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In der lebensbedrohenden Schreibkrise der späten siebziger Jahre wurden für Handke die Wiedergewinnung der Sprache und die Verbindung zur Tradition zu einer Frage des Überlebens. Nicht nur die literarische, auch die künstlerische, philosophische und wissenschaftliche Tradition verwandelt er in seinem Werk nun bewusst in ein Organon der schönen Alltäglichkeit und der Lebenskunst. Hans Höller zeichnet diese verborgene oder offen zutage liegende literarische Verwandlung der Tradition im Werk Handkes nach, er zeigt die Weiterentwicklung von Walter Benjamins „Schwellenkunde“ in eine Textlandschaft der rettenden Übergänge und Passagen, die Umsetzung von Goethes „Farbenlehre“ in die heitere Farbsemantik der Texte oder die erstaunliche, bisher kaum von der Kritik gewürdigte Wiederentdeckung der ‚schönsten Philosophie des Raums’, wie Ernst Bloch die „Ethik“ des Spinoza genannt hat. Das Novum von Handkes Werk gegenüber der Weimarer Klassik liege darin, dass er das dort unterbelichtete Soziale ins Spiel bringt, literarisch den Weg nach unten geht, zu den Nicht-Privilegierten, die Sprengkraft der Materialität der Triebe verteidigt und die mediale Dimension der Sprache mitdenkt. Handkes Bücher werden als immer neue Variante von Hölderlins „Komm, ins Offene, Freund“, gelesen, als die schönste literarisch-philosophische Wendung gegen die Weltkrankheit der Depression. Darum findet man in diesem Handke-Buch heitere Studien zu Flüssen, Bergen, Wolken, zu den Spatzen und zum Himmel, dem Licht und den Farben, den Geräuschen und Naturlauten, dem Schnee, den Gasthäusern und Gärten, oder dem „terrain vague“, der prekären Zwickelwelt zwischen den Straßen, Eisenbahnlinien oder den Busbahnhöfen und Vorortkaschemmen. Nicht zuletzt aber geht es in diesen Studien um Handkes Sinn für Arbeit und menschliche Würde, der das Zentrum seiner Idee des Klassischen bildet und sein Werk in ungewöhnlichen sozialkritischen Zusammenhängen neu entdecken lässt.
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Seitenzahl: 273
Veröffentlichungsjahr: 2013
In der lebensbedrohenden Schreibkrise der späten siebziger Jahre war für Peter Handke die Wiedergewinnung der Sprache und die Verbindung zur Tradition eine Überlebensfrage. Nicht nur die literarische, auch die künstlerische, philosophische und wissenschaftliche Tradition verwandelt er in seinem Werk seitdem bewusst in ein Organon der schönen Alltäglichkeit und der Lebenskunst.
Hans Höller zeichnet diese verborgene oder offen zutage liegende literarische Verwandlung der Tradition im Werk Handkes nach, er zeigt die Weiterentwicklung von Walter Benjamins »Schwellenkunde« in eine Textlandschaft der rettenden Übergänge und Passagen, die Umsetzung von Goethes Farbenlehre in die heitere Farbsemantik der Texte oder die erstaunliche, bisher kaum gewürdigte Wiederentdeckung der »schönsten Philosophie des Raums«, wie Ernst Bloch die Ethik des Spinoza genannt hat.
Das Novum von Handkes Werk gegenüber der Weimarer Klassik liegt darin, dass er das dort unterbelichtete Soziale ins Spiel bringt, literarisch den Weg nach unten geht, zu den Nicht-Privilegierten, die Sprengkraft der Materialität der Triebe verteidigt und die mediale Dimension der Sprache mitdenkt.
Handkes Bücher werden als immer neue Variante von Hölderlins »Komm, ins Offene, Freund«, gelesen, als die schönste literarisch-philosophische Wendung gegen die Weltkrankheit der Depression. Darum findet man in diesem Buch über Peter Handke heitere Studien zu Flüssen, Bergen, Wolken, zu den Spatzen und zum Himmel, dem Licht und den Farben, den Geräuschen und -Naturlauten, dem Schnee, den Gasthäusern und Gärten oder dem »terrain vague«, der prekären Zwickelwelt zwischen den Straßen, Eisenbahnlinien, Busbahnhöfen und Vorortkaschemmen. Nicht zuletzt aber geht es in diesem Buch um Handkes Sinn für Arbeit und menschliche Würde, der das Zentrum seiner Idee des Klassischen bildet und sein Werk in ungewöhnlichen sozialkritischen Zusammenhängen neu entdecken lässt.
Hans Höller, emeritierter Professor für Germanistik an der Universität Salzburg, ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Germanisten, Verfasser zahlreicher Bücher zur zeitgenössischen Literatur, Mitherausgeber der Thomas-Bernhard-Werkausgabe und der Jean-Améry-Ausgabe.
