9,99 €
Thomas Bernhard (1931–1989) ist einer der streitbarsten, umstrittensten und bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. Der lebensgeschichtliche Hintergrund seiner Romane und Dramen ist ein nicht gewöhnliches Unglück: Jugend in Krieg und Nachkriegszeit, frühe Verlassenheit, erniedrigende Armut, lebensbedrohende Krankheit; in dieser Misere zugleich ein vom Großvater am Enkel durchexerziertes künstlerisches Erziehungsprogramm – das sind Elemente der Biographie eines Autors, der die Literatur souverän zum Mittel seiner Selbstbehauptung machen konnte. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 249
Veröffentlichungsjahr: 2018
Hans Höller
Thomas Bernhard
Ihr Verlagsname
Thomas Bernhard (1931–1989) ist einer der streitbarsten, umstrittensten und bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. Der lebensgeschichtliche Hintergrund seiner Romane und Dramen ist ein nicht gewöhnliches Unglück: Jugend in Krieg und Nachkriegszeit, frühe Verlassenheit, erniedrigende Armut, lebensbedrohende Krankheit; in dieser Misere zugleich ein vom Großvater am Enkel durchexerziertes künstlerisches Erziehungsprogramm – das sind Elemente der Biographie eines Autors, der die Literatur souverän zum Mittel seiner Selbstbehauptung machen konnte.
Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
Hans Höller, geboren 1947, studierte Germanistik und Klassische Philologie an der Universität Salzburg; nach dem Studium mehrere Jahre an ausländischen Universitäten (Istituto Universitario Orientale, Neapel; Instytut Filologii Germańskiej, Wrocław; Université Paul Valéry, Montpellier). Danach Dozent am Germanistik-Institut der Universität Salzburg.
Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm die Monographien über Thomas Bernhard (rm 50504, 1993), Ingeborg Bachmann (rm 50545, 1999) und Peter Handke (rm 50663, 2007). Buchpublikationen zu Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann, Kleist und Molière, Peter Weiss, Peter Handke. Gesamtherausgeber der Salzburger Bachmann-Edition (mit Irene Fußl).
Das Testament, «Heldenplatz» und die Vorgeschichte
Zwei Tage vor seinem Tod traf Thomas Bernhard bei einem Notar in Salzburg seine letzte Verfügung. Sein literarisches Erbe betreffend heißt es im Testament vom 10. Februar 1989:
Weder aus dem von mir selbst bei Lebzeiten veröffentlichten, noch aus dem nach meinem Tod gleich wo immer noch vorhandenen Nachlaß darf auf die Dauer des gesetzlichen Urheberrechtes innerhalb der Grenzen des österreichischen Staates, wie immer dieser Staat sich kennzeichnet, etwas in welcher Form immer von mir verfaßtes Geschriebenes aufgeführt, gedruckt oder auch nur vorgetragen werden.
Ausdrücklich betone ich, daß ich mit dem österreichischen Staat nichts zu tun haben will und ich verwahre mich nicht nur gegen jede Einmischung, sondern auch gegen jede Annäherung dieses österreichischen Staates meine Person und meine Arbeit betreffend in aller Zukunft. Nach meinem Tod darf aus meinem eventuell gleich wo noch vorhandenen literarischen Nachlaß, worunter auch Briefe und Zettel zu verstehen sind, kein Wort mehr veröffentlicht werden.[1]
Nach seinem Tod wollte Thomas Bernhard sein Werk dem österreichischen Staat entziehen. Er inszenierte testamentarisch eine posthume literarische Emigration, wie er wörtlich gesagt haben soll.[2] Eine literarische Emigration, die unmittelbar im Gefolge des Jahres 1988, dem sogenannten Bedenkjahr in Österreich, das der Erinnerung an die rassische und politische Verfolgung nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland im März 1938 diente, eine hintergründige historische Bedeutung annehmen musste. Ging es doch auch in seinem letzten Theaterstück, Heldenplatz (1988), Bernhards Beitrag zum Bedenkjahr und zur Hundertjahrfeier des Wiener Burgtheaters, um die Emigration einer jüdischen Professorenfamilie, diesmal aus dem Österreich des Jahres 1988. Und gerade Heldenplatz hatte den Anlass zu einer in der Zweiten Republik beispiellosen Erregung in den Medien und in der politischen Öffentlichkeit gegeben. Auf einmal standen die Forderungen nach einem Boykott der Aufführung und der Vertreibung des Autors im Raum[3], als hätte das Theater die Wirklichkeit dazu bringen können, die provokante Behauptung im Stück, 1938 und 1988 seien austauschbar, unter Beweis zu stellen.
Nach Heldenplatz, im Endstadium seiner schweren Herz- und Lungenkrankheit, hat Bernhard «auch nicht mehr schreiben können». Nach «Heldenplatz» war’s vollkommen aus.[4] Dieses Drama als letztes literarisches Werk und das Testament als letzte Verfügung über sein Werk erhalten somit einen besonderen Stellenwert. Bei einem Autor, der jahrzehntelang Hinterlassenschaften, Nachlässe und testamentarische Verfügungen zu seinem literarischen Thema gemacht hatte, war damit zu rechnen, dass auch sein eigenes Testament ein vieldeutiges Kunstwerk darstellen würde. Einen komischen Hintersinn enthält die letzte Verfügung des Autors ja allein schon dadurch, dass sie unablässige Rechtsstreitigkeiten, immer neue Ausdeutungen, Umgehungen und Verstöße gegen seinen letzten Willen geradezu vorprogrammiert. So müssen nun die Gerichtsprozesse, die früher gegen den Autor angestrengt wurden, von Thomas Bernhards Nachlassverwaltern fortgesetzt werden.
