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Wie viele Muslime kennen Sie? Karen Krüger über 4 Millionen Mitbürger, von denen wir erstaunlich wenig wissen Deutschland diskutiert immer wieder über Islam und Kopftuch, über Integration und Mohammed Karikaturen – aber nachgesehen, was es mit dem Islam hierzulande wirklich auf sich hat, das hat bislang kaum jemand. Karen Krüger macht sich auf eine Deutschlandreise der besonderen Art. Sie sucht Muslime und deren Lebenswelten auf, trifft Leute, die ihren muslimischen Glauben ganz abgelegt haben, und solche, die am liebsten schon morgen als Dschihadisten in den Nahen Osten aufbrechen würden. Ihre Reise führt sie zu prominenten «Vorzeige-Türken», zu muslimischen Bundeswehrsoldaten, Lehrern, Kommunalpolitikern, zu Imamen und Religionskritikern. Immer leitet sie die Gretchenfrage: Wie hältst du's mit der Religion? Was bedeutet Islam für dich? Und was heißt das für die deutsche Gesellschaft? Karen Krüger verleiht dem deutschen Islam ein Gesicht, nein: viele Gesichter. Eine solche Reportage betritt Neuland, mitten in Deutschland. Die Fragen, wie Deutschland und der Islam miteinander leben werden und ob es vielleicht sogar schon einen ganz speziellen Islam made in Germany gibt, werden noch lange Thema bleiben. Dieses Buch zeigt, worum es geht.
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Seitenzahl: 450
Karen Krüger
Eine Reise durch das islamische Deutschland
Ihr Verlagsname
Wie viele Muslime kennen Sie? Karen Krüger über 4 Millionen Mitbürger, von denen wir erstaunlich wenig wissen.
Deutschland diskutiert immer wieder über Islam und Kopftuch, über Integration und Mohammed-Karikaturen – aber nachgesehen, was es mit dem Islam hierzulande wirklich auf sich hat, das hat bislang kaum jemand. Karen Krüger macht sich auf eine Deutschlandreise der besonderen Art. Sie sucht Muslime und deren Lebenswelten auf, trifft Leute, die ihren muslimischen Glauben ganz abgelegt haben, und solche, die am liebsten schon morgen als Dschihadisten in den Nahen Osten aufbrechen würden. Ihre Reise führt sie zu prominenten «Vorzeige-Türken», zu muslimischen Bundeswehrsoldaten, Lehrern, Kommunalpolitikern, zu Imamen und Religionskritikern. Immer leitet sie die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit der Religion? Was bedeutet Islam für dich? Und was heißt das für die deutsche Gesellschaft? Karen Krüger verleiht dem deutschen Islam ein Gesicht, nein: viele Gesichter. Eine solche Reportage betritt Neuland, mitten in Deutschland.
Karen Krüger, geboren 1975 in Marburg, wuchs im badischen Waldshut-Tiengen und in Istanbul auf, wo sie Abitur machte. Sie studierte Geschichte, Soziologie und Romanistik in Bielefeld, Berlin und Bordeaux und hatte mehrere Forschungsaufenthalte in Afrika. Heute ist sie Redakteurin im Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung».
Ramadan und die ewige Kopftuchfrage in Hamburg
Ich habe mir noch schnell ein Kopftuch gekauft, in dem türkischen Supermarkt neben dem Beerdigungsinstitut. Eigentlich wollten wir uns dort, in Arif Tokincis Büro, unterhalten. Aber der Tod nimmt keine Rücksicht auf Verabredungen. Ein Nigerianer ist gestorben, hat Arif Tokinci am Telefon gesagt. Und mit Hamburger Timbre: «Kommen Sie einfach mit.»
Arif Tokinci wartet auf dem Parkplatz vor seinem Beerdigungsinstitut; ein schlanker, großgewachsener Mann von Ende vierzig, mit freundlichen dunklen Augen. Wir fahren los, über Kopfsteinpflaster die Böckmann-Straße runter, vorbei an der Centrum-Moschee, deren grün-weiße Minarette aussehen, als strecke da ein seltenes Insekt seine Fühler in den Hamburger Morgenhimmel. St. Georg, das Schmuddelkind der feinen Hansestadt, wird gerade wach. Vor den Geschäften werden die Rollläden hochgezogen, auf dem Bürgersteig schiebt sich ein Fahrzeug der Stadtreinigung durch Papiermüll, Glasscherben, Erbrochenes. Am Ufer der Alster präsentiert der Stadtteil sein edles Fotografiergesicht. Am Steindamm jedoch, auf den Herr Tokinci gerade sein Auto lenkt, schlägt nachts der Puls von St. Georg am lautesten: in Pornoläden, Spielhallen und Schnellrestaurants. «Ein Nigerianer? Was für ein Nigerianer?» – «Der, der vor ein paar Tagen erschossen worden ist. Haben Sie das nicht mitbekommen?» Doch. Die Zeitungen waren voll davon. ‹Dieser Rentner hat gerade einen Mann abgeknallt!›, titelte ein Hamburger Boulevardblatt. Das dazugehörige Foto zeigte einen älteren Herrn in Boxershorts und T-Shirt. Seine Augen hatte die Zeitung verpixelt, man merkte aber, die Kamera hatte ihn überrascht. Die Polizei habe den genauen Tathergang noch nicht endgültig rekonstruiert, stand im Artikel. Sie gehe aber von versuchtem Einbruch aus. Der Mieter – der Mann auf dem Foto – hatte einen Revolver in der Schublade. An einer Kreuzung, keine zweihundert Meter vom Tatort entfernt, brach der angeschossene Nigerianer tot zusammen. Er wurde keine 25 Jahre alt. Sein Kumpel machte sich aus dem Staub.
Der Tote war Muslim, er soll auf dem Friedhof Öjendorf beigesetzt werden, es gibt dort ein islamisches Gräberfeld.
Der Islam sieht das Leben als befristete Gottesgabe, deren Ende der Tod markiert. So wie der Mensch durch das Einhauchen der Seele belebt wird, so stirbt er, wenn der Todesengel Izra’il zu dem Menschen tritt und ihm die Seele wieder nimmt. Der Tod bedeutet jedoch nicht das Ende. Er ist ein Übergang, der von bestimmten islamischen Riten begleitet werden soll. Nach islamischem Verständnis ist der Menschen ganz auf Gott ausgerichtet. Der Begriff «Islam» drückt das aus, denn übersetzt bedeutet er so viel wie Unterwerfung, Hingabe an Gott. Beidem verleihen gläubige Muslime durch bestimmte religiöse Riten Ausdruck, etwa in ihrer Niederwerfung zum Gebet. Stirbt ein Mensch, ist er dazu natürlich nicht mehr in der Lage. Die Gemeinde hat deshalb jetzt für ihn Sorge zu tragen. Es ist nicht nur Brauch, es ist das Recht eines jeden Muslims, dass er von seinen Glaubensbrüdern und -schwestern während der Bestattung begleitet wird. Sie sollen dem Verstorbenen durch Bittgebete und eine bestimmte Form der Beisetzung ermöglichen, seine Hingabe für Gott ein letztes Mal in dieser Welt zu bezeugen.
Arif Tokinci ist auf diese Bestattungsrituale spezialisiert. Er betreibt in Hamburg ein islamisches Beerdigungsinstitut. Seine Kunden sind Muslime aus aller Welt, vor allem sind es Türken. Auch christliche Familien wenden sich bisweilen mit einem Sterbefall an ihn. Herr Tokinci organisiert dann einen Pastor.
Eigentlich ist der Deutschtürke gelernter Kaufmann. Zu dem Beruf des Bestatters kam er als junger Mann über einen deutschen Freund, dessen Familie seit Generationen ein Beerdigungsinstitut in Hamburg betreibt. Starb ein Muslim, bot er sich als Übersetzer und Kulturmittler an. Im Jahr 1996 machte er sich selbständig, bis heute gehen er und sein Freund einander beruflich zur Hand. Fallen bei «Arif Bestattungen» ungewöhnlich viele Todesfälle auf einmal an, erledigt der Freund mal ein paar Fahrten, holt die Särge ab und Ähnliches. Hat das christliche Bestattungsinstitut einen muslimischen Sterbefall, übernimmt Arif Tokinci die Waschung des Toten und organisiert einen Imam für das Gebet.
Anfangs habe ihn der tägliche Umgang mit Verstorbenen große Überwindung gekostet, erzählt Arif Tokinci. «Wenn ich mich nicht selbständig gemacht hätte, hätte ich diesen Beruf sicherlich wieder aufgegeben. Der Tod von Kindern und jungen Menschen geht mir noch immer besonders nah. Auch Unfälle oder gewaltsame Todesfälle verkrafte ich nur schwer. Mein Glaube hilft mir, damit umzugehen», sagt er.
«Sind Sie denn sehr religiös?» – «Ich bete fünfmal am Tag, faste und trinke keinen Alkohol. Ich glaube an Gott. Die Religion bedeutet mir viel.» Arif Tokinci lacht verlegen: «Bin ich in Ihren Augen jetzt ein Radikaler?»