Hans Höller Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945
Das Werk Peter Handkes
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013 Der vorliegende Band folgt der Erstausgabe, 2013
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN978-3-518-79880-5
www.suhrkamp.de
INHALT
Vorwort
EINLEITUNG »Bekanntes unbekannt machen«:
Das Klassische
Dank
1. KAPITEL »Schönheit«
Klassische Motive, Genres, Figuren im Werk vor der Kafka-Rede»ein katastrophischer, ein zerrissener, ein grandioser Rettungsversuch«»Das Klassische beginnt mit einem hilflos-traurigen Gefuchtel«Schönheit als »res publica«Die alles bewirkende »Leere«Der sozial-analytische Blick
2. KAPITEL »Das Pathos meiner Herkunft […] verlangt von mir das Klassische«
Die heterodoxe Goethe-Benjamin-Linie Blickwechsel zwischen Mutter und SohnDer Traum von der nicht entfremdeten ArbeitDas geträumte Jugoslawien
3. KAPITEL Goethe und Stifter
»Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden«»daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren«»›Wir sind auf Klassisches aus – aber zuvor müssen wir sagen, warum‹«Bruchstücke einer ökonomisch-philosophischen FarbenlehreStifters Traum vom indianischen WeltbildZerstörerische Gesetze in eine gute Innenkraft verwandeln»Gesprenge«
4. KAPITEL Kampfszenen
Schuldspruch und »Raumverbot«Erzählen und menschliches GesichtDer Tunnel-Traum»Wenn nur beide, das Poetische und das Politische, eins sein könnten«»Kafkas Rache!«
5. KAPITEL »Kafka«, der »mich in meiner Anmaßung, wenn nicht bestärken, so doch ernstnehmen würde«
Kafka »als Kranfahrer in einer gelben Kabine«»eine HANDLUNG, gewaltiger als alle Handlungen«»wie ein Licht aufzuckt!«
6. KAPITEL »Verwandlung ins Helle« oder: »was gegen uns gerichtet scheint«, »wenden«
»Das Erzählen in dieser Zeit« (Ilse Aichinger)Meridiane des ErzählensErzählmotive der »Verwandlung«»der Schatten einer Erinnerung«»Kind gewesen sein«»Wenn ihr all eure Angst aus euch herausspielen könntet!«Die Bombenflugzeuge über den Köpfen
7. KAPITEL Radikale Selbst-Analyse als Voraussetzung des Klassischen nach 1945
Klassiker und AmokläuferSchönheit als Form der WahrheitEin Goethe’sches Stadtporträt»das Unbild der Ursache meiner Schwermut«Die Wiederherstellung des verletzten Rechts des Erzähler-IchDas Erzählen einer Depression als »Daseinsbedingungsbejahung«»leukein«
8. KAPITEL Erzählen als Schwellenforschung
Benjamins »Schwellenkunde«»Schönheit der Schwellen!«»Hühnerleiter wird Jakobsleiter«»Sesam öffne dich – ich möchte hinaus«»Mit einem Mal ist die Luft zu Eis geworden«
9. KAPITEL Über Klassiker: Äpfel, Weberknechte, Feldhasen, Spatzen, der Menschenfrosch, der Mann aus Oberösterreich, der Schneemensch und der Postautobus
»Apfelzaubermärchen«»Weberknechte, Patrone der Schwellensucher«Der »Menschenfrosch« als Patron der AbgestürztenDas »Tätigkeitswort« »klettern«Der Mann aus Oberösterreich»In Betrachtung des Schnees sich zum Schneemenschen erweitern«Mystik und MaterieAutobusse
10. KAPITEL »Das Klassische kann nur Ausdruck der Gefahr sein«
Die Orts- und Zeittafeln des Friedens in den EpopöenGefährliche Schwellen. Das Fahrzeug des Erzählens in einer Welt der BedrohungDer Blick zurück gegen die FahrtrichtungPoetik der »nahen Horizonte«Das Klassische und der Krieg»wilde Trauer«»Apache«Gebrochene Scheiben»die Spuren der Tatzen eines Wolfs«»Lebendgewicht? Totgewicht?«
Für Joe Lehmbeck
Das Grasstück zwischen Elternhaus und Urwald war die Virginiawiese.
Peter Handke, Die Morawische Nacht
Vorwort
Die sprach- und zeichentheoretische Wende war ein spektakuläres Ereignis nicht nur in der österreichischen Literatur nach 1945. Der junge Peter Handke wurde in den sechziger Jahren zum Weltautor. Seine Wende zum Klassischen Ende der siebziger Jahre hat weit weniger Aufmerksamkeit erregt, sofern sie nicht überhaupt als vermessener Verrat an der Avantgarde abgetan wurde.
Die hier vorgelegte Studie macht diese »ungewöhnliche Klassik nach 1945« als das verborgene Zentrum von Handkes »Schreiberleben« sichtbar. Es ist der eigenwillige, für die Zeitgenossen kaum nachvollziehbare Weg, der ihn zum klassischen Goethe zurückführte, ein neues Verhältnis zur Überlieferung herstellte und, was das Erstaunlichste ist, damit eine neue Notwendigkeit der Literatur im Hier und Jetzt begründete.
Den Umschlagpunkt der Verwandlung seines Schreibens bildete die lebensbedrohende Schreibkrise bei der Arbeit an Langsame Heimkehr, 1979, Handkes erster Erzählung aus der Zeit der klassischen Wende. Aber das Verlangen nach Schönheit und nach dem Klassischen angesichts der, wie man damals noch sagte, »jüngsten Vergangenheit« blieb von Beginn an prekär und isoliert, auch wenn sich, was von heute aus besser zu sehen ist, überraschende Konstellationen mit der zeitgenössischen Literatur ergaben. Noch überraschender ist, dass Handke eine gewagte Verbindung von Kafka und Goethe herstellte und überhaupt die klassische Überlieferung verschränkte mit heterodoxen Denktraditionen wie Walter Benjamins Messianismus oder Baruch de Spinozas geist- und leibdurchdrungener Ethik des Irdischen – ein atemberaubendes Abenteuer des Schreibens, das ich in einer möglichst großen Nähe zu den Texten selbst darstellen wollte.