Die posthume […] Emigration ist auch deshalb eine literarische, weil sie im heutigen Österreich – und diese Differenz ist schwer zu überschätzen – ein Ereignis darstellt, das gegenüber der realen Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich des Jahres 1938 doch vor allem «literarischen» Status hat. Der im Testament angesprochene österreichische Staat war immerhin der politische Raum, innerhalb dessen Grenzen Bernhards verschiedene Formen des literarischen «Staatsstreichs» ihren anerkannten Platz einnahmen und ein Publikum fanden, mit dem er stets die Lacher auf seiner Seite hatte. Eine Zeitlang, Mitte der siebziger Jahre, spielte man im Unterrichtsministerium sogar mit dem Gedanken, Thomas Bernhard zum Direktor des renommiertesten österreichischen Staatstheaters, des Wiener Burgtheaters, zu berufen.[5]
Heldenplatz wurde im Burgtheater aufgeführt, dem ehemaligen k.k. Hofburgtheater der Habsburger Residenz. Bis in die Gegenwart ist diesem Theater seine repräsentative kulturelle Bedeutung in Österreich erhalten geblieben. Die Verbindung zum Staat und zu den großen Staatsakten ist an seiner Lage in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hofburg und Heldenplatz abzulesen. Und genau in diese kulissenhafte Wiener Regierungs- und Geschichtsarchitektur hat Bernhard den Schauplatz seines Stückes Heldenplatz hineinverlegt[6], die topographische Nähe zu den Orten geschichtlicher Erinnerung in die anspielungsreichen Reden seiner Figuren aufgenommen und zu einer geradezu körperlich schmerzenden Nähe verdichtet. Die Frau des eben beerdigten jüdischen Professors – das Stück spielt nach seinem Selbstmord und im Anschluss an das Begräbnis – kann das Geschrei der Massen auf dem Heldenplatz, das Trauma aus dem März 1938, nicht mehr aus dem Kopf bringen. Im Massengeschrei vom Heldenplatz herauf, das am Ende des Dramas bis an die Grenze des Erträglichen anschwillt, bricht sie tot am Tisch zusammen.[7]
Das große Medienspektakel um Bernhards Stück entzündete sich aber nicht an dem Heldenplatz-Trauma, sondern an den Österreich-Beschimpfungen, einer Art literarisches Gegenstück zu den Lobreden auf Österreich im Werk des österreichischen Burgtheater-Klassikers Franz Grillparzer: «es ist ein gutes Land»[8] – Grillparzer; in Österreich ist alles/immer am schlimmsten gewesen[9] – Bernhard.
Eine wichtige Rolle spielte in dem echt Wiener Theater-Theater um Heldenplatz, dass es im Burgtheater aufgeführt wurde, noch dazu zur Hundertjahrfeier dieses traditionsreichen Hauses. Der Heldenplatz-Skandal, den die Medien aufgrund eines Pressevorabdrucks einiger Passagen des Stücks schon Monate vor der Premiere aufführten, hatte zum Teil mit der besonderen Stellung des Burgtheaters in der staatlichen österreichischen Hochkultur zu tun. «Die Presse» vom 11. Oktober 1988 sah in der bevorstehenden Burgtheater-Aufführung von Heldenplatz den Tatbestand einer Beleidigung der Staats-Majestät gegeben und vermutete eine «anarchistische Königsidee» in Bernhards Stück: Den «Staat und alles, was sich für staatstragend hält, auf dessen Kosten in seinem Staatskunstinstitut mit Unflat zu bombardieren»[10].
Die «Burg» war seit Herbst 1986 in der Hand von Bernhards Meisterregisseur Claus Peymann, einem Burgtheaterdirektor, der, vom sozialistischen Ministerium für Unterricht und Kunst eingesetzt, den kulturpolitischen Gegenwind nach Kurt Waldheims und Jörg Haiders Erfolgen in Österreich zu spüren bekam, im Sinne eines Theaters aber, das «in dieser Gesellschaft polarisieren und entzünden kann»[11] – was immer das heißt –, die Konfrontation nicht scheute. Die Boulevard-Presse, durch einen Vorabdruck aus dem sonst geheim gehaltenen neuen Bernhard-Stück auf den Plan gerufen, schoss sich auf die Stellen ein, in denen die Politiker und die Österreicher – in solchen Fällen gern von der Presse und den Politikern als «Steuerzahler» apostrophiert – der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die Gelegenheit war da, zum Sturm auf Peymanns «Burg» und Bernhards Heldenplatz zu blasen, die Politiker waren zur Stelle, um die Ehre des gekränkten Staatsvolks und ihre eigene mit volksnahen Sprüchen zu verteidigen, die Leserbriefspalten in den Zeitungen füllten sich mit den üblichen Drohungen gegen Autor und Regisseur, und manchmal war man sogar mit einem gewissen Witz dafür oder dagegen.[12] Der Skandal war da, der Andrang auf die Karten groß, die Premiere konnte, drei Wochen verspätet, am 4. November 1988 über die Bühne gehen.
