9,99 €
Rowohlt E-Book Monographie Ingeborg Bachmann hat den Mythos des gefährdeten modernen Künstlers für sich neu geschaffen, aber mit dem Blick für die geschichtliche Problematik der Literatur nach 1945 und für die Rolle der schreibenden Frau in der patriarchalischen Zivilisation. Biographische und historische Zusammenhänge ihres Werks lassen erst das wirkliche Drama dieser Künstlerexistenz erkennen. Dadurch werden auch in ihren bekannten Texten neue Bedeutungsebenen sichtbar, das verborgene Gespräch der Autorin mit ihr nahestehenden Menschen oder die Erinnerung an Topographien ihres Lebens. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 249
Veröffentlichungsjahr: 2015
Hans Höller
Ingeborg Bachmann
Ihr Verlagsname
Rowohlt E-Book Monographie
Ingeborg Bachmann hat den Mythos des gefährdeten modernen Künstlers für sich neu geschaffen, aber mit dem Blick für die geschichtliche Problematik der Literatur nach 1945 und für die Rolle der schreibenden Frau in der patriarchalischen Zivilisation. Biographische und historische Zusammenhänge ihres Werks lassen erst das wirkliche Drama dieser Künstlerexistenz erkennen. Dadurch werden auch in ihren bekannten Texten neue Bedeutungsebenen sichtbar, das verborgene Gespräch der Autorin mit ihr nahestehenden Menschen oder die Erinnerung an Topographien ihres Lebens.
Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in den ersten Junitagen des Jahres 1945, wird eine achtzehnjährige Maturantin nach ihrer Mitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel, einer Organisation der Hitlerjugend, befragt. Die Maturantin heißt Ingeborg Bachmann, geboren am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, Aufenthaltsort: Obervellach im südkärntnerischen Gailtal. Die Fragen stellt ein englischer Besatzungssoldat in perfektem Deutsch mit Wiener Akzent. Als Kind jüdischer Eltern hatte er sich 1938, damals bereits an die zwanzig Jahre alt, mit einem der letzten Kindertransporte aus Wien ins Exil nach England retten können. Eigentlich hatte er gar nicht nach der Mitgliedschaft gefragt, sondern, statt zu fragen, «Natürlich BDM.» gesagt.
Festgehalten ist diese Szene in einem Tagebuch, das die Schülerin in den letzten Kriegsjahren und der unmittelbaren Nachkriegszeit führte.[1]Mir war plötzlich ganz übel und ich habe überhaupt kein Wort herausgebracht und nur genickt, liest man. Ich hätte ja sagen können, dass ich wahrscheinlich gar nicht mehr auf der Liste stehe, weil ich mit 14 nicht übernommen worden und auch nicht vereidigt worden bin und daß ich dann nie mehr geholt worden oder hingegangen bin. Aber sie dachte sich, dass ihm wohl alle Leute diese Geschichten erzählen, sie wären nur gezwungen worden und nie richtig dabei gewesen. Nur, als er zum Schluss fragte, ob sie «Führerin» gewesen sei, sagte sie «nein», und sie sei ganz rot geworden und vor Verzweiflung noch röter. Irritiert fragt sie sich im Tagebuch, warum man rot wird und zittert, wenn man die Wahrheit sagt.
Ein paar Tage später, es ist der 14. Juni 1945, notiert sie, noch ganz durcheinander, dass Jack Hamesh, das ist der Name des Soldaten der Field Security Section, sie zu Hause besucht hat. Sie weiß gar nicht mehr, was sie zuerst geredet haben: aber dann auf einmal von Büchern, von Thomas Mann und Stefan Zweig und Schnitzler und Hofmannsthal, alles Autoren, deren Bücher von den Nazis verbrannt worden sind. Ich war so glücklich, er kennt alles und er hat mir gesagt, er hätte nie gedacht, dass er ein junges Mädel finden würde in Österreich, das trotz der Nazierziehung das gelesen hat. – Und auf einmal war alles ganz anders.[2] Sie redeten und redeten, bis es Abend wurde. Und bevor er ging, küsste er ihr die Hand. Noch nie hat mir jemand die Hand geküsst. Ich bin so verdreht und glücklich, und wie er fort war bin ich auf den Wallischbaum gestiegen, es war schon dunkel, und ich hab geheult und mir gedacht, ich möchte mir nie mehr die Hand waschen. Es beginnt eine Beziehung, die uns wie eine Nachkriegs-Utopie erscheint. Ein Dialog zwischen den Kindern der Generation der Täter und der Opfer. Ich habe noch nie im Leben so viel geredet, liest man in der nächsten Eintragung. Der junge englische Offizier, wahrscheinlich Kommunist, versorgt sie mit Lesestoff, erklärt sehr gut, ich frage ihn auch immer, wenn ich etwas noch nicht gehört habe. Jetzt sind wir mitten im Sozialismus und Kommunismus. Ausdrücklich notiert sie: Ich lese das Kapital von Marx und ein Buch von Adler. – Eine österreichische Maturantin holt in einem Intensivkurs die Lektionen nach, die bei den Nazis mit dem Schlagwort «jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung» kriminalisiert worden sind, und sie wird von einem aus Wien vertriebenen österreichischen Juden in ihrem Entschluss bestärkt, Philosophie zu studieren.
