt ein in unsere Höllenmaschine, keine Angst, ich hab sie dem Teufel persönlich abgeluchst, wir müssen vorsichtig sein, damit Baron Lefuet uns nicht bemerkt, festhalten, wir starten.
Mein Name ist Zorro. Zorro der Bär. Wir schreiben das Jahr 2019.
Ich bin eine Handpuppe und knapp dreißig Zentimeter groß. Auf den ersten Blick bin ich ein stinknormaler Teddy zum Reinschlüpfen, doch wenn ihr genau hinschaut, bin ich ein Löwe. Das bleibt auf ewig mein Geheimnis und ihr vergesst es am besten gleich wieder. Mit diesem Etikettenschwindel muss ich bis heute leben.
Es ist oft so bei euch Menschen, dass nicht das drin ist, was draufsteht. Seht euch nur die Kirchen dieser Welt an, sie sind nachts geschlossen, der Schutzsuchende schläft unter der Brücke, und hat er Hunger, bekommt er vom Pfaffen ein Stückchen Jesu Christi, also ein Stück Oblate auf die Zunge gelegt. Inszenierter Kannibalismus im Namen des Herrn. Ob das zum Sattwerden reicht, ist fraglich. Zum Glück bin ich eine Puppe und habe so gut wie nie Hunger. Meine Feinde heißen Maus und Motte, Einsamkeit und Vergessen. Dagegen kämpfe ich mit all den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Ich habe ein ockerfarbenes Fell, trage inzwischen eine Maske vor den Augen und verdecke mit meinem schwarzen Hut meine angehende Glatze.
Ich spiele einen der Helden in der Truppe einer Puppenbühne. Jonas, der Puppenspieler, denkt, er erwecke mich bei jeder seiner Aufführungen zum Leben, allerdings hat er immer noch nicht begriffen, dass wir ihn, nicht er uns spielt und wir nebenher auch noch ein Eigenleben führen. Wir sind ungefähr fünfzig Puppen im Ensemble und wohnen, je nachdem, welches Stück auf dem Spielplan steht, in dem einen oder anderen alten Koffer.
Auf der inneren Rückseite des Buchumschlags kann man uns sehen.
Frauen natürlich auch. Ich versuche, beim Einpacken meistens in die Nähe der süßen, kleinen Prinzessin Mary Filou zu gelangen. Das passt unserem siebenköpfigen, echt feuerspuckenden Drachen überhaupt nicht.
Er drängelt sich immer wieder zwischen mich und die Blondine. Am liebsten will unser Drachenspuk sie mit Haut und Haaren auffressen. Wie oft habe ich unserem Puppendirektor schon erklärt, dass er den Drachen in eine extra feuerfeste Kiste sperren soll, damit wir in Ruhe unseren Feierabend und die Winterpause genießen können. Ich spiele seit über zwanzig Jahren die Hauptrolle im Drachenmärchen „Excalibur“ und wenn alles gut läuft, wird das auch weiterhin so bleiben.
Die Kinder lieben es, wenn ich Prinzessin Mary Filou aus den Fängen des kleinsten Drachens der Welt befreie. Mit Hilfe des Magiers Merlin ziehe ich während der Vorführung das Zauberschwert aus dem Stein und obwohl mir fast jedes Mal das Herz vor Angst in die Hose rutscht, gewinne ich den Kampf, schlage dem Untier alle sieben Köpfe ab.
An manchen Tagen meckert unser Prinzesschen nach der Show mit mir, meint, dass ich aus dem Mund stinken würde und mir endlich mal die Zähne putzen soll. Dazu müsste unser nichts ahnender Puppenspieler allerdings erst einmal ein Bad in unseren Koffer einbauen. Dies ist aus Platzgründen schier unmöglich, im Gegenteil, es ist eng, zappenduster und riecht nach Bärendreck und Drachenfurz.
Inzwischen gibt es über zehn Koffer für uns und meistens sind die Puppen aus zwei verschiedenen Stücken in ein und derselben Behausung untergebracht. Viele meiner Kollegen aus dem Actionstück „Excalibur“ werden immer wieder besetzt.
Der König und die Königin glänzen auch in Stücken wie „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ oder „Der Soldat und das blaue Wunder“.
Wenn wir Glück haben und Jonas nicht zu faul ist, bekommen wir sogar neue Kostüme.
Der Obermacker in unserer Truppe ist natürlich der Kasper, oder auch Hanswurst genannt. Mary Filou liebt ihn und somit also auch mich, denn wir zwei sind eigentlich einer.
Ihr werdet euch sicher fragen, wie geht das, was für ein grober Unfug?
Die Lösung ist ziemlich einfach: Ich bin in der Geschichte Zorro der Bär, also der Kasper im Bärenfell und unsere blonde Prinzessin erlöst mich von dem bösen Fluch der Neuberin, indem sie drei Fragen richtig beantwortet. Meist hilft ihr das Publikum dabei, damit nichts schiefgeht. Mit einem großen Donner und nach Silvester riechendem Rauch verwandle ich mich zurück in den Kasper.
Die meisten Kinder erliegen dieser Illusion und merken nicht, dass wir zwei verschiedene Puppen sind, aber die gleiche Seele besitzen. Oft müssen wir dem Puppenspieler eintrichtern, was wir sagen wollen. Da ich bisher nur bei „Excalibur“ mitspielen darf, muss ich manchmal zu Hause bleiben. Dann fehlt mir etwas, ich bin still und es kommt vor, dass mir eine Träne über die Bärenwange läuft. Nicht gebraucht zu werden, ist schwer zu verkraften, erst recht, wenn Jonas, der Puppet-Master, zu mir sagt, ich solle mich nicht so wichtig nehmen. Dabei kennen wir uns schon eine Ewigkeit und wie oft schon habe ich diesem Kerl das Leben gerettet.
Undank ist der Puppen Lohn.
Seid ihr bereit, liebe Leser, euch in das Innenleben und die Gedankenwelt einer Puppe zu versetzen, die Grenzen zwischen phantastischer und realer Welt zu überwinden? Ja? Fein, dann seid ihr genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort! Kommt, kommt! Schnell, husch husch steigt ein, die Zeitmaschine hebt in drei Sekunden ab, wer den Anschluss verpasst, bleibt in der Gegenwart hängen und kann das Buch ungelesen weiterverschenken. Haltet durch beim Aufwickeln des roten Fadens der Geschichte, wer die Sprache zwischen den Zeilen versteht, hat doppeltes Vergnügen.
Vorwärts, äh nein, rückwärts marsch und vor allem: Nichts vergessen!
