Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Lord Ralph Colwall, Inhaber eines großen Namens und des eindrucksvollsten normannischen Schlosses in England, hat bereits eine katastrophale Ehe hinter sich. Er entschließt sich, die Mutter seines Erbe mit Sorgfalt auszusuchen. Seine Wahl fällt auf Natalia Greystroke, ein fünfzehnjähriges Mädchen aus gutem Hause, die mit ihm verwandt ist, und lässt sie nach seinen Instruktionen erziehen. Mit achtzehn kommt Natalia nach Herefordshire um ihn zu heiraten. Natalia ist gefühlvoll und idealistisch und vom ersten Moment in dem sie Lord Colwall erblickte, weiß sie, dass er der Mann war den sie liebt. Und als er um ihre Hand bittet, glaubt sie, er fühle genauso. Aber in ihrer Hochzeitsnacht erfährt sie eine schreckliche Wahrheit – dass ihr Mann von ihrer Heirat nur einen Erben für seine Güter erwartet. Natalia fühlt, dass sie nie wirklich die Frau von Lord Colwalls sein kann. Verzweifelt und verängstigt flieht sie aus ihrem neuen Heim – immer noch in der Hoffnung, dass ein Funke der Liebe in ihm erwachen könnte.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 197
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Sir James, ein Mann in mittleren Jahren, saß vor dem Kamin und las die Zeitung. Als ihm Lord Colwall gemeldet wurde, sprang er mit einem Ausruf des Erstaunens auf.
Ein eleganter junger Mann, um den Hals eine kunstvoll geschlungene Krawatte, unter dem Rock mit den geschwungenen Schößen eine juwelengeschmückte Uhrentasche, trat ins Zimmer. Er sah auffallend gut aus. Seine Züge waren scharf geschnitten: volles, dunkles Haar fiel ihm in die breite Stirn. Nur auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der auf den ersten Blick fast abstoßend wirkte.
Es war schwer zu verstehen, daß ein so junger Mann schon so zynisch und gleichzeitig so stolz und abweisend aussehen konnte, daß ein Fremder instinktiv jeden näheren Kontakt mit ihm vermied.
Sir James Begrüßung ließ deutlich erkennen, daß er sich über den Besuch freute.
„Ralph“, rief er. „Warum haben Sie mich nicht wissen lassen, daß Sie mich aufsuchen wollten? Trotzdem sind Sie mir herzlich willkommen.“
Lord Colwall trat neben Sir James vor den Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte.
„Ich habe mich erst gestern Abend dazu entschlossen“, erwiderte er mit kühler, ausdrucksloser Stimme. „Ich habe gerade in der ,Times' von den Drohbriefen an die Gutsbesitzer in den südlichen Provinzen gelesen, die mit ,Swing' unterzeichnet sind“, erzählte Sir James. „Merkwürdig, daß kein Mensch zu wissen scheint, wer dieser Mann ist.“
Die beiden Herren hatten auf Sesseln vor dem Feuer Platz genommen.
„Wenn man seine Identität herausfindet, dürfte man ihn hängen oder zumindest deportieren“, meinte Lord Colwall.
„Es gehen Gerüchte um, daß er ein verstoßener Adeliger, ein entflohener Strafgefangener oder ein Rechtsanwalt ist, der vom Gericht ausgeschlossen wurde. Jedenfalls muß es sich um einen gebildeten Mann handeln, seinem Briefstil nach zu schließen. Ohne Zweifel steht er hinter der Rebellion in der Gegend von Canterbury. Landarbeiter allein könnten so etwas niemals organisieren.“
„Das ist offensichtlich“, stimmte Lord Colwall zu. „Wenn die Regierung nicht hart durchgreift, könnte ein Bürgerkrieg entstehen.“
„Als ich die Briefe in der ,Times' las, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Landarbeiter zumindest teilweise im Recht sind“, wandte Sir James ein.
