Einsetzung eines Königs - Arnold Zweig - E-Book

Einsetzung eines Königs E-Book

Arnold Zweig

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Beschreibung

Zweigs großer Roman über den verzweifelten Kampf um Menschlichkeit und Liebe im Krieg.

Es ist Frühjahr 1918. Hauptmann Paul Winfried, ehemaliger Kunststudent und Neffe des Generals von Lychow, ist mit patriotischen Idealen in den Krieg gezogen. Nun werden ihm im Dschungel politischer Intrigen die Augen geöffnet. Winfried gerät zwischen die Mühlsteine jener Interessengruppen, die um wirtschaftliche und politische Einflußsphären kämpfen. Demonstrativ sagt er sich von dieser Welt los. Auch sein Traum vom persönlichen Glück wird zerstört.

Zweig arbeitete an diesem Roman zwischen 1932 und 1937 in seinem Exil in Palästina. Er zeigt die Intensität antisemitischer Strömungen im deutschen Heer und gibt ein genaues Bild jüdischen Lebens in Litauen, das einige Jahre später ausgelöscht werden sollte. 

In der authentischen Fassung der Erstausgabe von 1937 erscheint »Einsetzung eines Königs« hier wieder ohne die Eingriffe der DDR-Zensur. Der Roman schließt unmittelbar an Zweigs Welterfolg »Der Streit um den Sergeanten Grischa« an.


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Seitenzahl: 921

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Arnold Zweig

Einsetzung eines Königs

Roman

Impressum

Textgrundlage:

Arnold Zweig. Berliner Ausgabe.

Herausgegeben von der Humboldt-Universität zu Berlin und der Akademie der Künste, Berlin.

Romane/6. Aufbau-Verlag, Berlin 2004.

Die Ausgabe folgt der Erstausgabe von 1937.

Bandbearbeitung Holger Brohm

ISBN 978-3-8412-0444-8

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, April 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Bei Aufbau erstmals 1950 erschienen; Aufbau ist

eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über dasInternet.

Umschlaggestaltung Torten Lemme

unter Verwendung einer Pastellkreidezeichnung von Ute Henkel

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

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Impressum

Inhaltsübersicht

Das Fell des Bären

Das Grundwasser

Neue Kronen

Sondierung

Oberst Mutius

Ostpolitik

Der Alte und der Junge

Nach des Tages Arbeit

Strom, Gegenstrom

Eine Abteilung von Ober-Ost

Für Teck

Gespräch nach Tisch

Café Conrad

Herr und Diener

Botschaft aus Merwinsk

Leutnant Perl

Die Haltbarkeit der Wolken

Fahrt nach innen

Liebe

Die Auskunft

Der Geist von Wilna

Clauss

General Clauss kondoliert

Ausritt

Die rote Lampe

Leda erschrickt

Buchenegger

Erste Probe

Die Früchte des Sieges

Fronleichnam

Bärbe

Babka

Herr Sasnauskas

Der Auftrag

Hemmerle

Im Mitternachtslicht

Stromfahrt

Selbstbestimmung

Drei Feldwebel

Es wird ernst

Ein Höhepunkt

Männer unter sich

Heiße Nächte

Auf der Weiche

Der Wind schlägt um

Lebehdes leise Hand

Im Anhauch des Geistes

Böse Sterne

Jagdgäste

Militärs nehmen Deckung

Das Menschliche

Frau Ministerialrat empfiehlt sich

Es blitzt

Aus dem Schlamm

Am Wildinger See

Briefsteller für Liebende

Das Testament

Im Netz der Ursachen

Der Bericht

Winfried steigt um

Aus den Nebeln

Die Träume der Jugend

Abgesang: Der Sektkelch des Lebens

Nachbemerkung

Anhang

[Synopse des Romans]

[General Clauß wird Armee-Inspektor … – Notiz zur Fabel]

[Ein Läufer – frühe Fassung des Romananfangs]

[Begegnung im Treppenhaus – gestrichenes Kapitel im früheren 4. Buch]

[Ein starker Esser – nicht verwendetes Kapitel]

Profil eines Feldherrn

[Bloß Pferde – nicht verwendetes Kapitel]

[Waschzettel-Entwurf]

Anmerkungen

Entstehung und Wirkung

Anmerkungen

Editorische Notiz

Bandeinteilung

Für Sigmund Freud

Erstes Buch

Das Fell des Bären

Erstes Kapitel

Das Grundwasser

Die Ordonnanz Lebehde von Abteilung Fünf, Ober-Ost, eine schildlose Mütze in die Stirn gedrückt, läuft durch die Nacht, stramm und soldatisch, Koppel überm Mantel, eine dünne Aktenmappe unterm Arm. Die Straßen der Stadt Kowno sind mäßig beleuchtet und ganz leer. Nach sieben Uhr bedarf es eines besonderen Erlaubnisscheins, wenn Bürger sich außerhalb des Hauses aufhalten wollen; man spielt Feindesland, und ein aufgeweckter Soldat wie der Gefreite Lebehde weiß das längst. Manche spielen mit, manche grinsen darüber oder zucken die Achseln; man spielt ja auch, denkt der laufende Mann, mit ihnen Heer im Kriege, während sie doch nur noch verhaftetes Zivil sind, beschlagnahmtes Volk, zu Kriegsdiensten gepreßt von den herrschenden Klassen, den Fürsten, Fabrikherren, Beamten, Berufsoffizieren, Junkern, Bankleuten, Oberlehrern, Pastoren, Zeitungsschreibern und ihren Weibern, ihrem Anhang. Die sitzen beisammen und sichern ihrer Kaste die Macht; die stänkern gegeneinander, aber im Ernstfall halten sie sich wechselseitig im Gleichgewicht wie eine Doppelmannschaft beim Tauziehen. Die nämlich zerrt auch hin und her, her und hin, aber sie kennt die Spielregeln, gibt nicht nach. Erst wenn die eine losläßt, fällt die andere auf den Hintern; das Tau wird frei, und vielleicht können dann Leute mit diesem Tau etwas Vernünftiges anfangen.

Die Nacht ist schneidend kalt. Nordwind bläst von der Ostsee her, aber dem Mann Lebehde ist warm unterm Mantel trotz seiner grimmigen Gedanken, wegen ihrer. Daß er den ollen Bertin entdeckte, als er nach dem Dienst das neueste Verordnungsblatt studierte, die Rubrik »Kommandiert und versetzt« – entdeckte, nicht in einem unbekannten Merwinsk, sondern hier in Kowno, um die Ecke, das ist in ihm hochgeschossen wie ein Springbrunnen und wieder hinuntergeflossen, als wäre der Springbrunnen aus Schnaps. Und darum hat er sich gleich gemeldet, als die Registratur noch jetzt, spät abends, eine »geheime Dienstanweisung« an die Presseabteilung schicken wollte. Sie haben viel miteinander durchgemacht, der Referendar Bertin und der Gastwirt Lebehde. Aber einmal getrennt, pflegen Mannschaften Briefe nicht zu wechseln. Ja, der Bertin. Wer weiß, wie der sich hier entwickelt hat. Vielleicht ist er wieder auf den Schwindel hereingefallen, die rauhe Wirklichkeit von Verdun und der Armierung vergessend; vielleicht war er, Karl Lebehde, einfach ein Idiot, mit seiner Dienstanweisung loszustürzen wie ein Bräutigam und auf eine Braut zu treffen, die ihm bloß eine kalte Schulter zeigen wird.

Im Erdgeschoß der Presseabteilung kennt er sich aus, der Ordonnanzdienst zwischen den beiden Häusern ist rege, der Aktenumlauf dicht. Lebehde wendet sich nicht links (Registratur), sondern geradeaus, nach der Milchglastür, hinter der noch Maschinen klappern. Die Nachrichtenstelle der Presseabteilung ist Tag und Nacht mobil. Nachts hat sie oft Hochbetrieb, da schwirren die Telefondrähte von all dem durchgegebenen Stoff, den Stenographen in den Aufnahmezellen werden die Ohren heiß unter den Metallbügeln mit den Schalldosen, diktierend schreiten Unteroffiziere zwischen Tischen hin und her, an denen andere Diensttuende, auch Gefreite und Gemeine, das empfangene Material in Wachsplatten schreiben. Noch in der Nacht läuft es durch die Walzen, frühmorgens hat der ganze Stab, hat auch die Kownoer Zeitung das Neueste aus aller Welt, soweit es deutschen Köpfen erreichbar ist oder für deutsche Herzen taugt …

Karl Lebehde öffnet die Tür, tritt ins grün überschattete Licht der Bürolampen, hält aber gleich inne, merkt eine befremdliche Erstarrung in dem sonst so geschäftigen Raum mit den längs und quer stehenden großen Tischen. Nur die Schreibmaschine des Wachsplattenschreibers Nentwich knattert dumpf, nur die diktierende Stimme des Unteroffiziers Haller spricht. Gleichmäßig verliest er aus dem Stenogramm, was vorhin sein gehaltenes vernünftiges Gemüt aufnahm. Abgewandt, am äußersten Ende des Raumes steht einer im Mantel, der ihm offen von den Schultern hängt. Auch er hört zu, gestützt auf den Tisch und die Papiere, die er überfliegen wollte. Lebehde sieht nur seinen geschorenen Hinterkopf, leicht abstehende Ohren, seinen eckigen Rücken.