Ich scheitere 1968 jämmerlich bei meinem ersten Versuch, die Berliner Mauer einzureißen. Ich sollte üben, mich beim Heldentaten vollbringen und beim Wünsche aussprechen mehr zu konzentrieren und genauer auszudrücken. Allein gegen das Böse zu kämpfen ist sinnlos, daher bitte ich unseren Magier um Hilfe. Ich rufe ihn mit all meiner Energie: „Meeerlin!“ Es dauert keine fünf Sekunden und er steht neben mir: „Na Teddy, was gibts?“ – „Du musst mir helfen, die Mauer muss wieder weg!“
„Wieso, weshalb und … vor allem warum?“, fragt er.
„Für Jonas und die Großmutter …“, antworte ich kleinlaut. „Mach dir keine Sorgen, Zottelbär, es wird geschehen!“, und schwupp, ist er wieder weg. Eine Woche später bekommt Jonas, der grade mal fünfjährige Rotzlöffel aus dem Ostteil der Stadt, einen Reisepass und dass, obwohl der Betonzaun um West-Berlin schon sieben Jahre steht.
Blutbeklebtes Moos wächst an seinen Rändern.
Puppenbaader bei der Arbeit
Instrumentalisiert
Märchenbrunnen von König Friedrich II.
Caroline Friederike Neuber, genannt die Neuberin (1697 – 1760)
Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781)
Hä? Einen Reisepass, wo weder Katz noch Maus ein Schlupfloch durch den eisernen Vorhang finden? Wie kann das sein? Ganz einfach.
Wolf Biermann ist der Vater des Kleinen und gleichzeitig der Ziehbruder von Margot Feist, der späteren Ehefrau von Erich Honecker. Die spätere First Lady arbeitet fleißig als Ministerin für Volksbildung und hält die schützende Hand der Partei über das lautstark provozierende Brüderchen. Ihr Mann Erich, also der mit dem Panamahut, ist darüber nicht amüsiert und ahnt damals schon, dass er einst über den frechen Sänger stolpern wird. Wolfs Mutter lebt in Hamburg und will endlich den Enkel für mehrere Wochen auf ihrem Schoß sitzen haben. Also stiefelt sie bei einem Besuch in Ost-Berlin ins Büro ihrer Ziehtochter. Die alte Kommunistin liest Frau Margot gehörig die Leviten, die tätigt daraufhin ein Telefonat und fertig ist der Lack. Der geliebte Enkel bekommt ohne Probleme seinen ersten Reisepass zur Ein- und Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland.
Brigitte, die Mutter des Jungen, fährt Jonas mit dem Trabbi zum Flughafen Schönefeld und übergibt ihn in die Hände einer reizenden Stewardess. Die schenkt dem drolligen Kind einen Lutscher, um beim Start den Druck auf seinen Ohren zu mildern. In Hamburg gelandet, steht Oma am Ausgang und empfängt ihr Apfelbäckchen mit Zuckerstangen. Sie küsst ihn ab und weint vor Freude riesengroße Krokodilstränen.
Das war es, was die meisten DDR-Bürger wollten: frei reisen. Leider ist dies dem größten Teil des Volkes verboten und wer trotzdem über die Mauer klettert, wird unter widrigen Umständen erschossen.
Jonas landet, unversehrt vom Klassenfeind, zurück in Ost-Berlin, was nicht ganz stimmt, denn er kommt bepackt mit einem Rucksack voller Lego-Bausteine und einem Dutzend geiler Matchbox-Autos nach Hause. Ab sofort mag er das sozialistische Spielzeug im Kindergarten nicht mehr und die Kindergärtnerinnen wundern sich über die schicken Billigklamotten, Marke West. Es dauert eine Weile, eh ich begreife, dass die Mauer immer noch steht und ich meinen Wunsch falsch formuliert habe. Ich hätte nur zu unserem Zauberer sagen müssen: „Die Mauer soll ganz weg, für alle!“ Pustekuchen, mal wieder alles falsch gemacht, beim nächsten Versuch bin ich schlauer, versprochen, ihr werdet es erleben.
Ich fühle mich einsam in meiner Bärenhaut und schaue schweigend aus dem Fenster. Ich blicke auf den Märchenbrunnen im Friedrichshain, ein wunderschöner Brunnen im Herzen Berlins. Jonas spielt häufig in seinem Märchenbrunnen, er liebt das Wasser, er liebt das Märchen, er liebt das Leben. Jahrzehnte später behauptet der Junge, er habe als Kind zu oft im Märchenbrunnen gebadet und hätte daher nichts anderes als Geschichtenerzähler und Puppenspieler werden können.
Nach der Schule schmeißt das Kerlchen seinen Ranzen in die Ecke und lungert mit Freunden in den Brunnennischen. Er kennt jedes Versteck, jeden Schleichweg und jeden Baum im Park. Es werden Wasserspäße und Mutproben erdacht, die Phantasie kennt keine Grenzen. Die erfrischenden Wasserfontänen der Delphine werden mit dem Druck von Mittel- und Zeigefinger in die gewünschte Richtung gelenkt. Unter viel Gekreische wird sich gegenseitig nass gemacht. Jonas verlebt eine märchenhaft behütete, grimmsche Kindheit zwischen Hans im Glück, Rapunzel, Dornröschen, Aschenputtel, dem Froschkönig, dem liebevoll gestrengen Ziehvater und vielen anderen.
Die ersten Ambitionen zum Puppenspieler sind bereits im zarten Alter von drei Jahren unmissverständlich zu verstehen: Während andere Jungs ausschließlich mit Autos, Pistolen und Traktoren spielen, badet mein späterer Theaterdirektor mit Hingabe kleine Gummipuppen in Plastikschüsseln. Erst werden die Objekte seiner Spiellust entkleidet, dann ausgiebig untersucht und anschließend gewaschen, wobei er schnell bemerkt, dass komischerweise immer nur Mädchen unter den Kleidern wohnen.
Die Puppen werden natürlich auch auf den großen, roten Laster mit gelber Plastikladefläche und Kippvorrichtung verfrachtet. Unermüdlich zottelt er ihn hinter sich her. Wenn der Knirps damals schon geahnt hätte, dass er später einmal in einem großen, roten LKW wohnt, dass er mit mir und den anderen Puppenkollegen übers Land ziehen wird – er hätte sich schelmisch in die Fäustchen gelacht.