Das Bernhard-Publikum brachte dem Stück den Erfolg, den es verdiente. Der Sieg im Kulturkampf ging vorderhand an Bernhards und Peymanns künstlerischen Beitrag zum Bedenkjahr 1988. Dass eine Bernhard-Aufführung auch ein internationales, mindestens europiäsches Kulturereignis darstellte, versuchte die Burgtheater-Direktion angesichts der vordergründigen Polemiken in einer Presse-Aussendung am 10. Oktober 1988 in Erinnerung zu rufen: «Thomas Bernhards Weltruhm ist heute unbestreitbar. Seine Bücher erscheinen seit über zwanzig Jahren kontinuierlich auch in den großen Verlagshäusern in Amerika, in Frankreich, in Italien und werden in alle Kultursprachen der Welt übersetzt. Seine Theaterstücke beeinflussen seit zwanzig Jahren in hohem Maße das Theater in Europa, so werden allein in diesem Herbst in Paris an vier renommierten Theatern vier seiner Stücke in prominentester Besetzung gespielt.»[13]
Von den bedrängenden Fragen des Stücks, von der verschlungenen Problematik von Täter und Opfer, vom provokativ Österreichischen der österreichischen Juden Bernhards, von der ästhetischen, historischen und lebensgeschichtlichen Dimension in Heldenplatz war ja in der erregten öffentlichen Debatte sowieso kaum die Rede. Allein, die Emigrations-Thematik im letzten Theaterstück stellt ein so zentrales Motiv im gesamten literarischen Schaffen Thomas Bernhards dar, dass man bei einer genaueren Auseinandersetzung nicht daran vorbeigekommen wäre. So literarisch sich auch die «zweite» Emigration im Vergleich zur un-ironischen Wirklichkeit des Jahres 1938 ausnimmt, sie konnte jedenfalls für Bernhard lebensgeschichtliche Wahrheit beanspruchen und ist, wenn auch kein geschichtliches, so immerhin ein literaturgeschichtliches Faktum. Während andere österreichische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den fünfziger Jahren ins Ausland gingen, nahm er in Österreich die Auseinandersetzung mit seinem Herkunftskomplex[14] auf, brauchte er, ähnlich wie Karl Kraus zu seiner Zeit, die Wut über die österreichischen Zustände und die ständigen Kollisionen als Schreib-Antrieb – und um es überhaupt aushalten zu können. «Störenfried» und «Weltverstörer», wörtlich in diesen Rollen verstanden sich Bernhard wie Karl Kraus.
Für Bernhard war Heldenplatz der letzte große Akt in seiner Herausforderung des österreichischen Staates – ein «Reiz-Reaktionsspiel»[15], in dem nicht nur politische Motive dominierten und es nicht nur um den heutigen Staat ging. Man könnte die Chronologie der Zusammenstöße mit staatlichen Institutionen und mit den Persönlichkeitsrechten von Privatpersonen schon in der Zeit von Bernhards Tätigkeit als Gerichtsberichterstatter beginnen lassen, als der junge Journalist bisweilen seiner Lust am Spektakulären und Theatralischen nachgab, was wiederum die Zeugen oder Angeklagten zu Gegendarstellungen veranlasste. Welcher Zeuge oder welcher Angeklagte findet sich schon gern in der Gerichtsspalte der Zeitung als Theatermonster wieder, als massige Figur aus Fleisch und Blut mit rotierenden Wangen und einem nicht ganz geraden Rücken[16]? In Interviews hat Bernhard später ironisch von der Genugtuung der maßlosen Übertreibung und des Dauernd-über-Leichen-Gehens im Journalistenberuf gesprochen.[17] Einmal hat er sogar die Wurzeln seines Schreibens in den Gerichtsreportagen sehen wollen: Da hatte ich Blut geleckt am Schreiben. – Ein unschätzbares Kapital. Ich glaube, da liegen die Wurzeln.[18]
Einen ersten publizistischen Eklat beschwor Bernhard mit einem polemischen Artikel über die Spielplangestaltung des Salzburger Landestheaters herauf, als er in der katholischen Wochenzeitung «Die Furche» vom 4. Dezember 1955 über Schwachsinn und Schweinerei des Theaters schrieb und von einem durchgängigen Dilettantismus, denn auf allen Bühnen (auch auf dem Burgtheater, dem Inbegriff von Provinz!) herrsche das Königreich des Dilettantismus. Die Reaktion auf diese vernichtende Kritik des Landestheaters war ein lange sich hinziehendes gerichtliches Nachspiel. Der Titel des inkriminierten Artikels lautete: Salzburg wartet auf ein Theaterstück. Als hätte der Autor die Bühne, auf der später bei den Salzburger Festspielen seine Stücke Premiere haben sollten, zum Warten auf seine eigenen Theaterstücke verdammt: Wir warten. Wir warten noch immer darauf, daß das Salzburger Landestheater endlich einmal ein Theaterstück herausbringt, das in den Kulturspalten diskutiert wird.[19]