Aus den Tagebuchzeilen spricht jene mutige Hoffnung, jener hymnische Bachmann-Ton, den wir aus ihrer Lyrik kennen, aus manchen Partien ihrer Erzählprosa, bis hin zur Utopie des schönen Buchs in Malina – «Ein Tag wird kommen […]». Diese größere Hoffnung wird bei ihr nie verlorengehen, selbst in den letzten Lebensjahren nicht, wenn sie sich selber verloren gibt. Mut gehörte in einem Kärntner Dorf auch nach der Niederlage des NS-Regimes dazu, wenn ein Mädchen sich zu einem Juden bekannte. Ihr wird bewusst, was das bedeutet, mit dem Juden gehen, wie sie deshalb im Ort ins Gerede kommt. Und sie sagt sich, dass sie jetzt erst recht mit ihm durch Obervellach und Hermagor gehen wird. Sie sieht, dass die Menschen noch gar nicht begriffen haben, welche Katastrophe hinter ihnen liegt. Für sie aber wird dieser Sommer, das weiß sie, ihr ganzes Leben unvergessen bleiben. Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde – das wird der schönste Sommer bleiben. Vom Frieden merkt man nicht viel, sagen alle, aber für mich ist Frieden, Frieden.
Über ihre Gedichte hat sie nicht mit Jack Hamesh gesprochen, weil er mit Gedichten wenig anfangen konnte. Doch in den hymnischen Zeilen des Tagebuchs setzt sie in ihrem Zukunftsentwurf neben Arbeit und Studium das Schreiben: Auf die Goria gehe ich jetzt jeden Tag wieder, allein und um zu träumen, herrlich zu träumen! Ich werde studieren, arbeiten, schreiben! Ich lebe ja, ich lebe. O Gott, frei sein und leben, auch ohne Schuhe, ohne Butterbrot, ohne Strümpfe, ohne, ach was, es ist eine herrliche Zeit!
Nie hätte die Begegnung zwischen der Kärntner Maturantin und dem linken jüdischen Intellektuellen aus der Royal Army so verlaufen können, wie sie das Tagebuch überliefert, wenn nicht die Schülerin vorher selber die entscheidenden Schritte zu ihrer Befreiung vom NS-System getan hätte.
Das Ursulinen-Gymnasium, das von den Nazis nach dem sogenannten Anschluss Österreichs ans Dritte Reich organisatorisch dem NS-Schulsystem gleichgeschaltet wurde, hatte sich auch während der Hitler-Zeit einen gewissen anti-nazistischen Eigensinn bewahrt. Nach der Matura – sie wurde wegen des Kriegs schon am 2. Februar 1944 abgelegt – fiel der Achtzehnjährigen in der NS-Lehrerbildungsanstalt der fanatische Ungeist auf, der ihr im Gymnasium nicht begegnet war. Der Eintritt in den «Abiturientenjahrgang», der sie davor bewahrte, zu einer Panzerfaustausbildung geschickt zu werden, war erkauft mit einem eidesstattlichen Verzicht auf das Studium. Sie habe einen Augenblick vor der Unterschrift gezögert, liest man in ihren Aufzeichnungen, aber dann wird ihr klar, dass ein Studium für sie nicht mehr in Frage kommt: Nein, ich bin sicher, in diesem Land werde ich nicht mehr studieren, in diesem Krieg nicht mehr. So ein Irrtum, auch nur einen Augenblick zu zögern! Mit ein paar Mädchen in der Klasse versteht sie sich als Dissidentin unter lauter Fanatikerinnen. Es ist die Zeit der schweren Bombenangriffe auf Klagenfurt. Allein, auf sich gestellt, der Vater im Krieg, die Mutter oft mit dem kleinen Bruder im besser geschützten Obervellach, von wo der Vater herstammt, entzieht sie sich mit anderen Mädchen den Forderungen der militarisierten gesellschaftlichen Ordnung und den Befehlen des NS-Staats. Etwas Hochherziges kommt in diesen Aufzeichnungen an den Tag, der