Als Biermann, der sangesfreudige Vater mit der Gitarre und dem traurigen Schnauzbart, noch Held des Volkes ist, schenkt er dem Sohnemann zum Geburtstag ein großes, aus einem Schrankunterteil selbstgebautes Puppentheater, hinterlässt den vielsagenden Wink mit dem Zaunpfahl. Dieses Puppenhaus ist nicht nur die perfekte Bühne für kleine Darbietungen, es wird von Stund an auch beliebtester Ort des Versteckspiels. Zeitweilig muss es auch als königliches Schlafgemach herhalten. Jonas entwickelt sich prächtig und ist drollig anzusehen. Und ich, sein geliebter Teddy? Ich soll nach wie vor Heldentaten vollbringen.
Spitzelbericht aus Biermanns Akte „Lyriker“
Reisefreiheit mit Beziehungen
Ich muss den Hero spielen, obwohl mir die Rolle überhaupt nicht liegt. Ich bin der klassische Antiheld, bin furchtsam und habe Angst.
Aber ohne Missionen ist auch ein Puppenleben nur halb so wild und da Übung den Meister macht, werde ich von Mal zu Mal besser. Flüche und Verwünschungen muss man aushalten und das Beste daraus machen.
Passt bloß auf, liebe Leser, beim Verfluchen ist es oft so, dass es am Ende denjenigen trifft, der den Fluch ausspricht. Ich als Kasbär kann euch ein Lied davon singen. In meinem Falle traf es Friederike Caroline, genannt die Neuberin, die Komödiantin aus Lessings Zeiten.
Ab dem Moment, wo sie mich auf dem Scheiterhaufen abfackeln will, wird sie vom Pech verfolgt. Mag sein, dass die Neuberin die großartigste und modernste Komödiantin ihrer Zeit ist, aber dass sie mich, den Hanswurst, Kasper, Liebling der Kinder und der einfachen Leute, von der Bühne verbannt, das werde ich ihr nie vergessen. Rache ist Blutwurst.
Sie stirbt einsam und verarmt. Kein Mensch wird sich an sie erinnern.
Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Jonas in seinem ersten Puppentheater
Ich sehe eine, die ihr nicht seht,und die hat großes Theater gemacht.
Ich bin zwar äußerlich ein verwunschener Bär, aber innen drin, im tiefsten Herzen meines Handpuppendaseins, da bin ich Kasper, Scharlatan und Eulenspiegel. Viele Jahre, bevor der Puppenspieler mich in Besitz nimmt, stecke ich auf dem Hals dieser leeren Weinflasche.
Ich gehöre dem großen Bruder des Kleinen und wohne in dessen Zimmer. Die Flasche gibt mir Rückhalt und Sicherheit. In dieser Zeit fühle ich in mir eine unendliche Leere. Ich bin sprachlos. Keiner spielt mit mir. Das stimmt nicht ganz, ein bis zweimal im Jahr kommt Jonas heimlich ins Zimmer geschlichen. Natürlich nur, wenn Manuel außer Haus ist. Er schaut mir tief in die Augen und versucht erfolglos, mich mit seinen kleinen Patschehändchen zu streicheln. Einmal wird er übermütig, nimmt sich einen Hocker und reißt mich von meinem Sockel. Er kriecht mit der Rechten in meinen Körper, doch sein Zeigefinger ist viel zu mickrig.
Mein Kopf knickt zur Seite, der Zwerg kann mir noch kein Rückgrat geben. Ich genieße es trotzdem, frage mich allerdings immer öfter, ob Merlins Prophezeiung vielleicht doch nur eine Finte ist, ein übler Schabernack des weisen Mannes oder eine erneute Prüfung des Schicksals.
Seit über zweihundertfünfzig Jahren bin ich verflucht, verflucht von dieser verdammten Neuberin, verflucht mit zwei Seelen – ach, in meiner Brust – zu leben. Schizophrenie pur. Jeder Psychiater würde verrückt werden, wenn ich auf seiner Couch liegen und plaudern würde. Ich hoffe, es ist kein Seelendoktor unter euch, wenn doch, so möge er dies Buch beiseitelegen, ich übernehme keinerlei Verantwortung, für das, was passiert, passiert ist und passieren wird. Jeder haftet für sich selbst.
Hereinspaziert, hereinspaziert, steigt ein mit mir in die Zeitmaschine, einen Reisepass braucht ihr nicht und die Atemschutzmasken könnt ihr getrost zu Hause lassen. Wir müssen nur zusammenhalten und sehr achtsam sein, denn wenn Baron Lefuet uns erwischt, sind wir verloren. Gut festhalten, wir fliegen im Rückwärtsgang und schwuppdiwupp, dreimal an die Stirn getippt – schon sind wir da!
Man schreibt das Jahr 1737. Bitte aussteigen.
Wir befinden uns in einer der vielen Komödienbretterbuden in Hamburg. Die Sonne scheint, ich sitze in meinem Narrenkostüm vor der Bude am Fischmarkt. Die Menschen strömen in unser Theater, wollen sich das neueste Schauspiel unserer Truppe ansehen. An der Kasse steht eine lange Schlange. Heute wird die Bude voll.
Ich mache nichtsahnend meine derben Späße mit den herbeischlendernden Schaulustigen. Es klingelt bereits zum dritten Mal, die Vorstellung beginnt, wir sind restlos ausverkauft. Unsere Prinzipalin Friederike Caroline Neuber, im Volksmund die Neuberin genannt, begrüßt mit einer Eröffnungsrede das anwesende Publikum. Ich quatsche wie immer dazwischen, mache blöde Witze, ziehe die Chefin durch den Kakao, furze laut, rülpse was das Zeug hält. Die Leute lachen müde. Madame droht mir auf offener Bühne mit Kürzung der Gage, wenn ich nicht augenblicklich meinen vorlauten Mund halte, mich nicht endlich sittsam benehme. Ihre Wut stachelt mich an, ich setze ihr einen derben Witz nach dem anderen entgegen. Nach zehn Minuten läuft das Fass über. Sie packt mich am Kragen, schmeißt mich lauthals von der Bühne: „Scher dich zum Teufel und lass dich hier nie wieder blicken! Hanswurst, du elender, miserabler Schmierenkomödiant, weg mit dir, du Kasperkopf!“ Und sie gibt mir einen derben Tritt in meinen Allerwertesten. Ich klettere unbeeindruckt die Rampe wieder hoch, bin ganz Sau.
Das Publikum tobt, die Leute sind endlich aus ihrer Lethargie erwacht, sie klatschen sich gegenseitig auf die Schenkel, trampeln wie verrückt mit den Füßen im Takt.
