Einfach. Für Dich. - Tammara Webber - E-Book
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Tammara Webber

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Beschreibung

Früher war Landon Maxfields Leben perfekt. Vor ihm lag eine wunderbare Zukunft – bis eine Tragödie seine Familie zerstörte. Seitdem hat er vor allem eines verloren: die Hoffnung. Doch als er am College Jacqueline begegnet, wünscht er sich plötzlich, immer für sie da zu sein. Auch wenn er damit alle Regeln bricht, verliebt er sich in sie. Und er weiß: Um mit Jacqueline zusammenzusein würde er alles wagen – sogar der Vergangenheit ins Auge zu sehen …

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Seitenzahl: 598

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Buch

Landon Lucas Maxfield teilt sein Leben in vorher und nachher ein: vor dem Tod seiner Mutter, als er zwölf war, und danach. Seitdem hat er nicht mehr erfahren, was Glück bedeutet – bis er am College Jacqueline begegnet. Sie nimmt ihn auf den ersten Blick gefangen. Und er ahnt bald, dass er sich verliebt. Doch Landon ist Tutor, Jacqueline Studentin – und eine Beziehung zwischen ihnen ist nicht nur verboten, sondern könnte das Ende seiner Zukunftspläne bedeuten. Aber wenn sie sich ansehen, sprühen die Funken. Und kann etwas falsch sein, was sich so gut und richtig anfühlt?

Autorin

Tammara Webber liebt Happy Ends, von denen es im wahren Leben einfach nie genug gibt. Die Publikationsgeschichte ihres Romans Einfach. Liebe. hat allerdings ein glückliches Ende: Tammara Webber veröffentlichte den Roman zunächst selbst im Internet – es wurde prompt ein New-York-Times-Bestseller. Zehntausende begeisterter Leser machten Verlage in den USA und anderen Ländern darauf aufmerksam, die sich die Rechte sicherten. Seitdem ist Tammara Webber auch international erfolgreich.

Besuchen Sie Tammara Webber auch auf www.facebook.com und www.tammarawebber.com

Von Tammara Webber bei Blanvalet bereits erschienen:

Einfach. Liebe.Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

Tammara Webber

EINFACH.FÜR DICH.

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Veronika Dünninger

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Breakable« bei Berkley Books, New York.

1. Auflage

Erstausgabe Mai 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Tammara Webber

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Redaktion: Sabine Thiele

ES · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15876-7www.blanvalet.de

Für GWK

Als ich ein Kind war, habe ich mich manchmal gefragt, ob du mein Schutzengel warst. Jetzt bin ich älter und weiß, dass du es bist.

1

LANDON

Vor acht Jahren

Schreiend fuhr ich aus dem Schlaf hoch.

»Schwester!«, schrie jemand. »Schwester!« Ein Gesicht beugte sich über mich. Cindy Heller, Moms beste Freundin. »Landon, Schatz – es ist alles gut. Du bist in Sicherheit. Schscht, du bist in Sicherheit.«

In Sicherheit? Wo? Ich spürte ihre kühlen Fingerspitzen auf meinem Arm und versuchte mich zu konzentrieren, während sich ihre geröteten Augen mit Tränen füllten. Sie biss sich so fest auf die Unterlippe, dass diese bebte und alle Farbe aus ihr wich. Ihr ganzes Gesicht war zerknittert, wie Papier, das fest zusammengeknüllt und dann wieder glatt gestrichen wurde.

Ihr Ehemann Charles tauchte neben ihr auf und drückte sie an sich. Sie ließ sich schwer gegen ihn sinken, als wäre sie ohne seine Stütze einfach umgekippt.

Seine Hand lag warm auf meiner und ergriff sie dann. »Du bist in Sicherheit, mein Sohn. Dein Dad ist auf dem Weg hierher.« Seine Stimme klang krächzend, und seine Augen waren ebenfalls rot unterlaufen. »Er wird bald hier sein.«

Eine Schwester tauchte mit einer riesigen Spritze auf der anderen Seite des Betts auf, aber bevor ich zurückzucken konnte, steckte sie sie schon in einen Beutel, der an einem Metallständer hing, nicht in meinen Arm. Ein durchsichtiger Schlauch schlängelte sich vom unteren Ende des Beutels hinunter. Ich wusste, dass er an mir befestigt war, als ich die Wirkung dessen, was sie mir eben injiziert hatte, spürte, als hätte man mich mit einer Betäubungspistole angeschossen.

Pistole.

Mom.

»Mom!«, sagte ich, aber mein Mund gehorchte mir nicht, und die Augen wollten mir immer wieder zufallen. »Mom! Mom!«

Cindy konnte sich nicht hart genug auf die Lippe beißen, um einen Schluchzer zu unterdrücken. Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich spürte ihre Berührung nicht mehr. Sie lehnte sich an die Brust ihres Ehemanns und schlug die Hände vor den Mund – zu spät, um noch einen Schluchzer zu ersticken.

Der Druck von Charles’ Hand ließ allmählich nach, während alles immer verschwommener wurde. »Landon, schlaf jetzt. Dein Vater wird hier sein, sobald er kann. Ich bin hier. Ich lasse dich nicht allein.«

Sein Gesicht wurde immer undeutlicher, bis es schließlich völlig verschwand und mir die Augen zufielen.

Mom!, schrie ich in Gedanken, Mom! Mom … Mom …

Aber ich wusste bereits, dass sie mich nicht hören konnte, selbst wenn meine Stimme so laut wie ein Düsentriebwerk war.

LUCAS

In einem Hörsaal mit 189 Studenten ist es ungewöhnlich, dass einer von ihnen gleich am ersten Tag auffällt. Wenn einer so früh aus der Herde hervorsticht, hat das im Allgemeinen irgendeinen negativen Grund. Zum Beispiel, dumme Fragen zu stellen. Oder während der Vorlesung zu reden – und den bösen Blick des Professors nicht zu bemerken. Übermäßiger Körpergeruch. Hörbares Schnarchen.

Oder mein persönliches Grauen: ein hochnäsiger Schnösel zu sein.

Daher war ich nicht allzu überrascht, als mir genau so ein Typ in der ersten Woche des Herbstsemesters ins Auge sprang. Der typische ehemalige Leitwolf auf seiner Highschool – der es gewohnt war, dass die Speichellecker seinen Speichel leckten. Der es noch immer erwartete, noch immer bekam. Mitglied einer Studentenverbindung. Lässige, aber kostspielige Kleidung, teure Frisur, selbstgefälliges Lächeln, perfekte Zähne und die erforderliche niedliche Freundin. Vermutliche Hauptfächer: Wirtschaft, Politikwissenschaft, Finanzwesen.

Er ärgerte mich auf Anhieb. Ich war voreingenommen, na klar – aber meine Meinung zählte schließlich nicht. Er hörte im Unterricht aufmerksam zu und stellte kompetente Fragen, daher würde er vermutlich keine Tutorstunden benötigen. Aber es war nicht ausgeschlossen, dass er trotzdem zu den Übungen erscheinen würde, die ich dreimal die Woche für Dr. Heller abhielt. Die aufgewecktesten Studenten machten oft den Großteil der Gruppe aus.

Im ersten Semester, in dem ich Ergänzungskurse anbot – im letzten Herbst –, hörte ich bei Hellers Vorlesungen genau zu. Ich hatte seinen Kurs mit einer Eins abgeschlossen, aber das war ein Jahr her, und Wirtschaft ist kein stagnierendes Gebiet. Ich wollte nicht, dass ein Student mir in einer Tutorübung eine Frage stellte, die ich nicht beantworten konnte. Im dritten Semester – meinem vierten, in dem ich in dem Kurs saß – brauchte ich ihn eigentlich nicht mehr, aber die Anwesenheit im Unterricht war ein Teil des Tutorjobs, und es war leicht verdientes Geld.

Und so saß ich nun in der letzten Reihe und langweilte mich zu Tode, erledigte Aufgaben aus meinen anderen Seminaren und skizzierte Design-Projektideen, während ich mit einem Ohr zuhörte, um für die Übungen auf dem Laufenden zu bleiben. Ich ignorierte entschlossen meine sinnlose Abneigung gegen den eingebildeten Studenten im zweiten Studienjahr, der mit seinem Accessoire von Freundin mitten im Hörsaal saß.

Gegen Ende dieser ersten Woche schweifte meine Aufmerksamkeit zu ihr ab.