Mut junger Frauen, die fast noch Kinder sind, sie heißen im Tagebuch Wilma, Lisl und Issi, Töchter, deren Väter an der Front sind und die das Haus ohne Hüter übernehmen. Sie verständigen sich untereinander, sind sich über den Wahnsinn und die Misere klargeworden und wollen nicht mehr mittun im mörderischen Alltag. Die Tagebucheintragungen vermerken die Entscheidung, nicht mehr in den Bunker zu gehen. Sie habe sich fest vorgenommen, weiterzulesen, wenn die Bomber kommen. Das Stundenbuch ist schon ganz zerdrückt und verschmiert. Es ist mein ganzer Trost. Und Baudelaire! Bientôt nous tomberons dans les froides ténèbres, adieu vive clarté. Sie schreibt, dass es in der Innenstadt von Klagenfurt furchtbar aussehen soll – und auch hier schaut es aus wie Weltuntergang. Aber ich habe keine Angst mehr […] in meinem Kopf habe ich mein Testament gemacht. Vielleicht ist es sündhaft, einfach zu sitzen und in die Sonne zu schauen. Wenn sie schon zugrunde gehen muss, dann wenigstens im Garten. Wenigstens in der Sonne. Ein Bild des auf nichts gestellten Muts, das viel über Geist und Haltung der Achtzehnjährigen verrät, eine Art Existenzialismus avant la lettre, wie er dann die Lyrik von Die gestundete Zeit bestimmen wird: aufrecht stehen, gegen den unverrückbaren Himmel.
Als ihr und den anderen Mädchen Anfang 1945 befohlen wurde, am Stadtrand von Klagenfurt Verteidigungsgräben auszuheben, beratschlagen sie untereinander die Desertion. Ich habe […] immer nur gedacht, dass das zum Himmel schreit, was man mit uns treibt. Die Erwachsenen, die Herren ‹Erzieher›, die uns umbringen wollen. Sie bereitet die Flucht ins Gailtal vor. Wilma hat Angst, dass wir wegen Desertion erschossen werden könnten. Und dann steht im Tagebuch die Eintragung: Nein, mit den Erwachsenen kann man nicht mehr reden. Die Welt des Kriegs, den die Nazis entfesselt haben, ist zum Albtraum geworden, unbändig der Wunsch, aus der «Ödnis eines entlarvten Landes» (Ilse Aichinger)[3] wegzukommen.
Die Entlarvung einer zerstörerischen Kriegskultur, die sich als vaterländische, heimatverbundene Ideologie tarnte, hat Ingeborg Bachmann noch in der NS-Zeit und auf dem Terrain der Heimatliteratur vorgenommen. Ihre Erzählung Das Honditschkreuz (Ende 1943), ein bisher kaum gewürdigtes Werk der inneren Emigration, lässt die schwierige Arbeit der literarischen Befreiung erahnen, bei der die siebzehnjährige Gymnasiastin zunächst an die Widersprüche in der NS-Politik gegenüber den Kärntner Slowenen anschließt. Die Erzählung aus dem Jahre 1813, so der Untertitel, spielt in den gemischtsprachigen Orten Obervellach und Hermagor im Gailtal, ihrer Kindheitslandschaft am Fluss, wo sie selber 1945 die reale Befreiung vom Nationalsozialismus erleben wird. Die sogenannten Befreiungskriege gegen Napoleon waren auch von der NS-Geschichtspropaganda antifranzösisch umgedeutet und deutschnational in Dienst genommen worden. Eine Abteilung der 1943 mit großem Pomp in Klagenfurt veranstalteten «Grenzlandausstellung» war der «Franzosenzeit» gewidmet. Genau gegen diese Militarisierung des Begriffs der Grenze und gegen die kriegerische Mobilisierung des Heimatgefühls wendet sich der Erzähltext über den regionalgeschichtlichen Stoff vom Aufstand gegen die napoleonischen Truppen im Gailtal anno 1813. An keiner Stelle der Erzählung findet sich