Keiner kann mehr unterscheiden, ob unser Streit echt ist oder gar zum Spektakel gehört. Sie drängt mich erneut hinter die Kulissen, ich wechsle die Seite und erscheine frohlockend auf der gegenüberliegenden Gasse der Bühne. Sie ist so in Rage, dass sie zum äußersten Mittel greift, sie verurteilt mich vor allen Leuten öffentlich zum Tode.
Schon seit Wochen diskutiert sie mit mir, dass ich ihre ernsthaften Tragödienspiele nicht stören, mich benehmen und einfügen soll. Ich setze ihr entgegen, dass ein gesundes Lachen, ein laut tönender Furz, ein frivoler Schabernack nie schaden kann.
Ich reime aus dem Stegreif: „Fängt das Zwerchfell an zu rosten – stehst du auf verlorenem Posten“. Die Leute johlen und ich singe lauthals: „Ist das Leben noch so kurz, lass dir Zeit für einen Furz.“ In gewisser Hinsicht verstehe ich ja den Anspruch unserer Chefin.
Sie versucht seit Jahren, das Theater von meiner pöbelnden, platten und sexistischen Derbheit zu befreien, sie kämpft für die Reinheit der moralischsittlichen Tragödie.
Sie ist gemeinsam mit ihrem Freund und Verehrer Gotthold Ephraim Lessing der Auffassung, Theater soll nicht der reinen Unterhaltung, sondern vielmehr der Bildung und Erziehung dienlich sein. Und dabei war die Neuberin dem Komischen keineswegs abgeneigt, kreischte selbst gern bei passender Gelegenheit wie eine Lachmöwe.
Nach und nach hetzt sie das gesamte Ensemble gegen mich auf und heute, am 7. Oktober 1737 ist es so weit. Sie hat vor unserer Bretterbude einen Scheiterhaufen errichten lassen. In der Mitte des akribisch aufgerichteten Holzhaufens throne ich als Puppe, symbolisch für alle Hanswürste und Kasperköpfe dieser Welt. Auf meinem Rücken ist ein schweres Tierfell befestigt. Es ist der Bär, den sie dem Volke aufbinden will. Das Publikum steht wie immer erwartungsvoll gaffend im Halbkreis herum.
Das Drama beginnt im wahrsten Sinne des Wortes mit Pauken und Trompeten. Die Neuberin schreitet mit einer brennenden Fackel aus dem Haupteingang der Bude. Sie entfacht den Scheiterhaufen in der Mitte, richtet die gespreizten Daumen, Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand auf mich und ist bereit für den Fluch. Das Publikum hält den Atem an, glotzt mit offenen Mündern, weiß nicht recht, was es von dem Spektakel halten soll. Das Feuer lodert auf, Rauch steigt in meine Nase und wäre eine Puppenspielerhand in mir, ich würde wild gestikulieren, anfangen nach Luft zu japsen und fürchterlich husten.
Mein Leben läuft in Sekundenschnelle vor mir ab. Am liebsten würde ich lauthals schreien: „Friederike, die Menschen lieben mich, sie brauchen mich, tu's nicht!“ Aber ich habe keine Stimme, ich bin leer und vor allen Dingen machtlos. Die Neuberin tanzt drei Runden um den Scheiterhaufen und spricht mit fester Stimme: „Hanswurst, du nichtsnutziger Kasperkopf – verdammt sollst du sein bis in alle Ewigkeit! Du wirst so lange Heldentaten vollbringen müssen, bis du vielleicht eine Jungfrau findest, die dich erlöst! Nie wieder sollst du die Bretter, die die Welt bedeuten, betreten. Kein Mensch wird dir nachtrauern, hinweg mit dir!“
Ich habe nur noch einen Gedanken: „Hilfe! Hilfe! Meeeeerliiin, bitte hilf!“ Es blitzt am Himmel und er erscheint. Der Mann mit dem langen, grauen Bart lächelt mir zu, schwingt seinen Zauberstab und schlagartig gießt es in Strömen. Ich schließe ohnmächtig meine Augen und ergebe mich meinem Schicksal.
Helden werden nicht als solche geboren, sie werden von anderen dazu gemacht.
Ein wunderbar erlösender Sommerguss fällt vom Himmel und innerhalb von Minuten steht der Platz unter Wasser. Das Feuer zischelt vor Wut, dass es mich nicht erreichen und auffressen kann, nach und nach wird aus den Flammen glimmende Glut, die langsam erlischt. Wegen des Unwetters flüchtet das zahlreich erschienene Volk panisch in seine Hütten und Häuser. Als ich aus meiner Ohnmacht erwache, liege ich mutterseelenallein in der Wüste. Ich will erst nicht glauben, dass ich den Scheiterhaufen überlebt haben soll. Ich öffne erst das eine, dann das andere Auge, weit und breit kein einziger Mensch. Meine Hände sehen aus wie Tatzen, meine Arme und Beine sind mit goldgelbem Fell überzogen. Mir ist, als wäre ich aus einem furchtbaren Traum erwacht.
Ich reibe mir die Augen, um den üblen Alp zu verjagen. Wie schön wäre es, einfach aufzuwachen, mit den Schauspielerkollegen im Wirtshaus am Fischmarkt zu sitzen, zu frühstücken, das erste Glas Bier des Tages hinter die Binde zu kippen. Stattdessen kratze ich mir fast meine Augenlichter aus, Theaterblut tropft auf meinen Schoß, eh ich begreife, dass ich mir mit meinen langen, scharfen Krallen selbst das Gesicht zerschneide. Ich wandere tagelang, bis ich zu einem Fluss komme und mein wahres Antlitz sehe.
Die Neuberin hat mir nicht nur einen Bären aufgebunden, nein, sie hat mich in einen Bären verwandelt und ans Ende der Welt geflucht. Wenn ihre Zauberei hält, was sie verspricht, habe ich jetzt mehrere Jahrhunderte Zeit, eine Jungfrau zu finden – eine, die mich aus Liebe erlöst. Was für ein Schicksal. Fortan friste ich mein Dasein als Tierpuppe und beginne, den Traum von der Schönen und dem Biest zu träumen.
Es dauert Jahre, bis ich begreife, dass Puppe zu sein nicht das schlechteste Leben auf Erden ist. Kurios – heute findet genau an der Stelle, an der ich in Amerika in meiner Bärenhaut erwachte, das Burning Man Festival statt. Abseits des Mainstreams von Nevada in der Black Rock Wüste feiern die Freaks das Fest des brennenden Mannes. Hanswurst sei Dank. Die Glückshaut, die ich unter meinem Bärenkostüm trage, hat mich nie verlassen. Gottlieb, ein zwölfjähriger Junge, Sohn uckermärkischer Auswanderer, findet mich kurz vorm Verrücktwerden mitten in der Prärie. Der Bursche ist mit seinen Eltern, den acht Geschwistern sowie achtzehn weiteren Familien auf dem Weg ins gelobte Land. Er steckt mich unter seine Jacke, ich höre sein kleines Herz schlagen und atme erleichtert auf. Gerettet, in letzter Sekunde.