„Der Meinung bin ich nicht“, rief Lord Colwall. „Sie werden für ihre Arbeit bezahlt. Heuschober zu verbrennen und landwirtschaftliches Gerät zu zerstören bedeutet Anarchie.“ In seiner Stimme lag so viel Empörung, daß der friedliche Sir James einlenkte.
„Lassen Sie uns über ein angenehmeres Thema sprechen. Welchem Umstand verdanke ich Ihren höchst willkommenen Besuch?“
Lord Colwall zögerte einen Augenblick, dann sagte er langsam: „Ich wollte Sie bitten, mein Trauzeuge zu sein.“
Sir James starrte ihn an, als traue er seinen Ohren nicht.
„Sie wollen heiraten?“ rief er. „Lieber Junge, das ist die beste Nachricht, die ich seit langem gehört habe. Niemand hat mir übrigens erzählt, daß Sie im Begriff sind, in den heiligen Stand der Ehe zu treten. Habe ich etwa die Ankündigung Ihrer Verlobung übersehen?“
„Es hat gar keine gegeben“, stellte Lord Colwall fest.
„Und wer ist die glückliche Braut? Kenne ich sie?“
„Nein, sicherlich nicht.“
Lord Colwall hatte sich erhoben, durchquerte mit großen Schritten das Zimmer und blieb vor dem Fenster stehen, um in den Garten hinaus zu sehen. Sir James konnte sein Erstaunen nicht länger verbergen.
„Was hat das zu bedeuten, Ralph?“ fragte er. „Wie Sie wohl wissen, würde mich nichts mehr freuen, als Sie glücklich verheiratet zu sehen.“
„Dessen bin ich mir wohl bewußt“, erwiderte Lord Colwall. „Als ein Freund meines Vaters, der bis zu meinem einundzwanzigsten Lebensjahr als mein Treuhänder fungierte, sollen Sie daher als erster von meinem Entschluß erfahren.“
„Ihr Vertrauen ehrt mich“, sagte Sir James. „Aber warum machen Sie ein solches Geheimnis aus der Affäre?“
„So ist es keineswegs“, versicherte Lord Colwall. „Ich führe etwas aus, was ich seit langem geplant habe,.“ Er kehrte zu seinem Sessel vor dem Kamin zurück. „Wie Sie wissen, habe ich nach Claris’ Tod geschworen, nie wieder zu heiraten“, fuhr er fort.
„Sie waren damals noch sehr jung, kaum einundzwanzig, und man hatte Ihnen übel mitgespielt. Unter solchen Umständen sagt man manches, was man später bereut.“
„Ich habe jedes Wort ernst gemeint“, erklärte der junge Mann. „ Als ich aber vor drei Jahren in den Besitz meiner Güter gelangte, wurde mir klar, daß ich vor allem den Fortbestand meiner Familie im Auge haben muß. Die Erbfolge muß in direkter Linie weitergehen. Ich will meinen Besitz eines Tages meinem Sohn hinterlassen.“
„Der Meinung bin ich auch“, stimmte Sir James zu. „Aber vor allem möchte ich Sie glücklich sehen.“
„Ich sagte Ihnen bereits, daß ich meine Heirat schon seit langem geplant habe“, fuhr Lord Colwall fort.
Etwas in seiner Stimme ließ Sir James aufhorchen.
„Was wollen Sie damit sagen, Ralph?“
„Ich bin im Begriff, Ihnen alles zu erklären, nicht weil ich Ihre Zustimmung brauche, sondern weil ich glaube, daß Sie die Wahrheit wissen sollten.“
„Und wie lautet diese?“
„Ich könnte es nicht ertragen, noch einmal eine Frau wie Claris an meiner Seite zu wissen. Aus bitterer Erfahrung weiß ich, wie leicht das Gefühl, das wir Liebe nennen, zur Selbstzerstörung führen kann.“
„Das Leben hat Sie bitter gemacht“, stellte Sir James fest. „Andererseits sollten Sie wissen, daß Sie Dinge erlebt haben, die vielleicht einem Mann unter Millionen zustoßen.“
„Hoffentlich stimmt diese Zahl“, bemerkte Lord Colwall ironisch.