Seit meiner Kindheit war Zeichnen eine tröstliche Ablenkung für mich und manchmal eine Flucht. Meine Mutter war Künstlerin, und ich weiß nicht, ob sie erkannte, dass ich ein natürliches Talent dafür besaß, oder ob es eine erlernte Fähigkeit war, die auf ihrer frühen Ermutigung und meinem ständigen Üben beruhte. Ich weiß nur, dass ich, als ich fünf oder sechs war, meinen Bezug zur Welt am liebsten mit Papier und Bleistift fand. Meine persönliche Form von Meditation.

Auf dem College wurden die meisten meiner Zeichnungen eher mechanischer oder architektonischer Art – vermutlich unvermeidlich angesichts meines Ingenieurstudiums. Aber selbst in meiner Freizeit zeichnete ich kaum noch Körper oder Gesichter. Ich verspürte wenig Drang danach.

Bis ich sie sah.

Wenn sie den Hörsaal betraten oder verließen, hielt ihr Freund manchmal ihre Hand. Aber es sah immer aus, als würde er eine Leine halten, nicht die Hand eines Mädchens, das ihm etwas bedeutete. Vor der Vorlesung redete er über Football, Politik, Musik und Details der Studentenverbindung wie zum Beispiel das Aufnahmeverfahren oder bevorstehende Partys mit anderen Typen, die so waren wie er, und Typen, die so sein wollten wie er. Mädchen, die in der Nähe standen, warfen ihm von der Seite Blicke zu, die er absichtlich übersah.

Und irgendwie, während er mit allem und jedem um sich herum, nur nicht mit ihr, beschäftigt war, konnte ich selbst auf einmal nichts anderes mehr sehen. Sie war schön, na klar, aber auf einer Universität mit dreißigtausend Studenten war das kaum bemerkenswert. Wenn ich nicht diesen anfänglichen Groll gegen ihren Freund gehegt hätte, wäre sie mir vielleicht gar nicht aufgefallen.

Sobald mir bewusst wurde, wie oft mein Blick über sie glitt, kämpfte ich gegen den Drang an – vergeblich. Nichts im Raum war so interessant wie dieses Mädchen. Vor allem faszinierten mich ihre Hände. Insbesondere ihre Finger.

Im Unterricht saß sie neben ihm, ein lockeres Lächeln im Gesicht, während sie sich manchmal leise mit ihm oder anderen in der Nähe unterhielt. Sie sah nicht unglücklich aus, aber ihr Blick war bisweilen fast leer, als wäre sie in Gedanken irgendwo anders. Aber in diesen Momenten gaben ihre Hände – ihre Finger – eine Vorstellung.

Anfangs dachte ich, sie hätte eine nervöse Angewohnheit, so wie Hellers Tochter, Carlie, die seit dem Tag ihrer Geburt ständig in Bewegung war. Carlie klopfte in einem fort mit einem Fingernagel oder einem Fuß, wippte mit einem Knie, redete. Zur Ruhe kam sie meines Wissens nur, wenn sie Francis, meinen Kater, streichelte.

Aber dieses Mädchen klopfte nicht rastlos mit den Fingern. Ihre Bewegungen waren methodisch. Synchronisiert. Da ich weit genug links von ihr saß, um ihr Profil mustern zu können, sah ich ihr Kinn wippen, so sanft, dass es fast unmerklich war – und irgendwann begriff ich, dass sie, wenn ihre Miene abwesend und ihre Finger in Bewegung waren, Musik hörte. Sie spielte Musik.

Es war das Zauberhafteste, was ich je irgendjemanden hatte tun sehen.

Nach Hellers Sitzplan – den ich zusammen mit dem Rest meiner Tutor-Hilfsmaterialien für dieses Semester erhalten hatte – war der Name des Schnösels Kennedy, vorausgesetzt, ich hatte seine krakelige Handschrift korrekt entziffert. Ich saß in meiner Wohnung auf dem Sofa und studierte den Plan. »Das gibt’s doch nicht«, murmelte ich, als ich ihren Namen in ordentlichen Druckbuchstaben in dem Kästchen neben seinem las: Jackie.

Jackie und Kennedy?

Er konnte doch nicht wegen ihres Namens mit ihr zusammen sein, oder? So seicht konnte niemand sein.

Ich dachte zurück an diesen Morgen. Nach Ende der Vorlesung hatte er ihr seine Hausaufgabe gereicht und gesagt: »Hey, Schatz – nimmst du das mit nach vorn? Danke.« Mit einem selbstgerechten Grinsen wandte er sich ab, um irgendeine Debatte darüber fortzuführen, was als Schikane gelten sollte und was nicht, während sie seinen Aufsatz auf ihren eigenen legte. Sie verdrehte die Augen und wandte sich um, um die Stufen zum vorderen Teil des Hörsaals hinunterzugehen.

Oh, doch, so seicht könnte er auf jeden Fall sein.

Ich glitt mit einem Finger über ihren Namen. Jeder von ihr geschriebene Buchstabe war abgerundet, feminin. Selbst das »i« war leicht gekrümmt, mit einem nach rechts auslaufenden Schweif. Aber der Punkt über dem »i« war ein Punkt. Kein offener Kreis. Kein kleines Herz. Und dann war da dieses Augenrollen nach seinem Hey, Schatz. Vielleicht war sie doch nicht hoffnungslos in seinem Netz gefangen.

Was zum Teufel dachte ich mir eigentlich? Dieses Mädchen war eine Studentin in einem Kurs, dessen Tutor ich war. Sie war tabu, zumindest für den Rest dieses Semesters. Was eine verdammt lange Zeit war, wenn man bedachte, dass eben erst die zweite Woche begonnen hatte.

Und ganz abgesehen davon, dass ich sie nicht anrühren durfte, selbst wenn sie ungebunden wäre … sie war nicht ungebunden.

Ich fragte mich, wie lange die beiden wohl schon zusammen waren. Laut Teilnehmerliste waren sie beide im zweiten Studienjahr. Im schlimmsten Fall waren sie seit einem Jahr ein Paar.

Daher tat ich, was jeder normale Stalker tun würde. Ich suchte sie im Internet und fand ein geschlossenes Profil von ihr. Verdammt.

Aber seines stand weit offen.

Kennedy Moore. In einer Beziehung mit Jackie Wallace. Kein Jahrestag verzeichnet, aber es waren Fotos von ihr getaggt – nicht nur aus dem vergangenen Jahr, sondern auch aus der Zeit davor. Ich arbeitete mich rückwärts durch, während ich ohne guten Grund immer gereizter wurde.

Der Sommer vor dem College. Highschool-Abschlussfeier. Schulball. Skiurlaub über die Frühjahrsferien. Eine Überraschungsparty zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Eine Totalaufnahme eines Orchesters mit mehr Musikern, als meine ganze Highschool Schüler hatte. Eine Nahaufnahme von ihr in diesem Orchesterkostüm und mit einer Weihnachtsmannmütze – aber ohne Instrument in den Händen, sodass ich nicht herausfinden konnte, was sie spielte.

Thanksgiving mit seiner Familie. Die beiden, wie sie mit Freunden auf dem Footballfeld einer Highschool herumalberten, die nach reichem Vorort roch. Die Sommerferien davor. Der Elftklässler-Ball. Noch ein Weihnachten.

Das früheste Foto von ihr mit ihm war vor knapp drei Jahren bei einem Herbstkarneval entstanden.

Sie waren seit drei Jahren zusammen. Drei Jahre. Es überstieg meine Vorstellungskraft.

Ein Jaulen an meiner Wohnungstür signalisierte Francis’ Rückkehr von irgendwelchem Ärger, den er sich zwischen Abendessen und Schlafen eingehandelt hatte. Wie jeder artige gezähmte Gefährte legte ich meinen Laptop beiseite, um ihn hereinzulassen. Als ich die Tür öffnete, saß er auf der Fußmatte und leckte sich eine Pfote.

»Na komm schon«, sagte ich. »Ich habe nicht vor, die ganze Nachbarschaft zu kühlen.«

Er rappelte sich hoch, streckte sich träge und huschte in die Wohnung, als ich ihm eben die Tür vor der Nase zuschlagen wollte. Kurz bevor sie ins Schloss fiel, hörte ich jemanden »Lucas!« rufen und riss sie noch einmal auf.

Carlie stand auf der Holztreppe, die zu meiner Wohnung über der Garage der Hellers führte. Es war spät. Im letzten Frühjahr hatte sie eine unangenehme Schwärmerei für mich entwickelt. Ich dachte, sie hätte sie seit Monaten überwunden, nachdem ich so getan hatte, als würde ich ihre langen Blicke und ihr übertriebenes Kichern gar nicht bemerken. Ich kannte sie seit dem Tag ihrer Geburt, daher waren sie und ihre Brüder wie Cousins oder Geschwister für mich, vor allem angesichts der Tatsache, dass ich keines von beidem hatte. Außerdem war sie fünf Jahre jünger als ich – im Grunde noch ein Kind. Ich wollte sie nicht verletzen.