Der Treck, bestehend aus achtundzwanzig Planwagen, besetzt mit zweihundertdreißig Personen, irrt ziellos mehrere tausend Meilen durch die Ödnis. Keiner ahnt damals, dass hier und da später Öltürme wie Windräder aus dem Boden schießen werden. Immer wieder fordern der Goldrausch und die Kämpfe mit den damals noch zahlreichen Indianern ihre Opfer.
Wir schrumpfen auf neunzehn Wägen und zweiundneunzig Menschen, mich, Zorro den Bären, nicht eingerechnet. Nach drei Monaten des Umherirrens schlägt die Familie endlich ihre Zelte auf. Der Vater stößt seinen Stab in die fruchtbare Erde und steckt mithilfe der Kinder das eroberte Land bis zum Horizont ab. So nimmt das Schicksal seinen vorgeschriebenen Lauf. Die Winter werden hart und die Sommersonne brennt heiß, als die ersten Uckermärker aus dem kleinen Dorf Wallmow nach Amerika kommen. Noch heute befindet sich in der Nähe der Niagarafälle ein Ort namens Walmore, ein kleines Museum erzählt die Geschichte der deutschen Neusiedler.
Zorro in Amerika
Die nächsten Jahrzehnte lebe ich glücklich in meiner neuen Familie und sehe zu, wie die Farmer ihr kleines Paradies in der freien Welt aufbauen. Sie roden unermüdlich die Wälder, bauen Häuser, bohren Brunnen und ärgern sich anfangs sehr, wenn sie auf die stinkende, braune Soße stoßen. Keiner hätte damals geglaubt, dass dieses Öl den Untergang der Menschheit beschleunigen wird.
Rund zwanzig Jahre später wird aus dem kleinen Jungen Gottlieb einer der reichsten Plantagenbesitzer der neuen Welt. Seine älteste Tochter Jenny verheiratet er mit der Familie der McDonalds, sodass er nach der Hochzeit mit seinem Schwiegersohn über knapp 160 Hektar gerodetes Ackerland und gut bestückte Büffelweiden herrscht.
Der alte McDonald hatte aus Irland einen Fleischwolf mitgebracht, sowie seine Vorliebe für Bulette mit sauren Gurkenscheiben im Brot. Damals schmeckten die Dinger noch vortrefflich, leider scheint sein Rezept über die Jahrhunderte verlorengegangen zu sein. Ich vermute, dass es bei der Übersetzung vom Irischen ins Deutsche verwässert und dann ins Amerikanische reduziert wurde. Die ersten drei Generationen von Kindern spielen gern mit mir. Ich lerne den amerikanischen Slang und lebe mehr oder weniger glücklich in einer Holzkiste.
Damals pflegte ich eine romantische Liebesbeziehung zu einer wunderschönen, selbstgenähten rothaarigen Puppe. Nach fünfundsiebzig Jahren purzeln aus ungeklärten Gründen eine Stoffgiraffe und ein Frosch aus Holz in unsere traute Zweisamkeit.
Die Rothaarige verliebt sich in den langen Hals der Giraffe und ich schaue dumm aus meiner Bärenhaut. Die beiden lassen sich nach drei Wochen pro forma vom Holzfrosch trauen und brennen zu dritt während einer Familienfeier durch.
Ich bin wieder allein und trauere einige Jahrzehnte meiner Liebsten nach. Die Kinder der vierten Generation bemerken meine Melancholie und beschäftigen sich lieber mit lustigeren Dingen. Wer will schon mit einem Trauerkloß spielen? Keiner.
Irgendwann, so etwa im Jahre 1848, lande ich mit meiner Behausung auf dem staubigen Dachboden des Mutterhauses der McDonalds und kämpfe wacker gegen Motten, Mäuse und Schimmelpilze. Hundert Jahre später, kurz vor Weihnachten 1948, beschließe ich, mein Schicksal endlich selber in die Hand zu nehmen. Ich schleiche mich in die Träume der Haushälterin und suggeriere ihr, dass endlich wieder eine gründliche Reinigung des Dachbodens dran sei. Ich schlüpfe ungesehen mit in die Flohmarktkiste ihres jüngsten Sohnes und bin gespannt, was mir das Schicksal bieten wird. Ein Major der U.S. Army kauft mich für zwei Dollar, packt mich in seinen Koffer und fährt zum Flughafen. Ich will endlich raus, raus aus dem Exil, zurück in die Heimat. Ruhelos herumliegen, das ist auch für eine Puppe wie mich nicht leicht, schon gar nicht mit dem immerwährenden Zwiespalt, innerlich deutscher Hanswurst zu sein, äußerlich jedoch amerikanischer Bär.
Leider verpasse ich durch diese überstürzte Flucht die wilden sechziger und siebziger Jahre der amerikanischen Hippiebewegung. Aber wer weiß, wozu es gut war? Ich hätte mich unter dem Einfluss von psychedelischen Drogen bei der NASA eingeschlichen, wäre über die Studios von Hollywood mit auf den Mond geflogen und hätte dort mein Z in den Boden gefochten. Heutzutage ist das Z verdammt schwer belastet.
Das Ende vom Alphabeten. Unfassbar. Ich, Zorro der Bär, beantrage beim jüngsten Gericht Akteneinsicht in alle Geheimdienste der Welt, inklusive die des Vatikans, ähnlich wie bei der Auflösung der Staatssicherheit der DDR. Ernst beiseite, weiter im Text. Träume werden manchmal wahr.
Ich liege zwischen frisch gebügelten Hemden im Koffer des Majors. Wir befinden uns auf dem Flug von Washington nach München.
Wir schreiben immer noch das Jahr 1948, der zweite Weltkrieg hat Europa erschüttert und Mephisto freut sich über das angerichtete Chaos. Der Wiederaufbau bringt der Wirtschaft und Herrn Korruptus Jahrzehnte wahrer Wunder und die Haifische wetzen sich gegenseitig die Zähne.
Nachdem ich meinen Jetlag verkraftet habe, werde ich neben Kaugummis, Zigaretten und Parfum unter dem Tannenbaum einer schönen jungen Nürnbergerin platziert. Sie wartet schon seit Tagen voller Sehnsucht auf den Vater ihres unehelichen Kindes.