„Da Sie inzwischen älter und klüger geworden sind“, fuhr Sir James fort, „sollten Sie die Vergangenheit zu vergessen suchen. Sie haben noch Ihr ganzes Leben vor sich. Sie besitzen eine Stellung, um die viele Menschen Sie beneiden. Ihre Güter dürften in ganz England nicht ihresgleichen finden, und Sie tragen einen Namen, den man weit und breit respektiert.“
„So ist es!“ rief der junge Mann. „Und weil ich wie ein Narr die Ehre meiner Familie einmal aufs Spiel gesetzt habe, werde ich diesen Fehler nicht noch einmal begehen.“
„Wir alle machen Fehler“, sagte Sir James ruhig. „Ich habe immer gehofft, daß die Zeit Ihre Wunden heilt.“
„Als ich die Wahrheit über Claris herausfand, habe ich mir geschworen, mich nie wieder zu verlieben“, rief sein Gesprächspartner heftig aus. „Dieses Gelöbnis werde ich bis ans Ende meiner Tage halten.“
„Und trotzdem wollen Sie heiraten?“
„Den Grund dafür habe ich Ihnen doch bereits genannt. Vor drei Jahren wählte ich eine Braut, die damals erst fünfzehn Jahre alt war. In diesem Augenblick dürfte sie sich auf dem Weg von Cumberland, wo sie bisher gelebt hat, zu meinem Schloß befinden. Sie wird am Mittwoch dort eintreffen. Die Trauungszeremonie ist für den folgenden Tag vorgesehen.“
„Auf welche Weise haben Sie ein fünfzehnjähriges Mädchen ausgewählt?“
„Ich stellte eine Liste von Verwandten und Bekannten zusammen, die Töchter im entsprechenden Alter hatten. Auf meiner Rundreise kam ich schließlich nach Pooley Bridge, wo die zweite Kusine meines Vaters, Lady Margaret Graystoke lebt. Ihre Tochter schien allen Anforderungen zu entsprechen, die ich an meine zukünftige Frau stellen muß. Die Graystokes sind eine alte und angesehene Familie. Sie haben zwar kein Geld, genießen jedoch einen untadeligen Ruf.“
„Wollen Sie damit andeuten, daß Sie sich Ihre Braut ausgesucht haben, als ob Sie ein Pferd kaufen wollten? Weiß das Mädchen davon?“
„Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich vor drei Jahren dem Pfarrhaus ihres Vaters einen Besuch abstattete.“
„Und wie war das Mädchen, das Sie nur einmal als halbes Kind gesehen haben?“
„Ganz nett“, erwiderte Lord Colwall gleichmütig, ,,und ohne auffallende körperliche Vorzüge. Da sie aus einem armen Pfarrhaus stammt, dürfte sie sich geehrt fühlen, Herrin von Schloß Colwall zu werden.“
„Mit anderen Worten: Sie sind sicher, daß sie sich Ihnen als Gegengabe für Ihren Titel und Ihre Stellung verkauft, während Sie in ihr lediglich die Mutter Ihrer Kinder sehen.“
„Eine Vernunftehe verspricht mehr Aussicht auf Erfolg als eine, die auf klopfende Herzen und heiße Liebesschwüre gebaut ist.“
„So etwas Widernatürliches habe ich noch nie gehört“, rief Sir James aufgebracht. „Hören Sie mir einmal einen Augenblick zu, Ralph.“
„Ich höre.“
„Sie sind ein sehr attraktiver junger Mann. Es dürfte weit und breit kaum eine junge Frau geben, die Ihnen nicht bei der leisesten Ermutigung in die Arme fallen würde. Aber ich habe mir erzählen lassen, daß Sie jeden Annäherungsversuch im Keim ersticken. Dabei hat es doch mit Sicherheit in London Frauen gegeben, deren Gesellschaft Sie sich erfreut haben.“
Mit einem zynischen Lächeln erwiderte der junge Mann: „Viele, aber sie waren weder der Herkunft noch der Erziehung nach geeignet, am Kopfende meiner Tafel zu residieren. Obwohl sie meine Sinne erfreuten, ist es mir niemals schwer gefallen, mich wieder von ihnen zu trennen.“
„Du lieber Himmel, Ralph, auch in Ihnen muß doch ein Herz schlagen.“
„Ein Herz?“ fragte Lord Colwall spöttisch. „Ich kann Ihnen versichern, daß ich mich dieses überflüssigen Organs entledigt und es durch einen Stein ersetzt habe. Natürlich habe ich wie jeder Mann gewisse Bedürfnisse. Gegen weibliche Schmeicheleien und Liebesschwüre bin ich jedoch immun.“
„Und in diesem Zustand wollen Sie den Rest Ihres Lebens verbringen?“ fragte Sir James.