die junge Autorin bereit, Zugeständnisse an die Verherrlichung von Krieg und Heldentod oder an die Abwertung des Slawentums zu machen. Sie greift zwar den in Kärnten geläufigen, von den völkischen Ideologen vereinnahmten Begriff der slawischstämmigen «Windischen»[4] auf, sieht darin aber in bewusstem Gegensatz zur NS-Politik eine utopische Idee des Aneinandergrenzens der Sprachen und Völker, als wollten sie die Grenze verwischen, bilden sie eine Brücke, und ihre Pfeiler sitzen gut und friedlich drüben und herüben. Und es wäre gut, immer so zu bleiben. Sie nennen die Gail Zila […].[5] Gegen die Glorifizierung von Krieg und Heldentod stellt sie ihr Bild des Kriegs als Entfesselung der niedrigsten Triebe. Wie in ihrem späteren Werk beschreibt sie das Schlachtfeld als Mordschauplatz[6], die Natur verstört vom Entsetzen und den Menschen als grausame Bestie. Die Wildenten flogen auf, das Schilf bebte unter mörderischen Schüssen. Irre Menschenschritte taumelten, hetzten, jagten in die feuchten Wiesen, flohen dem Schilf zu […]. Schrille Schreie und röchelnd verendende hallten auf. Ein verzweifelter Kampf, da Mensch und Mensch, dort Wasser und Mensch, tobte. Und wen nicht die Kugel traf, den behielt der See. Man konnte auf ihn nicht schießen, ihn nicht treten, würgen, er war grausamer als das entfesselte Menschentier.[7]
Obwohl die Sprache der Erzählung unverkennbar dem Einfluss des Kärntner Heimatschriftstellers Josef Friedrich Perkonig (1890–1959) verhaftet ist, manifestiert sich bereits in der Konstellation der männlichen Perspektive des Helden und der Autorinnenperspektive ein strukturelles Problem, das sich für Ingeborg Bachmann nicht erst im Umkreis der Todesarten stellte. Warum sie in ihren Erzählungen so oft das männliche Ich nehmen mußte, warum sie nur von einer männlichen Position aus erzählen kann, eine Problematik, die bei ihr eine der ältesten, wenn auch verschütteten Erinnerungen bleiben wird.[8]
Ingeborg Bachmann erzählt aus der Perspektive des männlichen Helden Franz Brandstetter. Sein innerer Konflikt trifft sich mit dem Lebenskonflikt der jugendlichen Autorin. Brandstetter, ein Theologiestudent, ist von seinem Studium in Wien in seinen Heimatort Vellach im Gailtal zurückgekehrt. Anders als der gelassene, jeder Verwirrung überlegene geistliche Herr aus Brandstetters Herkunftspfarre, der Dechant Freneau – unverkennbar eine Präfiguration des ruhigen, vernunftbestimmten Malina im späteren gleichnamigen Roman –, hat Brandstetter sich von der nationalen Erregtheit anstecken lassen. In diesem Sündenfall des Theologiestudenten und in seiner befreienden Entscheidung spiegelt die Jugenderzählung die biographische Situation der Verfasserin: ihre Entscheidung gegen den NS-Staat und ihre Wut, dass sie, so jung sie auch war, sich überhaupt auf ihn eingelassen hatte – wenn er nur die Kraft hätte, sich aus dem erzwungenen Schicksal zu lösen, diese Bande hier zu brechen und sich so im letzten Augenblick zu retten.
Wer hatte das Recht gehabt, ihn aus seiner Ruhe aufzuschrecken, zu jagen, zu hetzen von einer ungewollten Handlung in die andere. Er war anfangs nicht Mann genug gewesen, sich zu wehren und zu lösen, aber er war Mann genug, heute mit größter Gewalt, auch über den Bruch seines Wortes hinweg, den entscheidenden Schritt zu tun, um sich wiederzufinden.