Da der Kleine lieber mit Matchbox und Maschinenpistolen spielt, lande ich erneut unbeachtet in einer Kiste unterm Bett. Trotzdem bin ich froh, denn ich kann aus meinem Versteck heraus gespannt den Erzählungen des Majors lauschen. Der gute Mann hat drei Jahre zuvor mit seinen Kameraden die Hitlerbande besiegt und wird aufgrund seiner guten Sprachkenntnis erneut nach Deutschland versetzt.
Er berichtet seiner Geliebten über die tägliche Arbeit als Dolmetscher während der Nürnberger Prozesse. Er erzählt von den Vernichtungslagern, vom blutenden Chaos, von den Toten. Das Mädchen will ihm nicht glauben, doch als er ihr die Fotos der Leichenberge zeigt, befällt sie Scham und Wut zugleich. Ob der Mensch je begreifen wird? Egal wo Gevatter Tod die Sense wetzt, ob am Little Big Horn, in russischen Gulags oder im chinesischen Kaiserreich. Der Mensch bleibt eine Hyäne und metzelt, meuchelt und mordet. Oft werden die verschiedenen Religionen von raffinierten Herren Korruptussen angestachelt, angezündelt und abgeschmiert.
Aus Mangel an Zutaten riecht es an diesem Weihnachten 1948 in Nürnberg nicht nach den berühmten Pfefferkuchen. Dafür brennen drei echte Kerzen, für jede Anwesende Seele eine. Für mich wie immer keine.
Meine Seele hat noch keiner gesehen, das soll, das muss, das wird sich ändern. Die junge Frau hat mit etwas Geschick zwei weiße Tauben aus der Ruine von Gegenüber gefangen und kurzerhand geschlachtet. Sie bereitet ihrem Befreier stolz eine weihnachtliche Nachkriegsspezialität und verkauft ihm die Tauben als Wachteln mit Maronenfüllung auf Möhrengemüse.
Dazu serviert sie amerikanischen Kartoffelbrei aus der Tüte mit einem Stich echter irischer Butter. Sie steht am Herd, der Braten duftet nach Thymian. Der Major tritt in die kleine Küche, erkennt den Betrug nicht, nimmt sie von hinten in den Arm und säuselt in gebrochenem Deutsch: „Darling, ik liebe Dick.“ Sie dreht sich um, lächelt und nach einem langen Kuss flüstert er abermals: „Nur Dick!“ Und: „Ik werd' für Dick ein Nürnberger!“
Er lässt sich die falschen Wachteln schmecken und lobt sein deutsches Mädel über den vierblättrigen Klee. Nachdem er auch das letzte Knöchlein abgenagt hat, spielt er mit seinem Sohn Hoppe, hoppe Reiter und kriecht auf allen Vieren durchs Weihnachtszimmer. Das heimliche Liebesglück währt drei Jahre, bis der Major nach Korea und später nach Vietnam ausrückt. Der Junge sieht seinen Vater nie wieder und terrorisiert aus Frust darüber seine Mutter. Sie liegt über mir und weint leise.
Ich kann ihr nicht helfen, keiner redet mit mir, ich liege einmal mehr achtlos unter einer Couch und warte wacker auf bessere Zeiten.
Aus einem spanischen Lexikon von 1967
Ich sehe was, was du nicht mehr siehst,und das ist schwarz/rot/gold mit Ährenkranz.
Eines Tages ergreift mich in der Kiste unterm Bett ein prophetischer dream, ein Traum. Merlin offenbart mir, dass bald meine nächste Mission bevorsteht. Ich soll noch vor 1961, also vor dem Bau der Mauer, zu einem Jungen nach Ost-Berlin.
Er heißt Manuel und wird bald einen kleinen Bruder namens Jonas bekommen. Dieser Jonas soll mir bei meiner Erlösung behilflich sein. Merlin beschreibt mir in meinen Träumen genau Tag und Ort seiner Ankunft. An einem Sonntag wird er das Licht der Welt erblicken. Ich habe genug Zeit, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den Start meiner Reise zu beschleunigen – genug Zeit, um pünktlich vor der Geburt an Ort und Stelle zu sein.
Die Geliebte des Amerikaners hat eine Bekannte in Köln, deren Mann vor dem Krieg eine Weinhandlung besaß. Der üppige Bestand an Weinflaschen reduziert sich über die Jahre des großen Krieges, ersparen ihm jedoch mit einem Job im rückwärtigen Dienst den Einsatz an der Front.
Mit dem spärlichen Rest an vollen Flaschen rettet er mehr schlecht als recht die Familie über die Nachkriegszeit. Er tauscht zwei Flaschen gepanschten Wein gegen mich und eine Puppenstube ein. Mein Selbstwertgefühl befindet sich kurz vor dem Zusammenbruch, aber ich bleibe wacker auf der Lauer, ich spüre, der Weg ist mein Ziel. Die Frau des Weinhändlers hat drei Töchter – Inge, Brigitte und die gute Ute.
Ich spiele wieder meine mir bekannte Rolle als Statist unterm Weihnachtsbaum. Die drei rheinischen Mädels stürzen sich auf das Puppenhaus, zanken sich, wer welches Zimmer einrichten, wer welches Püppchen an- und ausziehen darf und wer mit wem in einem Zimmer wohnt. Es scheint mein Los zu sein, seit des Fluches der Neuberin unter Betten, auf Dachböden und in verfallenden Kisten zu hausen.
Mit siebzehn Jahren verliebt sich Brigitte, die mittlere der drei Schwestern, in ihren französischen Pantomimenlehrer Jean Soubeyran und brennt mit ihm durch. Sie schreibt uns regelmäßig Briefe und schwärmt von ihrem neuen, selbstbestimmten Leben als Komödiantin.
Parallelen zur Neuberin sind rein zufällig.
Jean und Brigitte Soubeyran
Aus dem Programmheft der Truppe
Ab sofort lebt sie in einer Kommune im Speckgürtel von Paris und lässt sich Brigitt ohne e nennen. Sieben Jahre tingelt die Pantomimentruppe durch Stadt und Land, sie näht Kostüme, spielt und choreographiert. 1956 wird die gesamte Truppe von Bertolt Brecht ans Berliner Ensemble in Ost-Berlin engagiert.
Während der Proben stirbt der große Dichter, die Pantomimentruppe Jean Soubeyran zerfällt, die Ehe zerbricht, doch das kölsche Mädel bleibt im Osten. Voller Enthusiasmus stürzte sie sich in die Theaterwelt der jungen DDR, ist beseelt von den Brettern, die ihr ein Leben lang die Welt bedeuten werden. Sie ist fest überzeugt, mit ihrer Arbeit in diesem Teil Deutschlands mehr bewegen zu können.