„Warum nicht?“ erwiderte sein Gegenüber. „Die Leute bezeichnen mich als einen harten Mann, und das stimmt. Ich bin hart und rücksichtslos. Und ich gedenke es zu bleiben. Ich will nicht noch einmal von einer berechnenden Frau eingefangen werden, die sich meinen Rang und Namen in den Kopf gesetzt hat.“
„Es dürfte einer Frau nicht schwer fallen, Sie um Ihrer selbst willen zu lieben“, stellte Sir James ruhig fest.
„In dieser Beziehung irren Sie sich. Keine Frau wird mich lieben, weil ich es nicht zulassen werde. Ich genieße ihren Körper, wenn er mir gefällt, aber ich bin weder an ihrem Geist noch ihren Gefühlen, geschweige denn an ihrer Zuneigung interessiert.“
Sir James seufzte tief.
„Sie waren eines der nettesten Kinder, das ich je gekannt habe, und sind zu einem vielversprechenden jungen Mann herangewachsen. Ich würde meine rechte Hand dafür geben, wenn ich die Tragödie ungeschehen machen könnte, die Ihren Charakter verändert hat.“
„Aber sie ist nun einmal geschehen“, sagte Lord Colwall, „und sie hat, wie Sie ganz richtig sagen, meinen Charakter und meine Weltanschauung verändert. Jetzt muß ich mein Leben so leben, wie ich es für richtig halte.“
„Und wie steht es um dieses Mädchen, das Sie zu heiraten gedenken?“
„Ohne Zweifel haben ihre Eltern ihr die Augen für die Vorteile einer solchen Verbindung geöffnet. Ich habe nämlich während der letzten Jahre eine beträchtliche Summe für ihre Erziehung beigesteuert.“
„Sie wollten also eine gebildete Frau?“
„Nicht meinetwegen“, erklärte der junge Mann. „Aber die zukünftige Mutter meiner Kinder muß kultiviert und belesen sein, da sie schließlich ihre erste Lehrerin sein wird.“
Die Männer schwiegen eine Weile.
Dann sagte Sir James: „Es ist sehr schade, daß Sie Ihre eigene Mutter nicht gekannt haben. Sie war sehr schön, sehr gut und sehr einfühlsam. Wenn sie noch am Leben gewesen wäre, hätte Claris Sie vermutlich nicht täuschen können.“
„Sie starb, als ich knapp ein Jahr alt war“, entgegnete Lord Colwall. „Ich kann mich daher nicht an sie erinnern. Um so deutlicher steht mir mein Vater vor Augen. Achtzehn Jahre habe ich unter seiner Strenge und Gleichgültigkeit gelitten.“
„Nach dem Tod Ihrer Mutter ist er nie mehr der gleiche Mensch gewesen“, erklärte Sir James. „Er machte Sie dafür verantwortlich, daß seine Frau sich von ihrem schweren Kindbett nie mehr erholte, was natürlich ungerecht war.“
„Das bestärkt mich nur in meinem Vorsatz, einer besitzergreifenden oder fordernden Liebe um jeden Preis aus dem Weg zu gehen.“
„Vielleicht wird Ihnen das eines Tages nicht gelingen“, sagte Sir James. „Irgendwann im Leben packt es beinahe jeden von uns.“
„Sie leben im Wolkenkuckucksheim“, rief Lord Colwall verächtlich. „Nachdem Sie jetzt die Wahrheit über meine bevorstehende Eheschließung wissen, möchte ich Sie noch einmal fragen, ob Sie als mein Trauzeuge fungieren wollen.“
„Ich tue Ihnen jeden Gefallen, mein Junge“, antwortete sein Gönner. „Deshalb bin ich aber nicht weniger besorgt um Ihre Zukunft.“
„Überlassen Sie das mir“, sagte der junge Mann. „Die Trauung wird am frühen Nachmittag stattfinden. Um fünf Uhr werden wir uns zu einem Hochzeitsfest nach mittelalterlichem Brauch versammeln.“
Sir James gab seiner Verwunderung Ausdruck.
