Eine Woche nachdem Herr Bambell gestorben war, klopfte es an seiner Haustür - Ruben Dellers - E-Book

Eine Woche nachdem Herr Bambell gestorben war, klopfte es an seiner Haustür E-Book

Ruben Dellers

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Beschreibung

Eine Woche nachdem Herr Bambell gestorben war, klopfte es an seiner Haustür. Er reagierte nicht. Ein Jahr später begann der Störenfried wieder zu klopfen. Der neue Hausbesitzer, am Vortag mit seiner Familie eingezogen, eilte zur Tür und öffnete. Vor der Tür stand ein Uniformierter mit einem Brief. Er dürfe ihn nur Herrn Bambell persönlich übergeben. Herr Bambell wäre verstorben, sagte der neue Besitzer. Der Bote warf einen Blick ins Innere des Hauses, bevor er sich umdrehte und ging.

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Ruben Dellers, geboren 1958, sah als Zehnjähriger eine Werbung für einen Fotoapparat für fünf Franken. Er kaufte ihn und entwarf damit Bildgeschichten. Mit fünfzehn schrieb er sie auf, mit zwanzig verfilmte er sie. Dann wurde der Computer populär und er schrieb Programme und entfernte sich vom Literarischen. Doch 2014 entdeckte er im Internet den Berner Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein.

Dank an die

TestleserInnen,

RecherchenunterstützerInnen

und ManuskriptbeurteilerInnen

Inhaltsverzeichnis

Der Brief

Die Kinder

Das Medium

Der Übungsraum

Die Séance

Die Mutter

Bambells Tochter

Leben nach dem Tod

Auf dem Friedhof

Reto

Blass

Begegnungen

Artefakte

Der Zimmerbezug

Die Wanderin

Erdmuthes Geschichte

Jakobs Geschichte

Am Totenbett

Damenbesuch

Der Aufbruch

DER BRIEF

Eine Woche nachdem ich gestorben war, klopfte es an meiner Haustür. Ich blieb in der ersten Etage, in meinem Zimmer. Am Tag darauf klopfte es erneut, diesmal mehrere Sekunden am Stück. Dann ließ man mich in Ruhe. Nach gut einem Jahr begann der Störenfried wieder zu klopfen. Der neue Besitzer meines Hauses, er war am Vortag mit seiner Familie eingezogen, eilte zur Tür und öffnete.

Ich schlich die Treppe hinunter und setzte mich auf eine der unteren Stufen, um zu sehen, wer mich da nun schon so lange belästigte.

Vor der Tür stand ein Uniformierter mit einer braunen UPS-Mütze.

»Ich habe eine dringende Nachricht für Herrn Bambell.« Er hob einen Brief hoch und schwenkte ihn hin und her. »Ich darf ihn nur Herrn Bambell persönlich übergeben.«

»Herr Bambell ist gestorben«, sagte der neue Besitzer und schaute zu seinen Kindern, die sich links und rechts an ihn schmiegten.

»Wann kommt er zurück?«, fragte der Bote.

Der neue Besitzer schüttelte den Kopf.

Der Bote zeigte auf den Klingelknopf. »Hier steht Bambell.«

»Ja, richtig. Wir wechseln morgen das Klingelschild aus.«

»Also, ist er heute noch hier?«

»Hören Sie«, sagte der neue Besitzer. »Herr Bambell ist voriges Jahr gestorben. Ich kenne ihn nicht. Das Haus hat einige Zeit leer gestanden, ich habe die Erbin kontaktiert, ich brauchte ein Haus für meine Familie.«

Der Bote warf einen Blick ins Innere des Hauses, bevor er sich umdrehte und ging.

»Möchten Sie die Adresse seiner Tochter?«, rief ihm der neue Besitzer hinterher.

Der Bote schaute nicht mehr zurück.

Der neue Besitzer schloss die Tür und ging mit den Kindern in die Küche, wo seine Frau Umzugskartons auspackte.