Ich trat in den Türrahmen. »Hey, Carlie. Solltest du nicht im Bett sein?«

Sie rümpfte die Nase und verzog beleidigt das Gesicht. »Ich bin sechzehn, nicht sechs. Mein Gott.« Als sie die oberste Stufe erreichte und in den Halbkreis aus Licht über dem kleinen Treppenabsatz trat, bemerkte ich, dass sie einen Teller in der Hand hielt. »Ich habe Kekse gebacken. Ich dachte, vielleicht willst du welche.«

»Cool. Danke.« Ich nahm den Teller entgegen, ging aber nicht wieder in die Wohnung.

Sie scharrte mit einem Fuß und steckte die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Shorts. »Lucas?«

»Ja?«, sagte ich, während ich dachte: Oh, Scheiße.

»Wirst du eigentlich je … eine Freundin haben? Oder hast du eine und bringst sie nur nicht mit hierher? Oder gibt es, du weißt schon, irgendetwas anderes, was du noch nicht … enthüllt hast …?«

Ich verbiss mir das Lachen. »Falls du mich fragen willst, ob ich mich als schwul outen muss – die Antwort ist Nein. Das hätte ich längst getan.« Diese Frage war seltsamerweise weitaus leichter zu beantworten als die andere.

»Das dachte ich mir schon. Ich meine, es macht dir irgendwie nichts aus anzuecken.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Wegen des Lippenrings?«

Sie nickte. »Und der Tätowierungen.« Ihre Augen weiteten sich, als ihr bewusst wurde, was sie soeben gesagt hatte. »Ich meine – natürlich, dafür hast du deine Gründe. Die meisten …« Sie schloss die Augen. »Gott, ich bin so dumm. Entschuldige …«

»Schon gut, Carlie.« Meine Zähne kratzten über das dünne Metallstück in meiner Unterlippe, und ich versuchte angestrengt, nicht auf die Tattoos zu starren, die sich um meine Handgelenke schlängelten. »Danke für die Kekse.«

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ja. Kein Problem. Gute Nacht, Lucas.«

Freundin-Frage umgangen. Ich seufzte ebenfalls. »Gute Nacht.«

Carlie war die Einzige der Hellers, die sich immer daran erinnerte, mich Lucas zu nennen. Als ich vor drei Jahren zu Hause auszog, um aufs College zu gehen, wollte ich alles ändern, angefangen mit meinem Namen. Meine Mutter hatte mir ihren Mädchennamen – Lucas – als mittleren Namen gegeben. Ich nahm an, dass viele Leute unter ihrem mittleren Namen bekannt waren, und ein zusätzlicher Vorteil war, dass kein juristisches Verfahren nötig war, um ihn zu verwenden.

Mein Dad weigerte sich, mich Lucas zu nennen, aber das war mir im Grunde egal. Ich wohnte nicht mehr bei ihm, und wenn ich nach Hause kam, redeten wir kaum. Carlies Eltern und ihre beiden Brüder erinnerten sich sporadisch – aber sie versuchten es immerhin. Schließlich war ich über achtzehn Jahre lang als Landon bekannt gewesen, daher ging ich im Allgemeinen darüber hinweg, ohne sie zu berichtigen. Alte Gewohnheiten und so.

Aber von diesem Zeitpunkt an war ich für alle neuen Leute Lucas. Ich wollte Landon endgültig verschwinden lassen. Als hätte er nie existiert.

Ich hätte wissen müssen, dass es nicht so leicht sein würde.

2

LANDON

Seit dem Kindergarten war ich auf eine kleine Privatschule am Rand von Washington D.C. gegangen. Wir trugen Uniformen: die Mädchen weiße Blusen mit Perlknöpfen, karierte Faltenröcke und Strickjacken, die Jungen gestärkte weiße Oxfordhemden, gebügelte Hosen und Blazer. Unsere Lieblingslehrer drückten bei unerlaubten Schals und bunten Schnürsenkeln ein Auge zu und sahen über ausgezogene Strickjacken und Blazer hinweg. Die strengeren Lehrer beschlagnahmten Schmuggelware und verdrehten die Augen, wenn wir entgegenhielten, Hanfarmbänder und Glitzerstirnbänder seien ein Ausdruck individueller Freiheit.

Victor Evans wurde im letzten Frühjahr vom Unterricht ausgeschlossen, als er sich weigerte, ein Bottega-Veneta-Hundehalsband abzunehmen, mit der Begründung, es zu tragen sei sein Recht nach dem Ersten Zusatzartikel der Verfassung und würde streng genommen nicht gegen die Vorschriften verstoßen. Danach griff die Verwaltung hart durch.

Oberflächlich betrachtet, sahen wir alle gleich aus, aber in den zwei Wochen, die ich nicht zur Schule ging, hatte ich mich unter der Haut – dort, wo Veränderungen etwas ausmachen – völlig verwandelt. Ich war einer Prüfung unterzogen worden, und ich hatte sie nicht bestanden. Ich hatte ein Versprechen gegeben, das ich nicht hielt. Es spielte keine Rolle, ob ich nach außen hin noch immer derselbe war. Ich war nicht länger einer von ihnen.

Ich durfte den Stoff, den ich versäumt hatte, nachholen, als hätte ich wegen einer schweren Grippe gefehlt, aber das war noch längst nicht alles an persönlichen Rücksichtnahmen.

Lehrer, die mir früher zu viel abverlangt hatten, klopften mir jetzt auf die Schulter und sagten bei neuen Klassenarbeiten, ich solle mir Zeit lassen. Sie gaben mir ein unverdientes »Ausreichend« für beschissen geschriebene Aufsätze, zusätzliche Zeit für unvollständige Laborarbeiten und automatische Wiederholungsangebote für vermasselte Prüfungen.

Und dann waren da noch meine Klassenkameraden – von denen mich einige kannten, seit wir fünf waren. Alle murmelten ihr Beileid, aber keiner wusste, was er danach sagen sollte. Niemand bat mich um Hilfe bei den Algebra-Hausaufgaben oder lud mich zu sich nach Hause ein, um Videospiele zu spielen. Die anderen Jungen schubsten mir nicht die Bücher von meinem Tisch, wenn ich nicht hinsah, und schikanierten mich nicht, wenn mein Lieblingsfootballteam von den Redskins eingeseift wurde. Sexuelle Witze brachen mitten im Satz ab, wenn ich hinzutrat.

Jeder beobachtete mich – im Unterricht, im Flur, auf Versammlungen, beim Mittagessen. Sie tuschelten hinter vorgehaltener Hand und starrten mich kopfschüttelnd an, als könnte ich nicht sehen, wie sie es taten. Als wäre ich eine Wachsfigur meines früheren Selbst – lebensecht, aber unheimlich.

Niemand sah mir in die Augen. Als wäre es vielleicht ansteckend, eine tote Mutter zu haben.

An einem übermäßig warmen Tag krempelte ich mir während Mr. Fergusons Unterricht in amerikanischer Geschichte die Ärmel hoch, ohne zu überlegen. Ich hörte das verräterische Flüstern, das von einem zum nächsten wanderte, zu spät.

»Seine Handgelenke?«, zischelte Susie Gamin, bevor jemand ihr sagte, sie solle still sein.

Die Ärmel wieder herunterzukrempeln und die Manschetten zuzuknöpfen änderte nichts. Einmal entfesselt, waren die Worte wie eine Lawine rollender Steine. Unaufhaltsam.

Am nächsten Tag trug ich am linken Handgelenk eine Uhr mit einem breiten Armband, obwohl es an meiner noch immer wunden Haut scheuerte. Um mein rechtes Handgelenk wickelte ich mir eine Reihe Silikonarmbänder, die im letzten Frühjahr vom Schulleiter ausnahmslos verboten worden waren. Sie wurden ein Bestandteil meiner täglichen Uniform.

Niemand zwang mich, sie abzunehmen. Niemand erwähnte sie. Aber jeder starrte sie an, bestrebt, einen Blick auf das zu erhaschen, was darunter war.

Dinge, mit denen ich aufhörte:

1. Eishockey: Ich begann Eishockey zu spielen, als ich sechs war, kurz nachdem ich mit Dad zu meinem ersten Capitals-Spiel gegangen war. Mom war nicht begeistert, aber sie duldete es – vielleicht weil es etwas war, was meinen Dad und mich verband. Vielleicht auch, weil ich einfach so gern spielte.