Es ängstigte ihn, an den Bruch seines Worts zu denken, aber er mußte fliehen […]. Er mußte fort von hier um jeden Preis. Er hatte nur ein Leben zu verlieren, aber er schätzte das seiner Seele höher als das des Leibes, und darum entschloß er sich.[9] «Er», das ist «sie», die Gymnasiastin, die, Mann genug, noch bevor die Kriegsheimkehrer der Gruppe 47 ihren Bruch des militärischen Eids und ihre «Entfernung von der Truppe» zum Thema der Nachkriegsliteratur machen können, sich von den Geschichtsmythen und vom militanten Heimatbegriff des Nationalsozialismus absetzt und zu ihrer Idee einer Heimat im Aneinandergrenzen findet, einer Utopie, die sie auch später nie mehr aus den Augen verlieren wird. Auch das Nein-Sagen im Widerstand gegen eine mörderische Ordnung wird in ihrem Werk immer wieder neu einsetzen als Gegen-Rede, Gegen-Entwurf, Gegen-Welt – bis zu jener letzten Verzweiflung des No! No! Non! Non! Njet! Njet! No! Ném! Ném! Nein! im Traumkapitel von Malina.[10]
Die Erzählung Das Honditschkreuz bedeutete für die junge Schriftstellerin den entscheidenden Schritt zum literarischen Bruch mit der NS-Heimat-Ideologie. Das lässt sich im Vergleich mit dem 1942 fertiggestellten Drama Carmen Ruidera zeigen, das ebenfalls eine Begebenheit aus der Zeit der antinapoleonischen Befreiungskriege, einen Aufstand patriotischer spanischer Granden, zum Gegenstand hat. Das frühe Geschichtsdrama ist mit dem Schiller-Pathos, der Kleist’schen Unbedingtheit und der sprachlichen Unbeholfenheit der sechzehnjährigen Verfasserin gewiss kein Geniestreich, es ist aber auch kein Werk des Widerstands. Die Dramenhandlung läuft darauf hinaus, dass einander nahestehende Menschen, ihren abstrakten politischen Ideen verschworen, einander verkennen und umbringen. Ungewöhnlich die Vertauschung der traditionellen Geschlechterrollen: Rimaud, der napoleonische Offizier, ist bereit, wegen seiner Liebe zu Carmen auf seine militärische Stellung zu verzichten, während die Frau, Carmen Ruidera, spanische Patriotin und edle Seele, die abstrakte Pflicht als das wahrhaft Schöne preist und die Liebe dem geschichtlichen Gesetz zu opfern bereit ist. CARMEN (mild): Rimaud, wißt Ihr denn nicht, daß eine Liebe / Vor dem Schicksal unsrer Länder in Staub / Zerfällt, daß eine Liebe, wenn die Welten / Sich im Herzen morden, ein Nichts ist, Ja, / Vor diesem Kampf ist alles nichtig. Es / Gibt da keine Milde, nicht Mitleid und / Barmherzigkeit und keine Tränen. Auch / Keine Gefühle zwischen Mann und Weib.[11]
Die gefährliche Ambivalenz dieser ‹schönen› Unbedingtheit ergibt sich durch den Kontext des von Hitler-Deutschland geführten totalen Kriegs: Obwohl das Trauerspiel die tödliche militärische Funktionalisierung der Menschen im Krieg vor Augen führt, wirbt es andrerseits mit der milden Stimme Carmens um Verständnis für die totale Unterwerfung unter das Kriegsgesetz, das herrschen soll – und nicht die Liebe. Nicht zufällig hat Bachmann, Jahre später, bei Kleist, von dessen «Hermannschlacht» ihre Carmen Ruidera beeinflusst ist, genau auf diese Problematik der Legitimität gezielt. In ihrem Essay zu «Prinz Friedrich von Homburg» (1959) wendet sie sich gegen die gefährliche Tendenz zur Verherrlichung der Legitimität […] (oder sagen wir besser: Illegitimität), unter der wir seit je in unseren Ländern gelitten haben und die Deutschland in den Abgrund geführt hat[12]. So kommt die Autorin fünfzehn Jahre später genau auf den problematischen Punkt ihres frühen Dramas zurück, und sie macht ihn zum Zentrum einer neuen Deutung von Kleists «Homburg»-Drama.
Mit dieser meist verborgenen, kritisch-dialogischen Selbstauseinandersetzung dürfte bei Bachmann die persönliche Authentizität ihres Schreibens verbunden sein. Denn der Wahrheitsanspruch als Grundantrieb ihres Schreibens beruht nicht darauf, dass sie sich frei von Irrtümern wusste, die Erkenntnis der Irrtümer und die schmerzlichen Erfahrungen waren bei ihr vielmehr die Voraussetzung dafür, sehend zu werden und sehend zu machen. Es ist kein Zufall, dass sie in einer Rede vor deutschen Kriegsblinden ihre Poetik eines Sehens entwickelt hat, das aus Schmerz und Desillusionierung hervorgeht (Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, 1959).