Ich war schon lange nicht mehr im Erdgeschoss gewesen. Wie die meine Räume verstellten!

»Wollt ihr mir helfen?« Die Frau stemmte die Arme in die Taille.

Die Kinder rannten schnell weg.

»Da war ein Postbote und wollte zum früheren Hauseigentümer, Herrn Bambell«, sagte der neue Besitzer zu seiner Frau.

»Und?« Sie öffnete einen Karton und nahm eine Bratpfanne heraus. »Er meint bestimmt seinen Sohn, hast du ihm seine Anschrift gegeben?«

»Er hat keinen Sohn, nur eine Tochter«, antwortete der Mann. »Das habe ich beim Notar mitbekommen.«

Sie hielt ihm die Bratpfanne hin.

»Was soll ich damit?«, fragte er.

»Entweder hilfst du mir, oder du gehst hinaus.«

Er ging aus der Küche.

Ich machte einen Schritt auf die Frau zu.

»Hallo«, sagte ich.

Die Mutter sah und hörte mich genauso wenig wie gestern der Vater, als ich ihn fragte, warum er ohne meine Einwilligung einfach in mein Haus zieht.

Das heißt, auf einmal drehte sie sich um und suchte mit den Augen die Wände ab.

»Bilde ich mir das ein?«, murmelte sie.

Sie widmete sich wieder einem Karton.

»Hören Sie mich?«, fragte ich.

Erneut drehte sie den Kopf. »Bin ich verrückt?« Sie ging zum Fenster, öffnete es, beugte sich hinaus, immer noch die Bratpfanne in der Hand.

»Ich stehe hinter Ihnen.«

Sie schloss das Fenster und begab sich zur Tür. Die Kinder spielten im Flur.

»Habt ihr was gesagt? So brummelig, mit verstellter Stimme?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Der Junge sagte: »Ich will aber noch spielen.«

»Ja, spielt nur.« Die Mutter schloss die Küchentür.

»Sie können mich hören, stimmt’s?«, fragte ich.

Sie zog den Kopf ein und hielt sich beide Ohren zu, die Bratpfanne immer noch umklammernd. Ich näherte mich ihr und tippte ihr auf die Schulter. Meine Finger gingen durch sie hindurch. Das heißt, ich sah keine Hand oder Finger, ich ahnte nur, wo ich meinen Arm hinbewegte. Auch meine Beine, der Rumpf: Ich war seit dem Unglück unsichtbar.

Sie nahm die Hände vom Kopf und drehte ihn hin und her.

»Ist jemand hier?«, flüsterte sie.

»Ja, ich. Bambell mein Name.«

Sie starrte die Bratpfanne an, als hielte sie einen Spiegel vor sich.

»Ich kann Sie sehen, Sie mich aber anscheinend nicht.«

Sie hob den Kopf. »Bambell? Der verstorbene Bambell?«

Dachte sie ebenfalls, ich sei gestorben? Schon vorhin hatte der Vater das dem Boten an der Tür gesagt.

»Ich lebe seit vielen Jahren in diesem Haus«, sagte ich.

»Sind Sie ein Geist?«

Ich zuckte mit den Schultern, vermutete jedoch, sie konnte das nicht sehen.

Sie warf die Pfanne in den Umzugskarton zurück und setzte sich auf einen anderen Karton neben dem Tisch. Die Arme legte sie auf die Tischplatte und verschränkte eigentümlich die Finger. »Ich höre Geister. Endlich höre ich auch mal Geister. Wir müssen zu Julia.«

Sie schaute zur Küchentür. »Können wir die Séance an einem anderen Ort abhalten? Mein Mann hat es nicht gern, wenn …« Sie redete nicht weiter.

»Ich wollte Sie eigentlich nur bitten, den Brief für mich in Empfang zu nehmen und ihn mir vorzulesen.« Ich musste den Grund für meinen unmöglichen Zustand erklären. Gestorben? Ich war hier!

»Welchen Brief? – Wir treffen uns heute Abend. Bei Julia, um sechs.«

»Können Sie nicht für mich auf die Post …«

»Stopp«, sagte sie. »Ich darf nicht länger mit Ihnen reden, nicht ohne Julias Anweisungen. Heute Abend bei ihr.«

Ich schwieg. Besser, ich ging abends zu dieser Séance. Sie war im Moment meine einzige Hoffnung.

»Wo wohnt diese Frau? Wie haben Sie sie genannt?«

Sie lachte. Dabei verzerrten sich die Züge ihres eigentlich netten Gesichts.

»Sie wissen genau, wo Julia wohnt. Sie ist bekannt unter euch Geistern.«

»Nein, ich …«

»Jetzt scherzen Sie. Wunderbar. Ein Geist mit Witz. Also um sechs.«

Sie stand auf, beugte sich wieder über den Karton und holte die Bratpfanne heraus.

Ich ging durch die geschlossene Küchentür. Ich konnte einfach hindurchgehen, als wäre sie nicht vorhanden. Im Flur spielten die Kinder mit Murmeln.

»Achtung!«, rief der Junge, als ich über die Murmeln glitt. Er war im Grundschulalter.

»Benehmt euch!«, rief der Vater aus dem Wohnzimmer, das an den Flur grenzte.

»Er geht einfach darüber«, rief der Junge dem Vater zu.

Das Mädchen bedeutete mir, ich solle hier nicht stehen, hier kommt eine Autobahn hin.

Ich verstand ihre Gedanken, sie musste sie nicht aussprechen. Sie schien erst fünf Jahre alt zu sein, vielleicht jünger.

›Entschuldigung‹, dachte ich und ging zur Treppe.

»Wir dürfen noch nicht rauf«, sagte der Junge.

Ich griff nach dem Treppengeländer, fasste jedoch hindurch.

»Papa, der Mann geht rauf. Darf er das?«

Der Vater kam in den Flur und schaute sich um. Das Mädchen zeigte zur Treppe. Der Vater schaute hin, schien mich aber nicht zu sehen. Er schüttelte den Kopf. »Unsinn«, flüsterte er, wandte sich zu den Kindern und sagte: »Er darf.«

›Du darfst‹, dachte das Mädchen und schaute mich an. Ja, ich hörte ihre Gedanken, als spräche sie sie aus. Die Gedanken des Vaters oder des Jungen hörte ich nicht.

»Warum dürfen wir nicht?«, fragte der Junge und erhob sich.

»Geister dürfen«, sagte der Vater und versuchte zu lächeln, schnitt jedoch eine Grimasse. Er ging zurück ins Wohnzimmer.

»Ich will aber auch!«, schrie der Junge.

»Psst«, sagte ich. Das Mädchen sah mich an. Der Junge schaute ebenfalls zu mir, ich winkte ihm, er machte ein fragendes Gesicht. ›Kannst du mich sehen? Ich brauche Hilfe‹, sagte ich in Gedanken.

Die Wohnzimmertür war offen und der Vater war nicht zu sehen, man hörte ihn geräuschvoll pusten.

Der Junge beugte sich wieder über seine Spielklötze.

›Dein Bruder versteht mich nicht‹, dachte ich und schaute das Mädchen an. ›Kannst du ihn fragen, ob er mit nach oben kommt? Aber leise.‹

Das Mädchen wandte sich ihrem Bruder zu und flüsterte: »Er sagt, wir sollen rauf.« Sie erhob sich.

Sofort eilte der Junge an mir vorbei und tappte die Treppe hoch. Ich folgte ihm mit dem Mädchen.

Die Räume in der oberen Etage waren ebenfalls mit Umzugskartons verstellt, oft mehrere aufeinandergestapelt, sogar im Flur. Man kam kaum an ihnen vorbei. Aber das machte mir nichts, ich ging durch sie hindurch, und die Kinder kletterten darüber hinweg.

›Kann ich hier sprechen? Ich wollte deinen Bruder fragen, ob er für mich den Brief …, oder ob ihr irgendwie euren Vater dazu bringen könnt, dass er …‹ Mir fiel ein, der Postbote hatte betont, er dürfe den Brief nur mir persönlich aushändigen.

›Was steht denn in dem Brief?‹, fragte das Mädchen.

›Der Postbote hat ihn mir nicht gegeben.‹

›Aber er hat ihn in die Luft gehalten. Mama sagt, Geister können durch den Umschlag sehen.‹

»Warum guckt ihr euch ständig an?«, fragte der Junge. »Habt ihr eine Zeichensprache?«

»Wir sprechen miteinander«, flüsterte das Mädchen.

»Ich verstehe aber nichts«, sagte der Junge so laut, als müsste er gegen Verkehrslärm ankommen.

Das Mädchen kniff ihm in den Arm, hielt sich mit der anderen Hand den Mund zu.

»Ich kann aber die Geistersprache nicht«, flüsterte er.

Sie hielt die Hand an sein Ohr und tuschelte: »Ich sage dir, was er sagt.«

»Was sagt er?«

»Er hat den Brief nicht gelesen.«

Ich hörte das Mädchen deutlich, obwohl sie ihren Mund gegen mich abschirmte.

»Hast du ihn gelesen?«, fragte ich das Mädchen mit Sprechstimme. So konnte der Junge hoffentlich die Frage auch hören und brüllte nicht gleich wieder los.

›Nein, ich kann ja noch nicht lesen.‹

›Nun ja‹, dachte ich. ›Deine Eltern sehen mich nicht, dein Vater hört mich nicht mal. Und du, du kannst mit mir in Gedanken kommunizieren. Deshalb könnte es doch sein, dass …‹ Das Mädchen schaute mich mit offenem Mund an. ›Verzeihung, ich habe ein bisschen die Orientierung verloren.‹

»Was sagt er?«, fragte der Junge.

»Er hat was verloren, ein Orienttier oder so.« Das Mädchen kletterte über einen Karton ins Badezimmer.

»Ein Ohrentier? Wer will denn so was?«

»He, ihr da oben, kommt sofort runter.« Auf der Treppe waren Männerschritte zu hören.

»Siehst du«, flüsterte das Mädchen.

Die Kinder eilten hinunter. Der Vater blieb auf der obersten Stufe stehen.

»Hör mal«, sagte er zu den verschlossenen Kartons. »Wenn du tatsächlich ein Geist bist, so lass bitte meine Kinder in Ruhe. Es genügt, wenn du meine Frau verrückt machst.«

Er stieg die Treppe hinunter.

DIE KINDER

Ich klopfte an das Gestell mit den Schreibwaren, doch ich spürte keinen Widerstand. Die Frau hinter dem Schalter und die davor schienen mich nicht zu sehen. Eine weitere Frau kam mit einem Kinderwagen in die Poststelle. Im Wagen lag ein kleiner Junge und schlief.

Ich beugte mich über ihn.

»Hallo, Piepmatz.«

Er öffnete die Augen und lächelte mich an.

Ein Zehnjähriger kam angerannt und schaute ebenfalls in den Wagen.

»Er ist wach!«

»Und du, großer Junge? Siehst du mich auch?«

Der Kleine im Wagen lächelte mich noch breiter an. Der Große folgte mit den Augen dem Blick des Brüderchens, sah jedoch durch mich hindurch.

Ungeachtet der Absperrung drang ich ins Innere der Poststelle. Holte ich mir den Brief halt eigenhändig. Die Einschreiben waren in eine Holzkiste einsortiert, doch ich konnte sie nicht greifen und aus der Kiste nehmen. Ich versuchte durch den obersten Umschlag durchzuschauen, wie mir das Mädchen geraten hatte. Es gelang mir nicht.

»Das Mädchen«, sagte ich laut. Mir war eine Idee gekommen. Ich drehte mich um, hatte mich jemand gehört? Schließlich stand ich unbefugt hier. Es hatte mich niemand bemerkt.

Das Mädchen wollte mich nicht zur Poststelle begleiten, sie müsse jetzt ein Haus bauen, dachte sie.

›Ich helfe dir dafür beim Bauen‹, dachte ich.

Sie rutschte beiseite und wies mir den Platz zwischen sich und dem Bruder zu.

Doch ich konnte die Holzklötze nicht anfassen.

›So kannst du mir nicht helfen‹, dachte sie und drückte eine Hand gegen meinen Körper.

Ich spürte die Hand, sie konnte mich berühren. Für meine Augen stoppte die Hand in der Luft, dort, wo mein Rumpf beginnen musste.

›Wie machst du das?‹, fragte ich sie.

»Warum schaut ihr euch wieder so komisch an?«, fragte der Junge. »Redet ihr wieder in Geistersprache?«

»Der Geist kann die Klötze nicht anfassen.«

»Aber deine Schwester kann mich berühren«, sagte ich.

Mit Wucht klatschte der Junge seine Hand in meine Rippen. »Ich auch.«

Ich versuchte meinerseits die Kinder anzufassen, aber meine Hand ging durch sie hindurch.

»Du bist noch frisch«, sagte der Junge. »Wann bist du gestorben?«

Mir war nicht wohl, auch der Junge sah mich wie selbstverständlich als gestorben an. Sterben, das hatte ich mir seit dem Tod meiner Frau jeden Tag gewünscht – und nun wandelte ich im Haus umher. Wie war das möglich?

»Vor einem Jahr, hat Papa gesagt.« Das Mädchen schob einen grünen Klotz unter einen roten.

»Mama!«, rief der Junge. »Ab wann können Geister was anfassen?«

Die Küchentür war geschlossen. Der Vater kam aus dem Wohnzimmer und sagte: »Lasst Mama in Ruhe, sie muss auspacken.«

»Ab wann können Geister was anfassen?«, fragte der Junge seinen Vater.

Ich erhob mich und stellte mich neben die Treppe.

»Du darfst nicht rauf«, sagte der Junge zu mir.

»Kann euer Geist euch die Spielsachen nicht wegnehmen?«, fragte der Vater. »Das ist doch prima.«

Er ging in die Küche und schloss die Tür. Kaum drinnen, donnerte seine Stimme. Mit einem Ruck öffnete sich die Tür wieder.

»Raus!«, schrie die Mutter.

»Wir haben eine Abmachung!«, schrie der Vater zurück und warf die Tür hinter sich zu.

Die Mutter öffnete sie wieder und streckte den Kopf heraus. »Ich halte mich dran!«

»Und warum sprechen die Kinder von einem Geist?«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Er ist da.« Das Mädchen zeigte mit dem Finger auf mich.

»Siehst du ihn auch?«, fragte der Vater die Mutter.

Sie schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern und sah den Vater an, als bemitleidete sie ihn, weil er die Existenz eines Geistes so vehement verleugnete und das zugleich auch wieder infrage stellte.

»Aber ich sehe ihn«, sagte der Junge, stand auf und stellte sich neben mich. »Ich kann ihn sogar berühren.« Er drückte seine Hand an mein Bein.

»Spielt weiter. Papa mag nicht, wenn ihr von Geistern redet. Ihr könnt es mir erzählen.«

»Nein«, sagte der Vater. »Du darfst sie nicht noch ermutigen, an solche Sachen zu glauben.«

»Wenn sich in unserem Haus ein Geist aufhält«, die Mutter zuckte mit den Schultern, »kann ich doch nichts dafür.« Sie verschwand in der Küche.

»Komm, Papa«, sagte der Junge, »ich zeige ihn dir.«

Er stürzte auf den Vater zu, zog ihn zur Treppe und streckte die Hand seines Vaters in Richtung meines Beins. Doch die Hand griff durch mich hindurch.

»Bei dir geht’s nicht«, nuschelte der Junge.

