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Im Haus der Mutter Merle haben sich Ältere und Jüngere, Frauen und Männer zusammengetan und leben den Traum einer alternativen Hausgemeinschaft entgegen der gefühlsarmen Hektik und konsumorientierten Industriegesellschaf. Ihren individuellen und persönlichen Lebensentwurf verwirklichend, geraten die Hausbewohner dennoch ab und zu an ihre Grenzen: Vorallem wenn es um finanzielle Angelehnten geht. Denn Geld ist in Merles Haus nicht wirklich zu finden... Zum Glück lässt sich die mutige Frau nicht unterkriegen und weiss der Gemeinschaft auch in schwierigen Situationen zu helfen. – Eine wunderschöne, mit viel Humor und Lebensklugheit erzählte Alltagsgeschichte über das Leben in einer alternativen Hausgemeinschaft. Lesenswert!-
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Seitenzahl: 278
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Lise Gast
Roman
Saga
Eine unordentliche Familie
German
© 1981 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509296
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Der Weg war ein richtiger Feldweg, wie man ihn von früher her kennt: in der Mitte eine erhöhte Grasnarbe, rechts und links Furchen, fest ausgefahren, lehmig. Zu beiden Seiten des Weges standen Birken. Man sah höchstens acht, zehn Schritte voraus, dann verlor sich die Sicht im Nebel. Eine Stimmung wie im Herbst, und doch war Frühling. März war es.
Gut lief es sich hier nicht. Gina, die links ging, schob ihr Fahrrad auf der grasbewachsenen Mitte; es war beladen wie ein Kamel und schwankte wie ein solches, sobald es über Buckel oder Vertiefungen gezwungen wurde. Ulrike ging rechts. Sie suchte in der Räderspur einen gangbaren Weg und murrte halblaut vor sich hin. Schließlich blieb sie stehen, warf den altmodischen Matchsack, den sie statt eines Rucksackes trug – Rucksack, wie spießig, man war doch kein Wandervogel wie ehedem! – auf den Wegrain und ließ sich danebenfallen.
»So. Danke. Mir reicht’s. Ich bleibe hier.«
Sie kannten sich noch nicht lange. Gina, zwanzigjährig, hatte sich nach dem Abitur zu einer Reise durch Deutschland aufgemacht, allein, auf dem teils ersparten, teils von den Eltern mitfinanzierten neuen Fahrrad. Einen Studienplatz hatte sie nicht bekommen und also etwas zwischengeschaltet, was ihr Spaß machte. Unterwegs hatte sie Ulrike aufgegabelt.
»›Uli‹ bitte ich mir aus!« Ulrike haßte ihren Namen. »Meine Eltern müssen bescheuert gewesen sein, als sie mich so nannten. Na ja, Eltern ... zur Strafe halten sie mich für die unerträglichste Tochter der Welt. Geschieht ihnen recht.«
Gina nannte sie ›Rike‹, um sie zu ärgern. Ulrike war, wie es derzeit zum guten Ton gehört, zu Hause durchgebrannt.
»Zehn Jahre Schule, danke verbindlichst«, sagte sie, »bis hierher und nicht weiter.«
Das war übrigens einer ihrer liebsten Aussprüche. Auch jetzt holte sie ihn wieder hervor, obwohl er Gina schon ziemlich abgegriffen schien.
»Laß dir doch mal was Neues einfallen. Aber von mir aus, wir können auch hierbleiben.«
Sie klappte den Ständer des Fahrrades herunter, stellte es fest und setzte sich neben Ulrike an den Wegrand. Es war kalt und feucht, aber irgendwie roch es doch nach Frühling. Gina schnupperte.
»Hast du noch – natürlich hast du keine«, sagte Ulrike verdrossen und meinte eine Zigarette. Sie rauchte, Gina nicht. Natürlich hatte Gina keine Zigaretten.
»Wär’ doch schade um die schöne Luft«, sagte Gina friedlich. Sie war groß, blond und ein wenig zu füllig, was den Entschluß zur Radtour mitbestimmt hatte. Ulrike, kleiner, dunkel das Haar und die Augen, sah sie giftig an.
»Ja, ich weiß schon. Man schädigt sich, landet bei Hasch und Heroin, man ist ein verkommener Mensch und wird zum Frührentner, der den Staat Millionen kostet. Das alles weiß ich auch. Brauchst es mir gar nicht erst vorzubeten.«
»Tu ich ja gar nicht. – Du, hier in der Nähe kenn’ ich jemanden«, sagte Gina, unbeeindruckt von Ulrikes nörgeliger Laune, »jedenfalls glaub’ ich, daß es hier in der Nähe ist. Entfernte Verwandte von –«
»Von deinen Eltern? Vielen Dank. Was einem Eltern so zumuten ... ›Besuch doch mal Tante Evelin, Kind‹« flötete sie mit gespitztem Mund, »›oder Onkel Theodor ... Die würden sich so freuen ...‹, so wie es früher hieß: ›Spiel doch lieber mit Gertraud, die ist immer so höflich und nett und sauber. Müssen es denn immer diese gräßlichen Jungen von gegenüber sein?‹« »Höflich und nett und sauber, ich weiß nicht, ob die das sind«, sagte Gina unbeirrt und kramte in ihrer Wandertasche nach der Karte. »Hier, in der Nähe von Feldheim, müssen sie wohnen. Mutter hat es mir genau beschrieben. Wir sind wahrscheinlich ziemlich nahe. Nur bei dem Nebel sieht man ja nichts. Gehen wir nach Süden oder Westen –? Na, die Sonne wird schon herauskommen. Aber man kann hier ja niemanden fragen, wo diese Leute wohnen –. Hier, so allein auf weiter Flur.«
»Wer? Welche Leute?« fragte Ulrike, wider Willen interessiert, obwohl sie sich das nicht anmerken lassen wollte.