EINLEITUNG »Bekanntes unbekannt machen«: Das Klassische
In der Erzählung Die Wiederholung (1986) sieht der jugendliche Filip Kobal auf der Busfahrt durch das jugoslawische Slowenien einen Soldaten als seinen zwiespältigen »Doppelgänger«. Nachdem der Soldat in einem Kasernen-Ort ausgestiegen ist, glaubt der Erzähler ihn dann »in einem Fenster der Kaserne« zu sehen: »Er stand da im Finstern, doch ich erkannte ihn an der Silhouette. Er hielt in der Hand eine Kugel, die ein Apfel sein konnte, oder auch ein wurfbereiter Stein.«1 Das Bild erinnert an den Paradiesgarten und an die Geschichte von Kain und Abel, unausgesprochen enthält es die Frage nach dem Zusammenhang der Schönheit mit dem Frieden »oder auch« mit der Gewalt. Auf einmal trat im Bild des Doppelgängers das Gesicht für den Erzähler so sichtbar hervor, dass er in den Augen des Anderen die an ihn gerichtete Forderung zu erkennen glaubt, selber zum »Auge« »eines Forschers« zu werden, »der nichts entdecken will, dafür Bekanntes unbekannt machen; den Bereich des Unbekannten abschreiten und vergrößern«.2
Das jugendliche Ich, das einmal schreiben wird, erblickt im Gesicht des »zwiespältigen« Anderen die Idee eines forschenden Erzählens, das die Frage von Gewalt und Schönheit zum Gegenstand des Nachdenkens macht. Dieser Intention wollte ich in der Form einer wissenschaftlichen Darstellung folgen, die das Werk Peter Handkes unbekannt machen will, um es neu entdecken zu können. Ich habe gar nicht erst versucht, die fünfzig oder mehr Jahre von Handkes sich verwandelndem Schreiben werk-chronologisch darzustellen. Ein solches Vorgehen eignet sich nicht für ein Denken in Modellen, und wie sollte es bei einem Œeuvre sinnvoll sein, das jetzt schon mehr als siebzig Bücher umfasst. Als brauchbarer erwies sich eine Perspektive, die, um ein dem Autor entsprechendes Bild zu verwenden, das Werk anhand geologischer Fenster erforscht, in denen sonst auseinanderliegende, manchmal weit versetzte Bedeutungs-Schichten in ihrem Zusammenhang sichtbar werden. Klassiker tendieren zum geologischen Denken, und bei wirklichen Klassikern findet man beide Ansichten der Erdgeschichte: die kontinuierlich sich verwandelnden Formen und die Einstürze, Abbrüche oder Verwerfungen aufgrund tief liegender Erschütterungen oder unter der Oberfläche verborgener Hohlräume und Abgründe. Der Protagonist in Handkes erster ›klassischer‹ Erzählung Langsame Heimkehr (1979) ist Geologe, einer der »Helden«, die von einem Moment auf den andern »keinen Grund mehr unter den Füßen« haben.3 »›Unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken miniert, wie eine große Stadt‹«, zitiert Walter Benjamin in seinem Enzyklopädieartikel Goethes Erfahrungen aus den ersten Weimarer Jahren: Dem, »›der davon einige Kundschaft hat‹«, werde es »›viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch … aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.‹«4
Ich habe die Wende zum Klassischen, die in die Mitte seines Lebens fällt, wie man früher bei einem Fünfunddreißigjährigen gesagt hätte, als Ausgangspunkt gewählt, um, von diesem Umbruch Ende der siebziger Jahre ausgehend, Verbindungslinien durch das Werk zu ziehen, sprachliche Bilder lesbar zu machen und sein eigensinniges Erzählen mit den geschichtlichen Voraussetzungen des Schreibens und Denkens nach 1945 in Beziehung zu setzen. Auch die philosophisch-theoretische Dimension seiner Bücher wollte ich in den Blick rücken. Auf sie hat Botho Strauß vehement in einem FAZ-Artikel unter dem Titel Was bleibt von Peter Handke? hingewiesen: Handke sei nicht nur »der sprachgeladenste Dichter seiner Generation«, sondern »ein Episteme-Schaffender (nach dem Wortgebrauch Foucaults)«. Seinem Hinweis wäre zu folgen, ohne dass man dazu Handkes erzählerisches Weltwissen, wie das Botho Strauß tut, in eine Phalanx der rechten Dichter und Denker – Ezra Pound, Carl Schmitt und Martin Heidegger – einreihen muss.5 Handkes Werk ist auch nur unzureichend mit dem Foucault’schen »Episteme«-Begriff zu charakterisieren, da es gerade nicht auf eine Depotenzierung des Subjekts und der Vernunft hinausläuft und eben darin seinen klassischen Eigensinn hat. Von Kaspar (1968) an findet man in seinen Büchern immer neue Varianten der alles andere als harmonisch verlaufenden Ich-Genese und der ebenso vertrackten Entwicklung einer weiterhelfenden, friedlichen Vernunft. In Langsame Heimkehr (1979) begründet der Erzähler darin das »Gesetz« des Schreibens: Der »gesetzgebend[e] Augenblick«, der nach der Schrift verlangt, das ist die »von jedermann (auch von mir) fortsetzbare, friedensstiftende Form«. »Das Gesetz«, wie das dritte Kapitel von Langsame Heimkehr heißt, stellt ein neues Verhältnis zur Tradition her. Im universellen »Raum« des Werks sollten sich »alle zu einer Menschenmöglichkeit weiterhelfenden Erfindungen, Entdeckungen, Töne, Bilder und Formen der Jahrhunderte« vereinen.6 Damit dieses Gesetz des Schreibens nicht zu einem epigonalen Verhältnis zur Überlieferung führt, ist eine nie sich beruhigende erzählerische Grundlagenforschung notwendig, die fiktionalen wie die theoretischen Texte Handkes verwandeln sich selber in das »Auge« »eines Forschers«, der »Bekanntes unbekannt« macht. Die alles erfassende Frage-Form, die seine Texte rhythmisiert, ist nur eine Zeichenebene dieses suchenden, die Welt als »Projekt« verstehenden Schreibens.