Ruhig steuert er seinen dunklen Mercedes durch den Hamburger Stadtverkehr. Der Friedhof Öjendorf liegt im Osten der Stadt. «Werde ich die Trauergemeinde bei der Beerdigung nicht stören?», frage ich. Arif Tokinci schüttelt den Kopf. «Keine Sorge. Bei muslimischen Beerdigungen ist jeder willkommen. Das ist nicht so wie bei deutschen. Sie werden niemandem auffallen, denn es werden sehr viele Leute da sein.»
In muslimischen Ländern überbringt der Gebetsruf die Nachricht vom Tod. Wer möchte, folgt ihm und geht zur Moschee. In Deutschland wird sie von Mund zu Mund weitergegeben. Wer den Toten oder dessen Familie kannte, und sei es nur entfernt, kommt einfach zum Friedhof und drückt sein Mitgefühl aus. Einladungen zur Beerdigung werden nicht verschickt. Auch Todesanzeigen sind nicht üblich. Der Termin der Beisetzung macht in der Community auch so die Runde. Bei dem verstorbenen Nigerianer war besondere Eile geboten. Der islamische Glaube möchte, dass ein Toter nach spätestens 24 Stunden beerdigt wird. Die Staatsanwaltschaft hatte den Leichnam des Mannes wegen der laufenden Ermittlungen aber erst gestern, fünf Tage nach dessen Tod, freigegeben. Die Familie rief sofort bei Arif Tokinci an. Warum gibt es eigentlich diese 24-Stunden-Frist? Arif Tokinci räuspert sich. «Von 24 Stunden ist, soweit ich weiß, in keiner theologischen Schrift die Rede. Man soll aber mit der Beisetzung nicht unbegründet lange warten. Es gibt eine Überlieferung, eine Hadith, in der es sinngemäß heißt: War der Verstorbene ein guter Mensch, dann beerdigt ihn so schnell es geht, damit er Ruhe findet und das Paradies erwarten kann. War er hingegen ein schlechter Mensch, dann beerdigt ihn so schnell es geht, damit ihm bald seine gerechte Strafe zukommt.»
Der islamischen Regel gerecht zu werden, verlangt nicht nur Arif Tokincis Berufsethos. Als gläubigem Muslim ist es ihm auch eine Herzensangelegenheit. Es gibt nicht viel, was er als Grund für die Verzögerung einer Beisetzung akzeptiert. Komme ein wichtiger Verwandter von sehr weit her, könne er verstehen, wenn die Familie auf sein Eintreffen warten möchte, sagt er. Verzögerungen wegen polizeilicher Ermittlungen, wie im Falle des Nigerianers, wertet er als höhere Gewalt. Sollte nicht klar sein, wer die Kosten für die Beerdigung trägt, nimmt hingegen er das Tempo raus – «ich muss auch wirtschaftlich denken, der Prophet war Kaufmann, es ist also hoffentlich okay». Überhaupt kein Verständnis hat Arif Tokinci allerdings für Familien, die ihn bitten, den Opa noch eine Weile im Kühlfach zu lassen, damit sie den Urlaub in aller Ruhe beenden können. Genauso wenig kann er akzeptieren, wenn Angehörige sich am Sterbebett so zerstreiten, dass die Beerdigung hinausgezögert werden muss – «das kam alles schon vor». Im Islam heißt es, zu dem Verstorbenen treten zwei Engel, wenn er im Grabe liegt, erklärt Arif Tokinci. Sie fragen ihn: Wer ist dein Gott? Wer ist dein Prophet? Welches ist deine Religion? Welches deine Gebetsrichtung? Kennt der Verstorbene die richtigen Antworten: Gott, Mohammed, der Islam, Mekka, so erhält er von den Engeln die Bestätigung seiner künftigen Erlösung. Arif Tokinci schnaubt laut durch die Nase. «Wer könnte sich anmaßen, einen geliebten Verwandten auf diesen Moment länger als notwendig warten zu lassen? Sind die Engel weg, kommt die sogenannte Wartezeit. Das klingt schlimm und quälend. Es wartet schließlich niemand gern. Diese Wartezeit ist jedoch ganz anders. Für gute Menschen vergeht sie wie im Flug, da der Verstorbene schon in einem sehr angenehmen, gottnäheren Zustand ist, der am Jüngsten Tag aufgehoben wird. Schlechten Menschen kommt sie hingegen wie eine Ewigkeit vor. Je nachdem wie der Richterspruch ausfällt, geht es danach in die Hölle oder ins Paradies.» Reinreden möchte Herr Tokinci den Familien nicht. Offenbar denkt er sich aber seinen Teil.
Tokincis Handy klingelt. Er drückt die Freisprechanlage: «Efendim!» – «Ja bitte!» Einer seiner Mitarbeiter ist am Apparat. Der Mann redet schnell, hektisch, auf Türkisch: Ein Haufen Leute sei schon da, aber er wisse nicht, welchen Toten er waschen soll, in der Kühlanlage lägen zwei. «Der Afrikaner, ihr müsst den Afrikaner waschen!», brüllt Arif Tokinci ins Telefon. Er legt auf, wischt sich Schweißperlen von der Stirn. Es ist Ramadan, die islamische Fastenzeit. Herrn Tokincis Tag begann heute schon früh, weit vor Sonnenaufgang. Er hat gebetet, gegessen und getrunken, bevor es Tag geworden ist. Erst wenn das Tageslicht spät abends wieder erloschen sein wird, darf er wieder etwas zu sich nehmen. Im Radio haben sie vorhin angekündigt, dass die Temperaturen an diesem Hamburger Junitag mittags 30 Grad erreichen. Schon jetzt liegt eine drückende Schwüle über der Stadt. Schwer vorstellbar, wie man das ohne einen Tropfen Wasser durchstehen soll. Arif Tokinci lächelt. «Wir sind heute Morgen alle etwas angespannt. Es ist gar nicht so sehr das Fasten, da sind nur die ersten Tage schwierig. Es ist dieser Sterbefall. Mir sind zehn normale Todesfälle lieber als ein Mensch, der gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde. Da kochen die Emotionen bei den Angehörigen immer besonders hoch. Die hören dann nicht mehr auf den Bestatter.»
Die Arbeit eines muslimischen Bestatters bedeutet enormen Stress. Wegen des engen Zeitfensters zwischen Todeseintritt und Beisetzung ist sie kaum zu vergleichen mit einem herkömmlichen Bestattungsinstitut. Sobald Herr Tokinci von einem Sterbefall erfährt, tickt die Uhr. Er sagt den Angehörigen am Telefon, welche Unterlagen des Toten sie bereithalten sollen: Geburtsurkunde und Heiratsurkunde im Original und in deutscher Übersetzung, Ausweis. Dann fährt er oder einer seiner Mitarbeiter ins Krankenhaus oder in die Wohnung des Verstorbenen, um persönlich mit den Angehörigen zu reden und die Unterlagen abzuholen. Hat sich die Familie für eine Beisetzung in deutscher Erde entschieden, kann Tokinci entspannen – nach deutschem Recht darf ein Leichnam nämlich erst nach 36 Stunden beigesetzt werden. Wünscht die Familie eine Überführung, ist Eile geboten. Hat Arif Tokinci ihren Anruf schon morgens erhalten und der Arzt den Totenschein sofort ausgestellt, ist die Überführung – sofern es in die Türkei geht – noch am selben Tag machbar: Die erforderlichen Gänge zum türkischen Konsulat und zum Gesundheitsamt bekommen Arif Tokinci und sein Team innerhalb von ein, zwei Stunden hin, und Flüge in die Türkei gibt es von Hamburg aus dreimal am Tag. Alles läuft parallel. Herr Tokinci sitzt in seinem Büro mit der Checkliste der notwendigen Schritte; faxt, mailt, telefoniert.
Wieder klingelt Arif Tokincis Handy. Es ist sein mobiles Büro. Eine Dame von der Friedhofsverwaltung Ohlsdorf bestätigt einen Beerdigungstermin. Der Bestatter wirkt erleichtert. «Eine türkische Familie», sagt er anschließend. «Es gab Streit. Die Schwestern des Toten wollten, dass der Bruder in ihrem Dorf in der Türkei beerdigt wird. Seine Kinder wünschen, er solle in Hamburg bleiben. Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt. Ich habe ihnen erklärt, dass es wie im Erbrecht ist. Das meiste Gewicht hat das Wort der Ehefrau, danach das Wort der Kinder. Andere dürfen sich da laut Gesetz gar nicht einmischen.»
Arif Tokinci managt den Tod. Er sorgt allerdings nicht nur dafür, dass Muslime nach dem islamischen Ritus zur Ruhe gebettet werden. Er ist auch Tröster, Berater in religiösen Fragen und – auch das kommt häufig vor – Streitschlichter.
Bei dem Mann mit nigerianischen Wurzeln gab es keine Diskussion.
Die Familie hat keine Beziehung mehr zum Geburtsland. Auch Iraner und Afghanen wüssten meistens schnell, was sie wollen, erzählt Tokinci: Die erste Generation kam als Verfolgte nach Deutschland. Die politischen Wirren in ihren Ländern machten eine Überführung nach dem Tod unmöglich, und so wurden die afghanischen und iranischen Väter und Mütter in Hamburg beigesetzt.