Zu einem ersten veritablen Staats-Eklat kam es, als Thomas Bernhard anlässlich der Verleihung des sogenannten Kleinen Staatspreises für Literatur im März 1968 vor der kulturpolitischen Prominenz den österreichischen Staat als ein Gebilde bezeichnete, das fortwährend zum Scheitern verurteilt ist, als einen Requisitenstaat, in dem alles austauschbar ist, während er die Österreicher apathische Geschöpfe der Agonie nannte.[20] Zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises der Österreichischen Industriellenvereinigung im Herbst des folgenden Jahres wurde Bernhard gar nicht mehr eingeladen, auch wäre der Unterrichtsminister sowieso nicht mehr erschienen. Bei der Verleihung des Grillparzer-Preises anlässlich der «Grillparzer-Gedenkfeier der Akademie» zum hundertsten Todestag Grillparzers im Jänner 1972 figurierte Bernhard nicht einmal auf dem Programm, das gleichwohl jeden Geiger der musikalischen Umrahmung namentlich anführte. In Wittgensteins Neffe gibt Bernhard seine Version sowohl von der Staatspreis-Verleihung als auch von dem für ihn erniedrigenden Festakt in der Akademie der Wissenschaften in Wien.[21]
Im Sommer 1972 begann mit Bernhards Theater-Debüt bei den Salzburger Festspielen ein neues Kapitel seiner «Skandal-Kunstwerke». Den Auftakt bildete der Streit um die feuerpolizeiliche Verordnung, dass die Notlichter auch nicht wegen der dramaturgischen Notwendigkeit einer vollkommenen Finsternis am Schluss von Der Ignorant und der Wahnsinnige gelöscht werden dürften. Thomas Bernhard und Claus Peymann bestanden auf der vollkommenen Finsternis, und das Stück wurde nach der Premiere vom Festspielprogramm abgesetzt.
Es ist hier nicht Platz, dieses und die folgenden Kapitel des Konflikts mit den Festspielen und dem Festspielpräsidenten Josef Kaut genauer abzuhandeln. Auch die mit einer gewissen Regelmäßigkeit seit den fünfziger Jahren wiederkehrenden Politiker-Beschimpfungen und Österreich-Tiraden, die in Heldenplatz auf einen letzten Höhepunkt getrieben werden, können nur andeutungsweise erwähnt werden. Im ersten Roman schon, Frost (1963), ist das österreichische Staatsoberhaupt ein Konsumvereinsvorsteher, der Kanzler ein Naschmarktzuhälter und der Staat das Bordell Europas.[22] Das Parlament des heutigen Österreich, heißt es fünfzehn Jahre später in Bernhards Beitrag für eine geplante Anthologie des Residenz Verlags, ist auf dem politischen Unrat in diesem Lande ein luxuriöser und kostspieliger, lebensgefährlicher Wurstelprater, und die Regierung ist eine ebenso teure Dummköpfelotterie. Ähnliche Zitate lassen sich von der Mitte der fünfziger Jahre bis zu Heldenplatz aufreihen. Der Residenz Verlag lehnte übrigens den geplanten Anthologie-Beitrag ab, weil noch eine Privatklage gegen Bernhards autobiographische Erzählung Die Ursache anhängig war und der Verlag einen neuen Gerichtsprozess vermeiden wollte. Bernhards Artikel erschien dann zuerst als Beitrag «Zum Österreichischen Nationalfeiertag 1977» in einem Programmbuch des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart.[23]
Mit dem Aufstieg zu einer Art literarischer Gegenmacht zu den österreichischen Politikern – «daß wir nicht weniger sind als die Politiker», hatte Claus Peymann einmal ungewollt zweideutig formuliert[24] – ging Bernhard daran, die anderen politischen und literarischen Größen Österreichs, die Gegenkaiser, mit seinem Wort zu Fall zu bringen. Den Nobelpreisträger Elias Canetti erniedrigte er zum Schmalkant und Kleinschopenhauer und gab dessen Auftreten und Werk mit dem Kalauer von der selbstinszenierten «Komödie der Eitelkeit»[25] der Lächerlichkeit preis. Bundeskanzler Kreisky, als Sozimonarch und Höhensonnenkönig tituliert, wurde in Bernhards wortgewandtem Lachtheater die Rolle des alternden, selbstgefälligen Staatsclowns[26] zugewiesen.