Eine der abenteuerlichsten Realisierungen dieses Erzählprojekts findet man bei einer literarischen Gestalt, die, glaubt man den Benennungen des Erzählers, der Literatur fernzustehen scheint. Die Aventurera und Bankerin in Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos erlebt auf ihrem Weg durchs Gebirge, wie ihr alles bis dahin Selbstverständliche fragwürdig wird, ob es das Geld ist, die Wirtschaft, die inneren Bilder, die Landschaft, der Raum oder die Zeit. In der Welt von Hondareda, deren unscheinbare utopische Gesellschaft die ehemalige Zeit- und Geldverwerterin, die »Ex-Bankfrau«, kennenlernt, begegnet sie dem »Projekt eines anderen Zeitsystems« als dem der Zeitvermessung und Zeitberechnung.7 Sie stellt sich die Frage nach neuen »Zeit-Formen, Zeit-Grammatiken«, also nach einer neuen Sprache, einem Erzählen, in dem die andere Zeit-Erfahrung zur tradierbaren Form wird, zum utopischen »Zeitumdenkungsprojekt«, als das sich Handkes Erzählen selber verstehen kann.8 Die Frage von Botho Strauß, was von Handke bleibt, verwandelt sich so in den aktuelleren Wunsch, die Wissens- und Erkenntnisformen seiner Werke hier und heute zu entziffern und deren Zusammenhang mit der Schönheit zu verstehen, denn »ohne Wissenswürdiges im Innern«, so Walter Benjamins Überzeugung, gibt es »kein Schönes«.9
Nicht anders verhält es sich mit dem Begriff des Klassischen, der selten als »Wissenswürdiges im Innern« verstanden wird und als analytische Kategorie kaum eine Rolle spielt. In den Philologien hütet man sich, ihn außerhalb der literaturgeschichtlichen Epochendiskussion zu verwenden, und selbst da ist er umstritten. Unter den fragwürdigen Begriffen gehört er zu den fragwürdigsten.10 Eine Bedeutung des lateinischen Worts »classicus«, auf das er zurückgeht, lautet kurz und bündig: zur höheren Steuerklasse gehörend. Der französische Klassizismus wie die Weimarer Klassik waren Teil der höfisch-absolutistischen Gesellschaft. Mit der Ideologisierung im 19. Jahrhundert wurde die ›Deutsche Klassik‹ nationalpolitisch akzentuiert und zur leeren Formel des Guten, Wahren und Schönen domestiziert.
Und doch gibt es etwas an der Klassik, das nicht aufgeht in der Bestimmung des sozialgeschichtlichen Klassen-Kompromisses von Bürgertum und Aristokratie. Sie hat nie aufgehört, die kritischen Geister zu beschäftigen. Nicht zuletzt war es Brecht, der die Klassiker würdigte, bei denen man lernen kann und deren Haltung, die »Verbindung von Erkennen und Handeln«,11 ihm vorbildlich erschien, er sah sie, den Mächtigen gefährlich, auf dem Weg ins Exil, verfolgt oder eingekerkert. Bei einigen Überlebenden der Shoah findet man die Überzeugung, dass die klassischen Werke gerade an dem ihnen fremdesten Ort sich als Mittel gegen den das Ich zerstörenden Weltverlust brauchbar erwiesen hätten. Ruth Klüger dürfte an Iphigenie gedacht haben, wenn sie in weiter leben. Eine Jugend schreibt, dass »nirgends und nie« die »Gelegenheit zu einer freien, spontanen Tat […] so gegeben« war »wie dort und damals« und dass der »Sprung über das Vorgegebene hinaus« als Möglichkeit bestand.12 Heute ist ein erfrischender Übermut notwendig, dass jemand wie die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff sich getraut, über ihre Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen den provokanten Titel Vom Guten, Wahren und Schönen (2012) zu setzen.