Sie landet vorerst am Deutschen Theater, gründet nebenher 1961 mit ihrem neuen Liebsten und einer Gruppe von Idealisten mitten im Prenzlauer Berg das BAT, was für Berliner Arbeiter-Theater steht, oder besser:
Biermanns Arbeiter-Theater.
Die jungen Leute mobilisierten ungeahnte Kräfte, um ihren Traum von revolutionärem Theater umzusetzen. Die Wände des alten Kinos „Roxy“ in der Belforter Straße werden eingerissen, es wird laut gehämmert, gemauert, gemalert und gleichzeitig geprobt.
Die Truppe argumentiert schlau mit Partei und Behörden. Sie kriegen Rückendeckung und Unterstützung u. a. von hochkarätigen Künstlern wie Hanns Eisler, dem Dichter der ostdeutschen Nationalhymne, von Brechts Witwe Helene Weigel und dem Vizepräsidenten der Akademie der Künste, dem Bildhauer Fritz Cremer.
Obwohl die freie Gruppe einen demokratischen Anspruch hat, klebt nach wenigen Tagen das Schild „Intendant“ an Biermanns Bürotür.
Das neue Theater soll mit seinem Stück „Berliner Brautgang“ eröffnet werden, einem Stück, das den Mauerbau thematisiert. Dieses Tabuthema schmeckt einigen Bonzen des Apparats überhaupt nicht und trotz mehrmaliger Änderung und Entschärfung der kritischen Textstellen wird das Theater noch vor der Premiere geschlossen. Ich habe ein Exemplar der ersten Fassung gelesen und verstehe die Aufregung der Partei nicht wirklich. Das Stück ist ein wohlmeinender Treppenwitz der Geschichte.
Der unbequeme Dichter in Leitungsfunktion wird kurzerhand mit einem Hausverbot belegt und ausgesperrt. Aus Protest gegen diese Fehlentscheidung weigern sich die Mitstreiter unter einem neuen Intendanten weiterzumachen. Das BAT wird geschlossen und später von den Parteibonzen zur Studiobühne der Schauspielschule „Ernst Busch“ erklärt.
In Brigitt wachsen derweil die Zweifel an der Liebe des frechen Barden mit dem traurigen Schnurrbart, ebenso wie die am real existierenden Sozialismus in der DDR. Sie bleibt trotzdem und arbeitet mit dem Brecht-Schüler Benno Besson, der sich als Regisseur am Deutschen Theater einen Namen macht. Sie spielt in dessen legendärer Inszenierung „Der große Frieden“ von Peter Hacks die Rolle der koketten Dirne Lenzwonne.
Das Stück strotzt vor Spielfreude, Leichtigkeit und Systemparodie. Es wird ein Triumph und glänzt durch die Freude des Regisseurs am Komischen. Masken, sowie singende und tanzende Chöre werden sein Markenzeichen. Am Abend der Uraufführung im Oktober 1962 muss der Eiserne Vorhang während des Schluss Applauses fünfzehnmal geöffnet und wieder geschlossen werden.
Die Inszenierung entspricht zwar nicht der Parteilinie, wird aber zähneknirschend als Erfolg des sozialistischen Theaters verbucht. Brigitt gründet und lehrt in diesen Jahren an der Berliner Schauspielschule das Fach Pantomime und wechselt in den Siebzigern mit Besson an die Ost-Berliner Volksbühne. Dort angekommen, verwirklicht sie erste Regiearbeiten.
Aber halt, wir sind mit unserer Zeitmaschine schon viel zu weit geflogen. Während ich, Zorro der Bär, immer noch im Köln der fünfziger Jahre herumgammle, mache ich Brigittes Mutter, also der Frau des Weinhändlers, klar, dass ich dringend nach Ost-Berlin zu ihrem ersten Enkel Manuel will. Ich bin so neugierig auf den noch ungeborenen Jonas und den roten Osten, dass ich es nicht länger aushalte. Ich bündle all meine Energie und steige eines Nachts in die Traumwelt von Brigittes Mutter. Es dauert nur drei Nächte und ich hab' sie überzeugt. Omas lieben ihre Enkel und wollen sie ständig betutteln und beschenken, zumindest die meisten, die mit den großen Herzen.
Sie verpackt mich reisefertig in buntes Krepppapier, verknotet mich mit einer großen, roten Schleife aus Futterseide, legt ein Päckchen Kaffee, Apfelsinen und drei Tafeln billigste West-Schokolade mit ins Paket. Sie rennt zur Post an der Ecke und schickt sicherheitshalber ein Telegramm voraus, damit Brigitte weiß, ob der Ost-Zoll sich bedient hat. Ein letztes magisches, drittes Mal werde ich als Geschenk getarnt unter einem Weihnachtsbaum landen. Diesmal ist die Freude groß.
Manuel erspäht mich sofort mit seinen wachsamen Augen. Die kleine Rothaut, geprägt durch die Indianerfilme der DEFA, beginnt, mich zu jagen. Er greift mich während eines schnellen Galopps am Schlafittchen und reitet voller Stolz auf seinem Steckenpferd um den Baum. Ich gebe nach, lasse mich durch das Knallen seiner Peitsche beeindrucken und tue, was er verlangt. Ich springe durch Reifen, die zum Glück nicht brennen, stehe mein Männchen, tanze wie ein rechter Tanzbär. Gut dressiert, erhalte ich nach etlichen Proben einen Ehrenplatz in seinem Zimmer.
Endlich gute Aussichten. Ich kann jahrelang ohne Staubflusen auf den Augen aus dem Fenster schauen, meinen Blick durch sein Kinderzimmer schweifen lassen.
Im Sommer 1965 setzt Brigitte endlich ihren zweiten Sohn in die Welt. Jonas soll er heißen, wie der aus der Bibel. Bist du einmal in Not, so denke an Jona, er kam sogar aus dem Bauch des Walfisches heraus.
Was, wie bitte? Jonas? Das soll der Bursche sein, der mir bei meiner Erlösung behilflich sein wird?
Pünktlich am Sonntag, dem 13. Juni 1965, genau wie Merlin es prophezeite, höre ich seine Stimme das erste Mal. Der leibliche Vater verzichtet freiwillig auf die Anerkennung der Vaterschaft. Brigitte scheint damit einverstanden zu sein, da sie mit dieser Regelung alleinige Herrscherin über das Kind wird. Sie verbietet ab dem sechsten Lebensjahr den väterlichen Umgang und rächt sich für die erlittenen Liebesqualen.