„Ich hatte einige Schwierigkeiten, in unseren Archiven das Vorbild für die Hochzeit zu finden, die im Schloß gefeiert wurde. Üblicherweise findet der Empfang im Haus der Braut statt. Aber im Jahre 1496 heiratete Randolph, der älteste Sohn von Sir Hereward Colwall, im Schloß eine Frau, die aus Northumberland stammte. Das scheint mir ein gutes Vorzeichen, da meine Braut aus Cumberland kommt.“
„Waren sie glücklich?“ fragte Sir James.
„Da sie elf Kinder hatten, ist ihnen wohl nichts anderes übrig geblieben“, erwiderte Lord Colwall spöttisch.
„Dann kann ich nur Ihretwegen hoffen, daß sich die Geschichte wiederholt“, meinte Sir James ohne Überzeugung.
Die Kutsche fuhr auf der Landstraße schneller dahin, als es während der letzten Tage möglich gewesen war. Reverend Adolphus Graystoke hatte die lange Reise ermüdend gefunden, während seine Tochter noch heiterer und hochgestimmter war als zu Beginn der Fahrt. Es gab unterwegs nichts, was Natalias Interesse nicht erregte. Selbst die anfangs schlechten, regennassen Straßen hatten sie nicht entmutigt.
Das war nicht zuletzt Lord Colwalls gut gefederter Kutsche zu verdanken. Als sie vor dem Pfarrhaus hielt, hatten die vier stolzen Rosse die Bewunderung des ganzen Dorfes erregt. Selbst der Vikar war von dem Luxus überwältigt, in dem sie reisten. An jeder Poststation wurden sie von frischen Pferden seiner Lordschaft erwartet. Es wurde immer wieder ein Halt eingelegt, um die Reise zu erleichtern. Ein zweiter Wagen mit Dienerschaft und Gepäck fuhr voraus, so daß bei ihrem Eintreffen alles vorbereitet war.
Bei ihrem ersten Aufenthalt führte sie ein katzbuckelnder Wirt zunächst in einen privaten Salon. Oben im Schlafzimmer stellte Natalia fest, daß eine Zofe bereits einen ihrer Koffer ausgepackt hatte und ein Kammerdiener sich um das Wohl ihres Vaters kümmerte.
Das Mädchen bewunderte eine Vase mit frischen Blumen. Davor auf dem Tisch lehnte eine Visitenkarte Lord Colwalls. Diese Aufmerksamkeit erwartete sie, wo immer sie übernachteten. Sie konnte sich beim Anblick der Blumen des Gefühls nicht erwehren, daß sie ihr etwas Besonderes zu sagen hatten. Die Visitenkarten sammelte sie sorgfältig in ihrer Tasche.
Lord Colwall hatte nicht nur seine Kutsche, Pferde und Diener nach Pooley Bridge gesandt. Eine Woche vor Natalias Abreise traf eine Truhe ein, die neue Kleider und einen mit Hermelin gefütterten Mantel enthielt. Natalia war von diesem herrlichen Geschenk so überwältigt, daß sie den merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter nicht bemerkte.