Kniffelig wird es, wenn eine Familie türkische Wurzeln hat. Die Verbindungen in die Türkei sind noch eng, eine Flugreise dorthin kein Problem und eine Überführung sogar billiger als ein Grab in Deutschland. Achtzig Prozent der verstorbenen Deutschtürken werden in der Türkei beigesetzt. «Bedauerlicherweise», sagt Arif Tokinci, «endet die Entscheidung meistens im Streit.»
In der Regel wollen die hier geborenen Enkel und Kinder die Angehörigen in Deutschland behalten. «Wäre da nicht die Familie in der Türkei, die auf einmal lautstark Anspruch auf die tote Schwester, die Tante, den Bruder, den Onkel erhebt.» Deren Wünsche abzulehnen ist gar nicht so einfach. Denn in der türkischen Gesellschaft wird der Respekt vor Älteren noch groß geschrieben. Und so laufen, sobald ein Angehöriger gestorben ist, zwischen Deutschland und der Türkei die Telefondrähte heiß. Es wird diskutiert, geweint, gestritten, mit Liebesentzug, mit Enterbung, mit Höllenfeuer gedroht. Jeder nimmt für sich in Anspruch, den Willen des Toten zu kennen. Arif Tokinci seufzt. Meistens habe der Verstorbene sich zu Lebzeiten nie klar geäußert, wo er einmal begraben werden will: «Deutsche sind da ganz anders. Sie legen fest, wo sie beigesetzt werden möchten. Manche suchen sich sogar schon ihren Grabstein aus oder hinterlassen Wünsche für die Trauerfeier. Türken hingegen verdrängen gern den Tod, vor allem jene, die ihr Leben lang gegrübelt haben, ob sie nicht doch in die Türkei zurückkehren wollen.» Auch die Finanzierung sei oftmals alles andere als klar.
Vor ein paar Wochen stand eine ältere Frau bei ihm im Büro. Ihr 84 Jahre alter Mann war gestorben. Ein halbes Jahr zuvor war ihm seine Lebensversicherung ausgezahlt worden: 200000 Euro. «Der Mann hatte nichts Besseres zu tun, als das ganze schöne Geld in seine Zähne zu investieren», sagt Arif Tokinci. «Als er starb, hatte er ein Gebiss aus Platin.» Für die Beerdigung war kein Cent mehr übrig. Die Frau musste zum Sozialamt gehen.
«Ich finde Streitereien um Tote sehr seltsam», sagt der Bestatter und biegt an einer Kreuzung ab, an der ein Schild auf den Friedhof Öjendorf hinweist. Vor einigen Jahren rief ihn eine türkische Familie an. Der Bruder war gestorben. Die Familie wollte ihn unbedingt in die Türkei überführen lassen. Die polnische Ehefrau des Mannes sperrte sich jedoch. Als die Familie einsah, dass die Dame sich nicht umstimmen ließ, zogen sie sie über den Tisch. Gegenüber der Witwe tat die Familie so, als lenke sie ein: Man werde ihr den Mann nicht nehmen, keine Sorge, sogar ein Termin für die Beisetzung in Hamburg sei mittlerweile mit dem Bestatter abgemacht. In Wirklichkeit war Arif Tokinci jedoch der Auftrag einer Überführung erteilt worden. Gewissenhaft und in der Annahme, die Witwe sei einverstanden, erledigte er ihn sofort. Nachdem das Flugzeug abends in Istanbul gelandet war, verständigte die Familie die Witwe, dass es nichts mit der Beerdigung in Deutschland wird. Sie ging sofort zur Polizei, und Tokinci wurde auf die Wache zitiert. Dort begegnete er einer verzweifelten Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Gemeinsam rekonstruierten sie, was geschehen war: Als Arif Tokinci in die Wohnung des Toten gerufen worden war, hatte er sehr viele Menschen dort vorgefunden. In traditionellen muslimischen Familien sitzen Männer und Frauen bei einem Trauerfall in getrennten Räumen. So auch dort. Arif Tokinci sagt, es sei ihm schon immer unangenehm gewesen, als Fremder in den Raum der Frauen zu platzen, weil er von der Gattin des Verstorbenen eine Unterschrift für die Überführung braucht. Er hatte deshalb einen Angehörigen des Toten gebeten, der Witwe das Formular zum Unterschreiben vorzulegen. Auf die Frage, wer sie denn sei, habe der Mann durch die geöffnete Tür auf eine der Damen gezeigt. Von ihr erhielt Tokinci die Unterschrift. Die Witwe aber war sie nicht.
Der wiederum wurde irgendein Bekannter als Bestatter Tokinci vorgestellt. Arif Tokinci scheut sich seitdem nicht mehr, den Frauenraum zu betreten. Außerdem lässt er sich den Ausweis zeigen.
Wir kommen an. Der Friedhof Öjendorf hat ein imposantes Eingangstor, dahinter öffnet sich eine riesige Parkanlage. Der Friedhof ist so groß, dass sogar Buslinien auf seinen Hauptstraßen verkehren. Die Hamburger suchen ihn gern zur Erholung auf. Neben einem islamischen Gräberfeld gibt es einen Abschnitt für serbisch-orthodoxe Gräber, eine italienische Ehrenanlage, einen Bereich für Menschen, die ihren Körper der Medizin zur Verfügung gestellt haben, einen für Lebensgemeinschaften, und es gibt Baumgräber. Was Toleranz auf dem Friedhof angeht, ist Hamburg ziemlich weit vorn. Im Jahr 1997 schaffte die Hansestadt den Sargzwang bei islamischen Bestattungen ab. Der Raum für die rituellen Waschungen, wo der Verstorbene gerade gewaschen wird, befindet sich in einem Nebengebäude des Krematoriums. Die rituelle Waschung ist für Muslime entscheidend. So wie der Mensch zu Lebzeiten zum Gebet gereinigt vor den Schöpfer getreten ist, so soll er das auch in der Vorerwartung zum Jüngsten Gericht tun.
Arif Tokinci stellt den Wagen ab, ich binde mir schnell mein Kopftuch um. Vor dem Gebäude warten schon viele kleine Grüppchen, in sich gekehrt, manche mit Blumen in der Hand, eine Frau hält ihre schluchzende Freundin eng umschlugen. Immer mehr Trauernde treffen ein. Wir stellen uns etwas abseits, unter einen Baum. Herr Tokinci behält sein Handy griffbereit. Im Flüsterton erklärt er mir, was gerade passiert: Der Tote wird dreimal komplett gewaschen. Mit Wasser und Seife oder Shampoo. Besonders wichtig sind die Körperteile, die der Muslim zu Lebzeiten selbst vor dem Gebet immer gereinigt hat, also Hände, Füße, Mund, Gesicht, Ohren, Nase. Der Imam ist anwesend, muss sich aber nicht an der Waschung beteiligen. Das übernehmen Tokincis Mitarbeiter und die Angehörigen, sofern diese das wollen. Alle, die sich um den Toten versammelt haben, unterliegen der Schweigepflicht; der Islam möchte nicht, dass sie hinterher sagen, was sie gesehen haben. Nach der Waschung wird der Leichnam nicht geschminkt oder anderweitig zurechtgemacht, sondern in zwei unbenutzte weiße Leinentücher ohne Naht eingewickelt. Die Familie wünscht sich, dass das Gesicht des Toten zu sehen ist, damit sich die Angehörigen verabschieden können.
Darf sich ein Muslim eigentlich auch einäschern lassen? «Auf keinen Fall! Der Körper muss unversehrt bleiben», sagt Arif Tokinci. Schon die Obduktion eines Angehörigen bereite gläubigen Muslimen Qualen. Sie glaubten, es störe die Ruhe des Toten.
Für Arif Tokinci wurde der Glaube erst wichtig durch die Konfrontation mit dem Tod. Er war acht Jahre alt, als er mit seinen Eltern aus der Türkei nach Hamburg kam. Er wurde nicht religiös erzogen. Nun aber fragte er sich: Was ist das Geheimnis des Lebens? Welchen Sinn hat die Bindung an irdische Güter; an Geld, Haus, ein schickes Auto, wenn alles ganz plötzlich zu Ende gehen kann? Sind Menschlichkeit und Glück nicht viel bedeutender? Arif Tokinci sagt, Werte, die auf diese Fragen antworten, fand er in seiner Religion. Dass seine Frau, die ein Kopftuch trägt, nicht regelmäßig betet, akzeptiert er. «Das ist eine Sache zwischen Gott und ihr.» Jeder Muslim müsse selbst entscheiden, ob und wie er seinen Glauben lebt. Kann er verstehen, wenn man gar nichts mit Religion zu tun haben möchte? Wieder schüttelt Herr Tokinci den Kopf. «Nein, ich kann es nicht verstehen. Aber ich akzeptiere es.»