Weil sie selber bewusst den Weg in den Dissens mit dem Hitler-Regime ging, konnte sie später, in dem vielzitierten Interview vom 24. Dezember 1971, den Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich als den bestimmten Moment eines lebensgeschichtlichen Bruchs verstehen: Es hat einen bestimmten Moment gegeben, der hat meine Kindheit zertrümmert. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt. Es war etwas so Entsetzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung anfängt: durch einen zu frühen Schmerz, wie ich ihn in dieser Stärke vielleicht später überhaupt nie mehr hatte. Natürlich habe ich das alles nicht verstanden in dem Sinn, in dem es ein Erwachsener verstehen würde. Aber diese ungeheure Brutalität, die spürbar war, dieses Brüllen, Singen und Marschieren – das Aufkommen meiner ersten Todesangst. Ein ganzes Heer kam da in unser stilles, friedliches Kärnten …[13]
Der bestimmte Moment im März 1938 ist weniger leicht mit einem konkreten Tag zu identifizieren, als das in der Sekundärliteratur angenommen wurde. Am Tag des Einmarsches, dem 12. März 1938, war Ingeborg Bachmann gar nicht in der Stadt[14], aber das Brüllen, Singen und Marschieren zog sich sowieso über Wochen hin, und am 5. April besuchte Adolf Hitler Klagenfurt, wo er sich vom Balkon des «Sandwirts» der begeisterten Menge zeigte und «des Jubelns kein Ende» war.[15]
Wenn man das bestimmte Datum dieses biographischen Schreckensmoments auch nicht mehr feststellen kann, dem Werk lässt sich die Spur dieser frühen Erschütterung ablesen, immer wieder vergegenwärtigt in den Bildern von Bruch, Riß, Stigma oder dem ersten Schlag, der eine bis dahin selbstverständliche Sicherheit des kindheitlichen Ich zerstört. Zu Recht hat Uwe Johnson die Interview-Passage ins Zentrum seines Bachmann-Buchs «Reise nach Klagenfurt» gerückt, und Heinrich Böll meinte in seiner Rezension von Johnsons Bachmann-Buch unter dem Titel «Spurensicherung», dass eben in diesem Zitat die entscheidende Spur zum Verständnis der österreichischen Dichterin liege. Für Böll ist «diese Art der Spurensicherung, herauszufinden, wo einer herkommt», wichtig, denn es «ist natürlich kein Zufall, wo einer herkommt».[16] Dass der individuelle Zufall, die traumatische Erfahrung des Kindes im Jahr 1938, repräsentativ für diese Zeit sei, deutet Böll mit der Frage an, ob hier nicht «an einem zwölfjährigen Mädchen, das Inge genannt wird, Heimatvertreibung stattgefunden» hat. Er spricht von einem «Problem, das gewiß für Österreicher andere Dimensionen als für Deutsche» habe.[17] Die Begriffe von Heimat und Vertreibung hatten freilich für ein in Kärnten aufwachsendes Mädchen noch ganz «andere Dimensionen».
Als Ingeborg Bachmann am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren wurde, lagen der Erste Weltkrieg und der Untergang des Vielvölkerstaats der Habsburgermonarchie erst acht Jahre zurück. In Südkärnten endete der Krieg wegen der militärischen Auseinandersetzungen um die Grenze mit Jugoslawien – dem sogenannten Abwehrkampf – tatsächlich erst am Beginn der zwanziger Jahre. Ihr Vater, Matthias Bachmann (1898–1973), von Beruf Lehrer, hatte den Ersten Weltkrieg als österreichischer Offizier mitgemacht. Er wird auch am Zweiten Weltkrieg von Beginn an teilnehmen, sodass er während eines wichtigen Teils der Kindheit und Jugend Ingeborg Bachmanns, von ihrem 13. bis zu ihrem 19. Lebensjahr, nur selten zu Hause bei der Familie ist. Matthias Bachmann stammte aus Obervellach im Kärntner Gailtal, war das jüngste von vielen Kindern einer alten Bauernfamilie, so Ingeborg Bachmann in ihrem unveröffentlichten Versuch einer Autobiographie; unser Haus heisst «Tobai» und es hat uns früher der Rannerhof gehört, der oberhalb des Dorfes lag.[18] Auf den wenigen Seiten des autobiographischen Versuchs fällt das Interesse für die väterliche Genealogie und für seine Herkunftswelt auf, während von der Mutter hier und auch sonst in den literarischen Werken viel weniger die Rede ist. Die Mutter, Olga Bachmann (1901–1998), mit dem Mädchennamen Haas, kam aus Heidenreichstein in Niederösterreich, wo ihre Eltern eine Strickwarenerzeugung betrieben. Sie hatte mit Matthias Bachmann drei Kinder: Ingeborg, Isolde und Heinz. Ingeborg war die Älteste, Isolde zwei Jahre jünger, und Heinz, von der älteren Schwester vergöttert, kam 1939, dreizehn Jahre nach Ingeborg, zur Welt. Im Versuch einer Autobiographie berichtet die Autorin von der Verwirrung der Gefühle nach der Geburt des Bruders, einer Vergötterei, die zur seltsamen Vorstellung führte, dass ich nie ein Kind haben werde, mir kein eignes vorstellen konnte, weil ich meinen Bruder zu sehr liebte, ihn schöner fand als alle anderen Kinder.[19]
Die Jugendjahre sind, ohne daß ein Schriftsteller es anfangs weiß, sein wirkliches Kapital. […] Was später dazukommt, was man für viel interessanter hält, bringt seltsamerweise fast nichts ein. Nur daß man erst in späteren Jahren überhaupt zu begreifen anfängt, was man mit dem ersten Blick gesehen hat […].