Die in der NS-Zeit vertriebenen Philosophen, die Lehrer der 68er-Generation, sahen nach 1945 die Auseinandersetzung mit den ästhetischen Fragen der Klassik als notwendig an für das Weiterdenken und Weiterleben nach der Katastrophe. Herbert Marcuse hat in Triebstruktur und Gesellschaft (1965)13 eine unabgegoltene Utopie in Friedrich Schillers Ästhetik entdeckt und das »Spiel« und den »schönen Schein« als sozialphilosophischen Gegenentwurf zum herrschenden Realitätsprinzip rekonstruiert. Ihm scheint in Handkes Die Wiederholung ein slowenischer Kleinhäuslersohn aus Südkärnten zu folgen, der als Erzähler die utopische Dimension des Scheins verteidigt. Einer der späten Essays von Theodor W. Adorno ist dem Klassizismusvon GoethesIphigenie (1967) gewidmet, ein Essay, der sich in der Bestimmung einer prekären Klassizität mit Handke trifft: sei es in der Betonung der »blasphemischen Mystik« wie überhaupt der »heterodoxen Theologie«14 von Goethes Humanismus; sei es in der Darstellung der Gewalt der »inwendige[n] Bewegung des pathisch Schwermütigen« in der Figur des Orest; oder in der Idee der »Sänftigung der Natur« anstelle von »deren sture[r] Beherrschung«,15 wie man sie in der künstlerisch-wissenschaftlichen Natur-Anschauung in Langsame Heimkehr (1979) finden kann. Eine schöne Koinzidenz mit dem Erscheinen der »klassischen« Bücher Handkes in den achtziger Jahren wäre darin zu sehen, dass 1984 das Goethe-Buch des aus der Frankfurter Schule kommenden Philosophen Alfred Schmidt erschien, Goethes herrlich leuchtende Natur.16 Das im Titel angedeutete Goethe-Zitat verweist uns auf das zentrale, von Handke selbst wie von seinen Protagonisten angesprochene Problem, wie die Natur in der Sprache auf eine Weise zum »Leuchten« gebracht werden könne, dass ein denkender Sensualismus zur Form des Werks würde, der die Wahrnehmung, das Denken und das Fühlen der Menschen erschüttern könnte.
Wenn man Handkes Idee des Klassischen auf eine vereinfachte Formel bringen wollte, könnte man sagen, dass sie, nach 1945, auf die Befreiung aus den lebensgeschichtlichen und den historischen Traumen gerichtet ist, genauer: auf ein freieres Eingedenken im Form-Prinzip des Werks. Im Nachwort zu Boštjans Flug (2012) von Florjan Lipuš ist von der erinnernden »Verwandlung des Geschehenen in Rhythmus und Bild« die Rede, von der »Verwandlung des himmelschreienden, unendlichen, durch nichts zu rächenden oder gar gutzumachenden Skandals des Mutter- wie Völkermords in rhythmische Bilder«.17 In der Sprache des »Aufruhrs«, der »Wut« und des »Schmerzes« der kärntner-slowenischen Leidens- und Liebesgeschichte, wie sie Handke beschreibt, könnte man letztlich auch den eigenen Anspruch einer »erschütternde[n] Schönheit« in der Literatur nach 1945 sehen.18
Peter Handke stand damit weder in der deutschsprachigen Literatur so isoliert da, wie es die Literaturkritik zu sehen meinte, noch in der europäischen Literatur. Eine »der eigentlichen Absichten« ihrer Filmnovelle, schrieb Marguerite Duras zu Hiroshima mon amour (1960), bestand für sie darin, »Schluß zu machen mit der Schilderung des Entsetzlichen durch das Entsetzliche, […] sondern das Entsetzen wieder auferstehen zu lassen aus jener Asche und es sich einprägen zu lassen in einer Liebe, die notwendig zu einer besonderen werden muß, zu einer – hinreißenden«.19
Da es in der hier vorgelegten Studie zu Handkes ungewöhnlicher Klassik nach 1945 nicht um eine flüchtige, zufällige Schönheit geht, wollte ich die Poetik seiner Bücher als eine spezifische Form der Erkenntnis sichtbar machen. Wenn »Schönheit, die dauert, […] ein Gegenstand des Wissens« ist,20 wäre es zu wenig, die Schönheit des Erzählens ›nur‹ im Raum-Denken Goethes oder Spinozas zu suchen, so wichtig der von Bewegungen, Klängen, Licht- und Farbwirkungen belebte Raum für das Erzählen Handkes ist. Ich wollte das schmerzende Welt-Wissen im Innern der Werke freilegen, ohne welches das Schöne bloß Oberfläche und Dekor bliebe. Auch bei Goethe sind die »Farben« nicht nur Taten, sondern auch »Leiden des Lichts«.
Dass Handke seinen Anspruch auf die Schönheit und das Klassische in der Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises1979 vorbrachte, war kein äußerlicher gesellschaftlicher Rahmen. Kafkas Werk stellt für ihn eine Form des Weltwissens dar, durch das hindurch er zu seinem eigenen Schreiben gelangte. Ein anderes Weltwissen findet er im Werk Goethes, das er mit heterodoxen Denk-Traditionen in Beziehung setzte, unter denen mir Benjamins Messianismus am wichtigsten erscheint. Handke hat die Schwellen-Theorie aus Benjamins Passagen-Arbeit in die Idee eines rettenden Erzählens verwandelt und, durch die Beziehung auf die Not des »pathisch Schwermütigen«, der Literatur die außergewöhnliche Kraft abverlangt, alles zu überwinden, was uns niederdrückt, lähmt und einsperrt in uns selber.
Der aufgrund des Berufs, des Forschungsinteresses und der Welt-Wahrnehmung am ehesten dem Bild eines heutigen Klassikers entsprechende Protagonist von Der Chinese des Schmerzes (1983), der Altphilologe Andreas Loser, Lehrer an einem humanistischen Gymnasium in Salzburg, Vergilverehrer und Archäologe, ist zugleich eine der am meisten gefährdeten Gestalten im Werk Handkes. Der Gewalt genauso wie der Schwermut verfallen, begeht er einen Mord und stürzt danach in eine schwere Depression. Wie dieses Ich im Erzählen zu einem schmerzenden »Wissen im Innern« gelangt, entspricht gerade aufgrund der anti-sentimentalen, objektiven Beschreibung den klassischen Goethe’schen Begriffen der »Natur-Betrachtung und -Versenkung«.21
Am Schluss meiner Arbeit stehen zwei Kapitel, in denen ich einige zentrale Bilder und Bild-Zusammenhänge in den Blick rücke und die symbolische Bedeutungsverdichtung, das »eins und alles«, als Form der Schönheit in Handkes Büchern möglichst textnah zu erklären versuche. Da der Autor in einem Interview mit Peter Hamm die Germanisten aufgefordert hat zu erklären, »warum gerade das Busfahren für diesen Menschen da so bedeutend geworden ist«,22 wollte ich meine Handke-Studie mit einem Kapitel über Busfahrten im Krieg abschließen. Nach so viel Polemik zu den Jugoslawien-Texten und -Stellungnahmen des Autors kann die philologische Darstellung eines Ausschnitts oder Nebenthemas aus dem großen Komplex vielleicht dem Gegenstand wenigstens partiell gerecht werden.