Zu seinen Kunden zählten viele, die kaum Ahnung vom islamischen Glauben hätten. Kommt es ans Sterben, soll jedoch alles genau nach den islamischen Riten ablaufen. Selbst wenn der verstorbene Verwandte noch nie eine Moschee betreten hat – beerdigt werden soll er, wie es sich im Islam gehört. «Ich weiß, viele Deutsche denken, Türken rennen dauernd zum Beten in die Moschee», sagt Arif Tokinci. «Besuchen Sie aber mal ein muslimisches Gotteshaus zur Gebetszeit, Sie werden kaum jemanden dort antreffen. Oder gehen Sie mal morgen Mittag in St. Georg in ein türkisches Restaurant. Es ist Fastenzeit, trotzdem werden Sie sehen, die Tische sind vollbesetzt mit essenden Türken.»
Die Menschentraube vor dem Gebäude gerät in Bewegung. Vier Männer erscheinen in der Tür, auf ihren Schultern ruht der Sarg, in dem sie ihren verstorbenen Freund zu Grabe tragen werden. Arif Tokinci läuft los, an die Spitze des Trauerzugs, der sich nun still und unaufhaltsam in Bewegung setzt, wie ein Fluss, dessen Damm endlich gebrochen ist. Bestimmt zweihundert Leute sind mittlerweile da. Die Sargträger gehen so schnell, dass die Älteren und die Frauen mit Kindern ans Ende des Zugs zurückfallen. Statt dem Weg zu folgen, kürzen die Männer ab über die freien Rasenflächen. Vielleicht ist es das Gewicht auf ihren Schultern, das die Sargträger antreibt, vielleicht ist es Schmerz, vielleicht Wut: Ein Mann hat ihren besten Freund erschossen. In der Zeitung stand, der junge Mann habe im Stadtteil Jenfeld gelebt. Das Viertel gilt als sozial schwierig; viele Arbeitslose, viele davon muslimisch und mit Migrationshintergrund. Sicherlich sind viele der Trauernden mit ihm aufgewachsen, sind Nachbarn, Freunde. Der Trauerzug vereint Muslime aller Couleur; sämtliche Richtungen, wie der Islam dieser Tage in Deutschland gelebt wird: Männer und Frauen in dunkler Trauerkleidung, die nichts über ihren Glauben verrät. Der Islam in Deutschland dieser Tage, das bedeutet auch: Frauen mit klassischem Kopftuch, einige tragen eine Abaya, den schwarzen Ganzkörperschleier, der nur das Gesicht frei lässt. Ihre männlichen Pendants mit religiösem Bart und Häkelkappe sind auch gekommen. Seite an Seite laufen sie mit Männern, die trotz dezenter Trauerkleidung ein Hauch von Gangsta-Rap umweht. Die jungen Frauen afrikanischer Herkunft tragen fast alle hochhackige Schuhe und kurze schwarze Kleider. Ältere Damen haben ihre afrikanische Tracht angelegt, ihre Haare bedecken kunstvoll gewickelte Tücher.
Das islamische Gräberfeld liegt im südlichen Teil des Friedhofs. Seine Struktur ist einem orientalischen Teppich nachempfunden. Alle Gräber sind rautenförmig angelegt und nach Mekka ausgerichtet. Tokinci lenkt den Zug zu einem großen Tisch aus Granit, der am Ende des Gräberfelds steht. Im Türkischen nennt man ihn Musalla Taşı. Auf ihm wird der Sarg mit dem Toten für das Totengebet aufgebahrt. So auch jetzt. Der Sargdeckel wird abgenommen. Die Frauen ziehen sich in den Hintergrund zurück. Die Menschen verrichten das Totengebet im Stehen, denn Verbeugung und Niederwerfen gelten nur Allah. Der Imam leitet es an. «Allahu Akbar», «Gott ist groß» ertönt es über den Köpfen. Laut rezitiert der Imam die Sure al-Fatiah, die Eröffnungssure des Korans:
«Bismi-llahi-r-rahmani-r-rahim (1)
Al-hamdu li-llahi rabbi-l-’alamin (2)
Ar-rahmani-r-rahim (3)
Maliki yaumi-d-din (4)
Iy-yaka na’budu wa iy-yaka nasta’in (5)
Ihdina-s-sirat al-mustaqim (6)
Sirata-lladhina an’amta ’alaihim
Ghayri-l-maghdubi ’alaihim
wa-la-d-dalin. (7)
Amin»
«Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen, (1)
alles Lob gebührt Gott, dem Herrn der Welten (2)
dem Allerbarmer, dem Barmherzigen (3),
dem Herrscher am Tage des Gerichts. (4)
Dir (allein) dienen wir, und Dich (allein) bitten wir um Hilfe. (5)
Führe uns den geraden Weg (6),
den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht (den Weg) derer,
die (Deinen) Zorn erregt haben, und nicht (den Weg) der Irregehenden. (7)
Amen»
Dann sprechen die Menschen ein leises Bittgebet für den Toten, in dem Gott um Vergebung, Schutz vor Strafe im Grab und den Eintritt des Verstorbenen ins Paradies gebeten wird. Noch dreimal erklingt mit Allahu Akbar das sogenannte Takbir. Als das letzte verklungen ist, tritt der Imam beiseite. Die Trauernden dürfen den Verstorbenen nun ein letztes Mal sehen, sich von ihm verabschieden. Aber irgendetwas läuft schief. Kaum, dass ein paar Dutzend Menschen nach vorne getreten sind, wird der Sarg schon wieder geschultert. Fragende Gesichter in den hinteren Reihen, die Leute verstehen nicht, was vor sich geht; sie wollten sich doch noch verabschieden. Hastig stolpern sie durch die Grabreihen hinterher, es wird geschubst, gedrängelt, ein Mann weicht dem Blumenschmuck eines Grabes gerade noch durch einen großen Ausfallschritt aus.
Wo ist Herr Tokinci? Er ist nirgendwo zu sehen, offenbar wurde auch er von der Wendung des Geschehens überrascht. Da taucht er vorne neben den vier Sargträgern auf. Er dirigiert, wie der Sarg neben dem ausgehobenen Grab abgestellt werden soll. Jetzt wird es kompliziert: Der Tote muss aus dem Sarg gehoben und so in das Grab gelegt werden, dass sein Gesicht nach Mekka weist – er soll sich bei der Auferstehung in diese Richtung erheben können. Das bedeutet, der Leichnam muss am Grund des Grabes leicht auf der rechten Seite zum Liegen kommen und der Rücken durch angehäufte Erde gestützt werden. Der Mensch wurde zuerst aus Erde geformt und geht dorthin zurück, heißt es im Islam.
Arif Tokinci fuchtelt mit den Armen. Was er sagt, ist aus der Entfernung nicht zu verstehen. Drei, vier Leute müssten nun eigentlich über eine Leiter in das Grab hinabsteigen, um den Toten dort in Empfang zu nehmen. Die Emotionen kochen mittlerweile aber so hoch, dass Tokinci zwei Männer festhalten muss, die auch noch hinterher wollen. Am Grab wird nun laut herumgebrüllt, niemand hört mehr auf den Bestatter. Jeder will etwas tun, den Toten noch mal anfassen, als er aus dem Sarg ins Grab gereicht wird, ihm einen letzten Dienst erweisen. Mit Handzeichen bedeutet Tokinci den Leuten im Grab, wie sie den Toten betten müssen. Es wirkt, als helfe er einem Auto beim Einparken. Irgendwann lässt er die Hände resigniert sinken. Kopfschüttelnd kommt er zu mir herüber.
«Der Imam hat die Verabschiedung von dem Toten viel zu früh abgebrochen. Viele Angehörige konnten ihn nicht mehr sehen. Ich habe ihm gesagt, dass das nicht in Ordnung sei. Er aber meinte, bei so vielen halb fremden Gästen sei es nicht so schlimm.» Herr Tokinci stützt die Hände auf die Knie und starrt kurz ins Nichts, so wie Hundertmeterläufer es nach dem Auslaufen im Ziel gern tun. Ich streife mein Kopftuch ab. «Ist Ihnen die Kleidung der Gäste aufgefallen?», fragt er dann. «Sie haben sich muslimischer angezogen als die meisten Besucher dieser Beerdigung, Frau Krüger.»
Sein Job ist erledigt. Gemeinsam gehen wir die muslimischen Gräberreihen entlang. Es zeigt sich ein Nebeneinander von muslimischer und christlisch-abendländicher Kultur. Da sind Grabsteine aus dunklem, naturbelassenem Stein, wie man sie auf deutschen Friedhöfen überall, auf Friedhöfen in islamischen Ländern jedoch niemals finden würde. Statt in lateinischen Buchstaben sind manche der Beschriftungen in arabischen Schriftzeichen eingemeißelt. Sie alle sind mit Blumen bepflanzt. In den Ländern, aus denen die verstorbenen Muslime ursprünglich stammen, ist Grabschmuck nicht üblich. «Ich sage immer: Blumen sind doch was Schönes, sie sind Geschöpfe Gottes, machen Sie das», sagt Herr Tokinci. Er deutet auf ein Grab mit türkischem Namen, auf dem ein Friedhofslicht mit eingeprägten Kreuzen brennt: «So was sollte man nicht machen. Das ist christlich. Aber gut, es sind deren Verwandte.» Ein paar Schritte weiter umreißt ein Grabstein aus dunklem Marmor die Silhouette einer Moschee. Dort wo ihr Eingang ist, sitzt eine Barockputte aus weißer Keramik. Herr Tokinci sieht es, lächelt, schüttelt aber den Kopf. Transkulturell charmant ist auch der Grabstein, unter dem eine Frau namens Semiha ruht: «Haydi Tschüss» steht darauf. Es ist eine von Deutschtürken geschaffene, in der türkischen Community mittlerweile alltägliche Verabschiedungsformel, die auf wunderbare Weise die Verbundenheit zu zwei Kulturen zum Ausdruck bringt: Haydi bedeutet ins Deutsche übersetzt so viel wie «Los geht’s».