»Die von der Fuchsfarm. Die, die mir meine Eltern empfohlen haben. Ich soll sie mal besuchen.«
»Na, da braucht man doch nur die Ortschaft zu wissen, in der sie wohnen«, brummte Ulrike. »Überhaupt, was werden das schon für Leute sein, wenn Eltern sie nett finden. Ich hab’ es aufgegeben, da was Brauchbares zu erwarten.«
»Ist eben keine Ortschaft. Sie wohnen ganz einsam.«
Gina hatte die Karte vor sich ausgebreitet und ließ die Augen darüber wandern. Sie sah die Gefährtin nicht an. Was für ein Gesicht die machte, wußte sie auch so: herabgezogene Mundwinkel, vorgeschobene Unterlippe, Blasiertheit, Überdruß, Traurigkeit. Echte? Ach ja, doch wohl echte Traurigkeit. Schöner wurde ein junges Gesicht dadurch nicht. Aber es war ›in‹, sich so zu geben.
Gina seufzte. Warum eigentlich schleppte sie die andere mit? Warum schob sie ihr Fahrrad, statt sich draufzusetzen und loszufahren, wie vorher, ehe sie Ulrike traf? Allein, vergnügt der Landschaft und dem Leben entgegen? Sie verstand sich eigentlich selbst nicht, und sie ärgerte sich über sich. Nur, weil Ulrike so ein armseliges und lebensuntalentiertes Geschöpf war? Glücklicher schien sie in ihrer Gesellschaft allerdings auch nicht zu werden.
Jetzt hatte sie Feldheim gefunden. Wenn sie einigermaßen richtig peilte, wo ihr augenblicklicher Standort war, konnte es nicht mehr weit sein. Halbe Stunde, höchstens. Nur der verdammte Nebel ...
»Ich glaub’, ich hab’ es ungefähr. Wollen wir wieder? Wenn du noch länger hier sitzt, kriegst du Darmhusten«, sagte sie, stand auf und putzte sich den Hosenboden ab. »Kalt und feucht. Auf der Erde sitzen darf man erst, wenn es das erstemal im Jahr gedonnert hat. Sagte meine Großmutter immer, und die war vom Land.«
»Jetzt kommst du schon wieder mit Weisheiten deiner Großmutter. Du bist wirklich von gestern, von vor-vor-vorgestern«, sagte Ulrike ungnädig. Da gab es bei Gina einen Kurzschluß. »Hör zu, Rike«, sagte sie, »was ich dir jetzt sage, ist mein Ernst und kein Ulk. Von mir aus kannst du hier sitzen bleiben, bist du schwarz wirst. Ohne mich. Wenn du aber mitkommst, dann bitte ich mir einen anderen Ton aus, verstanden? Mir gegenüber, und denen auch, zu denen ich jetzt gehe. Zu denen von der Fuchsfarm. Kapiert? Entweder oder.«
»Dann entweder«, sagte Ulrike und blieb ostentativ sitzen. Gina sah sie an, kämpfte einen Augenblick mit sich, würgte das Mitleid mit der Jüngeren – oder was es war – seelisch mit beiden Händen ab und sagte:
»Schön. Dann nicht. Ich fahre.«
Sie klappte den Ständer des Fahrrades herum, führte das Stahlroß in die eine der ausgefahrenen Furchen und stieg auf. Es war nicht leicht, hier zu fahren, man mußte balancieren und gut aufpassen, um nicht zu kippen. Deshalb war es nicht möglich, sich umzudrehen. Wozu auch? Ulrike blieb sitzen. Gina fuhr in den Nebel hinein und war alsbald verschwunden. Die andere sah ihr nach.
»Blödes Weib. Ich komme auch ohne dich weiter«, murmelte sie. Es klang nicht sehr überzeugt.
Übrigens begann der Nebel sehr bald, sich zu lichten. Und auch der Feldweg nahm ein Ende, er mündete in eine asphaltierte Straße. Fast alle Wege, die auf Felder führen, sind wegen der Trecker jetzt asphaltiert.
Jenseits sah man Wald. Gina folgte dem neuen Weg, sie hoffte, bald auf eine Straße mit Schildern zu gelangen. Das Glück war ihr hold, oder: sie hatte die Karte richtig gelesen. Feldheim, zwei Kilometer. Na also!