Ich konzentriere mich vor allem auf die Erzählungen, ein Gattungsbegriff, der bei Handke auch das umfasst, was man üblicherweise Roman nennen würde, von dem er sich meist bewusst absetzt. Diese genrespezifische Konzentration ist insofern zu rechtfertigen, als sein Begriff des Erzählens als eine neue Bestimmung des Epischen den wichtigsten Teil seiner poetologischen Schriften bildet und letztlich auch seine Theater-Dramaturgie bestimmt. Der erkenntnisleitende Rahmen für die literaturgeschichtliche Bestimmung von Handkes epischem Erzählen nach 1945 ist der gewagte Versuch, die Voraussetzungen einer Theorie und Praxis des Epischen nach oder neben Brecht verstehbar zu machen.
1
Peter Handke: Die Wiederholung, Frankfurt am Main 1986, S. 262. Der Soldat ist eine der vielen zum Amoklauf disponierten Gestalten im Werk Handkes. Im Bus hielt er zwischen den Knien »ein verhülltes und verschnürtes Gewehr«, und der Erzähler »hatte mit dem ersten Blick, nicht auf die Waffe, sondern das Profil, die Gewißheit, es würde etwas geschehen. Mit uns? Mit dem Soldaten? Mit mir?« (S. 255).
2
Ebd., S. 262.
3
Peter Handke: Langsame Heimkehr. Erzählung, Frankfurt am Main 1979, S. 170f.
4
Walter Benjamin: Enzyklopädieartikel [Goethe], in: W. Benjamin: Gesammelte Schriften. Aufsätze. Essays, Vorträge, Bd. II.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 703-739; S. 713.
5
Botho Strauß: Was bleibt von Peter Handke?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 6. 2006.
6
Peter Handke: Langsame Heimkehr, S. 167f.
7
Peter Handke: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos, Frankfurt am Main 2002, S. 639f.
8
»Welche Zeitbilder? Was für Zeit-Weisen und Zeit-Rhythmen, Zeit-Zeichen, -Worte und -Wörter, oder auch bloße Zeit-Arabesken, unserem Existieren zusetzen, um es leuchten zu lassen über unsere Existenz- und Lebensgrenzen hinaus? – Und das wäre in Umrissen das hiesige Zeitumdenkensprojekt gewesen« (ebd., S. 639).
9
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: W. Benjamin: Gesammelte Schriften. Abhandlungen, Bd. I.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 203-430; S. 357.
10
»Denn wenn es ein Wort gibt, dem für unser Ohr der Frageklang sich ganz verschmolzen hat, so ist es: das Klassische« (Walter Benjamin: Das Problem des Klassischen und die Antike. Acht Vorträge gehalten auf der Fachtagung der klassischen Altertumswissenschaft zu Naumburg 1930 […], in: W. Benjamin: Der Stratege im Literaturkampf. Zur Literaturwissenschaft, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt am Main 1974, S. 115-119; S. 115).
11
Hans Mayer: Bertolt Brecht und die Tradition, München 1965, S. 63.
12
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend (1992), München 1995, S. 135f.
13
Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1971 (die erste deutsche Übersetzung von Marcuses Eros and Civilisation. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston 1955, erschien 1957 unter dem Titel Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud).
14
Theodor W. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, in: Th. W. Adorno: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1981, S. 495-514; S. 510 u. S. 514.
15
Ebd., S. 512f. Vgl. dazu auch in dieser Arbeit Kap. 3: »Goethe und Stifter«, S. 60.
16
Alfred Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung, München u. Wien 1984.
17
Peter Handke: Aufruhr und Liebe, in: Florjan Lipuš: Boštjans Flug. Roman.Aus dem Slowenischen von Johann Strutz.Nachwort von Peter Handke. Mit Abbildungen, Berlin 2012, S.163-167; S. 165.
18
Peter Handke: Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises, in: P. Handke: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967-2007, Frankfurt am Main 2007, S. 73-75; S. 74.
19
Marguerite Duras: Hiroshima mon amour. Filmnovelle, übers. v. Walter Maria Guggenheimer, in: Spectaculum. Texte moderner Filme, Frankfurt am Main 1961, S. 57-117; S. 60. Vgl. dazu Marie Luise Wandruszka: Ingeborg Bachmanns »ganze Gerechtigkeit«, Wien 2011, S. 26ff., wo diese Frage im Werk Bachmanns auf eine Weise gestellt wird, dass darin die Grundfragen des Schreibens nach 1945 erhellt werden.
20
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 357. Von Benjamin habe er erfahren, heißt es in einer Eintragung in Das Gewicht der Welt, »daß man nicht so tun darf, als ›dächte man nicht (daß Poesie sozusagen nicht dem Denken entgeht […])« (Peter Handke: Das Gewicht der Welt. Ein Journal(November 1975-März 1977), Salzburg 1977, S. 269).