Obwohl ich in jeder anderen Situation Rechtshänder war, passierte irgendetwas, wenn ich meine Schlittschuhe zuschnürte und meine Linksaußen-Position einnahm. Wenn ich einen Puck ins Ziel schoss, war ich beidhändig. Zwischen zwei Atemzügen wechselte ich die Position, um einen Puck aus der Ecke zu holen, oder jagte Gegnern einen Schrecken ein, indem ich mitten im Spiel die Hände wechselte und Treffer versenkte, bevor sie sichs versahen. Meine Auswahlmannschaft gewann nicht jedes Mal, aber im letzten Jahr schafften wir es immerhin in die Finals. Als ich in die achte Klasse kam, war ich überzeugt, dass wir in diesem Jahr die Championship-Trophäe nach Hause holen würden. Als wäre es das Wichtigste, was mir je passieren könnte.

2. Teilnahme am Unterricht: Ich hob nicht mehr die Hand. Ich wurde nie wieder aufgerufen. Ziemlich schlichtes Ende.

3. Schlafen: Ich schlief noch immer, irgendwie. Aber ich wachte oft auf. Ich hatte Albträume, aber keine der üblichen. Meistens fiel ich. Vom Himmel. Von einem Gebäude, einer Brücke, einer Klippe. Mit erfolglos rudernden Armen und strampelnden Beinen. Manchmal träumte ich von Bären und Haien und fleischfressenden Dinosauriern. Manchmal vom Ertrinken. Eines blieb dabei konstant: Ich war immer allein.

LUCAS

An heißen Tagen vermisste ich es, den Strand genau vor meiner Haustür zu haben. Selbst wenn die Luft von Feuchtigkeit gesättigt und der Strand grasig und ungleichmäßig war, hatten wir dort immer den Golf, und kühle Wellen klatschten gegen die Küste wie ein einladendes Murmeln.

In den vergangenen drei Jahren hatte ich vier Stunden landeinwärts gelebt. Wenn ich das Bedürfnis verspürte, in ein Gewässer zu tauchen, hatte ich zweierlei zur Wahl: den Swimmingpool der Hellers oder den See. Beides bot nur wenig Einsamkeit.

Der See war ständig überfüllt von Städtern und Touristen, und Carlies Freundinnen hingen noch immer fast täglich am Haus der Hellers herum und rekelten sich in den Liegestühlen am Pool, wie sie es schon den ganzen Sommer über getan hatten. Das Allerletzte, was ich brauchte, war ein Haufen eindeutig minderjähriger Mädchen, die versuchten, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nur weil ich der einzige männliche Nicht-Dad in der näheren Umgebung war. Cole war den ganzen Sommer über das Objekt ihres Interesses gewesen, sehr zur Empörung seiner Schwester. Aber er war vor zwei Wochen abgefahren, um an der Duke University in die Fußstapfen seiner Mom zu treten, und Caleb war erst elf – für sie alle ebenso jung, wie sie es für mich waren.

Sie konnten den Zusammenhang nicht erkennen.

Da ich in den letzten paar Jahren immer blasser geworden war, traten meine Tätowierungen jetzt umso deutlicher hervor. Ich hatte mit den komplexen Mustern begonnen, die sich um meine Handgelenke schlängelten, und sie waren zu Ärmeln geworden, die hauptsächlich aus meinen eigenen Designs bestanden. Zusammen mit der gepiercten Lippe und den langen dunklen Haaren ähnelte ich jetzt eher einem Typen, der bei depressiver Musik und Düsterkeit aufblühte, als dem Strandjungen, der ich war, als ich mir die Tattoos und die Piercings ursprünglich zulegte.

Auf der Highschool trug ich jede Menge Piercings – einen Ohrstecker, einen kleinen Metallstift durch eine Augenbraue und einen Brustwarzenring – zusätzlich zu dem Lippenring. Dad hasste sie, und die Schulleiterin meiner Kleinstadt-Highschool behauptete, sie wären allesamt Zeichen von abnormem Verhalten und einer antisozialen Veranlagung. Ich machte mir nicht die Mühe, darauf etwas zu erwidern.

Sobald ich zu Hause auszog, entfernte ich alle bis auf den Lippenring – das auffälligste.

Ich nahm an, dass Heller mich fragen würde: Warum hast du ausgerechnet den gelassen? Aber das tat er nie. Vielleicht wusste er die Antwort, auch ohne dass ich sie laut aussprach – dass ich eindeutig verkorkst und alles andere als bemüht war, mich einzufügen. Für gewöhnliche Leute signalisierte mein Lippenpiercing das Gegenteil von Ansprechbarkeit. Es war eine selbst errichtete Barriere, und es diente als Warnung, dass Schmerz mich nicht abschrecken würde – dass ich ihn sogar begrüßte.

Die Vorlesungen waren seit zwei Wochen im Gange. Wider besseren Wissen – oder was davon noch übrig war – studierte ich Jackie Wallace. Ihr braunes Haar fiel in sanften Wellen mehrere Zentimeter weit über ihre Schultern, es sei denn, sie drehte es mit einem Haarband oder einer Spange zu einem Knoten ein oder kämmte es zu einem Pferdeschwanz nach hinten, mit dem sie ungefähr so alt wie Carlie aussah. Sie hatte große blaue Augen – ein ungetrübtes Wildblumenblau. Augenbrauen, die sich tief furchten, wenn sie verärgert war oder sich konzentrierte, und sanft gebogen waren, wenn sie im Ruhezustand war – sodass ich mich fragte, was sie taten, wenn sie überrascht war. Durchschnittlich groß. Schlank, aber dennoch kurvenreich.

Ihre Fingernägel waren kurz und unlackiert. Ich sah sie nie darauf kauen, daher nahm ich an, dass sie sie absichtlich abfeilte, um die Symphonien in ihrem Kopf besser dirigieren zu können und es ihren Händen zu ermöglichen, die instrumentalen Bewegungen zu simulieren. Am liebsten hätte ich mir Kopfhörer aufgesetzt und diese bei ihr eingestöpselt, um so herauszufinden, was sie hörte, wenn ihre Finger sich bewegten. Ich wollte sogar wissen, was für ein Instrument sie spielte – als ob ich den Unterschied zwischen einem Cello und einer Viola heraushören könnte.

Es gibt diesen weit verbreiteten Irrtum, dass man, wenn man künstlerisch veranlagt ist, alles auf eine künstlerische und kreative Weise angeht. Das gilt für manche – wie zum Beispiel meine Mutter –, aber nicht für alle. Als ich jünger war, wunderten sich die Leute, dass ich kein Instrument spielte und nicht malte oder Gedichte schrieb. Aber ich war immer nur in einer Hinsicht künstlerisch. Zeichnen. Das ist alles. Selbst meine Tattoos sind das Ergebnis von Papier-und-Bleistift-Skizzen, die von meinem Notizbuch auf die Tinte des Tattookünstlers übertragen wurden, die unter meine Haut injiziert ist.

Nachdem ich ein geisttötendes Kapitel über Sensorkalibrierung für Messlabore verdaut hatte, stopfte ich mein Lehrbuch wieder in den Rucksack und zückte meinen Skizzenblock. Hellers Vorlesung dauerte noch eine Viertelstunde. Mein Blick schweifte hinüber zu Jackie Wallace, die ein paar Reihen weiter unten saß, das Kinn in die Hand gestützt. Ohne bewusste Absicht begann meine Hand, sie zu skizzieren. Die ersten geschwungenen Linien waren da, noch bevor ich wusste, was ich tat. Ihre Finger in Bewegung konnte ich innerhalb der Grenzen eines Blatts Papier nicht festhalten, daher zeichnete ich sie dabei, wie sie der Vorlesung zuhörte – oder so tat, als ob.

»Diejenigen von Ihnen, die keinen Abschluss in Wirtschaft als Hauptfach anstreben, fragen sich vielleicht: ›Warum soll ich meine Zeit damit verschwenden, Wirtschaft zu studieren?‹«, sagte Heller. Ich seufzte. Ich wusste, was als Nächstes kommen würde. Ich kannte seine ganze Routine in- und auswendig. »Weil Sie, wenn Sie sich arbeitslos melden, wenigstens wissen werden, warum.«

Wie zu erwarten, erhob sich hier und da ein Stöhnen aus seinem unfreiwilligen Publikum. Ich gebe zu, ich verkniff mir ein Augenrollen, da ich diesen Kalauer seit vier Semestern kannte. Aber Jackie lächelte, ihr Mundwinkel war von meinem Platz weiter hinten eben noch zu sehen, zusammen mit ihrer leicht nach oben geschwungenen Wange.