»Die Antwort der russischen Regierung auf die erneuten ultimativen Friedensbedingungen dürfte im Laufe der Nacht eintreffen. Nach privaten Meldungen aus Petersburg erscheint ihre Annahme gesichert, da sonst die bolschewistische Regierung ihren Halt unter den Massen verlöre. Verlöre«, wiederholt Haller auf einen fragenden Gesichtsausdruck des schreibenden Nentwich, dem man, er weiß es, manchmal nachhelfen muß. Die stillen Leute hier tragen über ihren Uniformen die Gesichter des deutschen Durchschnitts, mehr oder weniger zerdrückt und entstellt durch das Leben in abhängiger Lage und drei Jahre Krieg. Aber gerade darum vertreten sie, wie sie hier lauschen und um Verständnis ringen, das ganze deutsche Riesenheer, das Volk, ja die Männer und selbst die Frauen, die Kinder und die Ungeborenen aller europäischen Schichten und Klassen, die nicht mitbestimmen dürfen über ihr eigenes Geschick, sondern über die beschlossen und verkündet wird. So drängen sich mit ihnen und durch sie vertreten Millionen und Scharen von Millionen unsichtbar um den Unteroffizier Haller, gierig nach seinen Worten, die das Schicksal enthalten. Rußlands? Nicht nur Rußlands.

»Es versteht sich von selbst, daß die Annahme der erneuten und zu unserem Bedauern verschärften Bedingungen dem Rat der Volkskommissare nicht leicht fällt. Einsichtige russische Kreise geben aber zu, daß das Verhalten der Sowjet-Delegation die Geduld unserer Unterhändler wie die der verbündeten Regierungen auf härteste Proben gestellt hat, und daß es nur den Manövern des Volkskommissars Trotzki zuzuschreiben ist, wenn der Friedensschluß nicht auf der milderen Basis der Anfangswochen und der guten Brest-Litowsker Beziehungen zustande kam. Die neuen Bedingungen lauten wie folgt. Erstens: Zurückziehung der roten Truppen aus Finnland, Lettland und Estland. Zweitens: Anerkennung dieser baltischen Provinzen wie auch Kurlands, Litauens, Polens und der Ukraine als losgelöst vom russischen Reich auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker; keine Einmischung Rußlands in die Abmachungen der abgetrennten Gebiete mit dem Vierverband. Drittens: die Abtretung von Kars, Batum und Ardagan (Kaukasus) an die Türkei. Viertens: Vergütung der rückständigen Zinsen für russische Vorkriegsanleihen in deutschem und österreichischem Besitz durch Sicherstellung eines Goldschatzes von dreißig Millionen Rubeln bei der Reichsbank in Berlin. Fünftens: Austausch der Gefangenen unter Schonung unserer wirtschaftlichen Belange. – Neue Zeile. – Die Erbitterung der Ententepresse über den Frieden im Osten, dem hoffentlich bald der rumänische Friede folgen wird, gereicht unseren Erfolgen und unserer Mäßigung zu besonderer Genugtuung.«

»›Folgen‹ und ›Erfolg‹ klingt schlecht«, sagt der Mann mit dem Mantel zu seinem Tisch. »Hat Berlin so durchgegeben, bedaure«, antwortet Haller, hebt die Stimme und diktiert weiter: »Französische Blätter unterstreichen gehässig, daß in diesem ›Frieden ohne Annexionen‹ das russische Reich vier Prozent seines Bodens und sechsundzwanzig Prozent seiner Bevölkerung einbüße. Ebenso heftig greifen englische Stimmen die Passivität der eigenen und der verbündeten Regierungen gegenüber dieser deutsch-bolschewistischen Verschwörung an.«

»Allerhand«, murmelt der Gefreite Lebehde. Er läßt im Unklaren, was und wen er damit meint, und die gleiche Wortlosigkeit hängt im Raume. Alle diese Männer fühlen sich durch einen Widerspruch dumpf auseinandergezerrt. Sie begrüßen den Frieden, weil er ein Anfang ist, das große Schlachten zu beenden. Aber alle haben ihn seit Wochen voll Angst werden sehen: falls man nämlich selbständige Staaten gründete und das Besatzungsheer brotlos machte, fliegen sie alle in den großen Wurstkessel der Musterungen und dann nach Westen. Ihr Selbsterhaltungstrieb wird jetzt durch die Art befriedigt, mit der die Sache in Brest-Litowsk gefingert worden ist. Alles Schein und Schwindel, Aufrechterhaltung der Verwaltung, der Besetzung, eines großen Ostheers. Und dennoch spukt in den meisten ein Unbehagen, schlechtes Gewissen, Scham über den Mißbrauch, der hier getrieben wird. Die Presseabteilung ist nicht alldeutsch, wie ja das ganze Heer nicht alldeutsch ist. Aber sie ist deutsch, sie fügt sich der Macht, obwohl sie sie nicht für Recht hält, läßt fünfe grade sein, auch sieben oder neun, nimmt dazu keine Stellung.

Während Haller die Fortsetzung seiner Notizen im Block sucht, wendet sich der Gefreite Lebehde an den Nächstsitzenden, ob er wisse, wo im Quartier ein Landsturmmann Bertin läge, oder ob er noch im Hause arbeite, aus Zufall. »Telefoniert gerade mit Wilna«, sagt der Mann, der vor einiger Zeit aus dem großen Vermittlungsraum herübergekommen ist, um zuzuhören. »Unsinn«, sagt sein Nachbar, »steht ja dort, studiert die Ablage.« Gekränkt blickt der erste hin: wirklich der Redakteur Bertin – und vergißt alsbald den Zwischenfall.

Die ungeheure Angelegenheit, die hier in den nüchternen Sätzen des anständigen Haller, im Geklapper der Maschine des Gefreiten Nentwich Form erhält und der gesamten Bevölkerung des Ostens ihr Schicksal mitteilt, hat auch aus dem Gefreiten Lebehde die Absicht ausgetilgt, in der er herkam. Bertin? Wer ist Bertin? Die russischen Massen jenseits der Front sind etwas, sind da, verhungert, zerlumpt, zerfleischt, aufgefressen von der verrückten Politik fremder Kapitalisten und eigener Großfürsten, Rasputins und ähnlicher Schmarotzer – die russischen Genossen, die jetzt dabei sind, eine Notbrücke über den Blutsumpf zu legen – ohne Kleider, ohne Stiefel, ohne Mehl, Zucker, Fett, ohne Gewehre, ohne Pulver und ohne Eisenbahnwagen: Rußland kann nicht mehr, es will nicht mehr, es darf nicht mehr. Einer muß jetzt aufstehen und den Völkern zeigen, wie man Schluß macht. Der Gastwirt Lebehde sieht einen riesigen Bottich vor sich, in dem der russische Lehrtrank für die Völker gebraut wird – ein ungeheures Faß, in das dieser Bottich sich verwandelt, mit einem großen Zapfhahn; wünscht sich ein Bierseidel in die Hand, um zu dem Hahn zu stürzen und jedem Menschen rundum, jedem dieser schweigenden und zuhörenden Grauröcke ein solches Glas voll Wissen unter die Nase zu halten. Das ist ein großer Tag, dies leitet wirklich das Ende ein, ob die Jungens hier das wissen oder nicht. Was soll da der Gedanke an einen Mann namens Bertin, einen wohlwollenden Schwachkopf, der nur einmal aufbegehrt hat, im Lazarett von Dannevoux, es muß jetzt ein Jahr her sein?

Sonderbarerweise aber und zu seinem eigenen Erstaunen stößt ein Antrieb den Gefreiten Lebehde wie eine Billardkugel durch den Gang, hin ins Licht der Lampen, die über dem Ablagetisch besonders hell leuchten, und alle Menschen in diesem Raume gewahren ein vergnügtes Lächeln in den Grübchen seines angenehmen Gastwirtsgesichts.

»Na, Kamrad«, sagt er vertraulich, »kleiner Skat gefällig mit dem ollen Reinhold, dem gutmütigen Männchen?«

»Ist doch tot«, antwortet es aus Bertin, während er herumfährt und hoch. Landraub, Heuchelei und dennoch Frieden, hat er soeben gedacht, das könnte wirklich das Grundwasser aufrühren, das schwarze, schweigsame, unter den Häusern, unter dem Pflaster, unter den Feldern, unter den sichtbaren Flüssen. Dann erst erkennt er den Mann, packt ihn mit beiden Fäusten an den Achselklappen. »Lebehde«, ruft er, »Mensch, Lebehde! Wie, um Gotteswillen, kommst du in diese Bruchbude?« – »Wirst schon hören, Kamrad.« Und sie schütteln sich die Hände, sekundenlang umschließen dicke Finger schmale. Die Zuschauer staunen, freuen sich mit.