21
Vgl. Norbert Christian Wolf: Ästhetische Objektivität. Goethes und Flauberts Konzept des Stils, in: Poetica 34 (2002), S. 125-169.
22
Peter Handke, Peter Hamm: Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo, Göttingen 2006, S. 134.
Dank
Ich denke sehr dankbar an die Hilfe, die ich bei diesem Buch innerhalb und außerhalb der wissenschaftlichen Institutionen erfahren habe: an die Ermunterung durch Raimund Fellinger und Petra Hardt; an die Anregungen von den Studentinnen und Studenten des Handke-Seminars an der Salzburger Universität im Sommersemester 2012; an die wissenschaftliche Unterstützung durch Evelyn Breiteneder und ihre Kolleginnen und Kollegen am ICLTT-Forschungsinstitut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fachbereichs Germanistik an der Salzburger Universität, wo ich viele Jahre arbeiten konnte. Und nicht zuletzt bin ich den Klassikerinnen und Klassikern der pädagogischen Provinz meiner Familie, insbesondere meiner Frau Ulrike, sowie meinen Verwandten und Freunden für jede Form von Inspiration und Hilfe sehr dankbar.
Auch auf die Gefahr hin, jemanden mir Wichtigen zu übersehen, möchte ich doch einige Namen hervorheben: Eva Alteneder, Klaus Amann, Margit Bader, Ursula Bauer, Hanno Biber, Felicitas Biller, Ulrike Czeitschner, Anna Eleonore Estermann, Helmut Färber, Gerda Haller, Adolf Haslinger, Margaretha Huber, Irmgard Kogler, Markus Kreuzwieser, Nadja Küchenmeister, Arturo Larcati, Antonia Maria Leitgeb, Gertraud Mitterauer, Manfred Mittermayer, Thomas Oberender, Oswald Panagl, Matthias Part, Clemens Peck, Katharina Pektor, Evelyne Polt-Heinzl, Harald Probst, Klemens Renoldner, Wilma Santner, Klaus Schiller, Heinrich Schmidinger, Ursula Seeber, Artem Sharandin, Magdalena Stieb, Erich Stöller, Inge Strotzka, Leo Truchlar, Heidi Urbahn de Jauregui, Karl Wagner, Marie Luise Wandruszka, Hans Widrich, Sylvia Wittgenstein, Norbert Christian Wolf …
1. KAPITEL »Schönheit«
Das Wort sei gewagt: Ich bin, mich bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus – auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit; ja, auf Klassisches, Universales, das, nach der Praxis-Lehre der großen Maler, erst in der steten Natur-Betrachtung und -Versenkung Form gewinnt.1
Das Verlangen nach dem Klassischen, das Handke mitten in der Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises1979 ausgesprochen hat, spielt bis ins Wort auf Goethes Kunstdoktrin an. Auch die Verbindung der Schönheit mit »Erschütterung« ist dem Werk Goethes nicht fremd. Faust. Der Tragödie Zweiter Teil beginnt mit einem Gleichnis der Heilung des erlebten Traumas durch Schönheit. In der Szene Anmutige Gegend wird eine andere Katharsis als die der griechischen Tragödie zum Theaterereignis. Die Bühne zeigt einen Naturraum, in welchem Lichter und Farben, »der Blüthen Frühlings-Regen« und die belebende Luft aufgeboten werden, um Faust, den »Unglücksmann«, von »erlebtem Graus« zu reinigen. Die Elfen geben ihn »dem heiligen Licht« zurück, er soll im Anschauen des Glanzes das Wünschen wieder »erlangen«.2
Handke fühlte sich verstanden, als ihn Gero von Boehm in einem Interview (2008) an eine lebenspraktische Form von Katharsis in Platons Timaios erinnerte, nämlich die seelisch heilsame Wirkung von Seereisen, die die Atome durchschütteln. Bezeichnend aber für Handkes Verhältnis zur philosophischen Überlieferung ist, dass er die Textstelle sofort auf den gelebten Alltag seiner Herkunftswelt bezog. Für ihn sei das einer seiner »Lieblingssprüche«, nur dass bei ihm »die Schiffe ersetzt sind durch Autobusse«: »Irgendein kleiner österreichischer Postautobus« genüge schon, »dass die Atome durchgerüttelt werden ohne mein Zutun«.3 Den Autobus, der in den letzten Schuljahren zum Alltag des Gymnasiasten gehörte, hat Handke in seinen Büchern tatsächlich in ein philosophisch-therapeutisches Erzähl-Fahrzeug verwandelt.4 Als öffentliches Verkehrsmittel eignet er sich zum symbolischen Bild der Gesellschaftlichkeit der Kunst; in seinen Scheiben spiegelt sich die Landschaft und das Blau des Äthers, so dass er zum Bild des Erzählens selbst werden kann – »geräumigstes aller Fahrzeuge, Himmelswagen«, wird die Erzählung am Schluss von Die Wiederholung genannt.5 In Handkes erstem Roman, Die Hornissen (1966), wendet der jugendliche Gregor Benedikt den Blick aus dem »fahlen Raum« zum Fenster hinaus, verzweifelt, weil sein aus dem Krieg zurückgekehrter Bruder im Schuppen draußen »elendig verreckt« – und er sieht einen »Autobus« durch »eine helle und farbige Nacht« fahren, über »eine noch nie gesehene Brücke«.6 Wut und Schmerz verwandeln sich in dieser Wendung nach außen in die ersten Bildsplitter jenes besänftigenden Landschaftsraums, der später, wie der Autobus als geräumiges Fahrzeug des Erzählens, zur Welt von Handkes Büchern gehören wird.