Herr Tokinci zeigt hierhin und dorthin. Er erzählt Geschichten, Anekdoten. Sehr viele der Menschen, deren Namen vor uns auf den Grabsteinen stehen, hat er zur Ruhe gebettet.
Manche gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er überlegt, einige der Schicksale aufzuschreiben.
«Leben Ihre Eltern noch?», frage ich ihn. «Mein Vater ist vor zehn Jahren gestorben, wir haben ihn in die Türkei überführt, das wollte er. Ich habe die Beerdigung gemacht, das war nicht einfach.» Er schluckt. «Meine Mutter ist noch unentschieden, sie tendiert aber ebenfalls zur Türkei.» Und er selber? «Ich möchte hierbleiben. Ich bin hier verwurzelt.» Sein Handy klingelt. «Arif Bestattungen!»
Ich lasse ihn allein und schlendere zum älteren Teil des islamischen Gräberfeldes hinüber. Er ist besonders schön, liegt im Schatten alter Eichen, durch deren Zweige das Sonnenlicht zarte Flecken auf die Gräber malt. Die meisten wirken vergessen. Auf vielen wächst Moos, blühen Gänseblümchen, steht das Gras so hoch, dass man es mit der Hand beiseite schieben muss, um die Inschriften zu lesen. Ruhuna alfatiha lauten einige. Es bedeutet übersetzt: Man möge über die Seele des Verstorbenen die Eröffnungssure des Korans sprechen. Ich schaue mir die Namen, die Geburtsorte an. Amira, Danijel, Gülay, Alborz, Ömer, Tagiyeva, Rosmie, Maljica wurden geboren in Kabul, Sarajevo, Izmir, Teheran, Ankara, Baku, Palästina, Kosovo – gestorben in Hamburg. Wer waren diese Frauen und Männer? Was brachte sie nach Deutschland? Wie lebten sie? Sind sie hier glücklich gewesen, oder wollten sie zurück in die Länder, aus denen sie einst kamen? Hätten sie Geschichten der Begegnungen zu erzählen? Sie alle haben den Islam in Deutschland mitgeprägt. In einer Ecke entdecke ich zwei Grabsteine, auf dem unter arabischen Schriftzeichen zwei deutsche Namen stehen. Es sind Gräber von Konvertiten. Gastarbeiter und politische Flüchtlinge machten den Islam in Deutschland zu einem Massenphänomen. Genauso wie diese Menschen durch ihr Leben in Deutschland verändert wurden, veränderten auch sie die deutsche Gesellschaft. Deutsche, die zum Islam übergetreten waren, gab es jedoch schon lange, bevor die ersten Muslime sich hier dauerhaft niederließen.
Die ersten Muslime, die deutschen Boden betraten, kamen als Kriegsgefangene. Zunächst nach der Belagerung Wiens durch die Osmanen im Jahr 1663, danach in Folge des Russisch-Türkischen Krieges in den Jahren 1735 bis 1739 und später als Kriegsgefangene des Ersten Weltkriegs. Im sogenannten «Halbmondlager», einem Kriegsgefangenenlager in Wünsdorf bei Berlin, wurde 1915 die erste Moschee gebaut. So wackelig, dass sie schon 1930 wieder abgerissen werden musste. Die meisten dieser Muslime kehrten irgendwann in ihre Heimat zurück. Andere kamen nach, vor allem Studenten aus Indien, der Türkei und dem Iran. Sie studierten, wo nach dem Ersten Weltkrieg der Ruf der Technischen Hochschulen am besten war: in München, Aachen, Berlin. Gut eintausend muslimische Studierende lebten in den Zwischenkriegsjahren im Deutschen Reich, zudem eine Handvoll muslimischer Diplomaten und Geschäftsleute. Sie trafen in der Weimarer Republik auf ein Klima, das dem Islam gegenüber äußerst aufgeschlossen war: In allen Bereichen des Lebens wurde experimentiert; angefangen von Kunst und Architektur bis hin zu politischen Ideen und Sexualität. Religion war von der Experimentierfreudigkeit nicht ausgenommen. Die erste Welle deutscher Konversionen zum Islam fällt in diese aufregende Zeit. Die Religion fand so viele Anhänger, dass Konvertiten bis zum Beginn der dreißiger Jahre ein Drittel aller Muslime in Deutschland ausmachten. In den Jahren 1924 bis 1940 gaben sie mit der «Moslemischen Revue» eine eigene Zeitschrift heraus, 1939 lag die erste deutsche Koranübersetzung vor. Manche der Konvertiten waren von Studienreisen in den Nahen Osten als Muslime zurückgekehrt. Bei anderen hatte die Lektüre von Goethes «West-Östlichem Divan», die Abenteuergeschichten Karl Mays oder die Biographie von Lawrence von Arabien das Feuer für den Islam entfacht. Die Inhalte des Glaubens brachte ihnen nun die islamische Gemeinschaft der Ahmadiyyanah. Mit diesem Ziel hatten sich eine Gruppierung der in Indien beheimaten Ahmadis 1921 in Berlin niedergelassen und im gut-bürgerlichen Berlin-Wilmersdorf eine Moschee erbaut – eine Miniaturausgabe des Taj Mahal. Es dauerte nicht lange und die Moschee galt unter Berliner Intellektuellen, muslimischen wie nichtmuslimischen, als Place to be: Adelige, Akademiker und Bohemiens gingen dort ein und aus und lernten den Islam kennen und lieben. Etliche deutsche Juden waren darunter, so auch Leopold Weiss, der als Muslim den Namen Muhammad Asad annahm. Der Journalist und Enkel eines polnischen Rabbiners ist wahrscheinlich der bekannteste Konvertit dieser Zeit. Er verfasste zahlreiche philosophische Werke über den Islam, die bis heute Beachtung finden. Im Auftrag der pakistanischen Regierung entwickelte er die islamischen Prinzipien, auf denen der neugegründete pakistanische Staat beruhen sollte. Zwar wurde letztendlich nur ein Bruchteil seiner Ideen in die Verfassung aufgenommen, trotzdem schickte Pakistan Weiss als ersten UN-Botschafter des Landes nach New York.
Weiss hatte die Zeit des Nationalsozialismus in einem britischen Internierungslager in Britisch-Indien überlebt. Die meisten der übrigen jüdischen Konvertiten wurden während des Holocaust ermordet. Konvertiten mit christlichem Hintergrund hatten hingegen nichts zu befürchten. Im Gegenteil, die nationalsozialistische Führungselite hegte eine große Faszination für den Islam. Nicht etwa aus theologischen Gründen. Was ihr am Islam gefiel, war vielmehr, dass sein politischer Zweig dem russischen Kommunismus, dem englisch-französischen Imperialismus und den Juden gegenüber genauso feindselig eingestellt war wie sie selbst. Heinrich Himmler soll geradezu geschwärmt haben von dem Todesmut radikaler Islamisten. Genau diese Haltung wünschte er sich auch von seiner SS.
Kaum erforscht ist bisher, welche Rolle die deutschen Konvertiten in der NS-Zeit spielten, ob sie Kollaborateure waren oder Opfer. Fest steht, nicht wenige wurden Mitglied der NSDAP. Bekannt ist auch, dass einige der islamischen Vereine in den Chor der antisemitischen Propaganda einstimmten. Ihr Stichwortgeber war der Groß-Mufti von Jerusalem, Amin al-Husayni, der von 1941 an als persönlicher Gast Hitlers regelmäßig in Berlin weilte. Er wurde ein enger Freund Adolf Eichmanns, unterstützte die Nationalsozialisten, Muslime des Balkans für die Waffen-SS zu rekrutieren, und propagierte die Judenvernichtung als islamische Pflicht. Mit Hilfe deutscher Mitarbeiter verfasste er entsprechende Radioprogramme auf Arabisch und Deutsch. Auch in der deutschen muslimischen Gemeinde in Wilmersdorf trat er auf. Die indischen Ahmadis waren da schon aus Berlin geflüchtet, ebenso die muslimischen Geschäftsleute und Studenten. Als Bürger des britischen Commonwealth oder anderer Länder, die sich für die Seite der Alliierten entschieden hatten, war ihr Leben nicht mehr sicher im Deutschen Reich.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sich sämtliche bestehenden muslimischen Vereine aufgelöst. Nur noch eine Handvoll Muslime war übrig. Die Moschee in Berlin-Wilmersdorf wurde abermals ihr Anlaufpunkt. In der abgeriegelten Stadt entwickelte sie jedoch nie mehr die Wirkungskraft, die in den Zwischenkriegsjahren von ihr ausgegangen war. Andere Moscheen existierten in Deutschland noch nicht, die Muslime im übrigen Bundesgebiet mussten sich einiges einfallen lassen, um ein Gemeindeleben zu organisieren. In Süddeutschland fand sich eine Gruppe zusammen, die für gemeinsame Gebete und islamische Feste Räume in Münchner Bierlokalen anmietete. Es fehlte an allem: an islamischer Literatur, an islamischen Gelehrten, an Muslimen, mit denen man sich austauschen konnte. Fatima Grimm, deutsche Konvertitin der Stunde null, schreibt in ihren posthum erschienenen Memoiren «Mein verschlungener Weg zum Islam»: «Insgesamt wussten wir von den islamischen Verboten und Geboten damals herzlich wenig, Kopftücher waren nahezu unbekannt, und die wenigen muslimischen Frauen trugen durchweg kurze Röcke.» In Hamburg, wo damals die meisten Muslime deutscher Nationalität lebten, gründete Fatima Grimm 1952 im Restaurant des Hamburger Schauspielhauses mit deutschen Glaubensbrüdern und -schwestern die «Deutsche Muslim Liga». Deren Anliegen: Den Islam in Deutschland davor zu schützen, dass er als etwas Fremdes, als eine Ausländerreligion wahrgenommen wird.