Natalias Garderobe, die von einer Schneiderin in der Bond Street angefertigt worden war, sollte das Mädchen im Schloß vorfinden. Lord Colwall hatte an Lady Margaret folgendes geschrieben:
Es dürfte für Sie im Norden kaum möglich sein, die für meine Frau passende Garderobe zu beschaffen. Ich habe daher Madame Madeleine die entsprechenden Anweisungen erteilt. Bitte senden Sie die erforderlichen Maße an die beigefügte Adresse.
„Ich hätte es vorgezogen, Natalia selbst auszustatten“, sagte Lady Margaret zu ihrem Mann.
„Colwall weiß, daß wir in der Provinz leben“, erwiderte der Vikar. „Und um ehrlich zu sein, meine Liebe, es wäre mir schwer gefallen, dafür das notwendige Geld aufzutreiben.“
„Wenn doch Mama bei uns sein könnte“, rief Natalia, als sie aus dem Kutschenfenster blickte. „Denk nur, wie sehr sie sich gefreut hätte, den Süden wiederzusehen.“
„Deine Mutter ist vor allem enttäuscht, bei deiner Trauung nicht anwesend zu sein.“
„Die Ärmste hat bei unserer Abreise geweint“, stellte Natalia betrübt fest. „Am liebsten wäre ich aus der Kutsche gesprungen und hätte Seiner Lordschaft eine Nachricht zukommen lassen, daß ich es wie andere Bräute vorziehen würde, in meinem Elternhaus zu heiraten.“
„Er konnte nicht voraussehen, daß deine Mutter sich eine Woche vor unserem Aufbruch den Knöchel brechen würde.“
„Natürlich nicht“, stimmte seine Tochter zu. „Und wie Mama selbst gesagt hat, war es dann zu spät, alle Pläne zu ändern.“
Trotzdem war ihr Kummer groß, weil sie wußte, wie tief ihre Mutter enttäuscht gewesen war.
Mit tapferer Miene hatte sie behauptet: „Mach dir keinen Kummer, Liebling. Ich werde mich inzwischen um die Gemeinde kümmern und auf die Rückkehr deines Vaters warten. Ich werde ihn vermissen, dich übrigens nicht weniger.“
Natalia wußte, wie sehr das der Wahrheit entsprach. Ihre Eltern liebten sich innig und fanden es schwer, auch nur einen Tag voneinander getrennt zu sein.
Das Pfarrhaus am See von Ullswater war dem Mädchen stets als der schönste Platz der Welt erschienen. Wenn sie morgens aufwachte, sah sie durch ihr Schlafzimmerfenster zwei Berge, deren kahle und schroffe Gipfel wie Silhouetten in den Himmel ragten.
Als sie erfuhr, daß ihre Trauung in Schloß Colwall stattfinden sollte, war sie bitter enttäuscht gewesen. Sie hatte so oft an den Helden ihrer Träume gedacht, daß er für sie zu einem Teil der Schönheit des Sees und der Berge geworden war. Sie fand es schwer, sich Lord Colwall anders vorzustellen, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
Er war durch den vom See aufsteigenden Morgennebel auf sie zugekommen. Die Berge hinter ihm erweckten den Eindruck, als sei er aus ihrer Phantasie in die Wirklichkeit ihres Lebens getreten. Es war einer jener Tage, an denen die Welt stillzustehen schien.
Natalia war auf dem Heimweg von ihrem Besuch in einem Haus am Rande des Dorfes. Der Korb an ihrem Arm war leer. Ihre Mutter hatte durch sie einem Kranken stärkende Suppe und hausgemachte Marmelade geschickt.
Vor dem Pfarrhaus stand ein eleganter Reisewagen mit vier herrlichen Pferden davor. In diesem Augenblick drehte sich ein Mann um, der gedankenversunken am Ufer des Sees gestanden hatte. Sein Anblick verwirrte Natalia so sehr, daß sie ihn unverwandt anstarrte. Noch nie im Leben war ihr ein so gutaussehender Mann begegnet.
Ein Reisemantel lag lässig um seine Schultern. Das dunkle Haar fiel ihm in die Stirn, da er den hohen Hut in der Hand trug. Ohne sie zu beachten, ging er an ihr vorbei. Als sie schon glaubte, daß er in die Kutsche steigen wollte, öffnete zu ihrem Erstaunen ein Reitknecht das Tor zum Pfarrgarten, lief seinem Herrn voraus und klopfte an die Tür ihres Elternhauses.