Dann wendet sich Lebehde an Haller und überreicht ihm soldatisch die Aktenmappe. Der blonde Unteroffizier bestätigt den Empfang durch Unterschrift, entnimmt ihr den Briefumschlag mit dem aufgedruckten Vermerk »Geheime Dienstanweisung«, reißt ihn auf und liest: »An alle Zensurstellen und Redaktionen, durch die Nachrichtenstelle der Presseabteilung. Über die für morgen Vormittag 10 h 30’ bei S. K. H., dem Herrn Oberbefehlshaber Ost, nach Krasny Dwor einberufene Besprechung darf weder an die reichsdeutsche noch an die Presse des besetzten Gebietes berichtet werden. Ihr Inhalt wird später bekannt gegeben. Kowno, 24. II. 1918. Gezeichnet: v. Ellendt.«

Unteroffizier Haller schüttelt bloß den Kopf. Als ob wir uns das nicht selber gesagt hätten, denkt er. Aber er weiß, daß im militärischen Obrigkeitsstaate immer derjenige dümmer ist oder dafür gilt, der das geringere Gehalt empfängt, und darum reicht er wortlos die leeren Aktendeckel dem Gefreiten Lebehde zurück, der sich inzwischen mit seinem Kameraden Bertin für eine spätere Gelegenheit verabredet hat und jetzt zurücktraben wird durch die sternlose Nacht, um im Kellergeschoß von Abteilung Fünf Erdäpfel zu kochen. Heute abend gibt es Pellkartoffeln und Hering.

Zweites Kapitel

Neue Kronen

»Um Litauen!« lächelt Oberst Mutius seinem Wirt zu, indem er ihm verbindlich das Glas entgegenhält. »Königliche Hoheit werden sich doch nicht um Litauen den Mittagsschlaf verderben!« Gebärde und Stimme des mageren Mannes mit dem dünnen Haar und der gebogenen Nase wirken zugleicherzeit devot und selbstzufrieden, also leicht reizend. Und der alte Prinz blinzt ihn auch ärgerlich aus den Winkeln seiner scharfen Äuglein an und brummt, während er seine hängende Unterlippe kaum bewegt: natürlich, den Herren von der Obersten Heeresleitung bedeute Litauen nicht viel mehr als ein Emmenthaler Käse; aber für Bayern wär es halt doch ein schöner Bissen gewesen. Nun, wenn sein Bruder Ludwig und sein Neffe Ruprecht sich lieber mit Elsaß-Lothringen abspeisen ließen, durfte er nicht raunzen. Aber schade sei’s doch. Und er saugt an seiner Zigarre, lehnt sich zurück, läßt für ein paar Sekunden die Lider fallen. Sogleich dämpft sich der Ton des Tischgesprächs, auch der Nachbar zur Rechten des greisen Feldmarschalls, der nicht minder greise Generaloberst von Lychow, fährt halblaut fort, sein Gegenüber auszufragen.

Sieben Herren in grauen Uniformen erfüllen den sechseckigen Raum, das Erdgeschoß des großen Eckturms von Schloß Krasny Dwor. Dumpf dringt Schneelicht durch die schmalen Fenster in den Riesenmauern, elektrische Lampen, an bronzenen Leuchtern befestigt, und einige Kerzen auf dem Tisch geben ihm Wärme und Farbe. (Im Dorfe Borky unten, das zu Krasny Dwor gehört, erzeugt die Maschine eines abgewrackten Lastwagens mittels eines kleinen Dynamos den elektrischen Strom.) Die Männer haben hier beraten und gefrühstückt, wie es sich für Herren schickt, denen das Wild des Feldes, die Milch der Rinder und die Früchte des Bodens untertan sind. Flaschen, dickbäuchige und schlanke, werden eben mit Kaffeetassen vertauscht; herb und vertraut mischt sich der Duft des schwarzen Getränks in den leichten Tabakrauch. Man hört die Ordonnanzen nicht, ein dicker afghanischer Teppich, sechseckig, legt den Fußboden aus und ergänzt die bucharischen Wandbehänge, die, dunkelbunt wie Kirchenfenster und ebenso kunstvoll erfunden, mit ihrem verschränkten Schwarzblau und Rot die Mauern verhüllen – die Grafen Tyschkiewicz, denen Schloß Krasny Dwor eigentlich gehört, sind ein reiches polnisches Geschlecht.

Lychows Gegenüber ist offenbar aufs Beste unterrichtet über die Friedensverhandlungen mit den Russen, die in Brest-Litowsk mit endlosem Gewäsch geführt und gottlob schließlich krachend abgebrochen wurden – ein riesengroßer Mann, mit breiten Schultern, prallen Wangen, ohne eine Spur von Bart und, unter schrägen Augenbrauen, spottlustig wie ein Primaner durch den randlosen Kneifer blickend. Das ist Generalmajor Clauss, Stabschef des alten Herrn, den er gewöhnlich S. K. H. nennt, wie ja auch die Oberste Heeresleitung immer nur als O. H. L. zitiert wird – vertraute Worte, die nur dem Unkundigen wie aus einer weltfernen Sprache entnommen klingen: eskaha … oha’ell … Drei Kriegsjahre lang kannten Clauss nur die Eingeweihten; jetzt rollt und glänzt sein Name durch die Welt. Denn er hat den Russen endlich Bescheid gesagt, die Tiraden des Herrn Trotzki ebenso zum Schweigen gebracht wie vorher die des Herrn Joffe. Den ganzen saudummen Agitatorenkram leicht und höhnisch mit dem Hinweis abgeblasen, daß hier doch schließlich jemand der Sieger sei. Diese Kleinigkeit war den Herren der roten Sündflut offenbar entfallen, als sie sich weigerten, den Friedensvertrag zu unterzeichnen und stürmisch, gekränkt heimfuhren, zu Mütterchen Rußland. Der Krieg hatte also wieder angefangen, allmählich hatten sie es gemerkt, und wir inzwischen Zeit gefunden, neue Tatsachen zu schaffen, neue Grenzen. Und er schildert, über der Tischkante wuchtend, die komische Atmosphäre in Brest-Litowsk, wo man verhandelte, um sich eine völlig niedergebrannte Stadt und vor der Nase Partner, die sich das Recht ausbedungen hatten, ihre Berichte in die Welt funken zu lassen, auf dunklen Ätherwellen und zum Schaden der Disziplin in allen Heeren der Christenheit.

An den Schmalseiten des Tisches sitzen die beiden Adjutanten, sehen einander an, trinken einander zu. Der bayrische Major, dem Prinzen Leopold gleichsam als persönlicher Sekretär beigegeben, betrachtet den jungen preußischen Hauptmann schwermütigen Herzens. Er gönnt ihm sehr, daß er sich noch des Lebens freut, da ihn sein Onkel Lychow rechtzeitig aus dem dreckigen Grabenkrieg beim sicheren Stabe geborgen hat. Vor ein paar Tagen hat er erfahren, daß wieder einer der Begabten und Seltenen vom Heldentod ereilt worden ist, und das tut weh. Dabei hätte der ganz leicht gerettet werden können. Aber er war der Neffe des bayrischen Kriegsministers, und der Hellingrath scheute aus begreiflichen Gründen, den Norbert aus der Front zu ziehen und sich den Landtagsabgeordneten ins Maulwerk zu liefern. Ja, da half nichts, da mußte der Bub eben hinwerden, wie schon Dutzende und Hunderte vorher, so wertvoll er auch war, ohne Furcht und Tadel. In seiner Briefmappe liegt das wütende Schreiben eines Münchener Philologieprofessors, der außer sich ist über diesen Verlust: »Dichtung und Wissenschaft trauern gleichmäßig um diesen edlen Geist …« Major von Krottmayr hat den Norbert immer gut begriffen, die Tragweite seiner Entdeckungen, wenn er mit neuentzifferten Gedichten des Friedrich Hölderlin ankam. Hätte der Hellingrath nicht ebensoviel unbekümmerten Schneid haben können wie der Lychow dort, der preußische Junker? Nur die Dreisten haben recht, die sich um Gewäsch nicht kümmern, mit der Faust auf den Tisch hauen und tun, was sie vor ihrem Gewissen verantworten können … Und er erstickt einen Seufzer und vertieft sich in seine Kaffeetasse, den geschwungenen Schnurrbart sorgfältig wegstreichend.