(Ingeborg Bachmann, 23. März 1971)
Ein paar Jahre vor der Geburt der ersten Tochter hatte Matthias Bachmann als Lehrer in Klagenfurt eine Anstellung gefunden. Dort lebte die Familie bis 1933 in einer Mietwohnung in der Durchlaßstraße[20], bis man, die ältere Tochter Ingeborg war damals sieben Jahre alt, in ein neugebautes eigenes Haus in der Henselstraße 26 umziehen konnte. Der grosse Einschnitt ist die Uebersiedlung ins eigene Haus, schreibt Ingeborg Bachmann, der Vater ausser sich […] vor Freude, auch wenn das neue Haus der Familie große Sparsamkeit abverlangte. Erst später die Bewunderung dafür, die Konsequenz, in vieler Hinsicht könnte man unsere Erziehung vorbildlich nennen, resümiert sie die Erinnerungen an ihr Elternhaus, der Mangel an Luxus, aber nicht an Freude, nie ein ordinäres Wort, fast keine Spielsachen, keine Verwöhnung, keine Hilfe in Schuldingen, keine Beachtung der Noten. Wir lernten früh schwimmen, in Vellach hatten wir Freiheiten, die wir in der Stadt nicht hatten, wo wir immer zuhause waren.[21] Vellach, eine Kurzform des Ortsnamens Obervellach, das war der Herkunftsort des Vaters, wo die Familie oft Wochenenden und Ferien verbrachte. Das freiere Leben war dort zu Hause, auf dem Land, im zweisprachigen Grenzgebiet des Gailtals, dem «Grund und Boden»[22] ihres späteren Galicien-Mythos.
Ingeborg Bachmann, obwohl protestantisch, besuchte nach der Volksschule das katholische Ursulinen-Gymnasium in Klagenfurt, eine von Ordensschwestern geführte Schule, die, wie erwähnt, 1938, nach dem «Anschluss» an Hitler-Deutschland, als «Oberschule für Mädchen» dem NS-Schulsystem eingegliedert wurde. Im Gymnasium war Ingeborg Bachmann keine Musterschülerin, die Noten meist gut bis durchschnittlich, in Deutsch oder Musik nicht immer sehr gute Noten. Auffallend die vielen versäumten Stunden in den letzten Schuljahren. Die von den Lehrern registrierte Zartheit und Kränklichkeit dürften der Schülerin eine Möglichkeit geboten haben, sich durch Abwesenheit den Anforderungen und Zumutungen des NS-Erziehungssystems zu entziehen. «Elfchen» wird sie von ihren Mitschülerinnen genannt, auch den Namen «L’hibou», die Eule, bekommt sie schon in der Schulzeit, ihr Vogel, den die Dichterin später in einem ihrer schönsten Gedichte anruft mit Mein Vogel […] Mein eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe […] Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder von dir.[23] Mitunter findet man in den schulischen Beurteilungsbögen Eintragungen, die eine Ahnung von ihrer außergewöhnlichen Intellektualität und Belesenheit verraten: «begabte, selbständige Denkerin» steht in einer allgemeinen Beurteilung für die siebte Klasse, «außergewöhnlich belesen» im Reifeprüfungszeugnis.