Natalia trat durch die Hintertür in die Küche, stellte dort ihren leeren Korb auf den Boden und ging nach oben in ihr Zimmer, um sich umzukleiden. Mit ihren fünfzehn Jahren besaß sie noch nicht allzu viel Garderobe. Die Wahl fiel ihr deshalb leicht. Sie schlüpfte in ein blaues Baumwollkleid mit weitem Rock und einer Satinschärpe, das sie sonntags trug, und kämmte schnell ihr Haar.
Neugierig spähte sie durch ihr Schlafzimmerfenster, ob die Pferde noch draußen warteten. Bei dem Gedanken, einem so eindrucksvollen und offensichtlich bedeutenden Mann, der außerdem so gut aussah, gegenüberzutreten, wurde ihr beklommen zumute.
Vielleicht gibt es ihn gar nicht, versuchte sie sich einzureden, vielleicht habe ich ihn nur geträumt. Ihre Mutter hatte sie oft gescholten, daß ihre Einbildungskraft mit ihr durchging und sie die Welt mit den Helden bevölkerte, über die sie in den Büchern ihres Vaters gelesen hatte. In ihrer Phantasie lebten die Götter und Göttinnen des Olymp in den Bergen jenseits des Sees. Manchmal glaubte sie auf ihren Spaziergängen Apoll begegnet zu sein.
„Du solltest dem Kind nicht den Kopf mit diesen Sagengestalten vollstopfen“, hatte Lady Margaret einmal tadelnd zu ihrem Mann bemerkt. „Es wäre besser, wenn sie sich mit Mrs. Warners Rheumatismus oder Jonny Lovells Masern beschäftigte.“
Ihr Vater hatte schallend gelacht, deshalb aber keineswegs aufgehört, Natalia mit seinen geliebten Sagen vertraut zu machen. Gleichzeitig erzählte er ihr von Alexander dem Großen, den Philosophen des griechischen Altertums und den Eroberungen Hannibals.
Als Natalia Lord Colwall zu Gesicht bekam, rührte sein ausdrucksvolles Gesicht an eine Saite in ihrem Inneren. Er war weder ein griechischer Gott noch einer der großen Eroberer der Geschichte, er war niemand anders als ihr Ritter.
Auch diese Idee hatte ihr natürlich der Reverend in den Kopf gesetzt. Sie war damals zwölf Jahre alt und ging mit ihrem Vater am See spazieren. An den silbernen Birken brachen die ersten Knospen auf. Ein frischer Wind kräuselte die Oberfläche des Wassers. Über den Bergen hatten sich dunkle Wolken zusammengeballt.
Aber Natalia hatte nur Ohren für das, was ihr Vater von den Kreuzrittern erzählte. Als guter Rhetoriker verstand er es, ihr die Begeisterung zu erklären, die den Adel Englands und anderer christlicher Länder dazu beflügelt hatte, sich in das Heilige Land aufzumachen, um die Stadt Jerusalem zu verteidigen. Sie schwärmte für den Anführer des englischen Kreuzfahrers Richard Löwenherz. Ihre Augen strahlten bei der Geschichte der Ritter, die in Jerusalem ein Hospiz für christliche Pilger gegründet hatten und dann zuerst nach Rhodos und später nach Malta vertrieben worden waren. Von dieser kleinen Insel aus hatten sie gegen die ungläubigen Seeräuber gekämpft, die das Mittelmeer unsicher machten und allein in Algerien einmal mehr als fünfundzwanzigtausend Christen gefangen hielten.
Der Reverend schilderte in leuchtenden Farben die Burgen, die die Ritter auf Rhodos und Malta erbaut hatten, und beschrieb ihr die Männer, die nicht nur großen Mut, sondern auch Kultur und Intelligenz besaßen und aus den edelsten Häusern Europas stammten. Schließlich beendete er betrübt seine Geschichte.