Blanken Auges sitzt Paul Winfried da, die russische Zigarette zwischen den Fingern, übermütig wie ein Schuljunge, der sich, man glaube es oder nicht, in den Rat der olympischen Götter geschmuggelt hat. Ja, er blickt verstohlen unter den Tisch, ob sich das Eisbärenfell, das die Füße des Prinzen wärmt, nicht manchmal in eine Wolke verwandele und diese hohe Tafelrunde am Ende drei- bis viertausend Meter über die demütigen Köpfe der Menschheit hebe. Was hat er nicht alles heute gehört! Der linke Flügel des Heeres zieht mit Schwung auf Dünaburg, Dorpat, Reval – ganz Estland, Lettland und Livland unter deutsche Befreiung und Herrschaft zu stellen. Von den baltischen Inseln aus – das Zusammenspiel mit den Marinefritzen ist gesichert – wird ein Vorstoß übers Eis geleitet werden, wie in sagenhaften Zeiten; später soll eine Heeresgruppe nordwärts nach Finnland durchstoßen und das Land von bolschewistischen Banden säubern. Und wenn die Russen nicht schleunigst klein beigeben, wird man sie in ihrem eigenen Neste aufstöbern und die Petrograder Bürger jubelnd aus den Fenstern winken sehen. Der rechte Flügel aber rückt auf Kiew – auf Kiew, auf Odessa, Gott weiß, wie weit. Und wer befehligt ihn? Heeresgruppe Lychow wird er heißen, die Ukraine einnehmen und der armen Rada oder Regierung schon helfen, den Sonderfrieden zu erfüllen, den sie selbständig in Brest-Litowsk geschlossen hat – und Weizen, Petroleum, Zucker, Tabak und Mais ins blockierte Deutschland schicken. Zwar haben dort die Österreicher ihre Hände schon angelegt, und obwohl diese Hände Glacéhandschuhe tragen, vermögen sie doch ganz nett zuzugreifen. Aber jetzt marschiert der Generaloberst von Lychow ein, an der Spitze seiner Pommern und Westpreußen, thüringischer Landwehr und märkischen Landsturms, mit Kanonen und Flugzeugen, Kavallerie voran. Österreichische Glacéhandschuhe – was vermögen die gegen preußische Fäuste. Und Paul Winfried betrachtet die festen Hände seines Onkels Lychow, die er gegen die Tischkante stemmt, blaugeäderte, kräftige Finger, die breiten Nägel kurz geschnitten. Der General Clauss scheint ihn besonders gut zu unterhalten; seltsam, wie in ihrer beider Augen das gleiche spöttische Funkeln liegt. Jetzt wendet sich sogar der Nebenmann des Herrn Clauss mit halbem Ohre dem Gespräch zu, und auch in seine Augen tritt das gleiche Spottlicht. Dieser Hauptmann Freiherr von Ellendt scheint Winfried die merkwürdigste Gestalt dieses ungewöhnlichen Kreises.

Ein geistreiches Gesicht, denkt er, häßlich mit dem vorgewölbten Mund und den Gruben unter den Augen; aber etwas Zartfühlendes liegt, wenn man so sagen darf, über diesen mageren Backen, und das gescheitelte Haar, grau überpudert, gibt den breiten Schläfen dieses Schädels eindrucksvolle Deutlichkeit. Alles an ihm befremdet den Neuling: sein Name, der den jungen Mann an die »Gegend von Schiercke und Elend« erinnert und also einen leisen Anflug von Goethes Faust heraufbringt; die Tatsache, daß dieser simple Hauptmann der Landwehr gleichberechtigt mitreden darf und sogar aufmerksamst angehört wird, wenn er seine schartigen Lippen auseinandertut unter dem braunblonden Barte. Aber auch seine Schweigsamkeit ist befremdend, und selbst die Art, wie er den langen Hals aus dem Kragen reckt und sein behaartes Ohr fast anmutig zu Clauss hinneigt. Ein sonderbarer Mann, denkt Winfried, ein gescheiter Mann, ein verschollener Kopf aus alten Zeiten. Früher, als es noch zu meinem Geschäft gehörte, Stöße von Kunstbildern durchzusehen und nicht die Gefechtsbücher unserer Bataillone, hatte ich Umgang mit solchen Gesichtern; sie waren aus Holz geschnitzt, trugen Spuren von Bemalung und stammten aus dem deutschen Mittelalter. Hier aber verblüfft einen solch ein Kopf … Was ist der Herr? Leiter der Abteilung Fünf Ob.-Ost? Was besagt das? Ob viel oder wenig, wer will das wissen? Daß aber dieser Mann hier etwas zu melden hat, fühlt ein Blinder mit dem Stock. Jetzt winkt er mit den Augen meinem Onkel zu, dann dem Adjutanten des Prinzen: offenbar soll Lychow die Tafel aufheben und den alten Herrn ungestört sein Nickerchen machen lassen. Richtig, Lychow steht auf, sofort auch Baron Ellendt und die anderen; und sie verlassen lautlos die große Bienenwabe, in der goldene Helle auf blau und rot verschränkten Mustern schimmert. Jetzt löscht der Adjutant das elektrische Licht: zurückgelehnt in seinem Sessel, den grauen Bart in die Luft reckend, schläft der greise Generalfeldmarschall, gleichsam Wache haltend über Kerzen und Kaffeetassen, und seine hängende Unterlippe leiht seinem rötlichen Greisengesicht etwas Schmollendes, Kindliches. Wie klein seine geballte Rechte aus den Manschetten des Hemdes, den Ärmeln des Waffenrocks hängt.

Drittes Kapitel

Sondierung

Unvermutet findet sich Winfried allein mit dem Freiherrn von Ellendt in der Bibliothek von Krasny Dwor, wo Bücher mit gepreßten und vergoldeten Rücken und bunten Namensschildern anderthalb Wände füllen, ein eichener Tisch auf Löwenfüßen, hochlehnige Holzsessel und ein Kamin aus blankem Stein Gemütlichkeit verbreiten. Vor ihm strahlt ein eiserner Ofen Wärme aus, sein Rohr verschwindet unter der Marmorplatte. Nützlich und häßlich wie ein schwarzer Melonenhut zwischen Vasen steht das kleine Ungeheuer auf einem riesigen Quartanten, einem Atlas aus dem 17. Jahrhundert mit kostbaren Stichen. Die beiden Offiziere sehen darüber weg; im Krieg hat das Nützliche dem Gesittungsgut gegenüber einigen Vorrang.

Kopfschüttelnd läßt Baron Ellendt, die Hände auf dem Rücken, seinen Blick über die Bücher gleiten, die einmal dem Grafen Tyschkiewicz gehört haben und ihm, so Gott und der König von Preußen es wollen, auch wieder gehören werden. Heute aber gehören sie in den Bereich der Etappenverwaltung Ob.-Ost, die einen heillosen Wust von Gegenständen vorfand, als sie nach Abzug der Russen von Krasny Dwor Besitz ergriff. Sind aber Bücher erst einmal notdürftig in Schrankfächern untergebracht, so müssen Zeichen und Wunder geschehen, wenn sie eine wirklich ordnende Hand nochmals umstellen soll. Und wer findet Zeit zu solchen Dingen? Höchstens der Adjutant, dieser Major von Krottmayr, den aber nur antikes und deutsches Sprachgut fesselt. Und so sind die lateinischen und deutschen Bücher auch einigermaßen handgerecht und sinnvoll in einem der Mittelschränke vereinigt. Die Franzosen aber in ihren herrlichen Einbänden, die Engländer, die Russen und die Polen wurden einfach der Größe nach zusammengepfercht. So prangen vor Winfrieds Nase einträchtig die Gedichte von Adam Mickiewicz, der zweite Band einer Lebensbeschreibung Napoleons, eine Anweisung zur Hasenjagd und Gogols ›Tote Seelen‹. In der Ecke drüben droht mit einem ungeheuren Trichter aus himmelblauem Blech, die Ränder goldgezackt, ein Holzkasten, braun, mit blanker Kurbel: eine Sprechmaschine, ein Grammophon.

Voll Neugier betrachtet Winfried den Baron Ellendt, der augenscheinlich etwas Bestimmtes in dieser Bibliothek sucht. Wie lang sein Hals aus dem Uniformkragen kriecht, jetzt, wo er den Kopf in den Nacken legt und sogar einen altmodischen goldgefaßten Kneifer mit schrägen Gläsern über den Nasenrücken hängt; wie stark sein Adamsapfel auf und ab steigt, offenbar in lautlosem Selbstgespräch. Winfried mit seinen guten Augen möchte ihm gern behilflich sein; bis zur Zimmerdecke hinauf reichen zwar die Schränke, aber nicht das Licht. Hätte er nur eine geeignete Anrede für diesen Mann, der im Rang nicht höher steht als er, gesellschaftlich aber und als Person so viel mehr wiegt. Man sollte meinen, denkt er rasch, daß im Kriege die Formen gleichgültig würden, aber da bist du schön angeschmiert, mein Lieber. Nirgendwo herrschen strengere Formen als in Kasinos und unter Verwaltungsbeamten, für die ihre Rangklassen Lebensinhalte bedeuten. Und hier tobt schon lange kein Krieg mehr, das hast du wohl gemerkt. Hier ist Sieg und Eroberung und Scheidung von Machtbereichen vorgegangen, sie haben den Vormittag ausgefüllt, ihr Hin und Her ist mitstenographiert worden. Verglichen mit Esnes und Höhe 304, mit Pozières und der Somme-Schlacht und all dem Dreck vorher war zwar auch Merwinsk tiefster Friede. Aber was ist dann das hier? Die Zone der Entscheidungen oberhalb des Irdischen, Gletscherhöhen und atemlose Stille. Schnell jedoch nimmt er sich zusammen und fragt den Baron, ob er ihm nicht behilflich sein könne, indem er den Titel durch eine besondere Liebenswürdigkeit in der Stimme ersetzt.

»Ich vertraue zwar stets Dienstfeldwebeln und Ordonnanzen, denn die wissen immer. Diesmal aber scheinen sie zu versagen. Hier soll sich eine Enzyklopaedia Britannica finden. Sehen Sie was davon?«

Hauptmann Winfried turnt bereits auf einen Sessel und gleich danach auf seine Armlehnen. Er holt eine elektrische Taschenlampe aus seiner Hose – oben wird es hell. »Hat ihm schon. Schwarze Lederrücken mit Goldpressung. Konnte man nicht erwarten.«

Wohlgefällig mustert Ellendt die schlanke Gestalt, die sich geschickt im Gleichgewicht hält. »Man muß nur die Jugend zu Hilfe rufen. Ihr gehört, wie der Dichter so schön bemerkt, die Zukunft. Buchstabe U, wenn ich bitten darf.« Winfried bläst, als stiege er von der Leiter einer Universitätsbibliothek, den Staub von dem marmorierten Schnitt des Buches und legt es unter die Lampe. Dann zieht er seinen Waffenrock zurecht. »U«, wiederholt Ellendt, »Ukraine. Wenn er nützliche Angaben enthält, nehmen wir ihn mit.« Dabei liegt seine Hand, behaart und mit gespitzten Nägeln, besitzergreifend auf dem Band, den er im übrigen nicht öffnet. »Sie wissen, daß Sie zu uns übersiedeln sollen?« Winfried blickt erstaunt dem Sitzenden in die braunen Augen. »Ich?« fragt er ungläubig, »übersiedeln?« – »Lychow bat mich darum, und ich bin nicht abgeneigt. Die Frage, wie Sie sich einarbeiten werden, kann nur der Versuch beantworten. Das Ganze scheint Sie zu überraschen?« – »Mein Onkel hätte mich vorbereiten sollen«, sagt Winfried und setzt sich auch. Jetzt, wo es um ihn selbst geht, schickt er die Formzweifel zum Teufel: »Darf ich fragen, Herr Baron, was ›uns‹ bedeutet? Doch nicht etwa den Stab Ober-Ost?« – »Allerdings«, erheitert sich der andere. »Scheint Ihnen das so entsetzlich? Glauben Sie mir nur, wir beißen nicht.« Winfried errötet; niemand läßt sich gern verspotten, am wenigsten von einem Bürohengst und Zimmersoldaten. »Es war ja klar wie Kloßbrühe«, entgegnet er mutwillig, »daß dieser Waffenstillstand alles durcheinanderquirlen würde. Aber daß ich, statt zur fechtenden Truppe, ins Labyrinth von Ober-Ost verschickt werden soll …« Die Stimme versagt ihm. »… will denn mein Onkel ohne mich nach Südrußland kutschieren?« – »Das Labyrinth von Ober-Ost – gut gesagt. Eine Flucht unübersichtlicher Säle, geheimer Gänge und gläserner Treppen, spiegelndes Parkett, auf dem man hinstürzt und sich blamiert bis auf die Knochen: so stellten wir uns als Referendare den kaiserlichen Hof vor. Unbesorgt, junger Mann! Wir sind eine simple Verwaltung, die eines größeren Rittergutes, wenn Sie wollen«, schmunzelt er behaglich. »Es mag beiläufig die Größe von ganz Bayern mit der Pfalz, Baden und Württemberg haben, unser Rittergut Ob.-Ost. Aber was besagen Dimensionen? Es kommt auf die Sache an, nicht wahr? Und die ist so gerecht umschrieben.« Winfried läßt sich von der guten Laune des anderen anstecken, der jetzt seinen Kneifer an schwarzer Schnur um den großen Zeigefinger kreisen läßt, ihn immer näher heranwickelnd. »Und was betreut Abteilung V in dieser Gutsverwaltung? Schweinezucht und Futtermittel, oder Buchführung und allerlei?« – »Allerlei«, lacht Hauptmann von Ellendt, »allerlei, das ist’s. Sie werden ja sehen. Schweinezucht« – jetzt lacht er schallend – »Schweinezucht im übertragenen Sinne. Wir sind die Politische Abteilung, junger Mann. Und wenn es auch ehrenvoller gewesen wäre, ein Bataillon in Frankreich zu übernehmen …« – »Danke«, sagt Winfried herzhaft, »die Ehre hätten wir schon genossen. Wer den Segen kennt und sich nicht drückt …« – »Der ist verrückt«, ergänzt Hauptmann Ellendt ruhig. »Ehrlich währt am längsten. Nur Oberst Mutius darf das nicht hören.« – »Da Sie schon so freundlich sind, mich aufzuklären, verehrter Herr Baron – wer ist Oberst Mutius? Ein Gesandter der O. H. L., gut und schön. Aber was betreibt er dort? Und warum darf er nicht hören, was er in jedem Schützengraben und Batteriestand hören müßte?« Der Hauptmann drückt schlau blinzelnd beide Zeigefinger in seine behaarten Ohren: »Weil er der Chef III b ist, der gute Mutius; unser Doktor Allwissend.« Winfried reißt die Augen auf, Ellendt betrachtet belustigt das Arbeiten der Gedanken in seinem offenen Gesicht. Unter III verbarg sich die Nachrichtenabteilung jedes größeren Stabes wie unter I seine Operationsabteilung. Aber was bedeutete das b? »Politische Nachrichten«, kam er ihm zu Hilfe, »Spionage und Gegenspionage und vor allem Kampf gegen die Zersetzung in Heer und Heimat. Zersetzung der Stimmung, des Siegeswillens. Ein gefährlicher Herr für Leute, die ihn zu fürchten haben.« Dabei sah er, immer ernster geworden, Winfried ganz kurz und forschend an. Aber nichts veränderte das Nachdenken auf dem Gesicht des jungen Mannes oder seine harmlose Stimme: »Wird ja wohl so sein müssen«, sagt er, »das ist also der Chef III b. Was aber will er hier, wo doch alles erledigt ist?« – »Oh«, antwortet Baron Ellendt, »einiges. Haben Sie es noch nicht gemerkt? Richtig, Sie mußten ja stenographieren. Er bringt ein paar Bitten der Obersten Heeresleitung, schlichte Anliegen ganz unpolitischer Art, denn Politik ist ja, wie Sie wissen, ein Reservat der Reichsregierung. Aber diese schüchternen Meinungsäußerungen haben unseren Prinzen gezwungen, auf Litauen zu verzichten, obwohl der Reichskanzler, Graf Hertling, ein Bayer ist. Und wenn einem alten Mann ein Traum von Macht und Herrschaft zusammenstürzt, darf er wohl so müde werden, daß er nach Tische einschläft. Eigentlich wunderte ich mich, daß er Ihnen nicht komisch vorkam, unser Prinz, bis mir einfiel, Sie seien von Ihrem Onkel her im Umgang mit alten Menschen geübt. Aber wäre er Ihnen komisch vorgekommen, so hätte ich trotz aller Verehrung für Exzellenz Lychow bedauern müssen, daß bei uns kein Platz frei sei. Denn das Menschliche kommt hierzulande immerfort zu kurz, und darum liegt mir einiges daran, und ich kultiviere es ein bißchen.« Eine Schärfe in seiner Stimme wunderte Winfried. Zugleich empfand er deutlich, sie sei nicht gegen ihn gerichtet: durch die Mauern drängte sie wie ein unsichtbarer Degen gegen eine unbestimmte Macht an. Klar war nur, sie hing mit dem Obersten Mutius zusammen.

Viertes Kapitel

Oberst Mutius

Der kehrte gerade von einem Spaziergang zurück, er hatte den Generalmajor Clauss gebeten, ihm die Trümmer des Kirchleins zu zeigen, das die Russen im Rückzug 1915 gesprengt hatten. Denn Schloß Krasny Dwor versteckte sich hinter den Hügeln des Njemen-Ufers, dicht an der Stelle, wo ein Nebenfluß sie durchbrach, die kleine Newiatza, fast im Vorgelände der Festung Kowno. Die Herren trugen beide dünne Schuhe, aber auf dem sorgfältig mit Asche bestreuten Wege brauchten sie Erkältungen nicht zu fürchten, als sie nebeneinander den winterlichen Park durchwanderten. Aus den kahlen Wipfeln alter Bäume schwangen sich Krähen in den blaßgrauen Himmel; unvergleichlich leuchtete das Rot an den Hosen der beiden Herren in diesem gedämpften Licht.

»Neuschnee«, sagte Clauss, die Stumpfnase hebend und die Luft einziehend wie ein witternder Hund. Und dann sprachen sie einige Sekunden über das Wetter, das den deutschen Plänen zu Hilfe kam und den hungernden Russen die Widerstandskraft endgültig zermürben würde. Beide waren über den Zustand in dem niedergebrochenen Reiche, wie sie meinten, genau unterrichtet. Der lächerliche Versuch analphabetischer Arbeiter und Bauern, sich des Staates zu bemächtigen, mußte in wenigen Monaten scheitern; denn die paar Juden, Polen und Tataren, die ihnen als Führer zur Verfügung standen, konnten natürlich im mindesten nicht den schwierigen Apparat einer modernen Gesellschaft in Bewegung setzen oder halten. Da ganz Rußland der Räuberregierung den Gehorsam verweigerte, alle Beamten in Petersburg streikten, von denen der Staatsbank bis zu den städtischen Telefonistinnen und den Eisenbahnern, reichten die Finger einer Hand aus, um die Monate dieser edlen Sowjetregierung zu bemessen.

Behaglich schienen die beiden Herren dahinzuschlendern, ihre pelzgefütterten Jacken streiften Schnee von den Zweigen der Fliedersträucher, und ihre Stimmen klangen gemütlich in der Sonntagsstille. Aber nur General Clauss schlenderte; er schwenkte seine langen Beine. Da er seinen Kameraden um halbe Haupteslänge überragte und mühelos Staub von Mutius’ Mützendeckel hätte blasen können, zwang er den anderen voll versteckten Spotts, zu hasten. Mutius merkte das nicht. Ernst und in sich gekehrt drängte er vorwärts, offenbar zu einem Ziel, das ihm naheging: einem beschneiten Trümmergeviert. Vom überhöhenden Ufer breitete sich ein weiter Blick aus, die Newiatza hinauf und hinab, ein Stück des Njementales mit dem eisern gefrorenen, kilometerbreiten Strome eindrucksvoll zur Linken. Die Russen hatten natürlich recht getan: die Kirche mit fast meterdicken Mauern beherrschte die beiden Flüsse, sie bot einen Stützpunkt erster Ordnung, um den Übergang über die Newiatza zu verhindern, und mußte gesprengt werden, wenn man je daran denken wollte, das Land wiederzuerobern. Und damals durfte der russische Generalstab getrost so denken. Die Herren vom Deutschen Orden verstanden sich ausgezeichnet auf die Vereinigung von Frömmigkeit und Taktik, Beten und Erobern. Bei der Zerstörung eines solchen heiligen Forts hätte natürlich nur ein gefühlvoller Narr auf Kunstschätze Rücksicht nehmen können: die Grabkapelle der Herren Tyschkiewicz, von italienischen Bildhauern mit hübschem Marmorwerk geschmückt, war dabei in die Binsen gegangen. Ein deutsches Aufräumungskommando hatte mit Sorgfalt die Reste dieses erlesenen Schmuckes zusammengetragen und im Schutze einer zufällig entstandenen Nische aufgehäuft. Achtlos nahm Clauss ein rundes Engelsköpfchen von diesem Haufen, drehte es ein paarmal zwischen seinen Fingern, fand es kalt und legte es sorgsam wieder in seine Schneedelle. Seit wann war Herr Mutius voller Empfindsamkeit für das Vergängliche am Gebild der Menschenhand? Der Chef III b stand, die Lippen zusammengekniffen, vor den Mauerbrocken, sandte einen fast umflorten Blick über sie hin, trat dann von einem Fuß auf den anderen und bedankte sich bei Herrn Clauss für den eindrucksvollen Anblick, bittend, kalter Füße wegen jetzt umzukehren. Solch ein Schauplatz, sagte er, regte ganze Reihen von Gedanken in jedem vernünftigen Menschen an. Hier sah man zum Greifen vor sich die Rollen, die deutscher Geist und russischer im Osten spielten: dieser zerstörte, was jener aufgebaut. »Hier haben unsere Ahnen Gesittung hergebracht, Ordnung, Staatsrecht und Wohlergehen. An uns ist es, daraus Verpflichtungen zu folgern und nicht kleiner zu sein als sie.« – »Nun«, meinte Clauss, indem er seine Beine wie ein Schlittschuhläufer schwenkte, »sie haben vor allem keinen schlechten Rebbach gemacht, die Brüder vom Deutschen Orden, und an Selbstlosigkeit werden wir sie bestimmt erreichen.«

Mutius zog die Brauen zusammen: wie unangenehm im Munde eines deutschen Generalstäblers dieses jüdische Wort für Gewinn oder Profit klang! Man sah, das Milieu steckte an. Es war Zeit, auch hiervor tatkräftig zu warnen. »Sie haben«, erklärte er fast streng, »den Lohn für ihre Mühen mit Recht eingezogen, dankbar gegen Gott, der sie an diese Stelle geführt hatte.« – »Natürlich«, antwortete Clauss harmlos, »Profit kommt immer von Gott, und ein Augsburger Panzerhemd wurde von christlichen Gebeten für die litauischen Heidenpfeile noch ein bißchen undurchdringlicher gemacht.« – »Lieber Clauss«, sagte Mutius tadelnd, »Ihre Art, die Dinge zu betrachten, stünde dem Hauptmann Winfried da drin eher an als dem Stabschef Seiner Königlichen Hoheit. Wann nehmen Sie eigentlich Vernunft an?« – »Nie«, antwortete Clauss. »Da meine militärische Laufbahn beendet ist und ich es nie weiterbringen werde, wie Sie sehr gut wissen, leiste ich mir wenigstens das Vergnügen, die Dinge zu sagen, wie ich sie sehe.« Und er wollte fortfahren: Camouflage und holde Verbrämung überlasse ich euch, den Halbgöttern der O. H. L.; aber er verschluckte den Satz, denn er war keineswegs der Leichtfuß, den er spielte, und sprach seine Wahrheiten nur dort aus, wo sie nutzten.

Oberst Mutius schwieg einen Augenblick. Sinnlos, einem Manne zu widersprechen, der so genau Bescheid wußte. Ja, die Clauss’sche Laufbahn war beendet, er würde niemals zum Generalleutnant aufrücken, den Titel Exzellenz erreichen. Armer Kerl, der Clauss: trotz seiner hohen Gaben saß er auf dem Sande. Er hatte sich zu weit vorgewagt.

Irgendwo fern peitschte ein Schuß: wahrscheinlich ging jemand von der Dorfbesatzung einem Hasen zu Leibe, der seinen Hunger an den Sträuchern und getauten Zweigspitzen des Ufers stillte. Der russische Winter, der vierte des Krieges, war kein Spaß auch für die Tiere des Feldes.

»Wie kamen Sie übrigens«, brach Clauss die Stille, »auf Lychows jungen Mann, um mir meine Schnauze zu vergällen? Netter Kerl, nicht? Sein Onkel hält große Stücke auf ihn.« – »Ja«, sagte Mutius, den Blick verloren zwischen den Stämmen, »auch seinetwegen wollte ich Sie sprechen. Höchst ungern sehe ich ihn am Protokoll. Hätten Sie mich vorher gefragt, ich hätte unbedingt gewarnt.« – »Wäre Ihnen schlecht bekommen«, lachte Clauss, »das ist unser Ressort. Da lassen wir uns nicht hineinfunken.« Mutius blieb stehen. »Clauss«, rief er mit einem fast hysterischen Ausdruck von Besorgnis, »Clauss, um Gottes willen, nehmen Sie’s ernst, hören Sie auf Warnungen, streichen Sie den Ressortfimmel, helfen Sie uns im Endspurt. Wir haben den Sieg in der Tasche, niemand kann ihn uns entreißen, wenn wir nur dem Wurm den Kopf zertreten, bevor er uns in die Ferse sticht, wie er den Russen in die Ferse gestochen hat. Halten Sie mich, bei allem Guten, halten Sie mich für sachverständig. Ich bin der Mann, auf dessen Rat die O. H. L. den Lenin und sein Gesindel im plombierten Wagen durch Deutschland verfrachtete, ihn Rußland einzuspritzen wie eine tödliche Injektion. Wir haben, ich habe die Wirkung vorausgesagt, und, siehe da, sie ist eingetroffen. Die größte Militärmacht der Erde, verbündet mit der ganzen Welt, lag wie ein verblutender Hirsch in Brest-Litowsk, und wir schneiden uns beliebige Portionen aus seinem Schenkel. Wenn wir nur selber gegen das Gift gefeit bleiben. Und darum ist mir dieser Hauptmann Winfried an diesem Verhandlungstisch geradezu ein Skandal.« General Clauss prüfte lange das Gesicht des erregten Menschen zu seiner Rechten, des Gastes, Gesandten der höchsten deutschen Macht und eines der mächtigsten Männer der Welt – war er verrückt geworden? Was für eine Sprache führte er und wegen welches Anlasses? »Mein lieber Mutius«, entgegnete er kühl, »ich spaziere manchmal unter diesen Bäumen und suche in Gedanken diejenigen Äste und Wipfel, die ich durch das Aufhängen meiner ehrwürdigen Freunde, der Herren Bolschewiken, verschönern könnte. Ich fand gewisse Lieblingsplätze für Herrn Trotzki, für den weinenden Herrn Joffe, den prächtigen Knaben Kamenew, den unsichtbaren Meister Lenin. Wenn irgendwer, so bin ich zuständig für die sachgemäße Behandlung von Bolschewiken und ihrem Kram. Aber daß Sie mir aus Lychows jungem Mann solch eine Vogelscheuche machen wollen, das lehne ich vor dieser geehrten Versammlung ab«, und er rief mit umfassender Gebärde Bäume und Sträucher zu Zeugen auf. »Womit begründen Sie auch nur den Schatten eines Verdachts?« – »Ist Ihnen entgangen«, entgegnete halblaut Oberst Mutius, »daß dieser Jüngling versucht hat, einen zum Tode verurteilten Russen aus dem Gefängnis zu befreien, und daß das Unternehmen lediglich an der Entschlossenheit eines wachthabenden Gefreiten scheiterte? Der fuhr auf Urlaub und wurde befördert, der Russe erschossen, wie es sich gehörte. Gegen den Offizier jedoch, der sich so unglaublich benahm, wurde nichts veranlaßt; allzu mächtige Männer deckten ihn. General Schieffenzahn, in seiner außerordentlichen Sachlichkeit, bestimmte sogar, daß sein Gegner von damals, dieser mächtige Herr, jetzt in die Ukraine einreiten soll, ein Pflästerchen, nobel und dienstgemäß, wie Sie zugeben werden. Daß er aber nun noch seinen Neffen an unser Protokoll setzen darf, nachdem er ihn zum Hauptmann gemacht hat, das überschreitet alle Grenzen. Ich bin ziemlich sicher, Exzellenz Schieffenzahn wird diesen Vorgang nicht verstehen, und noch weniger verstehe ich ihn. Ein Verfahren müßte man ihm anhängen, diesem Burschen«, zischte er plötzlich, »der die Disziplin wegen lumpiger Sentimentalitäten so in Scherben gehen ließ.« Blieb dieser Ausbruch auf Clauss ohne Wirkung? Immer mehr verfinsterte sich seine Miene, und schon rötete ein Schein von Hoffnung das Gesicht des Obersten. »Von wem ward Ihnen diese Wissenschaft?« fragte aber Clauss beiläufig, gleichsam als verfolge er die Anregung, den Hauptmann Winfried zur Verantwortung zu ziehen. »Ist er wenigstens zuverlässig, Ihr Zeuge?« – »Völlig«, erwiderte Mutius. »Wir erfuhren alles durch den Ortskommandanten von Merwinsk, den Rittmeister von Brettschneider, als wir mit seinem Vater wegen Tanks verhandelten. Der Sohn bekam Urlaub zu unserer Besprechung, wir streiften die Arbeiterfrage, das Wort Mannszucht fiel, und wir hörten, wie sie untergraben wird. Diese Angelegenheit Winfried ist mehr als ein Fall, sie ist ein Symptom.«

General Clauss trug in diesem Augenblick in seinem Kopfe, hinter seinem rosigen Gesicht, ein dichtes Gewebe hin- und herschießender Gedanken durch die Landschaft, von Verantwortungen, von halbbewußten Überlegungen und Einfällen. Er hielt sehr darauf, daß man ihn »Herr General« ansprach, aber innerlich hatte er sich keineswegs weit von dem Major Clauss entfernt, der als junger hochbefähigter Stabsoffizier, als Leiter der Operationsabteilung der 8. Armee die verzweifelte Schlacht gewagt, entworfen und angelegt hatte, jene Rückzugsschlacht über die Weichsel zwischen Allenstein und Lötzen, die durch den Flankeneinbruch der russischen Narew-Armee nötig geworden war. Jene Schlacht war ein überwältigender Sieg geworden und als Schlacht von Tannenberg in Geschichte und Legende eingegangen, ohne daß sein Name dabei fiel. Als preußischer Offizier überließ er dem damaligen Obersten Schieffenzahn die Leitung seines eigenen Gebildes, der wiederum hinter dem breiten Rücken des Generals von Hindenburg zurücktrat. Seither war viel Wasser die Weichsel hinabgeströmt, auch den Njemen, der dort drüben unter dem Eise ächzte. Ohne Unterbrechung hatte der Major Clauss den Krieg gegen die Russen geführt, zu dem er sich schon im Frieden ausgebildet, er war langsam, von Vorgesetzten beschattet und maßvoll gefördert, die militärische Rangleiter emporgestiegen, bis ihn jüngst ein Zusammenstoß mit General Schieffenzahn aufs tote Gleis geschoben hatte. Aber eine jungenhafte Freude an Wagnis und impulsiver Tat war ihm geblieben, und darum hatte er vergangenen Oktober die Haltung des Generals von Lychow und auch die seines Neffen in dem Fall jenes russischen Gefangenen gebilligt. Er suchte in seinem mächtigen Gedächtnis nach dem Namen, vielmehr den Namen, die damals eine Rolle spielten, und fand sie: ein gewisser Paprotkin, aus einem Gefangenenlager entkommen, hatte sich für einen gewissen Bjuschew ausgegeben, als er wieder eingefangen wurde, und behauptet, ein Überläufer zu sein, der, quer durch die Fronten, sein heimatliches Dorf im Wilnaer Kreis aufgesucht habe. Da sich herausstellte, daß ihn eine Verordnung von Ob.-Ost als Spion zum Tode verurteilte wegen allzu langen Herumtreibens hinter der deutschen Front, hatte er vergeblich versucht, seine echte Identität wieder aufzunehmen: trotz ihres Nachweises und des Beistandes, den der Divisionär von Lychow ihm lieh, war er auf unmittelbare Anordnung des Generals Schieffenzahn und in Vollstreckung des rechtskräftigen Urteils erschossen worden. Die Wahrung der Disziplin unter den deutschen Soldaten, die Abschreckung vor Fahnenflucht und Meuterei hätte noch ganz andere Maßregeln gerechtfertigt; das Jahr 17 war das härteste des Krieges, es stellte alle Nerven auf die Zerreißungsprobe und zwang zum Beispiel die Franzosen zu umfangreichen Hinrichtungen meuternder Poilus. So weit, so gut. Daß aber jetzt und hinterdrein, nachdem der Sieg des deutschen Heeres außer Frage stand, ein Offizier und erprobter Frontsoldat von den politischen Stänkerern und patentierten Etappenschweinen verfolgt werden sollte, das paßte dem ehemaligen Major Clauss keineswegs. Industrieller hin, Industrieller her: dieser Herr von Brettschneider hatte die Schnauze zu halten und Interna der Ostgebiete und des Dienstes nicht bei Hinz und Kunz herumzutragen. »Mein lieber Mutius«, sagte Clauss daher, und sein Gesicht hellte sich auf, mit dem Hauch eines bösen Grinsens, »ein Disziplinarverfahren ist wirklich am Platze. Aber nicht gegen den Hauptmann Winfried, sondern erst einmal gegen jenen Herrn von Brettschneider, der offenbar sein Mündchen zu halten in Mamachens Kinderstube nicht gelernt hat. Wollen mal gleich ein paar Worte mit dem Etappenchef sprechen, er wird uns gewiß nicht im Wege sein.« Oberst Mutius stockte im Schritt. Was sagte Clauss da? Blitzschnell übersah er, daß er sich zu weit vorgewagt, den Rittmeister von Brettschneider bloßgestellt und offenbar einem Feinde in die Schußlinie geliefert hatte. Der Vater Brettschneider unterstützte leidenschaftlich alldeutsche Kriegsziele. Jetzt hieß es aber einlenken, die Streitaxt begraben, womöglich durch einen Bauerntausch das Feld für gewichtigere Fragen bereinigen. Diesen Herrn Winfried konnte man aus dem Hintergrund ruhig weiterbeobachten und gegebenenfalls in die Luft sprengen. »Sie halten also diesen Hauptmann Winfried nicht für einen heimlichen Bolschewiken?« fragte er wie bekümmert. »Soll ich Ihnen vertrauen?« Und unbeirrt durch ein grunzendes Gelächter: »Sie lachen. Ich wünschte, ich könnte es auch. Sie glauben nicht, um wieviel besser der Schlaf meiner Nächte wäre.«

Clauss hörte auf zu lachen, streifte mit Neugier das hagere Gesicht des Gastes, seine graue Haut, die Falten um Augen und Mund: tatsächlich, der Chef III b schlief schlecht, und es wäre für alle Beteiligten besser gewesen, wenn er etwas für seine Gesundheit getan und seine Nerven in Fett gebettet hätte. »Mutius«, sagte er beinahe herzlich, »ihr müßt einem ja leid tun. Da hockt ihr in Kreuznach, zwischen Rhein und Nahe, in weichem Klima, ohne viel Auslauf. Ihr reitet nicht, ihr jagt nicht, ihr treibt euch nicht im Felde herum – ihr führt entschieden das ungesündeste Leben, das einem Soldaten Seiner Majestät nur zustoßen kann. Kommen Sie zu uns, Mann, machen Sie unseren Ostkrieg mit, wie er sich jetzt entfaltet, frische Luft und Frost um die Nase, und ich versichere Ihnen, in drei Wochen erkennt Ihr eigener Bursche Sie nicht wieder. Blutumlauf, Mutius, das ist das ganze Geheimnis, dann sehen Sie nicht mehr Gespenster und Bolschewiken, wo brave Neffen anständiger Onkels Unüberlegtheiten begehen.«

»Ach«, seufzte Mutius, »wenn man Sie reden hört, Clauss, Sie haben so etwas Überzeugendes, Sie reißen einem den Verstand fort. Ja, das ließe man sich gefallen«, und er blieb stehen, blickte sich wie zum ersten Male und aus einem Traume erwachend in der Landschaft um, atmete tief ein, sah den hellen Himmel, fühlte die reine Schneeluft durch seine dünnen Nasenhäute ziehen, die gesunde Kälte vom Boden aufsteigen. »Wer so leben könnte! Unsereiner hat leider nichts als Sorgen: Streiks in Berlin und Wien, in Oberschlesien, im Ruhrrevier, und eine wachsende Drückebergerei, gegen die etwas unternommen werden muß. Da verliert man manchmal den Blick für Einzelheiten und setzt einen braven Kerl auf die schwarze Liste – wie nannten Sie ihn? Lychows jungen Mann? Das ist gut, das ist vorzüglich. Also nichts mehr über ihn und gegen ihn – aber auch nichts gegen den jungen Brettschneider, denn wir brauchen nun einmal die Industrie, sie muß mit beiden Händen gestreichelt werden. Abgemacht?« Er blickte treuherzig zu Clauss hinauf und hielt ihm die Hand hin, wie zum Einschlagen. »Topp«, sagte Clauss, »haust du meinen Juden nicht, hau ich deinen Juden auch nicht, so haben wir es schon als Jungens gehalten.«

»Clauss«, bat Mutius ärgerlich, »wenn es hierzulande auch von schwarzen Juden wimmelt, laßt sie doch beiseite; ihr macht unsereinen bloß nervös.« – »Wollen wir ja gerade«, lachte Clauss, »wer nervös wird, verliert, besonders im Endspurt. Und die Amerikaner machen euch keine Sorgen?« Statt aller Antwort schnippte Oberst Mutius mit den langen Fingern. »Drei Divisionen«, sagte er schließlich, »lumpige drei Divisionen in einem Jahr. Fünfundvierzigtausend Mann. ›Sie können nicht schwimmen, sie können nicht fliegen, sie werden nicht kommen‹ – wie’s Herr Hergt im Landtag prägte.« – »Na denn prost«, sagte Generalmajor Clauss breit und ließ dem Gast den Vortritt über die Schwelle von Krasny Dwor.

Fünftes Kapitel

Ostpolitik

Punkt halb drei eröffnete der Prinz die Sitzung wieder. Wieder schrieben Major von Krottmayr und Hauptmann Winfried an der Schmalseite des Tisches, dessen braune Platte diesmal aber von grünen Löschblättern, weißen Foliobogen und rotbraunen Bleistiften gescheckt wurde. Rauchzeug in Kisten und Leuchter mit Kerzen schmückten die Mitte. Die kleine Versammlung hatte sich um zwei neue Köpfe vermehrt: einen kurzgeschorenen mit starken Augenknochen und wuchtiger Kinnlade, und einen gescheitelten, an welchem alles katzenhaft zierlich war und von freundlichem Ausdruck – Oberquartiermeister und Chef der Etappeninspektion, klärte Herr von Krottmayr seinen jungen Kollegen auf. Als jedermann saß, wurden die Türen geschlossen, Ordonnanzen hatten in Hörnähe dieser vertraulichen Unterhaltung nichts zu suchen. Die Herren, im Schmuck ihrer Ordensschnallen und hohen Auszeichnungen, wußten, daß jetzt die litauische Thronfrage geklärt werden sollte, nachdem am Vormittag Kurland von dem riesigen Verwaltungsgebiet Ober-Ost abgeschnitten worden war wie ein siamesischer Zwilling vom anderen: schwierige Operation. Darum überraschte es sie, als der Prinz zunächst seinem »Chef« zu einem förmlichen Protest das Wort erteilte. Er sah frisch aus, der alte Herr, er hatte sich bei Lychow und Ellendt seines Einschlafens wegen entschuldigt, spaßend, nächstens werde er wohl einen Altleuteplatz beziehen und bloß noch eine Suppe aus dem Napf löffeln dürfen. Aber trotz seiner bayrischen Aussprache klang der Satz mit den Worten ›förmlicher Protest‹ erstaunlich scharf. Clauss brachte ihn vor, im Sitzen, und indem er dabei seinen Bleistift wie eine Zigarette zwischen den Fingern schwenkte: leider habe sich die Oberste Heeresleitung nicht damit begnügt, das Ostheer um die sechsundvierzig besten Kampfdivisionen zu erleichtern, die seit Dezember nach Westen gerollt seien. Sie pickte sich vielmehr immer noch, wie Rosinen aus dem Kuchen, einzelne Leute aus den gebliebenen Verbänden heraus, Offiziere und Mannschaften, besonders letztere. Und damit müsse Schluß gemacht werden. Was könne Ob.-Ost den beschwerdeführenden Kommandeuren erwidern, denen einzelne Geschützführer oder Richtkanoniere weggenommen wurden? Was den Maschinengewehrkompanien, was den Schallmeßtrupps? Für all solche Einheiten galt ja dasselbe Gesetz wie für eine Fußballmannschaft oder einen Ruder-Achter: das Zusammenspiel war alles, drei Viertel der Leistung beruhte darauf. Jeder neue Kerl, den besten Willen vorausgesetzt, hemmte alle anderen, verlangsamte ihr Tempo und minderte die Schlagkraft, die das Restheer des Ostens, diese bejammernswerte Ruine, ebenso dringend brauchte wie Brot. Es müsse also von Seiten des Herrn Oberbefehlshabers Ost auf die sofortige Abstellung dieses Brauches gedrungen werden, eines Brauches, davon der Bruch, um mit Schiller zu reden, mehr ehrte als die Befolgung. »Shakespeare«, verbesserte Ellendt ernst. »Sie berauben Hamlet um ein Zitat, lieber Clauss.« Und ebenso ernst entgegnete der Stabschef des Ostens, indem er mit der Hand salutierte: er danke gehorsamst, aber im Kriege mit England seien Zitate ein für allemal von Schiller. Als der Prinz herzlich lachte, lachten auch die anderen Herren, ihre Achselstücke schüttelnd oder eine rote Nackenfalte aufwölbend. Und Oberst Mutius benutzte die gelockerte Stimmung, um sich jede Antwort zu ersparen: er werde diese Verwahrung dem Herrn Generalfeldmarschall zur Kenntnis bringen und nehme nebenbei an, daß die Umgruppierung schon vollendet sei. Aber der Prinz ließ ihn nicht so leicht entschlüpfen: der Vormarsch, den man nächster Tage auf wichtige Landstriche ausdehnen werde, könne sehr wohl Schwierigkeiten antreffen; die Ententemissionen in Petersburg gaben sich gewiß die erdenklichste Mühe, den Ostkrieg fortzusetzen, und Revolutionsheere hatten schon manchmal Wunder getan. Zwar war das russische Volk wirklich kriegsmüde, satt der erfolglosen Schlächterei. Das wußten die Herren Lenin und Trotzki. Aber wenn sie bei den Völkern der Entente auch hinten abgerutscht waren mit ihrem Appell, sich dem Frieden anzuschließen, konnten sie bei ihren eigenen Leuten wohl auf mehr Erfolg rechnen, wenn jetzt der böse Deutsche die südlichen und westlichen Gouvernements von Rußland abriß. Und darum müsse die Anforderung einzelner Mannschaften und kleiner Verbände gestoppt und zum Teil sogar rückgängig gemacht werden.

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