Die Straße führte jetzt durch ein nicht sehr breites Flußtal am Wasser entlang, zu beiden Seiten zogen sich waldbedeckte Hänge hin. Als Gina um eine Kurve bog, lag vor ihr, oben am Hang, ein altes Gebäude, vielleicht ein Kloster. Und ein Kloster sollte in der Nähe sein, wie sie sich erinnerte. Vor dem Klosterberg, an den Hang geschmiegt, läge die Fuchsfarm – ja, das mußte sie sein. Ein niedriges, langgestrecktes Gebäude, in mehrere kleinere Gebäude unterteilt, jedes so groß wie ein mittleres Zimmer, die meisten mit einem breiten Fenster zur Straße hin, die etwa dreihundert Meter unterhalb entlangführte. Das waren zweifellos die Fuchsboxen. Die Mitte der Gebäudereihe beherrschte ein Wohnhaus, ebenfalls niedrig, indes zweistöckig, wenn man den oberen Teil mitrechnete, der auch bewohnt aussah. Allerdings hatte er wohl auf beiden Seiten schräge Wände. Rechts und links neben der Haustür war je ein Fensterchen; alles dicht bewachsen mit Efeu oder wildem Wein, was von der Straße her kaum auszumachen war. Wahrscheinlich war es Efeu, der seine Blätter auch im Winter nicht verliert. Rotes Dach, Schornstein mit Rauch, anheimelnd, fast wie im Bilderbuch. Gina drehte bei, sobald sich ein Fußweg zeigte, der hinaufführte. Es war übrigens kein ausgesprochener Fußweg; auch ein Auto konnte hier ohne allzu große Schwierigkeiten hinauffahren. Das ganze Grundstück war zur Straße hinab und offensichtlich auch den Berg hinauf durch einen freundlichen Jägerzaun mehr eingerahmt als abgezäunt; ein Eindruck, der durch das offenstehende Tor bestätigt wurde. Gina schob ihr Rad bergauf, bog ein – und begegnete auf dem plateauartigen Hof, der die Farm umgab, bereits der Verwandten, von der ihre Mutter gesprochen hatte: Anne, ihrer Cousine um sechs Ecken herum, die sie noch nie gesehen hatte. Anne schien etwas älter zu sein als sie selbst, war größer, sehr schlank, mit rotem, ganz kurzem Haar, das sich wie ein Fell um ihren Kopf lockte. Sie trug Jeans, einen dunklen Pulli, Turnschuhe.
»Anne? Ich bin Gina, Gina Herfurt, wenn du ahnst, wer das ist«, stellte sie sich vor, ein wenig geniert, aber doch gewillt, nun durchzuführen, was sie vorgehabt hatte. Anne, offenbar sehr in Eile, bremste ab.
»Gina? Ich ahne. Dich schickt mir der Himmel«, platzte sie heraus, »komm, gib mir dein Fahrrad. Gunnar ist wieder mal nicht heimgekommen, er wollte – und ich muß in die Schule, höchste Eisenbahn. Schmeiß den Trödel hin –«, sie schnallte bereits Ginas Packtaschen los, Gina half auf der anderen Seite. Die Taschen flogen beiseite, auch der Schlafsack, der, in Plastik verpackt, obenauf geschnallt gewesen war. Gina griff nach der Ledertasche, die an der Lenkstange hing.
»Wieso gehst du denn noch in die –«
»Schule? Nicht noch, sondern schon wieder. Bin Lehrerin, bei behinderten Kindern. Aber das alles später. Geh zu Merle, sie wohnt oben. Da ist übrigens Michael – he du, das ist Gina, hilf ihr tragen –«, schon saß sie auf Ginas Rad und lenkte es gekonnt um die Kurve bergab, auf die große Straße.
»Bis Mittag – tschüß, danke!« Weg war sie.
»Grüß dich, Michael«, Gina reichte dem halbwüchsigen Jungen, der ihr entgegenkam, die Hand. Der nahm sie zwar nicht, hatte dafür aber bereits die Packtaschen aufgehoben.
»Grüß dich.«
Miteinander trotteten sie dem Haus zu. Michael legte die Packtaschen auf die Bank neben der Haustür.
»Merle ist oben«, sagte er und deutete mit dem Kopf zu der schmalen Treppe hinüber, die hinten ans Haus angebaut war und von außen in den oberen Stock führte. Es war mehr eine Hühnerleiter, ein Brett mit daraufgenagelten Querleisten, besaß aber ein Geländer.
Merle war Annes Mutter. Sie hatte lange in Frankreich gelebt, nach ihrer Rückkehr war dann aus »la mère« durch ihren schwäbischen Mann der Name Merle geworden. Krankengymnastin von Beruf und lange mit einem freischaffenden Maler verheiratet gewesen, wohnte sie jetzt mit ihrer Tochter Anne und deren Freund Gunnar auf der Fuchsfarm, wie Gina nach und nach herausfand. Anne und Gunnar, dieses junge Paar, war jedoch kein Ehepaar, jedenfalls kein amtlich eingetragenes und vom Pfarrer gesegnetes. Gunnar war Fernsehregisseur und viel auswärts. Anne Sonderschullehrerin. Sie – und einige andere Personen, die Gina nach und nach kennenlernte – lebten auf der Fuchsfarm. Die nun seit Jahren nicht mehr in Betrieb und längst ein Wohnhaus war, in dem die Bewohner in einer losen, freundlichen, kaum fixierten Gemeinschaft lebten. Merle kochte, Anne putzte und räumte, wenn sie Zeit dazu fand – viel fand sie nie, also wurde wenig geputzt und geräumt –, und Michael reparierte. Er war Linkshänder und mit der linken Hand dreimal so geschickt wie andere mit der rechten. Gunnar brachte das Geld ein. Anne verdiente auch; auch Merle – wie es gerade kam. Jetzt also lernte Gina erst einmal Merle kennen. Das lohnte sich, fand sie.