Wie kam das? Die Kinder konnten mich sehen, ich mich selbst aber nicht – und auch die Eltern der Kinder konnten mich nicht sehen. Vielleicht orteten die Kinder mich nach Gehör oder Geruch und unterschieden die Wahrnehmungen nicht so genau?

»Könnt ihr mich richtig sehen, oder riecht ihr mich nur?«, fragte ich den Jungen.

Der streckte die Nase in die Höhe und schnupperte in die Luft. »Es riecht nach Umzugskisten.«

Das Mädchen sah kurz auf und gleich wieder auf die Spielklötze, sie langte nach einem gelben.

Ich beugte mich erneut an mir herab. Ich blieb unsichtbar.

»Ich kann mich weder berühren noch sehen«, sagte ich zu dem Jungen.

»Papa kann dich auch nicht sehen«, meinte das Mädchen und schüttelte den Kopf. »Mama auch nicht.«

»So. Hört jetzt auf.« Der Vater zog den Jungen von der Treppe weg.

Der setzte sich neben seine Schwester und kippte die restlichen Klötze aus der Holzkiste auf den Boden.

Kaum war der Vater ins Wohnzimmer gegangen, hob der Junge den Kopf. »Kannst du dich wirklich nicht selbst sehen?«

Ich verneinte.

»Und die anderen Geister?«

»Gibt es hier noch andere Geister?« Ich sah die Treppe hoch.

»Die sind nicht da«, sagte der Junge. »Wegen Papa.«

»Wo sind sie denn?«

Der Junge zuckte mit den Achseln.

»Bei Julia«, sagte das Mädchen.

Der Junge nickte.

»Julia? Die Frau, die eine Séance abhalten kann?«, fragte ich.

Der Junge verzog das Gesicht. »Hä?«

»Sie ist meine große Schwester«, sagte das Mädchen.

»Unsere Halbschwester«, sagte der Junge.

Das Mädchen stand auf und rannte in die Küche. »Schließ bitte die Tür«, hallte es aus der Küche.

»Wie heißt du?«, fragte ich den Jungen.

»Luca. Und du?«

»Bambell.«

Durch die geschlossene Küchentür drang die Stimme der Mutter. »Meinetwegen kann er jetzt schon zu ihr gehen.«

»Und deine Schwester?«, fragte ich.

Der Junge türmte konzentriert sechs Klötze aufeinander. »Julia.«

»Ich meine die jüngere.«

Der Junge drehte sich zur Küche. »Sie?«

Ich nickte.

»Sarah.«

Das Mädchen kam aus der Küche. ›Du kannst zu Julia, ich habe Mama gefragt.‹ Sie setzte sich hin.

Der Junge stellte einen siebten Klotz auf den Turm. Er begann zu wanken.

»Willst du nicht zu Julia?«, fragte das Mädchen. »Sie zeigt dir, wie du die anderen Geister sehen kannst. Na, und auch dich selbst.«

»Sie will aber Geld dafür«, sagte der Junge.

»Ich habe noch welches.« Ich ging zur Haustür. »Wo wohnt sie denn?«

Das Mädchen stand auf, rannte erneut in die Küche und schloss behutsam und umständlich lange die Tür.

DAS MEDIUM

Ich ging durch die geschlossene Haustür und die Treppe hinauf. In der dritten Etage sah ich mir die Namensschilder an. Auf einem stand »Medium Julia«. Ich hätte mich gern angekündigt, aber ich konnte nicht klingeln, mein Zeigefinger stieß durch den Klingelknopf in die Wand. Ich glitt durch die Tür in den Wohnungsflur. Aus dem vorderen Zimmer hörte ich Papierrascheln.

Ich schlich hin, die Tür war offen. Eine junge Frau mit langen blonden Haaren saß auf dem Parkett und hatte die Beine angewinkelt. Sie schnitt runde Papierschlangen aus einer Landkarte.

»Hallo, hören Sie mich?«, flüsterte ich.

Die Frau hob den Kopf.