Bis heute weiß Jonas nicht wirklich, wie er die Spielchen der Eltern bewerten soll. Die leidende Mutter meint, der Vater wollte damals Geld sparen und dem Jugendamt zur Alimenten-Berechnung keine Einblicke in seine Einnahmen gewähren.
Der Wolfsvater schweigt theatralisch und ist der Meinung, er habe die Vaterschaft gleich nach der Geburt angegeben.
Jonas braucht über fünfzig Jahre, um Licht in diese dunkle Angelegenheit zu bringen. Er geht sogar so weit, sich einen neuen Vater zu suchen und findet auf Teneriffa Meister Janosch. Die beiden mögen sich auf Anhieb und Janosch schmunzelt über seinen Josa mit den Zauberpuppen.
Eine befreundete Juristin auf Teneriffa wäscht Jonas den Kopf und sagt: „So, mein Lieber, ich kann dein Vater-Gejammere nicht mehr hören. Du gehst jetzt zum Standesamt, beantragst eine Geburtsurkunde und wenn da der Strich in der Rubrik Vater ist, hat er gelogen und ich schreibe ihm einen offiziellen Brief mit der Aufforderung, die Anerkennung innerhalb von drei Wochen anzugeben.“
Wolf mit Welpe. Wo ist die Antwort auf alle Fragen?
Chris und Jonas
Janosch und Jonasch
Der Sohn versucht ein letztes Mal, den Vater zurückzugewinnen, er schreibt: „Lieber Vater, Du hast jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder meine Anwältin zwingt Dich zur Legitimation oder, was mir lieber wäre, Du fährst eine Woche mit mir weg und wir reden über alles und die Sache mit der Vaterschaft ist erledigt.“
Der Wolf schweigt einsam weiter. Ende vom traurigen Lied, Jonas hat mit zweiundfünfzig Jahren immer noch keinen richtigen Vater, leider nur einen amtlichen. Zähneknirschend begibt sich der alte Isegrim mit über achtzig Jahren zum Standesamt und unterschreibt das Formular mit drei Kreuzen. Zeitgleich lässt er über seinen Anwalt verkünden, dass dem Bastard jegliche Kontaktaufnahme per Telefon, E-Mail oder persönlich jetzt erst recht untersagt sei und sich der verlorene Sohn gefälligst fernzuhalten hat. Was für ein Trauerspiel der Liebe.
Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist zerrüttet, da der Mauerfall politische Gräben zwischen den beiden aufreißt. Der Sohn glaubt an eine Reformierbarkeit des Sozialismus, der Vater mäht alles, was nach DDR riecht ohne Gnade nieder. Sein Refrain „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ gilt nicht für die anderen.
Und wisst ihr, liebe Leser, wo die Wahrheit liegt?
Ich, Zorro der Bär, weiß es. Merlin hatte seine Finger im Spiel, er musste um Gottes Willen verhindern, dass der Junge in der Jugend Schwierigkeiten mit der Obrigkeit bekommt. Der Junge soll Abitur machen, sich bei der NVA als Aufklärer ausbilden lassen, „die Firma“ aus den Angeln heben und groß und stark werden. Er soll versteckt als Drachentöter-Brut aufwachsen, um dann im richtigen Moment das Schwert des Vaters aus dem Drachen zu ziehen. Das Untier wird jämmerlich verbluten und ich bin meiner Erlösung zum Hanswurst ein ganzes Stück näher. Sorry, ihr beiden Streit- ochsen, das Ding ging nicht anders zu drehen.
Die ersten fünf Jahre seines Lebens darf der Sohnemann auch außerhalb der Ferien an jedem zweiten Wochenende im Monat zum geliebten Herrn Papa. Der Kleine lernt Schach spielen und Faxen machen. Biermann ist ein notorischer Weiberheld und liegt bereits während Brigittes Schwangerschaft in den Armen der jungen Schauspielerin Eva Maria Hagen.
Diese wird als Marilyn Monroe der kleinen DDR gehandelt und der Wolf lockt deren Tochter Nina zum Gitarrenspiel und lauten Gesang.
Zuvor lässt er sich jedoch für seine Brigitt einen Schnauzbart wachsen und beginnt, frech frivole Lieder zu dichten. Durch seinen betörenden Singsang zur Gitarre fallen Frauen wie Regentropfen in sein Bett, freie Liebe ist der letzte Schrei vorm jüngsten Gerücht. Brigitt leidet, die Beziehung zerbricht, ich schaue ratlos zu. Ich spiele mal wieder ungefragt die Rolle des kleinen Helden, tröste die beiden Brüder, Manuel, den großen und Jonas, den kleinen. Ein blutjunger Schauspieler aus Karl-Marx-Stadt findet den Weg in das zerrissene Herz der Mutter.
Beide Brüder machen dem Neuen das Leben schwer, Kinder sind gnadenlos. Der Wolfsvater holt seine Jungs in den Ferien zu sich. Die drei verleben herrliche Tage auf Usedom, der Insel der verlorenen Glückseligen. Sie schlafen, von Mücken zerstochen, auf einem ausgebauten Dachboden und erleben wahre Abenteuer.
Sie rasen fast täglich mit einem Motorboot über das Achterwasser und besuchen Eva Maria. Für beide Jungs bedeuten diese Besuche Tee, oder besser Limo, trinken und abwarten, bis die Geliebte beglückt ist.
Der Vater baut zwischendurch lustig zwitschernde Flöten aus frischer Weide und geht mit dem Kleinen auf die Jagd. Mit einem Luftdruckgewehr werden Stare erlegt und der Vater bringt dem Sohn bei, dass man Tiere nur töten darf, wenn man sie auch isst. Also werden die frechen Kirschendiebe erlegt, gerupft, ausgenommen und auf dem Lagerfeuer gedreht, bis sie knusprig sind.
Die Stare schmecken köstlich und der Sohn fühlt sich wie ein echter Indianer. Nach diesem wunderbaren Sommer schiebt die Mutter den Riegel vor die Tür der Verletzungen und da der Wolfsvater das Kind nicht anerkannt hatte, kann er seine Rechte auf geregelte Vater-Kind-Zeiten nicht beim Jugendamt einfordern. Selbst dran schuld, der alte Esel.
Die Mutter argumentiert mit der wachsenden Angst vor der Überwachung der Privatsphäre des Sängers durch die Stasi, und wenn er schon nicht in ihrem Bett liegt, so will sie auch nicht unter seine Räder kommen.