Frau von Koerber – die von diesen drei kleinen Buchstaben ›von‹ außer bei amtlichen Anlässen wenig Gebrauch machte – nahm Gina sogleich verwandtschaftlich-freundlich in die Arme und an ihr Herz. Sie war groß, üppig, ohne dick zu sein, und hatte jene schönen, ausgewogenen Bewegungen, an denen man ihren Beruf sogleich erkannte. Sie ging in Gesundheitssandalen und trug lange, fließende weiße Hosen und dazu einen indischen Kittel. Ihr Gesicht, von weißem Haar umlockt, war weich und voll strahlender Freundlichkeit, man sah, daß sie gern und viel lachte. Ihr war noch jenes stillvergnügte, weiche, dunkle Lachen eigen, das manche junge Frauen haben. Jetzt, als sie Gina aus der zärtlichen, sehr angenehmen Umarmung entließ, lachte sie richtig.
»Entschuldigung, aber ich habe eben telefoniert ...«
»Etwas Erfreuliches?« fragte Gina und sah zu ihr auf.
»Etwas Herrliches. Ich wollte meine Schwiegertochter sprechen. Da meldete sich deren kleine Tochter. ›Nein, Maman ist nicht da, sie hat sich über Vater geärgert und war ganz böse. Und dann ist sie mit dem Auto weggefahren und hat gesagt, sie kommt nie wieder. Erst hat sie aber noch sein Bild auf die Erde geschmissen und drauf rumgetrampelt, bis es ganz kaputt war, das Glas und der Rahmen und alles –‹«
»Und? Da lachen Sie?« staunte Gina.
»Ja, warum nicht? Sie hat ein hinreißendes Temperament, diese meine Süße. Ich liebe sie heiß, wie meine Tochter.«
Gina kam so schnell nicht mit. Später lernte sie, daß Merle wirklich das meinte, was sie sagte. Sie fand es nun einmal herrlich, solch ein Temperament zu haben, und verstand sich mit ihrer Schwiegertochter ausnehmend gut.
»Komm rein, du bist Gina, ich weiß, wie nahe oder wie entfernt wir verwandt sind«, sagte Merle jetzt, »komm, wir trinken einen Tee miteinander, du bist ja ganz unterkühlt. Ich habe eine wundervolle Mischung aus indischen Kräutern. Atme mal richtig durch, ja, Bauchatmen, nochmal. Wunderbar kannst du das, bist eine Naturbegabung, die meisten Menschen müssen Atmen erst lernen.«
Der Oberstock des Häuschens bestand aus einem einzigen Raum mit, wie Gina schon von außen gesehen hatte, beiderseits schrägen Wänden. Der Raum war nicht tapeziert, sondern hell getäfelt. Eine Hälfte war vollgepfropft mit tausenderlei Dingen. Da gab es Kommoden und Tischchen, eine Liege, einen Ofen mit Sims, auf dem Kinderspielzeug, Nippes, geschnitzte Pferdchen, Ebenholzelefanten und Scheußlichkeiten aus Blech einander bedrängten, einen Glasschrank mit altertümlichen Tassen und Gläsern, Schals, die drapiert von der Wand herabhingen, Bilder, einen Hermeskopf, eine riesige Kuhschelle und getöpferte Schälchen.
Die andere Hälfte, die nach Süden lag, war leer. Auf der Erde lag ein dicker, weißer, wunderschön flauschiger Teppich, auf dem barfuß zu gehen ein Genuß sein mußte, an den Fenstern zurückgezogene Gardinchen, weiß, durchsichtig, an der Decke eine Holzleuchte mit indirektem Licht. Der Gymnastikraum! Gina verspürte sofort Lust, die Schuhe auszuziehen und hineinzuspringen in diesen Raum, sich zu dehnen, zu drehen, sich langzulegen und wieder aufzuspringen, den ganzen Körper zu spüren, daß es eine Lust war.
»Wir turnen dann – ein wenig. Aber erst –« Merle hantierte mit Tauchsieder und Kanne, und ein süßer aromatischer Duft erfüllte das Zimmer, als sie den Tee aufgegossen hatte. »Ja, meine kleine Enkelin ist einmalig, wenn sie mir Bericht erstattet. Also Maman hat sich wieder einmal über meinen Herrn Sohn geärgert. Er ist ihr zu still, zu beherrscht, ihr Funkenregen prasselt auf ihn herab, aber er explodiert nicht. Gut so. Was geschähe, wenn zwei solcher Dynamit-Packungen aufeinanderprallten! Komm, nimm Zucker, es ist brauner, er schmeckt besser. Na, wird dir warm?«
»Danke, ja wundervoll.« Gina rührte in ihrer Tasse. Merle sprach weiter.
»Du hast also dein Abitur gemacht und radelst nun durch Deutschland? Das gefällt mir. Am liebsten führe ich mit. Zu meinem Sechzigsten haben mir die Kinder nämlich ein neues Fahrrad geschenkt, ein holländisches, siebenmal verchromt, läuft wie ein Auto. Vielleicht begleite ich dich damit ein Stück, wenn du weiterfährst, aber erst bleibst du mal bei uns. Wir haben gerade keinen Besuch, also!«
Gina hatte nichts dagegen. Merle holte einen Teller mit selbstgebackenen Schrotbrötchen, holte Butter und Honig – Gina gefiel es immer besser. Später kam Michael und brachte die Post, brauchte Geld, Merle suchte, die Sonne schien herein und fiel auf einen geschnitzten Frauenkopf, der auf dem oberen Bord stand und herunterlächelte, jung, weich, lieblich.
»Das hat mein Mann gemacht, als ich einmal vor den Kindern ausgerückt war, die Stehleiter hinauf. Ich hatte an der Lampe etwas in Ordnung gebracht, und die Leiter stand noch da. Die Kinder zerrten an mir, als ich wieder herunterkam, so daß ich erneut hinaufkletterte, um mich vor ihnen in Sicherheit zu bringen. Da kam er zufällig herein und sah mich da oben sitzen. Er war Bildhauer, wie du vielleicht aus der Familienchronik weißt. Im Gegensatz zu der modernen Entwicklung in der Kunst fand er es angemessener, jemanden darzustellen, wenn er nicht gerade in Wut verzerrt oder in Gram versteinert ist oder einen fingerdünnen Hals und gewaltige, ausladende Schenkel besitzt. Anatomisch ist das ja völlig falsch, aber solch eine Skulptur, meint man heute, ›sagt etwas aus‹. Er modellierte mit Vorliebe Kinder, fröhliche oder nachdenkliche Gesichter, ihre kindlichen Körperchen und runden Backen, die zu streicheln eine Wonne wäre.«
Von diesem Onkel Bildhauer und Maler hatte Gina zu Hause gelegentlich gehört. Sie wollte noch mehr von ihm sehen. Merle versprach es ihr.
»Aber erst mußt du essen.«
Es klopfte.
»Ja?« fragte Merle.
»Kolja«, antwortete Michael. »Kolja ist wieder da. Unten.«
»Und?« Merle war aufgestanden und sah Michael an. Er nickte. »Es ist wieder soweit!«
»Hm. Gina, entschuldige mich – oder nein, komm mit. Du kannst tragen helfen.«
Sie lief vor den beiden die Hühnerleiter hinunter, leichtfüßig, wie füllige Frauen oft sind. Michael und Gina folgten.
Im Hof, noch ein Stück vom Haus entfernt, lag ein Mann. Unrasiert, schmutzig, zwar nicht zerlumpt angezogen, dennoch leicht verwahrlost. Merle war gerade dabei, ihn auf den Rücken zu wälzen. Er stöhnte, war aber nicht bei sich. Gina kam näher, da roch sie es.
»Nimm du die Schultern, Michael, wir nehmen die Beine«, ordnete Merle an. Gina bückte sich und tat, wie ihr geheißen. Michael faßte den Betrunkenen unter den Schultern und achtete auch darauf, daß der Kopf nicht herunterhing. So trugen sie ihn zum Haus.
Eins jener Gelasse, die früher die Füchse beherbergt hatten, stand halb offen. Merle stieß die Tür mit der Schulter vollends auf und ging vorsichtig rückwärts hinein. Sie legte mit Ginas und Michaels Hilfe den Mann auf einer niedrigen Liege ab. Der Raum war spärlich, aber gemütlich möbliert, außer der Liege gab es Tisch und Stuhl, eine ordentliche Lampe, Regale. In einer Ecke hing eine Ikone. Gina atmete auf, als der Bewußtlose lag. »So, da hätten wir ihn also wieder«, sagte Merle und strich ihm flüchtig übers Haar. Dann lachte sie vor sich hin, in ihrer stillvergnügten, leise gurrenden Art.
»Ach, ich dachte an etwas – an ein Buch, das ich sehr liebe«, sagte Merle lächelnd. »Da wird berichtet – aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges oder etwas später – von einer Stadt, die belagert und dadurch gerettet wird, daß man den Stadthauptmann im Kreise der zur Verhandlung gekommenen Feinde schwer betrunken macht. Er liegt und schnarcht, und die junge schwarzäugige Christine, die durch ihre Anwesenheit entscheidend mitgeholfen hatte, ihn in diesen Zustand zu versetzen, steht neben ihm und bügelt sein Hemd. Die Hemden der hohen Herrn hatten damals schöne und kostbare Spitzenkragen, die sorgfältig gebügelt werden mußten. Und jene Christine nahm das zu schöner neuer Vornehmheit erblühte Hemd und legte es höchst behutsam über die Lehne des Stuhls, der neben dem Bett des Schlafenden stand, sah ihn nachdenklich an, strich ihm mit sanften Fingern eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte noch unendlich sanfter, ja mit geradezu engelhafter Zartheit: ›So, du versoffenes Schwein.‹«
Gina mußte lachen, Michael wieherte, Merle sah die beiden jungen Leute an, sie lachte auch, aber leiser.
»Und doch sollte man nicht über Kolja lachen. Er hat ein schweres Leben hinter sich, und vor sich eigentlich gar nichts mehr. Uns hilft er treu, solange er nicht säurt. Eigentlich tut er das nur selten, schämt sich danach sehr, reißt aus und kommt irgendwann zu uns zurück. C’est la vie. Kommt, morgen ist er wieder fit.«
»Hallo, Frau von Koerber ...«
»Ach, Tantchen.«
Merle, die schon wieder der Treppe zustrebte, hielt inne.
»Tantchen hat wohl noch kein zweites Frühstück. Jaja, ich komme.«
Sie rief es über die Schulter und strebte der Küche zu, zog Gina mit sich in den unteren Teil der Wohnung. »Tantchen ist sehr zart – sagt sie jedenfalls. Im Grunde ist sie hart wie Granit. Aber es jammert sich so schön, wenn man sich zart stellt, und was wäre das Leben ohne Jammern? So, Tee, aber russischen, und die Kanne vorher gewärmt. Und Toast. Wie verrückt es ist, Toast zu essen, wenn man auch Vollkornbrot haben kann – aber so sind alte Leute. Und Butter.«
»Ist Tantchen alt?« fragte Gina und richtete das Tablett. »Beinahe so alt wie ich. Also viel älter. Immer findet man, daß die Gleichaltrigen älter sind als man selbst.«
Merle lachte und stellte noch ein Glas Jam auf das Tablett.
»So, willst du es nehmen oder soll ich? Gut, dann mach ich dir die Tür auf.«
Tantchen wohnte im Gelaß neben Kolja. Ihr Zimmerchen war ein Traum aus der Zeit vor vierzig Jahren. Weiße Schleiflackmöbel; an der Wand, die mit Blümchen tapeziert war, Dürers betende Hände, Tantchen malerisch im Bett, sorgfältig frisiert und mit leidendem Zug um den Mund.
»Danke. Sie hätten sich wegen des Tees keine Mühe machen sollen. Es ist schon fast elf. Und ich esse ja fast nichts.«
Es klang anklagend. Gina sah zu Merle hin. Sollte sie das Tablett wieder mit hinausnehmen?
»Aber nein. Natürlich wird Tantchen essen, mir zuliebe –«
Merle goß den Tee ein und setzte sich. Sie blinzelte zu Gina hin, als Tantchen zu essen begann – und nicht aufhörte, bis der Teller leer war. Inzwischen erzählte Merle. Wo Gina herkam und wer sie war und daß sie eine Zeitlang bleiben würde. Sie habe die Schule, gottlob, mit Erfolg hinter sich gebracht und nun das volle Recht, sich auszuruhen. Gina widersprach.
»Wenn ich hier bleiben darf, will ich helfen ...«
»Gut, Kind, sehr lieb von dir. Zu tun ist immer.«
»Ich wünschte, ich könnte auch helfen«, seufzte Tantchen und lehnte sich zurück, »ach, Frau von Koerber, wie gern täte ich es! Aber – ich will von mir nicht sprechen, das tue ich nie. Nur soviel – es geht mir sehr, sehr wenig gut. Das Herz – und auch sonst. Wem es geschenkt ist, gesund und kräftig zu sein, im Alter ...«
»Geschenkt«, murmelte Merle und lachte, als sie hinter sich und Gina die Tür zugezogen hatte, »ein bißchen Gymnastik und einiges zu tun – was glaubst du, was sie noch schaffen könnte! Aber sie mimt seit fünf Jahren die Hinfällige.«
»Wirklich? Und das macht ihr Vergnügen?«
»Es scheint so. Zumindest macht sie keinen Versuch, den Zustand zu ändern. Armes Ding, bei dieser Einstellung zum Leben ...«
Zu Tisch erschien Tantchen, zart geschminkt und voll gesunden Appetits. Merle hatte Pfannkuchen gebacken, dazu gab es selbstgezogenen Rhabarber. Es schmeckte nicht nur Gina und Michael, sondern auch Tantchen. Wenn sie auch vorher leidend gesagt hatte, Rhabarber bekäme ihr meist nicht gut.
Außer ihnen war niemand zu Tisch gekommen.
»Anne ist meist später dran, sie hat noch Besorgungen zu machen«, sagte Merle, »und sonst ist zur Zeit niemand hier. Dadurch haben wir ein Zimmer frei für Gina –« sie lächelte ihr zu.
Gina hatte sowieso das Gefühl, daß sie hier nicht so bald loskommen würde. Zwar dachte sie auch an Ulrike und was sie wohl machte. Aber wer nicht will, der hat, und wer nicht ißt, ist satt. Punktum. Sie trug das gebrauchte Geschirr hinaus und wusch es ab. Merle räumte in der Küche ein wenig zusammen und stellte einen Pfannkuchen für Anne weg.
»Heut abend kommt sicherlich auch Gunnar, mein Schwiegerfreund, Schwiegersöhne gibt’s ja nicht mehr, so ist das heute. Jetzt sind Schwiegerfreunde ›in‹. Gunnar – ich nenne ihn meist Gunnarchen, weil er mich Mütterchen nennt. Manchmal sagt er auch Ollsche zu mir. Er ist ein reizender Kerl. Und es ist auch ein hartes Los, mit der Schwiegermutter unter einem Dach leben zu müssen.«
»Na, mit dir – das ist doch was anderes«, sagte Gina empört. Sie meinte es ehrlich. Merle lachte.
»Das denkt jeder von sich. Jeder meint, er sei die große Ausnahme. Kennst du nicht den guten Rat: ›Schwiegermütterchen, was stehst du denn draußen vor der Tür im Regen? Geh doch wieder nach Hause!‹«
Gina mußte lachen. Sie ging, ihre Sachen zu holen, die noch auf der Bank lagen, und räumte sie in das leere Gelaß, das Merle ihr gezeigt hatte. Ja, sie blieb erst einmal. Sie fand es lustig hier, lustig und spannend. Man hatte das Gefühl, als stünde hier der sausende Webstuhl der Zeit, ausgerechnet hier, in dieser Einsamkeit.
Und auf Annes Mann, auf Gunnarchen, war sie natürlich auch gespannt. Fernseh-Regisseur – das war doch ein interessanter Beruf. Nicht, daß sie meinte, nun entdeckt zu werden, dazu war sie mit ihren zwanzig Jahren denn doch zu klug, und außerdem, wer entdeckt schon ein Mädchen für Film und Fernsehen, das nicht gertenschlank ist! Dies allein hätte ihr genügt, um alle Illusionen zu vertreiben. Aber vielleicht konnte Gunnar viel erzählen. Er erlebte doch sicherlich viel.
Erst aber kam jemand anderer. Ein Mann in Forstuniform, klein, dick, schwitzend trotz der Frühlingskühle. Er hatte seinen Wagen anscheinend weiter oben im Wald abgestellt und erschien zu Fuß, fragte nach Merle.
Gina geleitete ihn hinauf. Ob Merle ihm Gymnastikstunde geben würde – ›schwingt und springt, bitte etwas anmutiger –‹ oder: ›Schöpft und streut‹ –?
Später fragte sie Merle. Die lachte.
»Natürlich nicht. Er läßt sich von mir massieren, um seinen Speck loszuwerden, da er auf Freiersfüßen wandelt. Ich mach’ ihm wahrhaftig keinerlei Versprechungen – ich meine, was das Verschwinden seines Specks betrifft –, solange er nicht das tägliche Brot in fester und flüssiger Form einschränkt. Er versucht es aber nicht einmal! Was haben die Männer heute oft für Bäuche, sogar junge Männer! Und – diesen speziellen Fall ausgenommen –, sie genieren sich nicht einmal deswegen – gehen ins Schwimmbad oder präsentieren ihre Halbkugeln unbefangen unter darübergespannten T-Shirts, die farbenfroh von ungehemmter Lebensfreude erzählen.«
»Wird man durch Massage wirklich dünner?« fragte Gina, gleichzeitig skeptisch und hoffnungsvoll. Merle wiegte den Kopf.
»Fragt sich, wer. Manche denken, Reiten macht schlank. Und setzen sich mit allem Zubehör auf den armen Gaul, der nicht gefragt wird. Jagen ihn durch die Gegend, wer aber davon abnimmt, ist das Pferd und nicht der Reiter. Bei der Massage –« »Der oder die Massierende vermutlich –« Gina sah betrübt drein. Merle lachte.
»Du bist doch nicht dick!«
»Aber erst recht nicht schlank.« Das alte Lied. Wo Frauen sich unterhalten, immer wieder kommen sie auf dasselbe Thema. Diese Kur, jene Kur. Nur Bananen, keine Bananen, nur Joghurt, niemals Joghurt, fettfrei, kohlehydratfrei, kein Obst, nur Obst ... Gerade erschien Anne. Sie lehnte Ginas Fahrrad an die Mauer und nahm ihre Mappe von der Lenkstange. Merle war verschwunden. Gina wunderte sich.
»Eben war sie noch da!«
»Das macht sie immer so«, erklärte Anne. »Richtet mir das Essen, jeden Tag etwas Nettes, und weg ist sie. Nur so kann man auf längere Sicht miteinander leben, lautet ihre Theorie. Da ist was Wahres dran.«
Gina schüttelte den Kopf.
»Meine Mutter brächte das nie fertig. Sie setzte sich dazu und fragte mich aus ... Und ihr lebt so aneinander vorbei?« fragte sie. Anne lachte.
»Eben gerade nicht. Ausweichen verbindet. Jeder geht seinen Weg, und hat man sich wirklich etwas zu sagen, so findet einer den anderen. Übrigens, Kolja ist wieder da? Väterchen? Wie schön! Der Garten wartet.«
Sie bummelten dann ein Stück dem Wald zu.
»Es muß bald Veilchen geben. Leider sind es meist Hundsveilchen, die nicht duften«, sagte Anne und bückte sich. »Im Garten haben wir echte. Die nehmen sich aber noch Zeit.«
Als sie wiederkamen, dämmerte es schon. Merle hatte das Abendbrot gerichtet, das gemeinsam eingenommen wurde. Plötzlich hob Anne den Kopf – »Gunnar!«
Sie horchten. Ein Auto brummte, schwieg dann, brummte wieder. Dann hörte man Laufschritte, die sich näherten.
»Nanu?« wunderte sich Anne. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen.
»Kommt schnell! Ein Unfall!«
Gina sprang auf wie die anderen, die wortlos hinausgelaufen waren, jedenfalls Anne, Merle und Michael. Sie selbst war im Hintertreffen, jappte hinter den dreien her, die zum Tor liefen. Dort stand Gunnars Auto.
»Ich bin den Weg raufgefahren, ein bißchen zu weit, wollte draußen wenden und rückwärts in den Hof. Da muß sie hinter mir gestanden sein –«
Eine Person lag vor dem Zaun; sie lag auf der Seite, am Erdboden, anscheinend bewußtlos. Michael riß eine Decke aus dem Wagen und rannte ein Stück am Zaun entlang, kam mit zwei armdicken Stangen zurück, die dort gelegen hatten, wohl, weil man beschädigte Zaunpfosten hatte ersetzen wollen. Sie legten sie aneinander und schlugen die Decke darum, wie man das bei der ›Ersten Hilfe‹ lernt. Dann wurde die Liegende daraufgehoben, die beiden Männer faßten die Stangenenden und hoben an.
»Man soll Verunglückte ja eigentlich liegen lassen, aber bis ein Notarztwagen hierher kommt ...«
»Verletzt?«
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat sie keine Wunde, die blutet. Vielleicht eine Quetschung. Vorsichtig, langsam. Wohin mit ihr?«
»Ins Wohnzimmer. Ich halte die Tür auf.«
Im Licht der Wohnzimmerlampe erkannte Gina, was sie insgeheim schon geahnt hatte: es war Ulrike. Sie mußte ihr auf die Fuchsfarm nachgekommen sein, wahrscheinlich, weil sie nicht wußte, wohin sonst. Gunnar hatte sie beim Rückwärtsfahren erwischt, weil er an dieser Stelle des Weges keinen Menschen vermutete, und an einen Zaunpfosten oder Baum gedrückt.
Sie kam übrigens sehr schnell wieder zu sich.
»Au –« es klang kindlich.
»Wo tut’s weh?« fragte Merle freundlich, tief über sie gebeugt. »Es war nur der Schreck, oder?«
»Da unten –« Ulrikes Hand tastete am Oberschenkel entlang. Merle faßte den Knöchel, bewegte das Bein behutsam auf und ab.
»Nichts gebrochen.«
»Na, Hauptsache! Gottlob! So ein Pech. Ich denke doch nicht, daß jemand hinter mir steht, wenn ich dort wende. Hier, wo kein Mensch herkommt.« Gunnar fuhr sich durch die Haare. Gina betrachtete ihn unauffällig.
Er war mittelgroß, etwas kleiner als Anne und gut gewachsen. Schwarzes Haar, schwarzer, viereckig geschnittener Bart, Brille. Dunkler Anzug, heller Mantel. Bei aller Lebendigkeit, die zierlichen Männern oft eigen ist, wirkte er überlegt und vernünftig.
»Ja, Glück gehabt. Nichts Wesentliches ist kaputt.« Merle hantierte an einem Schränkchen. »Warte, Kind, nimm einen Schluck.« Sie brachte eine kleine flache Flasche herbei, entfernte den Schraubverschluß und setzte sie an Ulrikes Lippen, kippte ein wenig – Ulrike probierte mit der Zunge, trank dann, und schlug die Augen richtig auf.
»Na, also. – Wieso hast du denn Schnaps im Haus, Mütterchen?« fragte Gunnar scheinheilig. »Übrigens – mir ist auch nicht so extra zumute, bei der Gemütsbewegung ...«
»Na, da, trink. Für solche Fälle, um deine vorherige Frage zu beantworten. Dazu habe ich Schnaps im Haus, damit du es weißt. Nur für solche Fälle.«
»Danke. Ja, tut wohl. Kinder, Kinder, was wären wir ohne Mütterchen. Man sieht’s doch immer wieder.«
Es stellte sich heraus, daß Ulrike tatsächlich nicht viel passiert war. Nach einiger Zeit bat sie, aufstehen zu dürfen, man hob sie in Großvaters Sorgenstuhl, das beste Stück des Wohnzimmers, und dort schien es ihr recht gut zu gefallen.
Merle machte ihr probeweise ein Butterbrot zurecht, und sie verzehrte es mit sichtlichem Vergnügen.
»Wie man merkt, kennt ihr euch«, sagte Anne und trug Teller hinaus und Gläser herein, »ich meine: Gina und Ulrike.« Gina hatte Ulrike inzwischen ein paarmal mit ihrem Namen angesprochen.
»Ja, wir haben uns unterwegs getroffen und heute früh getrennt«, berichtete Gina, »nicht gerade in Unfrieden –« sie lachte Ulrike an – »wie das eben manchmal so kommt. Rike scheint nicht gewußt zu haben, wohin. Aber von der Fuchsfarm hab ich ein paarmal erzählt, als wir hier in die Nähe kamen.« Ulrike bestätigte es, nachdem sie satt war. Gunnar hatte inzwischen die Gläser gefüllt, und man trank auf die Genesung der Verunglückten und auf Gunnar, weil nicht mehr passiert war.
»Welch ein Glück. Man steht ja immer mit einem Bein im Zuchthaus, wenn man Auto fährt«, seufzte er, »Merle hat’s gut, die fährt nur mit.«
»Selten genug. Ja, dem Himmel sei Dank.«
Ulrike wurde in Ginas Zimmer einquartiert.
»Sie kriegt mein Bett. Ich hab einen gefütterten Schlafsack und kann gut auf der Erde schlafen«, sagte Gina.
Kaum war sie eingeduselt, fuhr sie wieder hoch. Ein gellender Schrei hatte sie geweckt. Himmel, was war los?
Tantchens Stimme, im höchsten Diskant. Gina arbeitete sich aus dem Schlafsack heraus und taumelte schlaftrunken in den Flur. Vielleicht hatte Tantchen einen Herzinfarkt, oder eine Schlange war durchs Fenster auf sie zugekrochen, oder ein Einbrecher –
Nichts davon.
»Mein Schmuck! Mein Schmuck ist weg –« es klang schon beinahe hysterisch.
Gina wußte nicht recht, was sie machen sollte, da war Merle schon im Flur. Eigentlich hätte sie im Nachthemd mit einer Kerze in der Hand erscheinen müssen, wie von Wilhelm Busch gezeichnet. Sie trug jedoch einen richtigen Schlafanzug und knipste das Flurlicht an, nüchtern und modern.
»Warten Sie, Tantchen, ich bin ja schon da.«
Die Tür von Tantchens Zimmer stand offen. Drinnen sah es aus, als sei ein Sturmwind hindurchgerast. Alle Schubladen aufgezogen, das Bettzeug auseinandergerissen, sogar die Bücher reihenweise vom Regal genommen.
Tantchen saß vor dem Spiegel, den sie schräg auf dem Tisch an die Wand gelehnt hatte, und betrachtete sich darin, beide Hände in die grauen Löckchen gewühlt.
»Mein Schmuck! Mein Diadem! Ich hatte ihn hier in der Schublade liegen, gestern noch, und heute ist er nicht mehr da. Mein Familienstück, mein Ein und Alles –«