Nähe zu den muslimischen Gastarbeitern, die nach Abschluss des Anwerbeabkommens aus Ländern wie der Türkei (1961), Marokko (1963), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) nach Hamburg und in andere deutsche Städte kamen, suchte die «Deutsche Muslim Liga» zunächst kaum. Der Aufenthalt der Gastarbeiter in Deutschland, so das beiderseitige Missverständnis, war zeitlich ja ohnehin begrenzt. Man verstand einander weder sprachlich, noch religiös, denn der Glaube der Gastarbeiter war stark von ihren jeweiligen Herkunftsländern geprägt. Freundlichen Umgang pflegten die deutschen Muslime jedoch mit den wohlhabenden afghanischen, persischen und pakistanischen Händlern, die bald nach dem Krieg nach Hamburg zurückgekehrt waren. Auch mit den muslimischen Studierenden, die von den sechziger Jahren an wieder in deutschen Hörsälen auftauchten, verkehrte man gern. Selbstbewusst, vielfach hochgebildet und streitbar, entsprachen sie dem Bild vom Islam als elitärer Nischenreligion, wie die Mehrheit der deutschen Konvertiten den Islam damals noch sah. Unterstützt von den deutschen Freunden drängten die muslimischen Studierenden und Geschäftsleute in der Hansestadt auf eine eigene Moschee. Im Jahr 1967 war es so weit: An der Außenalster wurde mit dem Bau der Imam-Ali-Moschee begonnen, fast zeitgleich erfolgten auch in Aachen und München erste Spatenstiche für Moscheen – auch dort hatten sich deutsche Konvertiten mit Muslimen aus dem universitären Umfeld zusammengetan. Das gesellschaftliche Klima gegenüber Muslimen war damals unvorstellbar anders als heute. Dem Islam wurde mit weit weniger Skepsis und Misstrauen begegnet als heute: Für den Vortragssaal der Münchner Moschee spendete der Erzbischof von München und Freising die Stühle, und als die Imam-Ali-Moschee 1968 eröffnet wurde, feierte der Hamburger Senat sie als großartiges Symbol für die Weltläufigkeit der Stadt.
So zeigt Hamburg sich bis heute gegenüber seinen Muslimen: Obwohl die Hamburger Moscheevereine nach dem 11. September 2001 unter besonderer Beobachtung standen, da einige der Attentäter in der Stadt gelebt hatten, nahm der Hamburger Senat 2007 als erste Landesregierung Verhandlungen mit Muslimen über einen Staatsvertrag auf. Fünf Jahre später wurde er geschlossen. Die Vereinbarung bestätigt verfassungsrechtlich und gesetzlich garantierte Rechte und Pflichten und soll das Zusammenleben zwischen den etwa 12000 Muslimen und den etwa 1,7 Millionen Nichtmuslimen der Hansestadt regeln. Muslimische Schüler dürfen seitdem an den drei wichtigsten islamischen Feiertagen; dem Opferfest, dem Ende des Ramadans und dem Asure-Tag, dem wichtigsten Fest der Aleviten, zu Hause bleiben und muslimische Arbeitnehmer sich freinehmen. Außerdem wirken die islamischen Religionsgemeinschaften nun verstärkt an der Konzeption und Gestaltung des schulischen Religionsunterrichts mit.
Die Imam-Ali-Moschee zur Schönen Aussicht an der Außenalster wird heute genauso von gläubigen Muslimen wie von Touristen besucht. Sie ist ein Juwel. Man läuft vorbei an elitären Ruderclubs, gediegenen Cafés und herrschaftlichen Stadtvillen, schaut Kindermädchen und ihren Schützlingen beim Entenfüttern zu, wird von Schwärmen ehrgeiziger Jogger überholt und glaubt, das Schreien der Hamburger Möwen noch im Ohr, plötzlich eine Fata Morgana vor sich zu haben: Mit ihrem hellblauen Anstrich, den Türmen und den Wasserspielen sieht die Imam-Ali-Moschee aus wie eine Stein gewordene Kindervorstellung von Tausendundeiner Nacht. Die Moschee ist das Zentrum des schiitischen Islams in Deutschland. Auch eine große deutschsprachige Gemeinde trifft sich unter ihrem Dach. Bis Ende 2013 stand dieser Gemeinde eine Imamin vor, was umso bemerkenswerter ist, als es in ganz Deutschland nur ein gutes Dutzend Frauen in dieser Position gibt.
Imamin Halima Krausen sitzt im sechsten Stock der Hamburger Universität, die seit Mitte 2014 ihr neues berufliches Zuhause ist. Sie ist eine stattliche Frau von Mitte Sechzig, mit weißem Kopftuch, unter dem ein paar graue Haarsträhnen hervorschauen, weitfließendem Kleid mit Blumendruck und dicker Brille. Ihre blauen Augen sind dezent geschminkt. An der Akademie der Weltreligionen der Universität unterrichtet sie Koranarabisch und gibt im Masterstudiengang «Religionen, Dialog und Bildung» ein Seminar. Ihr Büro teilt Halima Krausen sich mit zwei Gastprofessoren. Der eine ist Hindu, der andere Jude. Gerade war aus dem Zimmer schallendes Gelächter zu hören. Worum es ging, war trotz der geöffneten Bürotür vom Gang aus nicht zu verstehen. Nur die Worte ‹Sabbat› und ‹Ramadan› – offenbar haben die drei über ihre Religionen gelacht.
«Meine Tätigkeit als Imamin in der Imam-Ali-Moschee bedeutete nicht, dass ich ständig vor der Gemeinde stand und Gebete geleitet habe», sagt die Imamin jetzt. «Es ist nämlich umstritten, ob eine Frau das machen sollte. Hatte auch nur ein Anwesender Bedenken, lehnte ich ab. Niemand kann schließlich sagen, ob die Männer tatsächlich beten oder der Frau auf den Hintern schauen.» Es ist eine typische Halima-Krausen-Aussage: klug, überraschend und unverblümt. Hat sie das nicht geärgert, trotz Qualifikation zurückstehen zu müssen, nur weil sie eine Frau ist? Halima Krausen zuckt mit den Schultern. «Wenn ich so anfangen würde, hätte ich schon längst einen Herzinfarkt gehabt.»
Der überwiegende Teil ihrer Studierenden habe viel Klärungsbedarf beim Thema Islam, erzählt die Imamin. So wie es eigentlich immer Klärungsbedarf gibt, wo Halima Krausen ist. Eine Begegnung mit ihr genügt, und Klischees über Muslime stürzen in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Beispielsweise jenes, Muslime hätten keinen Humor. Als einer ihrer Unikollegen sie einmal mit diesem Vorbehalt konfrontierte, erwiderte Halima Krausen: «Zur Strafe schicke ich dir von nun an täglich einen Witz.» Auch das Vorurteil, muslimische Frauen hätten nichts zu melden, widerlegt sie en passant: Halima Krausen ist beredt und schlagfertig. Sie sagt keine Gefälligkeiten, sondern verlangt, dass man den Kopf benutzt. Das wirkt mitunter schroff, wird aber durch ihr herzliches Lachen aufgefangen.
Was sie gar nicht mag, ist, als Konvertitin angesprochen zu werden. «Der Begriff Konvertit ist mir zu negativ besetzt», sagt sie. «Als Konvertiten gelten heutzutage Leute, die zum Islam übertreten und dann in ein Ausbildungslager des IS nach Syrien fahren. Ich persönlich assoziiere mit dem Begriff Konvertit eine Person, die erst in die eine Richtung gegangen ist und dann in die andere. Das trifft bei mir nicht zu. Ich bin schon als Kind eine Suchende gewesen.»