Dass der Anspruch auf die Schönheit und das Klassische mitten in einer Kafka-Rede erhoben wird, stellt, mehr noch als die pointierte Kontrafaktur der aristotelischen Katharsis-Theorie – »Erschütterung durch Schönheit« –, den anderen ungewöhnlichen Aspekt der klassischen Wende dar. Goethes Kunst-Lehre – »Form«, »Wahrheit«, »Schönheit« und »Universales«, »Natur-Betrachtung und -Versenkung« – mit Kafka zu verbinden, irritiert. Bedeutet Kafka nicht die Zurücknahme Goethes, da er an die Stelle von Weltvertrauen und Daseinsfreude »Schuld« und »Scham« setzt und den Menschen einem nicht durchschaubaren Prozess ausliefert? Ist Der Prozeß nicht die visionäre Vorwegnahme dessen, was im Nationalsozialismus zum System wurde?
Und doch hat es seine Konsequenz, wenn Handke in einer Kafka-Rede den provokanten Anspruch auf das Klassische erhebt. Kafka war das Gegenüber und der Bezugspunkt seines Schreibens von Beginn an. »Franz Kafka ist mir, zeit meines Schreiblebens, Satz für Satz, der Maßgebende gewesen«, lautet der erste Satz der Rede. Die Vergangenheitsform deutet aber eine Veränderung an, die im Fortgang der Rede auf eine ungewöhnliche Neudeutung Kafkas hinausläuft und in der zitierten Berufung auf die Schönheit und das Klassische kulminiert.7 Indem Handke das Bild von Kafka verwandelt, ihn aus der Opferrolle befreit, bleibt das Klassische nicht mehr nur ein unvermittelt vorgebrachter Anspruch, sondern es wird zur konkreten Handlung, zur Realisierung eines »als Gesetz erfahrenen ANDEREN Lebens«.8 Dieses »Gesetz«, Handkes befreiendes Erzählen, das den Lesern aufhelfen will, sich umsieht nach den Anderen und die Welt öffnet, bildet in allem den Widerspruch zu jenem »Gesetz«, dem sich Josef K. im Prozeß ausgeliefert sah. Und so kann Kafka in dem ganz anderen ›Prozess‹ und der anderen ›Verwandlung‹, die die Rede in Gang bringt, zum Zeugen und Gewährsmann des Klassischen im Sinne Handkes werden.9
Klassische Motive, Genres, Figuren im Werk vor der Kafka-Rede
Die Wende zum Klassischen bildete im Werk Handkes nicht einen unvorbereiteten Bruch. Der Autor konnte auf beinah zwei Jahrzehnte eigener literarischer »Praxis-Lehre« zurückblicken sowie auf eine kontinuierliche theoretische Reflexion, die nicht nur die Literatur-, Theater- und Film-Essays und Rezensionen umfasst,10 sondern auch die Journal-Aufzeichnungen seit Mitte der siebziger Jahre und die poetologischen Reflexionen in den literarischen Werken selbst. Schon im ersten Roman, Die Hornissen (1966), findet man mehrere traumartige Urszenen eines befreienden Erzählens, zu denen die erwähnte Autobus-Szene gehört. Den Schluss des Romans bildet der Traum von der leicht machenden Bewegung als Voraussetzung, dass der »Bruder über ein vereistes Schneefeld« gelangt – ein Gleichnis des vom Einbrechen bedrohten Schreibens und der notwendigen Balance. Es ginge um die »Ordnung der Bewegungen«, die ihn »herausführt«. Wie im Orpheus-Mythos darf sich der Gehende, wenn er angerufen wird, nicht umdrehen.11
Vierzig Jahre nach Die Hornissen wird das Bild vom notwendigen »Gleichmaß« der Bewegungen beim Gang über ein Schneefeld wiederaufgenommen, nun, in Die Morawische Nacht (2008), explizit als Bild der gefährlichen Arbeit des Erzählens: »Würde er aus dem Gleichmaß geraten, wäre es um ihn und wäre es um uns andere geschehen, wie bei einer Kolonne, die auf einer Schnee-Eisbrücke eine Gletscherspalte zu überqueren versucht und wo der Vordermann, auch nur für eine Sekunde, das Gewicht anders verlagert.«12 Goethes Leitbegriff der Balance von Denken und Fühlen erscheint in Handkes Fernseh-Film über die 68er Jahre, Chronik der laufenden Ereignisse (1971), in den eingeblendeten Rolltiteln als Grundfrage eines gelingenden Lebens: »Und wie Schmerzen und Freude so im Gleichgewicht halten, daß nicht sie beide die Gedanken verhindern?«13
Der Titel eines Prosa-Gedichts in Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969) lautet Die Farbenlehre. Darin eingefügt ist eine Referenz auf die Goethe’sche Schrift, aber sogar im Titel des ganzen Textbandes könnte man die Anspielung auf Goethes wissenschaftliches Leit-Konzept der Vermittlung von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt in der »Anschauung« mitlesen, das für Handkes Schreiben bestimmend bleibt. Es ginge in den noch so alltäglichen Tätigkeiten um ein »betrachtende[s] Bedenken oder Nachdenken«, »worin äußere und innere Anschauung Hand in Hand miteinander gingen«,14 heißt es dreißig Jahre später im »Roman« Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002