Die problematischste Form der literarischen «Skandal-Kunstwerke» stellte zweifellos Holzfällen. Eine Erregung (1984) dar, eine durch die künstlerischen Mittel grandiose satirische Demontage konkreter lebender Personen und ein medienwirksames Gerichtsspektakel. Bernhard hatte schon früher immer wieder mit Privatklagen von Personen zu tun, die sich in seinem Werk in ihrer persönlichen Würde angegriffen gefühlt hatten, aber Holzfällen überbot alles bisher Dagewesene. Die gerichtlichen Verfügungen gegen das Buch, die polizeiliche Beschlagnahme der Exemplare, der darauf folgende Protest gegen die Einschränkung der Freiheit der Kunst und der umso größere Medienwirbel um den «Schlüsselroman», der die Verkaufszahlen in die Höhe trieb, das alles verstellt freilich ein grundlegendes Problem des Schreibens: die Problematik eines tödlichen Blicks, der jede Schwäche am anderen entdeckt, skrupellos die Menschen auseinandernimmt und nur den einen Milderungsgrund in Anspruch nimmt, dass er sich selbst nicht verschont und mit derselben rücksichtslosen Vorgangsweise auch sich in alle Bestandteile zerlegt.[27] Das satirische Schreiben hat eine besondere Nähe zum Menschenfresserischen, und Bernhard blieb dieser Aspekt seiner Kunst keineswegs verborgen. Schreibend verwandelte er sich in ein Scheusal, das den andern – und sich selber – nach allen Regeln der Kunst zerlegt, sah sich gern in der Rolle des literarischen Fallenstellers, wollte möglichst alt und möglichst boshaft werden, um möglichst gut zu schreiben.[28] Ich bin ja ein Berserker; ich will ja gut schreiben; ich müßte mich immer mehr vergrauslichen und immer mehr verfürchten und verfinstern im Bösen, damit ich besser werde.[29] Zur literarischen Qualität seiner Texte gehört aber auch, obwohl davon bei ihm viel weniger die Rede ist, dass er zum rücksichtslosen Beobachter in seinem Werk eine Vielzahl von Gegenentwürfen, Gegenbildern und Gegenstimmen erschaffen konnte. In Bernhards spätem Roman Auslöschung (1986) sind das zum Beispiel der Blick des Kindes, die Welt der Kindervilla, der mediterrane Sensualismus des Onkel Georg, der unspektakuläre Widerstand Schermairs, die Gärtner von Wolfsegg, der Umweltverzauberer Gambetti oder die in Rom lebende österreichische Dichterin Maria, eine Romangestalt, hinter der unschwer Ingeborg Bachmann zu erkennen ist. Den sich am Geist Versündigenden nennt sie den mitleidlos beobachtenden Ich-Erzähler im Roman. Sie hatte nur einen Scherz machen wollen, aber ich nahm diese Äußerung ihrerseits als die bittere Wahrheit.[30]
Heldenplatz ist eine Gesellschaftssatire mit den für diese Gattung charakteristischen Zügen und Sprachmasken. In der Sprache des alten jüdischen Professors Robert Schuster sind die widersprüchlichen Züge der Wiener Moderne angelegt. Seine Tiraden erinnern, bis ins Wort, an Karl Kraus’ Polemik gegen die österreichische Sozialdemokratie, aber auch an das dunkle, verstörende System eines Otto Weininger, das einen wichtigen Bestandteil der ressentimentgeladenen kulturellen Mentalität der österreichischen Ständestaats-Bourgeoisie ausmachte.[31] Und wie bei vielen anderen zentralen Gestalten Thomas Bernhards scheint auch in den beiden Brüdern Schuster die Biographie des Philosophen Ludwig Wittgenstein durch, der für Bernhard «der exemplarische österreichische Intellektuelle dieses Jahrhunderts» gewesen sein dürfte.[32] Über ihn schreiben, das war für ihn so, als würde er über sich selbst schreiben.[33] Wittgenstein, 1889 in Wien geboren, Sohn eines reichen jüdischen Großindustriellen, entzog sich der ihn in Österreich umgebenden «Gehässigkeit und Gemeinheit»[34] nach Cambridge. Der Lebensweg der beiden Professoren in Heldenplatz folgt diesem biographischen Muster, zeigt zugleich auch die Nähe von Genie und Wahnsinn und die suizidale Gefährdung. «Ich habe fortwährend daran gedacht, mir das Leben zu nehmen», liest man in einem Brief Ludwig Wittgensteins an Paul Engelmann.[35]
Typisch für die Gesellschaftssatire der Beginn von Heldenplatz: Im Dienstbotinnenpalaver ersteht, bevor noch die «Herrschaften» auftreten, eine erste sprachliche Innenaufnahme einer Familie und zugleich einer Gesellschaftsschicht. Man erfährt, wie der nun verstorbene Professor Josef Schuster zu Lebzeiten alle nur mißbraucht[36] habe, ein Egoist/durch und durch[37]. Ein kleinlicher, wahnbesessener Tyrann, Genauigkeitsfanatiker[38], Pedant[39] und voll abstruser Vorurteile. Untermenschen[40] waren für ihn die nächsten Familienmitglieder – und der Autor des Stücks wusste, wo dieses Wort herkam.
Treten dann die Herrschaften im zweiten Akt auf, vom Begräbnis Professor Josef Schusters kommend, der sich aus dem Fenster gestürzt hat, ist gleich vom nun fälligen Hausverkauf die Rede, vom schon erfolgten Wohnungsverkauf in der Innenstadt, von zusätzlichen Zahlungen an die Wirtschafterin, was jetzt nicht mehr gehe[41], von den Unsummen, die die Fabriken der Mutter abwerfen[42], von den destruktiven Beziehungen in der Familie, dem gnadenlosen Macht- und Vernichtungsspiel, auf dem die Ehe aufgebaut ist: es fragt sich nur wer zuerst vernichtet wird / wer sich zuerst zerstören / und vernichten läßt[43].