Halima Krausen entdeckte ihren Weg zu Allah, als sie gerade Schülerin war. Sie wuchs in Aachen in einem katholischen Elternhaus auf, in dem der eigentlich evangelische Vater der Mutter zuliebe zum katholischen Glauben übergetreten war. Die katholische und die evangelische Seite ihrer Familie waren tief zerstritten. Beide sagten sich ein furchtbares Ende in der Hölle voraus. Das Mädchen mochte das nicht. Es konnte diesen Gedanken nicht akzeptieren. Es machte sich auf die Suche nach Antworten. Mit acht Jahren hatte Halima Krausen die Bibel komplett gelesen und verschlang alles, was ihr sonst noch in die Hände fiel: Broschüren, die der Pfarrer im Kindergottesdienst verteilte; Artikel in der Kirchenzeitung über Zen-Buddhismus und andere Religionen. Auch in den Büchern ihres evangelischen Großvaters fand sie Impulse. Er war Pfarrer in der Bekennenden Kirche gewesen und hatte die Hitlerzeit durch eine Gratwanderung zwischen Glauben und Zugeständnissen an die Diktatur überlebt. Über die Judenvernichtung herrschte in der Familie jedoch eisiges Schweigen. Auch dieses Thema ließ das Mädchen nicht mehr los. Was sie aus Büchern der Stadtbibliothek erfuhr, bereitete ihr Albträume und verstärkte ihre Sinnsuche noch. Sie hinterfragte alles; «wer bin ich, gibt es mich wirklich, ich hinterfragte den Fußboden unter meinen Füßen». Vieles, das sie als Kind über die Religionen las, habe sie nicht verstanden. Aber einige Sätze gingen dem Mädchen nach. Sie notierte diese in ein Heft und begriff, dass in allen Religionen der Welt Weisheit und Torheit steckt. Sie entwickelte die kindliche Theorie, ein gerechter und barmherziger Gott könne nichts dagegen einzuwenden haben, wenn die Menschen verschiedene Beziehungen zu ihm aufbauen. Nichts anderes erlebte sie zu Hause mit ihren Geschwistern: Die drei Kinder hatten ein so unterschiedliches Verhältnis zu den Eltern, dass man, wenn jeder für sich von ihnen erzählte, nicht vermutet hätte, dass es um dasselbe Elternpaar geht.
Ihre kindliche Gottesvorstellung fand Halima Krausen im Islam wieder. Er ist die jüngste der monotheistischen Religionen und bezieht sich auf die früheren Offenbarungserfahrungen der Menschheit. Der Islam bestätigt die biblischen Geschichten und erwähnt Jesus als Prophet. Halima Krausen sagt: «Das gab meine Überlegungen am besten wieder: Ein Gott und viele verschiedene Zugänge durch die verschiedenen prophetischen Persönlichkeiten.» Mit 13 Jahren wusste sie, dass sie Muslimin ist.
Wie ihre Eltern reagierten, darüber möchte sie nicht reden. Für ein katholisches Elternhaus der fünfziger Jahre muss die Hinwendung der Tochter zum Islam eine Ungeheuerlichkeit gewesen sein. Dabei lehnte sie den Glauben ihrer Familie ja gar nicht ab. Sie fühlte sich nur nicht in ihm aufgehoben. Bis heute, sagt sie, empfinde sie eine starke Verbundenheit zu ihrer katholischen Großmutter: «Gott offenbarte seine Barmherzigkeit in ihrer liebevollen, warmen Art.»
Nach ihrem Bekenntnis zum Islam begann für Halima Krausen ein Leben als Außenseiterin. Die Deutschen beäugten ihr Kopftuch mit Argwohn. Deutsche Muslime lernte sie erst Jahre später kennen. An der Technischen Hochschule Aachen gab es schon zu Beginn der sechziger Jahre eine muslimische Studentengemeinde; junge Männer und Frauen, die aus Ländern wie Iran, Pakistan, Afghanistan und der Türkei für ein Ingenieursstudium nach Deutschland gekommen waren. Auch sie wussten nicht, was sie von der Konvertitin halten sollen, akzeptierten sie schließlich. Das Studienfach der Islamischen Theologie existierte damals an deutschen Universitäten noch nicht – die erste Fakultät nahm 2010 ihre Arbeit auf. Also studierte Halima Krausen in Eigenregie. Erst in Bibliotheken, dann ging sie auf Wanderschaft, zu islamischen Gelehrten nach Paris und London, auch in Skandinavien lebte sie eine Zeitlang. Von dort aus reiste sie zu Lehrstätten in der islamischen Welt. Im Jahr 1982 kam sie schließlich nach Hamburg. Zur «Deutschen Islam Liga» bewahrte sie Distanz. Vor allem ältere Männer, die ihre religiösen Impulse noch vor dem Kriege erhalten hatten, bestimmten dort den Ton. Darüber, was sie während des Krieges gemacht hatten, wurde geschwiegen – Halima Krausen hielt sich deshalb lieber fern.
In der Imam-Ali-Moschee wurde sie Schülerin von Imam Mehdi Razvi und schon bald dessen rechte Hand. Bei ihm erwarb sie die islamische Lehrberechtigung, die Idschasa. «Das entspricht inhaltlich einer Habilitation», sagt sie. Als der Imam sich Mitte der neunziger Jahre aus Altersgründen zurückzog und sie die Leitung der deutschen Gemeinde übernahm, war das so unspektakulär wie ein Sitzplatzwechsel. Alles, was kompliziert war, landete auf ihrem Schreibtisch: religiöse Streitfälle zwischen den islamischen Richtungen, zwischen den Religionen, zwischen Ehepaaren. Da sind konservative Ehemänner, die nicht wollen, dass ihre Frauen eigene Wege gehen; idealistische Frauen, die nur aus Liebe zu ihrem Mann konvertieren wollen; Frauen, die nicht verstehen, warum ihr Mann seiner Herkunftsfamilie so viel Geld überweisen will; und Männer, die beanstanden, dass ihre Frauen die Großfamilie nicht wertschätzen.
Dann kommt der 11. September. Die Presse bestürmt Halima Krausen. Sie soll erklären, wieso sich ein freundlicher Hamburger Student in ein Flugzeug setzt und es in das World Trade Center steuert. Eigentlich hat die Imamin keine Zeit zum Beantworten solcher Fragen. Sie muss sich um die Seelen ihrer Gemeinde kümmern, viel intensiver als je zuvor. Einige der jungen Gemeindemitglieder hatten die beiden Attentäter aus der Uni gekannt. Sie werden von der Frage gequält, ob sie deren Radikalität hätten bemerken können. Als Muslime werden sie, die keiner Fliege etwas zuleide tun könnten, nun offen angefeindet. Im Bus rücken Menschen von ihnen ab, aus Angst, die jungen Leute versteckten unter ihrer Jacke einen Sprengstoffgürtel. Vertreter anderer Konfessionen, mit denen Halima Krausen gerade noch gemeinsame Seminare und Konferenzen organisiert hat, wenden sich von der Gemeinde ab – unter den gegebenen Umständen sei ein interreligiöser Dialog nicht mehr möglich. Mit einem Mal ist die Zugehörigkeit zum Islam nicht nur viel wichtiger als der gesamte Rest der Identität, sondern schlimmer noch: Eine bestimmte Vorstellung davon, was es bedeutet, Muslim zu sein, wird den Menschen übergestülpt. Muslime, so die einhellige öffentliche Meinung nach dem 11. September, sind potenzielle Attentäter.
Halima Krausen ist von dem Generalverdacht nicht ausgenommen. Auch sie wird angefeindet, und daran hat sich seit dem 11. September nichts geändert. Vor allem, wenn der internationale islamistische Terrorismus wieder zugeschlagen hat, wird ihr Kopftuch zum Ziel. Die 66-Jährige sagt: «Wenn ich gut drauf bin, kann ich damit umgehen. Aber wenn ich aus irgendeinem Grund traurig oder in schlechter Stimmung bin, dann tut es sehr weh.» Einmal stand sie im Hamburger Hauptbahnhof in einem Laden für Reisebedarf, als eine Frau hinter ihr in der Schlange sagte: Ausländer raus. Es war ein Tag, an dem Halima Krausen sich gut fühlte. Sie drehte sich um und sagte: «Ich kann jetzt noch nicht raus, ich muss erst noch mein Mineralwasser bezahlen.»
Irgendwann habe sie gemerkt, dass es ihr nicht guttut, immer nur der Kummerkasten für andere Menschen zu sein. Sie fand, in der Moschee sollten jetzt mal andere übernehmen. Sie wollte wieder Zeit und Raum für Eigenes. Zum Lesen, zum Forschen. Das Leben in der Gemeinde hatte sich auch stark gewandelt. Die Gemeinde war einmal die einzige Anlaufstelle für deutschsprachige Muslime weit und breit. Mittlerweile haben viele Moscheen ein deutschsprachiges Angebot. Verändert hatte sich auch die schiitische Gemeinde der Imam-Ali-Moschee. In den letzten Jahren, in denen Halima Krausen dort tätig war, hatte sich diese wieder verstärkt der iranischen Staatsdoktrin zugewandt. Gut möglich, dass Letzteres für die Imamin ebenfalls ein Beweggrund zum Weiterziehen war. Auf eine theologische Richtung lässt sie sich nur ungern festlegen. Seit Jahren setzt sie sich dafür ein, dass in Deutschlands Moscheen eine moderne, bodenständige Interpretation des Korans gepredigt wird. Wortwörtliche Auslegungen des Islams sind dieser klugen Frau zuwider.
Es sei eine gute Zeit gewesen, sagt sie. Aber zwanzig Jahre sind lang. Als sie wieder an der Universität anfing, kam sie sich vor wie eine Frau, die fünf Kinder großgezogen hat und jetzt wieder in den Beruf einsteigt. Vieles, worum sie in ihren Lehrjahren noch gekämpft hat, ist mittlerweile selbstverständlich geworden. Weibliche islamische Gelehrte beispielsweise. Auch im interreligiösen Dialog war Halima Krausen eine Pionierin. Das Diskutieren über Fragen wie etwa jene, ob nicht nur Muslime, sondern auch Angehörige anderer Religionen ins Paradies kommen, galt bis vor wenigen Jahren unter vielen Gläubigen noch als Blasphemie. Mittlerweile werden Konferenzen nur zu diesem Thema abgehalten. Auch die Lehrstühle für islamische Theologie, die es heute an mehreren deutschen Universitätsstandorten gibt, waren vor dreißig Jahren undenkbar.
Halima Krausen hätte den Posten einer Professorin hervorragend ausgefüllt. Ihr Spezialgebiet: der Koran und dessen Auslegungen, von der klassischen Zeit bis heute. Die Debatte über den Islam fordert oftmals eine Neuauslegung der Schrift. Vergessen wird die riesige Bandbreite an Auslegungen, die bereits existiert – von wortwörtlichen, puritanischen bis hin zu esoterischen. Halima Krausen möchte sie systematisieren: Welcher islamische Gelehrte hat was gesagt? Welches war seine Methode? Wie wurde er von Zeitgenossen und späteren Generationen kritisiert? «Um verkrustete Sichtweisen an der Basis aufzubrechen, ist das Wissen über die verschiedenen Koranauslegungen unabdingbar», sagt sie.
Warum konvertieren ihrer Ansicht nach junge Muslime zum radikalen Islam? Der Verfassungsschutz geht von 43890 Menschen mit islamistischer Ideologie in Deutschland aus (Stand 2014). Unter ihnen gibt es einen gewaltbereiten Anteil, etwa 1000 Personen wird ein islamistisch-terroristisches Potenzial zugeschrieben. Hat das etwas mit den verkrusteten Sichtweisen an der Basis zu tun? Halima Krausen seufzt. «Leute, die sich dem radikalen Islam anschließen, haben in der Regel kaum Kenntnis vom Islam.»
Sie erzählt von einem wütenden jungen Mann, der kurz nach dem 11. September bei ihr in der Moschee auftauchte. Er wollte zum Islam konvertieren. Die Anti-Islam-Stimmung in der Gesellschaft hatte ihn zum Kochen gebracht. Es sei höchste Zeit, der Welt mal Kante zu zeigen, sagte er. Halima Krausen schmiss ihn aus ihrem Büro: Er solle eine Runde an der Alster drehen und sein Gehirn auslüften. «Er hatte höchstens den Koran für Dummies gelesen», sagt sie. «Er war nicht vom Islam überzeugt.» Muslim zu sein, sei eine Mode geworden, der Islam eine Religion für Rebellen. Bedingt durch die antiislamische Stimmungsmache fühlten sich viele junge Leute zu ihm hingezogen. «Sie romantisieren den radikalen Islam als eingeschworene Gemeinschaft, als Zusammenschluss von Verstoßenen. Gehört man dazu, wischt man den Eltern, der Schule, der Politik eins aus – also allen, die glauben zu wissen, was für einen jungen Menschen das Richtige ist.»
Bei vielen jungen Muslimen spiele auch ein gewisses Verlorenheitsgefühl eine Rolle. Sie fühlten sich weder in der christlich-abendländischen Kultur Deutschlands verankert noch in der islamischen Kultur ihrer migrantischen Eltern. Werde die eigene Identität herausgefordert, gerieten sie leicht aus dem Gleichgewicht. Ist Radikalisierung also auch eine Frage der religiös-kulturellen Bildung? «Sie spielt auf jeden Fall eine Rolle. Bildung wird in Deutschland oft verwechselt mit Informationsaneignung. Bildung aber ist Reflexion und Erfahrung.» Was den Muslimen in Deutschland nach Ansicht von Halima Krausen fehlt, ist eine gemeinsame deutsch-muslimische Identität. In der muslimischen Community in England, die sie gut kennt, gibt es das. Die Muslime stammten aus allen möglichen Ecken der Erde, teilen aber das Selbstverständnis, «British Muslims» zu sein. Deutsche Muslime beharrten hingegen auf den jeweiligen Herkunftstraditionen. Ein starkes identitäres Fundament, das einem Halt gibt, wenn der Islam oder auch nur das eigene Aussehen als gefährlich und fremd verteufelt wird, könne sich so nicht ausbilden. Halima Krausen sagt: «Ich setze große Hoffnung in die Muslime, die hier als Deutschtürken groß geworden sind. Unter ihnen gibt es einige, die das Potenzial haben, den Blick zu weiten und sich im positiven Sinn an Muslimen anderer Herkunft zu reiben. Das Ergebnis könnte eine gemeinsame deutsch-muslimische Identität sein.»
Sollte das Kopftuch Teil dieser Identität sein? Sofort bereue ich die Frage. Halima Krausen schaut mich an, schnauft, verdreht die Augen: «Das Kopftuch-Thema hängt mir so zum Hals raus, dass es von hier bis zum Keller reicht, und wir sitzen hier im sechsten Stock!»
Das Kopftuch. Die leidige K-Frage. In jeder Religion der Welt ist der Glaube mit spezifischen Formen des Handelns verbunden, die ihm Ausdruck verleihen. Im Islam ist eine dieser Ausdrucksformen das fünfmalige Gebet, bei muslimischen Frauen kann es außerdem das Tragen eines Kopftuchs sein. Beides hat eine internalisierte, persönliche Seite genauso wie eine öffentliche. Das Gebet verrichten deutsche Muslime in der Regel in der Moschee, zu Hause oder in speziell dafür ausgewiesenen Räumlichkeiten – in einigen Universitäten finden sich mittlerweile Gebetsräume, auch manche Arbeitgeber haben sich mit einem solchen Raum auf die religiösen Bedürfnisse ihrer muslimischen Mitarbeiter eingestellt. Anders als in islamischen Ländern, wo man Gläubige bisweilen in Parks oder an anderen öffentlichen Orten beten sieht, wird man in Deutschland selten Zeuge eines islamischen Gebets. Ganz anders verhält es sich mit dem Kopftuch. Frauen mit Kopftuch begegnet man fast überall: auf der Straße, beim Einkaufen, in Hörsälen, in Arztpraxen, im Fitnessstudio. Das Kopftuch macht den Islam sichtbar, es ist in Deutschland der augenscheinlichste Ausdruck der Religion. Auch deshalb hat die Debatte über den Islam sich immer wieder an den Köpfen muslimischer Frauen entfacht. Anstatt sie zu fragen, was darin vor sich geht, wurde meistens nur das Stück Stoff diskutiert, das ihn verhüllt. Es wurde auf diese Weise so akzentuiert, als sei es der Dreh- und Angelpunkt islamischen Glaubens. Das ist jedoch falsch.
Es sind die fünf Säulen des Islams: das Glaubensbekenntnis, das Gebet, die Almosensteuer, das Fasten im Monat Ramadan und die Wallfahrt nach Mekka. Aus der Koransure 24, Vers 30–31 und 33, Vers 59 lesen viele Muslime das Gebot ab, dass Frauen ihr Haar bedecken sollen. Diese Interpretation wird jedoch nicht von allen Muslimen geteilt. Laut einer Studie der Deutschen Islamkonferenz von 2008 tragen 28 Prozent der hier lebenden Musliminnen ein Kopftuch, 72 Prozent tragen es nicht. Die Entscheidung für das Kopftuch hängt nicht nur davon ab, wie religiös eine Frau ist. Jede zweite Frau, die sagt, sie sei sehr religiös, trägt Kopftuch – und jede zweite nicht; gut die Hälfte der über 65-Jährigen, aber nur ein gutes Fünftel der 16- bis 25-Jährigen haben sich für das Tuch entschieden.
Jede gläubige Muslimin kommt an den Punkt, an dem sie die K-Frage für sich klärt – und sich für oder gegen das Kopftuch entscheidet. Meistens sind es emotionale und spirituelle Motive, aus denen die Entscheidung für das Kopftuch fällt. Für diese Frauen ist das Tuch Ausdruck ihres Glaubens, das Tragen für sie religiöse Pflicht. Nicht immer ist es eine Entscheidung für die Ewigkeit. Religiosität ist keine Haltung, zu der man sich einmal entschließt und bei der man automatisch bis ans Lebensende dabei bleibt. Religiosität muss man täglich mit sich aushandeln. Nicht selten stellen Musliminnen ihren Schleier in Frage. Manche entscheiden sich neu dafür, andere legen ihn ab.