Aha. Sie mochte also abgedroschene Witze.

Und ihr Freund war einer der Stöhner.

Meine erste Tutorsitzung des Semesters fand an diesem Nachmittag statt. In der zweiten Woche sind die meisten Studenten noch erfüllt vom Optimismus des Semesterbeginns, selbst wenn sie bereits hinterherhinken. Es war gut möglich, dass sich heute nur eine Handvoll Studenten bei mir blicken lassen würde – oder gar keiner.

In meinem allerersten Semester als Hellers Tutor erschien am ersten Tag nur eine einzige Person – die Mitbewohnerin einer Studentin, die ich zwei Wochen zuvor abgeschleppt hatte. Ich erinnerte mich kaum noch an das Mädchen, mit dem ich ein paar Stunden im Bett verbracht hatte, aber die Mitbewohnerin erkannte ich auf Anhieb, da über ihrem Bett eine riesige Pinnwand voller exhibitionistischer Selfies hing. Sie hatten uns … abgelenkt. Als würden wir von halb nackten Zuschauern beobachtet werden. Im denkbar unpassendsten Moment fragte ich mich unwillkürlich, was sie am Elternwochenende machte. Hängte sie Poster der periodischen Elemente und von Albert Einstein darüber?

Und so zeichnete ich in meiner allerersten Tutorsitzung Diagramme an eine weiße Kunststofftafel, während ich einer Studentin den Unterschied zwischen einem Nachfragerückgang und einer Abnahme der Nachfrage erklärte. Einer Studentin, die nichts davon ahnte, dass ich sie in ihrer Oben-ohne-Selfie-Galerie gesehen hatte. Ich konnte ihr während der ganzen Stunde nicht in die Augen – oder sonst irgendwohin – sehen, was verdammt unangenehm war, da sie der einzige andere Mensch im Raum war.

Heute waren vier Studenten zu meiner Tutorübung erschienen, die sich alle wunderten, dass sie die einzigen Teilnehmer aus einem solch riesigen Kurs waren. Keiner von ihnen war Kennedy Moore oder Jackie Wallace. Ich war erleichtert und enttäuscht zugleich – und ich hatte kein Recht, auch nur eines von beidem zu empfinden.

»Das ist jetzt das dritte Semester, in dem ich für Dr. Heller als Tutor arbeite«, wandte ich mich an sie. Vier Augenpaare beobachteten mich verzückt von ihren Plätzen in der ersten Reihe in dem winzigen Kursraum. »Letztes Jahr hat jeder Student, der für die Dauer des gesamten Semesters zwei- bis dreimal die Woche an den ergänzenden Übungen teilgenommen hat, den Kurs mit einer Eins oder Zwei abgeschlossen.«

Augen weiteten sich beeindruckt. Ganz offensichtlich war ich ein Wundertäter.

Und die Wahrheit? Die regelmäßigen Teilnehmer der Tutorübungen waren im Allgemeinen die Überflieger – Studenten, die eine Vorlesung nur wegen einer Notoperation oder eines Todesfalls versäumten. Sie lasen die aufgegebenen Texte und machten die freiwilligen Tests am Ende eines Kapitels. Sie reichten Hausaufgaben für Zusatzpunkte ein. Bildung stand für sie an erster Stelle, und die meisten von ihnen hätten den Kurs vielleicht auch ohne mich glänzend bestanden.

Aber die statistischen Daten gaben mir Jobsicherheit, daher verwendete ich sie.

Jede Woche verbrachte ich mindestens fünfzehn Stunden mit der Vorlesung, Tutorübungen, dem Erstellen von Arbeitsblättern und individueller Förderung, entweder auf dem Campus oder per E-Mail. Mit diesen Stunden hatte ich ein Viertel meiner Studiengebühren abgedeckt. Hellers Tutor zu sein war nicht ganz so einträglich wie Job Nummer eins – Parkplatzwächter für die Campuspolizei – oder Job Nummer zwei – am Tresen des Campus-Starbucks –, aber es war mit weitaus weniger Stress verbunden.

Na ja.

Bis ich sie sah.

3

LANDON

Dad schien gar nicht zu bemerken, dass ich mit dem Eishockey aufgehört hatte. Er sah nicht, wie ich mich von meinen Freunden abkapselte und mein soziales Leben zusammenbrach. Er hatte nur deshalb dafür gesorgt, dass ich jeden Tag mit einem Wagen von der Schule abgeholt wurde, weil ich am ersten Schultag nach Moms Tod neben ihm auf dem Beifahrersitz innehielt, um zu fragen, wie ich nach Hause kommen würde.

Seine Augen waren hinter seiner Ray-Ban-Sonnenbrille verborgen, daher musste ich den Schmerz nicht mit ansehen, der ihn jedes Mal durchzuckte, wenn ihm bewusst wurde, dass Mom nicht mehr da war und daher keines der Dinge tun konnte, die sie bislang immer getan hatte. Dinge, die jemand an ihrer Stelle tun musste. Wie zum Beispiel, mich von meiner Privatschule abzuholen, da mein Zuhause eine zwanzigminütige Autofahrt entfernt war – oder eine Fahrt mit der Metro, mit der ich noch nie allein gefahren war, gefolgt von einem Fußweg über mehrere Blocks.

Es lag mir auf den Lippen, ihm zu sagen: Ich werde einfach die Metro nehmen – ich bin dreizehn, ich schaffe das schon, als er antwortete: »Ich … ich werde einen Wagen rufen, der dich nach Hause bringt. Du hast um drei Uhr Schluss?«

»Halb vier«, antwortete ich, während ich meinen Rucksack schulterte und ausstieg. Wut stieg in mir auf. Ich spürte, wie ich tief in meinem Inneren zu zerbrechen drohte, und ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an.

Morgens war es noch immer kühl, wenn auch noch nicht kalt genug, um den eigenen Atem zu sehen. Einige Kinder hingen bereits vor der Schule herum und warteten auf das erste Läuten der Schulglocke, während andere aus den Wagen ihrer Eltern stiegen. Niemand hatte es eilig hineinzugehen. Köpfe schnellten herum und beobachteten mich. Auch Eltern – keiner von ihnen fuhr von der Bordsteinkante los. Alle verlangsamten ihr Tempo – in der Schwebe, die Augen auf mich geheftet. Ich spürte ihre Blicke auf mir wie Dutzende winziger Scheinwerfer.

»Landon?«

Ich wandte mich zu meinem Vater um, hoffte irrationalerweise, er würde mir sagen, ich solle einfach wieder in den Wagen steigen. Dass er mich wieder nach Hause bringen oder mich mit in die Arbeit nehmen würde. Alles, außer mich hier zurückzulassen.

Ich wollte nicht hier sein. Ich wollte das nicht tun müssen.

»Hast du deinen Hausschlüssel?«

Ich nickte.

»Ich lasse dich um halb vier mit einem Wagen abholen. Ich werde früh zu Hause sein. Halb sechs, spätestens.« Sein Kiefer verhärtete sich. »Schließ die Tür ab, wenn du nach Hause kommst.« Und überprüf die Fenster.

Ich nickte noch einmal und schloss die Beifahrertür. Er sah mich durch die Scheibe an, und dieser verrückte Wunsch, er möge mich nicht hier zurücklassen, sprang wieder hoch und packte mich an der Kehle. Dad hob eine Hand und fuhr weg.

Daher erinnerte ich ihn nie an das Eishockeytraining. Ich ging einfach nicht mehr hin.

Als mein Trainer mich schließlich anrief, erklärte ich ihm, ich würde aufhören. Er gab mir zu verstehen, an früheren Routinen festzuhalten würde gut für mich sein. Sagte, ich könnte in meinem eigenen Tempo wieder anfangen, mich neu aufbauen. Erklärte, das Team sei bereit, mich zu unterstützen – ein paar der Jungs hätten darüber diskutiert, die Initialen meiner Mom auf unsere Helme zu kleben oder auf die Ärmel unserer Trikots nähen zu lassen. Ich saß wie versteinert am anderen Ende der Leitung und wartete darauf, dass er begriff, dass ich nicht mit ihm diskutieren würde, aber ich legte auch nicht auf.

Ich weiß nicht, ob Dad weiterhin bezahlte oder ob sie aufhörten, ihm Rechnungen zu schicken, und es war mir auch egal.

Es gab da dieses Mädchen, das ich mochte, davor. (Alles war jetzt entweder davor oder danach.) Das Davor-Mädchen hieß Yesenia. Ich hatte sie seit dem letzten Tag der siebten Klasse nicht mehr gesehen, aber wir hatten uns im Laufe des Sommers hin und wieder eine SMS geschickt und waren Online-Freunde, hatten kryptische Social-Media-Kommentare getauscht, was irgendwie so ist, als würde man in Zeichensprache flirten. Cooles Foto. Haha toll. Schöne Augen. Dieser letzte Kommentar war von ihr, einer von einem Dutzend Kommentaren zu einem Foto, das Mom an Grandpas Strand von mir aufgenommen hatte, auf dem ich bei Sonnenuntergang in der Brandung stand.

Ihr Kommentar war der einzige, der mir etwas bedeutete. Und es war auch das Mutigste, was einer von uns je zu dem anderen sagte.

Im Laufe des Sommers war ich gewachsen. Das war etwas Gutes, denn Yesenia und ich waren in der siebten Klasse gleich groß gewesen, und mit Mädchen und der Größe ist das so eine Sache – sie wollen hohe Absätze tragen und dabei nicht größer sein als der Typ. Ich hatte acht Zentimeter zugelegt und hoffte auf mehr. Dad war über einen Meter achtzig groß. Keiner meiner Großväter war es.

Yesenia, einzige Tochter eines Botschafters aus El Salvador, war schön und dunkel, mit kurzen, seidigen schwarzen Haaren und riesigen braunen Augen, die mich über Klassenzimmer und Mittagstische hinweg beobachteten. Sie wohnte in einem eleganten Stadthaus abseits des Dupont Circle. Zwei Wochen zuvor hatte ich Mom überredet, mich allein mit der Metro zu ihr fahren zu lassen, aber ich hatte noch nicht den Mut gefasst, Yesenia zu fragen, ob ich vorbeikommen könnte.

In jener zweiten Schulwoche gelang es mir, sie ohne ihren Schwarm von Freundinnen abzupassen – ein seltenes Vorkommnis bei dreizehnjährigen Mädchen. »Hey, willst du am Samstag ausgehen und einen Film ansehen?« Ich platzte mit der Einladung heraus, und sie sah blinzelnd zu mir hoch. Ich hoffte, dass sie diese acht Zentimeter bemerkte. Sie war das größte Mädchen in unserer Klasse. Ein paar Typen mussten zu ihr aufsehen. »Mit mir?«, stellte ich klar, als sie nicht sofort antwortete.

»Ähm …« Sie spielte nervös mit den Büchern in ihren Armen, während mein Herz verdammt, verdammt, verdammt hämmerte, bis sie sagte: »Ich darf eigentlich noch nicht mit Jungen ausgehen.«

Hm. Jetzt war es an mir, nervös herumzuspielen.

»Aber vielleicht … könntest du vorbeikommen und bei mir zu Hause einen Film ansehen?« Sie war zögerlich – als ob sie dachte, dass ich sie vielleicht abweisen würde.

Ich fühlte mich, als wäre ich kopfüber in kaltes Wasser getaucht, wieder herausgezerrt und dann geküsst worden, aber ich nickte nur, entschlossen, mich gleichgültig zu geben. Dann hatte ich eben ein Mädchen gefragt, ob sie mit mir ausgehen wollte. Und wenn schon. »Ja, na klar. Ich schicke dir eine SMS.«

Ihre Freundinnen tauchten am Ende des Flurs auf, riefen ihr zu und beäugten mich voller Neugier. »Hi, Landon«, sagte eine von ihnen.

Ich erwiderte ihren Gruß mit einem Lächeln und wandte mich dann ab, die Hände in den Hosentaschen vergraben, während ich lautlos ja, ja, JA murmelte, als hätte ich eben einen Puck genau am gepolsterten Knie des Torhüters vorbei im Tor versenkt. Bis Samstag waren es nur noch fünf Tage.

Vierundzwanzig Stunden später hatte sich mein Leben in das Danach verwandelt.

LUCAS

»Du. Bist. Ein. Arschloch!«

Ich presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, während ich angestrengt versuchte, mir die Antwort zu verkneifen, die mir durch den Kopf schoss: Wow. Das habe ich ja noch nie gehört.

Ich füllte weiter den Strafzettel aus, mit dem ich zum Glück fast fertig war.

Ich habe Mitleid mit Leuten, deren Parkuhr abläuft, bevor sie zurück zu ihrem Wagen kommen, oder wenn jemand auf einem zugegebenermaßen zweideutig gekennzeichneten Stellplatz parkt. Kein Mitleid habe ich mit einer Studentin, die genau unter einem NUR-FÜR-LEHRPERSONAL-Schild parkt.

Als sie begriff, dass ihr Auftreten und ihre vorhersehbare Beleidigung für mich kein Grund waren, mit dem Schreiben aufzuhören oder auch nur aufzusehen, versuchte sie es mit einer anderen Taktik. »Komm schon, bitte? Ich war doch nur zehn Minuten oder so da drinnen! Ich schwöre es!«

Klar doch.

Ich riss den Strafzettel ab und streckte ihn ihr hin. Sie verschränkte die Arme und funkelte mich wütend an. Schulterzuckend steckte ich den Strafzettel in einen Umschlag und klemmte diesen hinter ihren Scheibenwischer.

Als ich mich abwandte, um wieder auf das Cart zu steigen, mit dem ich auf dem Campus von einem Parkplatz zum nächsten fahre, brüllte sie: »Du arschgesichtiger Hurensohn!«

Das hingegen ist etwas Neues. Gut gebrüllt, Miss Himmelblauer Mini-Cooper.

Oh, Mann, ich war mir nicht sicher, ob man mich gut genug bezahlte, um mich für Beleidigungen dieser Art zu entschädigen. Ich machte das mit Sicherheit nicht aus Prestigegründen. Für diese Arbeit steckte ich mir die Haare unter eine polyesterbeschichtete, marineblaue Mütze, unter der meine Kopfhaut glühte, wenn ich an heißen Tagen zu lange draußen in der Sonne stand, was ungefähr siebzig Prozent des Jahres der Fall war. Ich ersetzte den Lippenring für die Dauer meiner Schichten mit einem durchsichtigen Retainer; der Stichkanal war zum Glück seit Jahren verheilt. Ich trug eine Uniform, die genau das Gegenteil von allem anderen in meinem Kleiderschrank war.

Zugegeben, auf diese Weise erkannte mich kein Student, dem ich je einen Strafzettel ausstellte – manchmal sogar Leute, die in einem Kurs genau neben mir saßen –, während ich ihm gerade den Tag verdarb.

»Entschuldigung! Juu-huu!«

Das ist die Art Zuruf, die im Allgemeinen von irgendjemandes Oma kommt – aber nein, es war mein Thermodynamik-Professor vom letzten Frühjahr. Verdammt. Ich steckte den Strafzettelblock ein und betete, er möge nicht Mr. Brandneuer Mercedes sein, dem ich eben einen Strafzettel dafür verpasst hatte, dass er am hinteren Ende des Parkplatzes über zwei Stellplätze hinweg parkte. Ich hätte nicht vermutet, dass Dr. Aziz ein solches Arschloch sein könnte – aber hinter dem Lenkrad eines Wagens benahmen sich die Leute seltsam. Ihre Persönlichkeiten konnten sich von stabilen, geistig gesunden Bürgern in unberechenbare Verkehrsrowdys verwandeln.

Ich nahm Haltung an. »Ja, Sir?«

»Ich brauche Starthilfe!« Er keuchte, als wäre er soeben über ein Footballfeld gesprintet.

»Oh. Na klar. Steigen Sie ein. Wo steht Ihr Wagen?« Ich ignorierte die Frau in dem Mini-Cooper, die mir den Stinkefinger zeigte, während sie mit quietschenden Reifen an uns vorbeifuhr.

Auch wenn er keinen Kommentar dazu abgab, war Dr. Aziz nicht ganz so abgehärtet gegen diese für mich nur allzu alltägliche Geste. Mit hochgezogenen Brauen stieg er auf den Beifahrersitz und hielt sich mit beiden Händen fest, nachdem er vergeblich nach dem nicht vorhandenen Gurt gegriffen hatte. »Zwei Reihen weiter.« Er zeigte in die Richtung. »Der grüne Taurus.«

Ich verlangsamte mein Tempo, damit er nicht durch die offene Seite des Carts hinausgeschleudert wurde, bevor ich am Ende der Reihe wendete. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass man meiner üblichen antisozialen Inkarnation vermutlich nicht mitten auf einem Parkplatz den Mittelfinger entgegengestreckt hätte. Ich war eine wandelnde Zielscheibe, die in diesem verdammten Kostüm über den Campus patrouillierte.