Wie in allen Texten Bernhards erfährt man nichts davon, welche Philosophie die Philosophie-Professoren eigentlich vertreten. Stattdessen führt uns der dramatische Text ein System von persönlichen Vorlieben, Leidenschaften, Ressentiments und Idiosynkrasien, Leiden und Krankheiten vor, in denen Thomas Bernhard selber zu erkennen ist. Dem Genauigkeitsfanatismus, Schuhfetischismus, der Zeitungsleidenschaft, Theater- und Musikbesessenheit war der Autor ja nachweislich ebenso verfallen, wie er die im Drama ständig karikierte österreichische Titelsucht verabscheute. Auch hat der Autor in Heldenplatz die eigenen Krankheitssymptome und seine das Begräbnis und das Testament betreffenden Verfügungen inszeniert. So nah vor dem eigenen Tod gab er sich mit seiner Todeskrankheit dem «Theater» preis. Der kurze Atem, der geschwächte Körper des schwer herzkranken Professor Robert, das ist er selber in seinem finalen Körperzustand – Herzschwäche / letztes Stadium[44]: der Körper ist kaputt aber der Kopf ist jeden Tag / neu geboren / das ist ein entsetzlicher Zustand / in der Frühe kann ich mir nicht vorstellen / wieder auf die Beine zu kommen / aber ich gebe nicht auf / ich gebe nicht nach und ich gebe nicht auf[45]. Und gerade dadurch wird der Widerstand in der Rolle des erstickenden, vom Körper im Stich gelassenen österreichischen Juden zu einem bewegenden dramatischen Text: damit ihr nicht glaubt / ich bin schon tot das bin ich nicht im Gegenteil, gestattet er sich noch eine Erregung[46] – ebenjene Form der affektiven Kritik, die der Autor selber als literarische Gattung erfunden hat –, um mit dem österreichischen Staat, der sich, in der zweiten Szene, Volksgarten, um ihn herum aufbaut, abzurechnen. Mit Worten wird noch einmal zum Schlag gegen den Staat ausgeholt, um im Angriff die geschlagene Seele und den niederdrückenden Körperzustand zu erleichtern.
Wie aber konnte es kommen, dass der österreichische Staat für Thomas Bernhard zu einem Gegenüber wurde, das seinen ganzen Hass und Abscheu immer aufs Neue auf sich ziehen konnte? Wie war es möglich, dass ihn der Staat jahrelang auf das tiefste zu quälen und bis in die Zellen hinein auf das tödlichste zu stören imstande gewesen war[47], dass er sofort mit körperlichen Affekten reagierte, wenn vom Staat die Rede war? Heldenplatz ist ja nur der Schlusspunkt eines jahrzehntelang geführten literarischen Diskurses, in welchem Ekel-Reaktionen die rationale Staatskritik und politische Reflexion zurückdrängten: der Staat eine Kloake stinkend und tödlich[48], ein großer Misthaufen; in diesem fürchterlichsten aller Staaten breitet sich ein unerträglicher Gestank[49] aus, im österreichischen Staat ist die Schweinerei oberstes Gebot[50]. Wie mich vor allem hier ekelt / ich spreche ja nicht davon / […]𠂠wie mich vor allem ekelt.[51]
Schon in den frühen Prosatexten und der Lyrik aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre begegnet dieser körperliche Affekt, der politische Analyse und Reflexion abwehrt. Von Natur gegen – das ist die charakteristische Wendung, wenn vom Staat und allem, was mit dem Staat zusammenhängt, die Rede ist, vom Polizeiapparat, dem Staatszuhilfekörper, der durch die Himmelsrichtungen stinkt[52], oder wenn es gegen die Staats-Schweine in grauen Rupfenanzügen[53] geht. Schon damals auch die für Bernhards Werk charakteristischen Ekel-Litaneien gegen die Politiker, als hätte das Verhältnis zum Staat und zur Politik mit der Geschichte des eigenen Körpers zu tun, als wäre es nicht das «Resultat denkender Überlegung», sondern «eines der Physis» und ihrer Geschichte.[54]
Die Ursache von Thomas Bernhards Staatsekel und Geschichtshass ist nicht erst, wie das seit seinem Tod und seit der Veröffentlichung des Testaments zu hören ist, in den Kränkungen des Schriftstellers in seinen letzten Lebensjahren zu finden. Wie wäre es sonst zu erklären, daß schon seit Mitte der fünfziger Jahre einander ähnliche literarische Bilder seinen Affekt gegen den Staat zum Ausdruck bringen?
Der lebensgeschichtliche Staatskomplex
Man muss sich vergegenwärtigen, dass der junge Thomas Bernhard zunächst die staatlichen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen in der Zeit des autoritären österreichischen Ständestaats und, seit der Übersiedlung nach Deutschland zum Jahreswechsel 1937/1938, in Heimen und Schulen des NS-Staats durchläuft. Bernhards Darstellung seiner Schulzeit in den autobiographischen Erzählungen ist im Faktischen nicht sehr zuverlässig. Worauf es ihm ankommt, vermittelt die literarische Sprache indirekt über die Bilder: die tiefgehende Verletzung eines Ich durch die staatlichen Institutionen.