Wenn Ingeborg Bachmann später über ihre Kindheit und Jugend in Kärnten schreibt, ist meist von Landschaften, Stadttopographien und Häusern die Rede. Einen auffallend wichtigen Platz neben den Häusern, Straßen und Plätzen von Klagenfurt, die sie in Jugend in einer österreichischen Stadt (1961) ins Gedächtnis ruft, nimmt der väterliche Herkunftsort Obervellach ein. Manche Frauengestalten in den Todesarten-Romanen, das weibliche Ich in Malina oder die Titelgestalt von Der Fall Franza, kommen aus dieser Landschaft an der Gail. Vergeblich versuchen sie, wieder zurückzufinden in dieses Kindheitsland, ihr Land am Fluss und den Seen, ihr Herzland und Kronland, aus dem sie durch die Geschichte vertrieben wurden und wohin sie vergeblich die Drei Wege suchen. Wie ein biblisches Land wird es in Der Fall Franza (Das Buch Franza[24]) mit dem Namen Galicien angerufen – Heim nach Galicien, Matth. 12,20.[25] Von dort bezieht die Titelheldin ihre geheime Kraft, ihre Würde und ihre Magie. Franza bestand auf einmal, wo alles andre ihr genommen war, auf Galicien. […] Sie schaute zurück, drehte sich in ihren wirklichen alten Namen[26], dem der Ranner, die vom Tobai-Hof kamen, und der tatsächlich der alte Name der väterlichen Verwandtschaft Ingeborg Bachmanns in Obervellach im Gailtal ist. Gegen eine Welt, die jede Magie und Aura zerstört, bewahren die weiblichen Heldinnen das Geheimnis der Namen und Orte der Kindheit, damit die versiegelten Gegenden, wie die Goria in Malina, eine Bergwiese nahe Obervellach, nicht auch noch verkauft und verbaut werden.[27] Später, bei der glücklichen Begegnung mit anderen Orten und Landschaften, führt die Erinnerung zurück zum Kindheitsfluß und in die Zeit der ersten Übereinstimmung mit der Welt. Seit jener Nacht, heißt es in Prag Jänner 64, gehe und spreche ich wieder, / böhmisch klingt es, / als wär ich wieder zuhause, / wo zwischen der Moldau, der Donau / und meinem Kindheitsfluß / alles einen Begriff von mir hat.[28]
Von diesem Mythos der Kindheit lässt sich die Autorin auch in ihren explizit biographischen Äußerungen leiten. In Biographisches (1951) sprach die damals fünfundzwanzigjährige Dichterin überhaupt nur von ihrer Jugend im Gailtal, der Landschaft in der Nähe des Dreiländerecks, wo Österreich, Jugoslawien und Italien aneinander grenzen: Ich habe meine Jugend in Kärnten verbracht, beginnt diese frühe biographische Notiz, im Süden, an der Grenze, in einem Tal, das zwei Namen hat – einen deutschen und einen slowenischen. Und das Haus, in dem seit Generationen meine Vorfahren wohnten – Österreicher und Windische –, trägt noch heute einen fremdklingenden Namen. So ist nahe der Grenze noch einmal die Grenze: die Grenze der Sprache – und ich war hüben und drüben zu Hause […], aber dann kam der Krieg und schob vor die traumverhangene, phantastische Welt die wirkliche, in der man nicht zu träumen, sondern sich zu entscheiden hat.[29]
Vor dem Hintergrund der in ihrer Kindheit und Jugend herrschenden deutsch-nationalen Politik haben ihre Erinnerungen an das Aneinandergrenzen der Sprachen und Kulturen im zweisprachigen Gailtal und an die friedliche Welt vor dem Krieg den Status von utopischen Gegen-Erinnerungen. Das gilt nicht nur für diesen frühen biographischen Text, sondern auch für die Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt (1959), wo ein politisches Tabu über Umwelt und Familie liegt und der Kriegsbeginn wie eine von außen kommende Naturgewalt in die familiäre Welt einbricht: Bei Tisch sitzen die Kinder still da […], während es im Radio gewittert und die Stimme des Nachrichtensprechers wie ein Kugelblitz in der Küche herumfährt.[30] Und noch in dem späten Interview, Weihnachten 1971, in dem die Autorin von dem bestimmten Moment spricht, als durch den Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt ihre Kindheit zertrümmert wurde, steht am Schluss der Satz: Ein ganzes Heer kam da in unser stilles, friedliches Kärnten …[31]. Gegen das eigene Wissen, dem sie am Beginn des Roman-Fragments Requiem für Fanny Goldmann, im Geheimnis der österreichischen Offizierstochter Fanny Wischnewski, am nächsten gekommen sein dürfte, besteht sie auf dem Schweigen. In der hellsichtigen politischen Analyse «ihrer» Familie – Der Tod wird kommen (wahrscheinlich 1965) – hat sie es als ein großes Schweigen über soviel bezeichnet, das aus großer Nähe zu verschweigen ist.[32] So finden wir in den biographischen Texten das Schweigen darüber, dass das Kärnten ihrer Kindheit und Jugend und ihre Familie längst vor dem Einmarsch der Hitler-Truppen sich an den Nationalsozialismus verraten hatten, der in Kärnten seit den frühen dreißiger Jahren «über eine viel höhere Organisationsdichte» als in anderen österreichischen Bundesländern verfügte.[33] 1932 schon wurden in mehreren Gemeinden Nationalsozialisten zu Bürgermeistern gewählt, ein großer Teil der Kärntner Lehrerschaft trat damals der illegalen NSDAP