Sobald ich seinen Wagen flottgemacht hatte, nahm ich die Kabel ab und klappte die Motorhaube zu. »Vergessen Sie nicht, die Batterie aufladen oder ersetzen zu lassen – mit dieser Kiste bekommen Sie Starthilfe, aber keine Aufladung.« Ich wusste, dass mein Professor für Ingenieurwissenschaften diesen Ratschlag nicht benötigte … aber ich nahm an, dass ich nicht zu erkennen war.

Irrtum.

»Ja, ja, Mr. Maxfield, ich denke, inzwischen kenne ich mich mit Selbstaufladung gut genug aus.« Er lachte, wobei er noch immer ein wenig keuchte. »Diese Begegnung ist ein glücklicher Zufall, denke ich. Ich bin erst heute Morgen in Gedanken meine ehemaligen Studenten durchgegangen. Ich werde eine Handvoll von ihnen kontaktieren und sie einladen, sich um ein Forschungsprojekt zu bewerben, das im nächsten Semester beginnt. Unser Ziel ist die Entwicklung strapazierfähiger weicher Materialien, um diejenigen zu ersetzen, die normalerweise durch thermodynamische Kräfte beschädigt werden – wie zum Beispiel diejenigen, die bei der Arzneimittelgabe und der Gewebekonstruktion Verwendung finden.«

Ich wusste alles über Dr. Aziz’ geplantes Forschungsprojekt – es war beim Tau-Beta-Pi-Treffen im letzten Monat lebhaft diskutiert worden, mit der Art Begeisterung, die nur ein Haufen streberhafter Ingenieurstudenten in einer Honor Society aufbringen kann.

»Sie sind im Abschlussjahr, nehme ich an?«

Ich zog die Augenbrauen hoch und nickte, aber ich war zu verblüfft, um etwas zu erwidern.

»Hmm. Wir sind in erster Linie an Studenten im vorletzten Studienjahr interessiert, da sie noch etwas länger hier sein werden.« Er kicherte in sich hinein, dann schürzte er die Lippen und musterte mich. »Trotzdem, das Gründungsteam eines Projekts ist von entscheidender Bedeutung, und ich denke, Sie könnten eine Bereicherung sein, falls Sie interessiert sind. Die Position würde in Ihrem Studienbuch als Sonder-Projektkurs aufgeführt werden, und wir haben Fördermittel zugewiesen bekommen, sodass wir den letztlich Ausgewählten ein kleines Stipendium bieten können.«

Ach du heilige Scheiße. Ich riss mich aus meinem benommenen Zustand. »Ich bin interessiert.«

»Gut, gut. Schicken Sie mir heute Abend eine E-Mail, und ich werde die offizielle Bewerbung weiterleiten. Ich bin verpflichtet, Bewerber davon in Kenntnis zu setzen, dass Stellen im Team nicht garantiert sind. Sie werden sehr begehrt sein, nehme ich an.« Er scherzte nicht. Einige meiner Kommilitonen würden ernsthaft in Erwägung ziehen, mich vor ein fahrendes Auto zu schubsen, um sich eine dieser Stellen zu sichern. »Aber …« Er lächelte verschwörerisch. »Ich denke, Sie wären ein Top-Kandidat.«

Als Heller in seinem Kurs die erste Prüfung abhielt, war ich an dem Tag von der Teilnahme befreit. Anstatt auszuschlafen, wie es jeder normale Student tun würde, hatte ich mich idiotischerweise für eine zusätzliche Schicht bei der Campuspolizei eingetragen. Es war, als wüsste ich nicht mehr, wie man sich entspannte und nichts tat. Zwischen bezahlten Jobs, ehrenamtlichen Jobs und meinem Studium arbeitete ich die ganze verdammte Zeit.

Gegen sieben Uhr morgens öffnete der Himmel die Schleusen und überflutete die Gegend mit einem Überraschungsgewitter, genau im richtigen Moment, um den Sonnenaufgang zu vereiteln, daher schnorrte ich bei Heller eine Mitfahrgelegenheit zum Campus, anstatt unterwegs auf meiner Sportster hoffnungslos durchnässt zu werden. Nachdem ich Heller geholfen hatte, einen Karton Bücher von seinem Wagen zu seinem Büro zu schleppen, und wir uns auf einen Zeitpunkt geeinigt hatten, zu dem wir beide Feierabend machen würden, steuerte ich auf den Seitenausgang zu.

Die Sonne war in den wenigen Minuten, die ich in dem Gebäude verbracht hatte, herausgekommen und gewährte uns einen kurzen Aufschub vom Regen, auch wenn von den Bäumen und Dachvorsprüngen noch immer dicke Tropfen auf die Studenten fielen, die durch Pfützen liefen und über kleine Rinnsale hüpften. Die tiefen, grauen Wolken, die sich sichtbar über uns zusammenbrauten, verrieten mir, dass der plötzliche Sonnenschein höchstens fünf Minuten anhalten würde, und ich hoffte, es vor dem nächsten Wolkenbruch zum Gebäude der Campuspolizei zu schaffen.

Wenn der Regen andauerte – und allen Wetterprognosen zufolge würde er das tun –, würde ich dort im Büro festsitzen, Telefonanrufe entgegennehmen und stapelweise Akten in den Schrankwänden der Abteilung ablegen, anstatt Strafzettel zu verteilen. Lieutenant Fairfield war mit seiner Ablage immer im Rückstand. Ich war halb überzeugt, dass er nie irgendetwas ablegte. Er wartete einfach auf verregnete Tage, um diese geisttötende Aufgabe mir aufzuhalsen. Seltsamerweise schlug ich mich lieber mit aufgebrachten Studenten, Verwaltungsangestellten und Professoren herum, als den ganzen Tag im Büro festzusitzen.

Und ich werde Jackie Wallace heute überhaupt nicht zu Gesicht bekommen.

Ich zwang mein Gehirn, den Mund zu halten, setzte meine Sonnenbrille auf und hielt einem Mädchentrio die Tür auf, das mich einfach ignorierte und sich weiter unterhielt, als wäre ich ein Diener oder ein Roboter, eigens dort aufgestellt, um ihnen die Tür zu öffnen. Diese verdammte Uniform.

Dann sah ich sie, wie sie in Gummistiefeln mit einem gelben Gänseblümchenmuster durch Wasserpfützen platschte. Ich stand wie eine Statue da und hielt die Tür noch immer angelehnt, obwohl sie mehrere Meter entfernt war und mich – oder sonst irgendjemanden in ihrer Nähe – nicht bemerkt hatte. Ich wusste, dass sie das Gebäude durch diese Tür betreten würde. Sie hatte in ungefähr einer Minute eine Prüfung in Wirtschaft. Ein Kennedy Moore war nirgends in Sicht.

Ihre Büchertasche drohte an ihrem Arm herunterzurutschen, und sie riss die Schulter hoch, während sie mit einem störrischen Regenschirm kämpfte, der zu ihren Stiefeln passte. Ihre erregte Körpersprache und die Tatsache, dass sie noch nie unpünktlich – oder ohne ihren Freund – zur Vorlesung erschienen war, verrieten mir, dass sie heute Morgen spät dran war. Ihr Schirm ließ sich nicht zusammenklappen. »Verdammt«, murmelte sie und schüttelte ihn fest, während sie immer wieder auf den Einzugsknopf drückte.

Er klappte in der Sekunde zusammen, bevor sie den Kopf hob und mich sah, wie ich die Tür aufhielt.

Ihre Haare waren feucht. Sie trug kein Make-up, aber die Enden ihrer Wimpern waren spitz verklebt – sie war auf dem Weg von ihrem Wohnheim oder Wagen eindeutig vom Regen überrascht worden. Ihre nasse Haut, ihre Nähe und der Atemzug, als ich in ihre schönen Augen sah – das alles brachte mich fast aus dem Gleichgewicht. Sie roch nach Geißblatt – ein Duft, den ich gut kannte. Meine Mutter hatte das kleine Cottage in unserem Garten, das sie in ein Künstlerstudio umgewandelt hatte, auf einer Seite ganz von Geißblatt zuwuchern lassen. Jeden Sommer erfüllten die trompetenförmigen Blüten das Innere des Häuschens mit ihrem süßen Duft, vor allem wenn Mom die Fenster weit aufriss. Während sie an Projekten für Herbstausstellungen in Galerien arbeitete, saß ich ihr gegenüber an der zerkratzten Tischplatte und zeichnete Figuren eines Videospiels oder Käfer oder die inneren Bestandteile irgendeines funktionsunfähigen Haushaltsgeräts, das ich mit Dads Erlaubnis auseinandernehmen durfte.

Ein erstauntes Lächeln breitete sich über Jackies Gesicht aus, als sie zu mir hochsah, und ersetzte den mürrischen Blick, den sie ihrem launischen Regenschirm zugeworfen hatte. »Danke«, sagte sie und duckte sich durch die offene Tür.

»Gern geschehen«, erwiderte ich, aber sie eilte bereits weiter. Zu dem Kurs, dessen Tutor ich war. Zu diesem Freund, der sie nicht verdient hatte.

Ich hatte mir schon sehr lange nicht mehr gestattet, etwas so Unmögliches zu wollen.

4

LANDON

Stunden nachdem Dad mich aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht hatte, flippte er völlig aus. Mit einem Kartonmesser riss er den blutbefleckten Teppichboden aus dem Zimmer, bis hin zum Rohfußboden. Ohne eine Maske über Augen oder Nase schaltete er die Schleifmaschine an und schliff den Boden ab, bis sich das Holz in der Mitte des Zimmers wie eine Schüssel vertiefte. Sägemehl wehte wie Rauch durch den Türrahmen hinaus und hüllte das Zimmer und alles darin ein, einschließlich meines Dads.

Ich saß in der Diele, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und hielt mir die Ohren zu. Ich war das Geräusch seiner Trauer und Wut leid, seine heiseren Tränen und lauten Schreie, die sich mit der ohrenbetäubenden Schleifmaschine vermischten – alles davon sinnlos, da nichts davon sie wiederbringen würde. Als der Motor verstummte, kroch ich zum Türrahmen und spähte ins Zimmer. Dad kniete auf dem Boden, weinend und hustend vor dem verhassten Fleck, der zwar schwächer, aber unter der jetzt stillen Schleifmaschine noch immer sichtbar war.

Am Tag ihrer Beerdigung wachte ich zum Geräusch seiner Schritte vor meiner Tür auf. Mein Zimmer war kurz vor der Morgendämmerung noch dunkel, und ich lag reglos da, fast ohne zu atmen, und erkannte das Quietschen von Kleiderbügeln, die zusammengeschoben wurden, und das Schleifen von Schubladen, die geöffnet und geschlossen wurden, bevor Dad an meinem Zimmer vorbei und wieder zurückging, immer und immer wieder. Eine Stunde später fiel die Tür zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer zu.

Er war in das kleine Gästezimmer im Erdgeschoss gezogen. In einer stillschweigenden Übereinkunft betrat keiner von uns danach je wieder ihr verschlossenes und gespenstisches Schlafzimmer.

Cindy kam oft vorbei, um nach Dad und mir zu sehen, um uns Essen zu bringen oder aufzuräumen. Meistens wurde sie dabei von Charles begleitet oder von Cole – der immer das Falsche sagte, auch wenn es genau dasselbe war wie bei allen anderen.

»Das mit deiner Mom tut mir leid«, hatte er gestern Abend gesagt, als wir nebeneinander auf meinem Bett saßen, Game-Controller in den Händen.

Ich nickte, während ich auf den Bildschirm starrte, auf dem wir ein Dragsterrennen durch irgendeine berühmte Straße – ich konnte mich nicht mehr an den Namen erinnern – fuhren, wobei wir Mülltonnen, Bäume, andere Wagen und hin und wieder einen glücklosen animierten Fußgänger niedermähten. Ich versuchte, die Leute nicht zu überfahren. Cole hingegen schien genau auf sie zu zielen, vor allem wenn seine kleine Schwester Carlie in der Nähe war, da sie jedes Mal ausflippte, wenn er es tat.

»Du hast ein Kind angefahren! Du hast eben absichtlich ein Kind angefahren!«, sagte sie, wenn sein Wagen über die Bordsteinkante schoss und einen Skateboardfahrer rammte.

Ich verzieh Cole, dass er die Leute absichtlich überfuhr, und auch, dass er dasselbe sagte wie alle anderen, denn schließlich war er erst zehn, und er behandelte mich so wie immer. Er war der Einzige, den ich kannte, der das tat.

Stimmengemurmel lockte mich eines Samstagmorgens aus meinem Zimmer und die Treppe hinunter. Cindy und Dad saßen am Küchentisch, zwischen sich Kaffeebecher in den Händen. Ihre Stimmen hallten durch die Küche und drangen bis in die Diele, so leise sie auch waren. Ich wusste, dass sie über mich diskutierten, noch bevor ich hörte, was sie sagten.

»Ray, er braucht eine Therapie.«

Cindy witzelte immer, sie würde ihre beiden Schwestern liebend gern gegen meine Mom tauschen, die ihre »wahre« Schwester sei. Wie eine aufdringliche Tante, die mich schon mein ganzes Leben kannte, behandelte sie mich immer, als sei meine Erziehung zum Teil ihre Aufgabe.

Dad antwortete lange nichts, und dann sagte er: »Landon hat eine blühende Fantasie – das weißt du selbst. Er zeichnet die ganze verdammte Zeit. Ich glaube nicht, dass ein paar Skizzen ein Grund sind, weshalb ein Seelenklempner …«

»Ray, ich habe dein Kind, ihr Kind, beobachtet, seit er zum ersten Mal einen Bleistift in die Hand genommen hat. Natürlich ist mir klar, wie er sich künstlerisch ausdrückt. Aber ich sage dir, das hier ist … etwas anderes. Es ist beunruhigend, brutal …«

»Was zum Teufel hast du denn erwartet?«, zischte er, und jetzt war es an ihr zu verstummen. Er seufzte. »Entschuldige, Cin. Aber … wir werden auf unsere eigene Weise damit umgehen. Wir wollen nicht darüber reden. Wenn ich an jene Nacht denke …« Seine Stimme brach. »Ich werde ihn nicht zwingen, darüber zu reden.«

Ich hörte, was er nicht sagte. Dass er nicht hören wollte, was ich über jene Nacht zu sagen hatte.

Aber er hatte recht. Ich wollte nicht darüber reden.

»Er zieht sich zurück, Ray. Er spricht kaum noch.« Ihre Stimme war von Tränen erstickt.

»Er ist dreizehn. Wortkargheit ist ganz normal für einen Dreizehnjährigen.«

»Wenn er schon vorher so gewesen wäre, würde ich dir ja recht geben. Aber das war er nicht. Er war fröhlich und redselig. Ihn mit Rose zusammen zu sehen gab mir immer die Hoffnung, dass meine Söhne noch immer mit mir reden und lachen und mich zum Abschied küssen werden, wenn sie Teenager sind. Das ist kein normales Verhalten für Landon – ob dreizehn oder nicht.«

Mein Vater seufzte wieder. »Seine Mutter ist tot. Wie kann er da je wieder normal sein?«

Sie schniefte, und ich wusste, dass sie leise zu weinen begonnen hatte.

»Ich kann nicht länger darüber diskutieren«, sagte er. »Ich weiß deine und Charles’ Hilfe zu schätzen … aber ich kann einfach nicht …«

»Wie wär’s, wenn ich einen Therapeuten für ihn finde? Wie wär’s, wenn ich ihn übernehme, und du musst gar nichts damit zu tun haben, es sei denn, du willst …«

»Nein. Noch … nicht. Lass ihm Zeit.«

»Aber …«

»Cindy.« Das war sein Es-reicht-Ton. Ich kannte das alles nur zu gut. Wenn ich von meinen Eltern irgendetwas wollte, was sie mir nicht erlaubten, war es immer Dad, der das endgültige Nein aussprach, in diesem Ton. Landon, und dazu diese mürrische Miene. Jede Diskussion war dann sinnlos.

Noch bevor ich geboren wurde, fingen die Maxfields und die Hellers an, Thanksgiving zusammen zu feiern. Das taten sie jedes Jahr – während Postdoktorandenstellen an entgegengesetzten Küsten des Landes und nach Charles’ Annahme einer Assistenzprofessur in Georgetown und der Entscheidung meines Vaters, seinen Doktortitel zu nehmen und für die Regierung anstatt irgendeine Universität zu arbeiten. Nachdem ich zur Welt gekommen war, behielten sie die Tradition bei und ließen sich zwanzig Minuten voneinander entfernt in Arlington und Alexandria nieder – beides innerhalb des Autobahnrings.

In diesem Jahr waren wir an der Reihe, die Gastgeber zu sein. Stattdessen fuhren mein Dad und ich zu ihnen nach Hause, beide schweigsam, während wir die idiotischen Weihnachtslieder im Radio hasserfüllt über uns ergehen ließen. Keiner von uns stellte einen anderen Sender ein.

ENDE DER LESEPROBE