Das uneheliche Kind wuchs von seinem ersten bis zu seinem siebten Lebensjahr vor allem bei den Großeltern auf. Von Herbst 1931 an war es bei den Großeltern in Wien, ab 1935 dann drei Jahre im salzburgischen Seekirchen, wohin die Großeltern mit dem Vierjährigen übersiedelt waren. Auch später, als das Kind zu Mutter und Stiefvater ins deutsche Traunstein kam, zogen die Großeltern noch im Jahr 1938 ins nahe gelegene Ettendorf, und das Enkelkind erachtete sie weiter als für sich zuständig. Als uneheliches Kind und neu in der neuen Familie der Mutter, in der 1938 ein Halbbruder dazukam, dürfte es sich, wie die autobiographischen Erzählungen suggerieren, zu Hause und in der Schule, noch dazu im Ausland, verlassen und ausgesetzt gefühlt haben. Immer wieder begegnet später der Vorwurf, völlig alleingelassen[55] worden zu sein, von seinen Nächsten aus dem Kopf und aus der Hand in die staatliche Züchtigung gegeben[56]. Nach einem glücklichen ersten Volksschuljahr in Seekirchen habe nach einem Lehrerwechsel der Schulalbtraum begonnen, der dann in Traunstein zur Katastrophe wurde. Die Sprache in Bernhards Lebenserinnerungen vergegenwärtigt durchgängig dieses Schultrauma in einer traumatischen Zeit. Hilflos wie niemals zuvor, in einem entsetzlichen Zustand, alles in ihm gelähmt, tritt das Kind den täglichen Schulweg als täglichen Gang zur Hinrichtung an, zum Schafott – und meine endgültige Enthauptung wurde nur immer hinausgezogen. In dieser Zeit kommt der Siebenjährige zum erstenmal auf den Gedanken, sich umzubringen.[57] Mit großer Sehnsucht denkt er nach der Übersiedlung an Seekirchen, an das verlorene Paradies Österreich, dessen Herzstück der Hippinghof war und die Freundschaft mit dem Hippinger Hansi, ein Riesenreich, in welchem die Sonne nicht unterging.[58] In Bernhards späterer Österreich-Kritik scheint jene Sehnsucht nach einem in märchenhafter Vergangenheit gelegenen Österreich der Kindheit mitzuschwingen, ein Paradies, das von keiner staatlichen Realität zurückerstattet werden konnte, schon gar nicht vom Nachkriegsösterreich, das die NS-Verbrechen aus politischer Berechnung verschwieg und mit der nur widerwilligen und kleinlichen Entschädigung der Nazi-Opfer auch den um seine Kindheit gebrachten Autor vor den Kopf stoßen musste.
Das Gefängnis in der Nähe der Schule in Traunstein, ein abschreckendes Gebäude[59], steht als Grundmodell für das System von «Überwachen und Strafen»[60], für all die staatlichen Institutionen, denen der Erziehungshäftling in der Folge ausgeliefert wird: das Jungvolk und seine Tyrannei als der nächste Kreis des nationalsozialistischen Erziehungsinfernos, dann, wahrscheinlich 1942, die Verschickung in ein nationalsozialistisches Heim für schwererziehbare Kinder im thüringischen Saalfeld, die von einer staatlichen Fürsorgebeamtin fast handstreichartig durchgeführt wird. Aus dieser Zeit hat sich in der Erinnerung des Autors ein Schreckensbild festgesetzt, das die Verletzung durch den staatlichen Zugriff erkennen lässt: das Kind, als Bettnässer entlarvt, unten im Waschraum der Erziehungsanstalt, wo nur noch die Keller waren, neben ihm ein anderes Opfer, dem das kotbeschmutzte Leintuch um den Kopf geschlagen wird, während man ihm selber die wundgewetzten Oberschenkel an den Hoden mit einem weißen Puder bearbeitete.[61] Und gerade bei diesem mit Scham besetzten Gebrechen musste das Kind besonders verletzbar sein, weil es ja auch schon von der Mutter der Öffentlichkeit preisgegeben worden war, als sie das urindurchnässte Leintuch wie eine Fahne auf dem Balkon des Hauses im kleinstädtischen Zentrum von Traunstein aufgehängt hatte. Eine subtile Verflechtung von Familien- und Staatsterror, noch dazu, wo die Mutter den Staat, der anstelle des leiblichen Vaters für das illegitime Kind eine finanzielle Unterstützung zahlte, als Ersatzvater zur Erniedrigung des Kindes gebrauchte. Mit den Worten «damit du siehst, was du wert bist»[62], schickte sie den «Nichtsnutz», der «nichts wert» ist und «an allem schuld»[63], auf das Rathaus, um die für ihn gewährte staatliche Unterstützung abzuholen.