„Vor sechzehn Jahren hat dann Napoleon Malta erobert, die Ritter vertrieben und ihre in Jahrzehnten angesammelten Kunstschätze gestohlen. Doch der Orden lebt weiter und mit ihm die Ideale, für die er gekämpft hat.“
„Darüber bin ich sehr froh“, rief das Mädchen. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn die Heldentaten der Ritter umsonst gewesen wären.“
„In unserem Herzen werden sie weiterleben und ihr Beispiel sollte uns alle beflügeln, gegen das Böse zu kämpfen. Wir akzeptieren viel zu leicht die Verhältnisse, wie sie sind, anstatt den Versuch zu machen, sie zu bessern.“
„Aber Papa, du predigst doch ständig in der Kirche, daß wir unsere Feinde lieben sollen.“
„Das darf aber nicht dazu führen, daß wir davor zurückschrecken, Übeltäter zu verurteilen.“ Er machte eine Pause und fuhr dann mit einem leisen Lächeln fort. „Ich habe manchmal darüber nachgedacht, ob wir richtig daran tun, wenn wir den Kindern erzählen, daß sie einen Schutzengel haben.“
„Was wäre denn deiner Ansicht nach besser?“
„Statt ihnen einen sanften Schutzengel mit weißen Flügeln vor Augen zu halten, sollten wir ihnen sagen, daß für jeden von uns ein Ritter gegen das Böse kämpft.“
Danach fürchtete sich Natalia niemals mehr, wenn sie allein durch den Wald ging oder sich ihren Weg durch den Nebel suchen mußte, der manchmal unerwartet vom See aufstieg. Sie wußte, daß ihr Ritter sie begleitete und beschützte.
Als sie ins Wohnzimmer gerufen wurde und vor dem hochgewachsenen Fremden stand, den ihre Mutter als Verwandten vorstellte, erkannte sie ihn daher auf der Stelle. Er sah genauso aus, wie sie sich ihren Ritter erträumt hatte.
„Dies ist unsere Natalia“, hörte sie ihre Mutter sagen. „Sie ist erst fünfzehn Jahre alt und unser einziges Kind. Wir tun aber unser Bestes, sie nicht allzu sehr zu verwöhnen.“
Natalia hatte den Eindruck, daß er sie forschend anblickte. Seine Augen schienen tief in ihr Herz zu dringen. Sie machte einen Knicks, wobei sie den Blick nicht von ihm wenden konnte und auch nicht die Lider senkte, wie sie es hätte tun sollen.
„Ich würde es vorziehen, jetzt mit Ihnen und Ihrem Gatten allein zu sprechen“, wandte Lord Colwall sich an Lady Margaret. Diese schickte Natalia hinaus.
„Liebling, du findest sicher im Garten etwas zu tun. Ich werde dich rufen, wenn Seine Lordschaft uns wieder verläßt, damit du dich von ihm verabschieden kannst.“
Mit einiger Mühe fand Natalia ihre Stimme wieder.
„Darf ich mir einstweilen Ihre Pferde ansehen?“ fragte sie den Besucher.
„Mögen Sie denn Pferde?“ fragte dieser.
„Ich liebe sie.“
„Dann werde ich Ihnen eines schicken.“
Sie blickte ihn überrascht an.
„Sie wollen mir ein Pferd schenken? Eines das denen da draußen gleicht?“
„Ein besseres.“
Sie verließ das Zimmer. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie konnte kaum glauben, daß sie ihn richtig verstanden hatte.
Als einen Monat später tatsächlich ein Pferd eintraf, bestärkte sie das nur in ihrem Glauben, daß Lord Colwall der Ritter war, der zu ihrem Schutz ausersehen war und der sie unbeschreiblich glücklich machen würde.
Ihre Eltern hatten ihr während der folgenden zwei Jahre nicht erzählt, daß an jenem Nachmittag ihre Zukunft entschieden worden war. Sie wußte nur, daß sich seitdem ihr ganzes Leben geändert hatte.