Mitten im Krieg, in der Zeit der sich massierenden Bombenangriffe, im Herbst 1943, wird der Zwölfjährige in ein staatliches Internat in Salzburg gegeben, in das nationalsozialistisch geführte Schülerheim in der Schrannengasse, das er, ein staatliches Erziehungsopfer, noch einmal als zunehmende Strafverschärfung erlebt, als staatlichen Kerker.[64] Wieder verfällt er auf Selbstmordgedanken, lieber kürzesten Prozeß machen, als sich nach und nach durch einen staatlich-faschistisch-sadistischen Erziehungsplan als staatsbeherrschendes Erziehungssystem nach den Regeln der damaligen großdeutschen Menschenerziehungs- und also Menschenvernichtungskunst zerstören und vernichten zu lassen[65]. Das Ausgeliefertsein im Internat und in der Schule wird gegen Ende des Jahres 1944 umso bedrückender, als die Stadt selbst dem totalen Krieg ausgesetzt ist und er überhaupt nirgends in dieser Stadt einen ihn schützenden Punkt hatte.[66] Nach dem dritten und schwersten Bombardement Salzburgs am 17. November 1944 holt die Großmutter den gepeinigten Zögling nach Hause. In Traunstein habe er bei einem Gärtner, bei der Firma Schlecht und Weininger, zu arbeiten angefangen, heißt es in Die Ursache[67], was aber nirgends in den erhaltenen Geschäftsbüchern der Traunsteiner Gärtnerei belegt ist. Mit der Zerstörung des Betriebs durch einen schweren Bombenangriff am 18. April 1945 sei das – mindestens offiziell niemals existierende – Arbeitsverhältnis beendet worden.
Als der inzwischen Vierzehnjährige im Herbst 1945 nach dem Kriegsende in das alte, notdürftig zusammengeflickte und übertünchte Internatsgebäude zurückkehrt, um nun das Salzburger Bundesgymnasium zu besuchen, habe er schockartig erlebt, wie der nationalsozialistische Heimbetrieb durch einen katholischen ersetzt worden sei, aber in den Züchtigungsmethoden beinahe vollkommene Übereinstimmung herrschte. Es hatte alles nur einen anderen Anstrich und alles hatte nur andere Bezeichnungen, die Wirkungen und die Auswirkungen waren die gleichen gewesen.[68] Auch das sogenannte Staatsgymnasium erlebt er als ein katholisches Gymnasium. Nichts Neues hatte begonnen, 1945 war keine Zäsur, höchstens an den autoritären katholischen Ständestaat war angeschlossen worden, der ganze österreichische Staat hat sich ja auch immer «katholischer Staat» genannt[69]. Die blasphemisch konstatierte Austauschbarkeit hat ihren historischen Wahrheitsgehalt in der Tatsache, dass in Österreich, mindestens partiell, Nationalsozialismus und Katholizismus eine unheilige Allianz eingegangen waren, die bis zur Gleichsetzung von «katholisch» und «deutsch» ging.[70] Für immer setzt sich die Grunderfahrung der Austauschbarkeit durch: das Bild des Requisitenstaats, in dem alles austauschbar ist[71], wie der Schriftsteller in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises zwanzig Jahre danach sagen wird.
Thomas Bernhard hat seine spätere lebensgefährliche Erkrankung und die sich daran anschließenden Aufenthalte in den Krankenanstalten und Lungenheilstätten als Fortsetzung und Steigerung der als verletzend erlebten Staatsgewalt beschrieben. Aufgrund einer nicht ausgeheilten Erkältung an einer schweren Lungen- und Rippenfellentzündung erkrankt, wird der Siebzehnjährige, er arbeitete nach dem Schulabbruch im April 1947 als kaufmännischer Lehrling in einer Gemischtwarenhandlung in Salzburg, im Jänner 1949 ins Salzburger Landeskrankenhaus eingeliefert. Sein Zustand erscheint so hoffnungslos, dass man ihn in einen riesigen Krankensaal mit todkranken Patienten legt. Wie ausgesetzte Kinder liegen die sterbenden alten Männer in den zum Teil vergitterten Eisenbetten. Nur mehr mit kalter Routine konfrontiert, ausgeliefert an Ereignisse und Geschehnisse, rücksichtslos und erbarmungslos wie keine andern[72] in seiner bisherigen Existenz, erlebt er die staatliche Krankenanstalt als Antiheilungs-, ja Menschenvernichtungsmaschine[73].
Grafenhof, nach einem Zwischenaufenthalt in Großgmain, von Juli 1949 bis Februar 1950 und vom Juli 1950 bis Jänner 1951[74] die nächste Station unter den Krankenanstalten Nachkriegsösterreichs, eine Lungenheilstätte im salzburgischen Pongau, war von vornherein ein Schreckenswort. Dort herrschten die besonders für den jungen Menschen entsetzlichen Zustände einer öffentlichen Lungenheilstätte[75]. Wieder die Erfahrung, dass das Jahr 1945 in den staatlichen Institutionen keine Zäsur darstellte. Der Primär war schon im Krieg hier gewesen und, obwohl Nationalsozialist, bei Kriegsende weiter geblieben, so wie er auch sein streng militärisches Gehaben beibehielt, die Patienten als gemeine Soldaten und die Heilstätte als Strafanstalt betrachtete und auch als Strafanstalt führte.[76] Man erfuhr dort am eigenen Leib, was es damals bedeutete, lungenkrank zu sein. Es war schlimmer, nach Grafenhof zu gehen, als nach Stein oder Suben oder Garsten, in die berühmten Strafanstalten.[77]
Es liegt geradezu in der Konsequenz der Erbschaften jener Zeit, wenn Thomas Bernhard als Einundzwanzigjähriger, endlich aus all den staatlichen Zwangsanstalten der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit entlassen, seine Schule des Schreibens als Gerichtsberichterstatter im Salzburger Justizgebäude beginnt: