Das Beil von Wandsbek - Arnold Zweig - E-Book

Das Beil von Wandsbek E-Book

Arnold Zweig

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Beschreibung

Der Wandsbeker Schlächtermeister Albert Teetjen steht vor dem Ruin. Um seine Existenz zu retten, ist er bereit, den erkrankten Henker des Zuchthauses Fuhlsbüttel zu vertreten. Vier Häftlinge hat er mit seinem Beil hinzurichten. Der bescheidene Wohlstand, der mit dem Blutgeld bei den Teetjes einzieht, währt nur so lange, bis die Nachbarn erfahren, woher das Geld stammt.

In diesem vierten Roman seiner Exilzeit wollte Arnold Zweig - wie er an F. C. Weiskopf schrieb - "das deutsche Bürgertum in der Phase des gipfelnden Faschismus 1937-38 genau so durchsichtig (...) machen, wie er im `Grischa' den russischen Durchschnitt aus dem bolschewistischen Schreckgespenst in wahre menschliche Gestalt" verwandelt hatte.

Unserer Edition liegt die deutschsprachige Erstausgabe von 1947 zugrunde, die Lion Feuchtwanger von Amerika aus für das Stockholmer Editionshaus "Neuer Verlag" vorbereitete. 

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Arnold Zweig

Das Beil von Wandsbek

Roman1938–1943

Impressum

Textgrundlage:

Arnold Zweig. Berliner Ausgabe.

Herausgegeben von der Humboldt-Universität zu Berlin

und der Akademie der Künste, Berlin.

Romane/8. Aufbau-Verlag, Berlin 1996.

Die Ausgabe folgt der deutschen Erstausgabe von 1947

Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Birgit Lönne

ISBN 978-3-8412-0446-2

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Copyright © 2012 Stéphane Hessel und Roland Merk

Bei Aufbau erstmals 1953 erschienen; Aufbau ist eine Marke

Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Henkel / Lemme

unter Verwendung einer Pastellkreidezeichnung von Ute Henkel

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Innentitel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Impressum

Inhaltsübersicht

Danksagung

I. Teil

Erstes Buch: Man hilft sich, wie man kann

Erstes Kapitel: Ein gebrechliches Fahrzeug

Zweites Kapitel: Die Versuchung

Drittes Kapitel: Krebsessen

Viertes Kapitel: Training

Zweites Buch: Das Gedächtnis der Reichswehr

Erstes Kapitel: Die Nachricht

Zweites Kapitel: Bittschriften

Drittes Kapitel: Wieder Herr im Haus

Viertes Kapitel: Durch ein rundes Fenster

Fünftes Kapitel: Unter Blumen

Drittes Buch: Mit dem Strom

Erstes Kapitel: Brave Stine

Zweites Kapitel: Stellingen

Drittes Kapitel: Die Wünschelrute

Viertes Kapitel: Herr Footh in Schwung

Fünftes Kapitel: Der Mensch lebt nicht von Brot allein

Viertes Buch: Die Bücher des toten Herrn Mengers

Erstes Kapitel: Die die Kosten tragen

Zweites Kapitel: Dankbare Schuldner

Drittes Kapitel: Der Schrecken

Viertes Kapitel: Ein Heiratsantrag

Fünftes Kapitel: Solo aequere

Sechstes Kapitel: Die schwarze Rose

II. Teil

Fünftes Buch: Koldewey empfängt ein Zeichen

Erstes Kapitel: Waschgespräche

Zweites Kapitel: Das Innere der Erde

Drittes Kapitel: Das Beil muß weg

Vietes Kapitel: Deutsche Ostern 38

Fünftes Kapitel: Der Heerwurm

Sechstes Kapitel: Licht in Fuhlsbüttel

Sechstes Buch: Seele, der Maulwurf

Erstes Kapitel: Ein Leck

Zweites Kapitel: Kameradschaft

Drittes Kapitel: Das Gesetz des Dschungels

Viertes Kapitel: Frau Timme verabschiedet sich

Fünftes Kapitel: Kein Gift

Sechstes Kapitel: »Gib’s auf ...«

Siebentes Buch: Strandgut

Erstes Kapitel: Sturm im Hafen

Zweites Kapitel: »Dein Reich komme ...«

Drittes Kapitel: Ein Mann kommt nach Haus

Viertes Kapitel: Das Beil kehrt zurück

Abgesang: Astrologie

Epilog: Auferstehung

Anhang

Anmerkungen

Entstehung und Wirkung

Danksagung

Dieser Roman hatte seine Schicksale, bevor er seine Leser erreichte. Ausgelöst von einer Meldung, die der Verfasser 1938 in der Deutschen Volkszeitung, damals Prag oder Paris, fand, in den darauffolgenden Jahren aber komponiert und gereift, war seine Niederschrift im Frühling 1943 beendet, so daß die Übersetzung ins Hebräische schon im Herbst dieses Jahres bei den »Sifrioth Hapoalim« erscheinen konnte.

Inzwischen hatten sich alle Schwierigkeiten der Kriegszeit und der Gesundheit des Verfassers gegen die Herstellung einer lesbaren Abschrift verbündet. Schon die Verschickung von Manuskripten stieß auf Hindernisse, die Frage der Übersetzung ins Englische schien in dem von Bomben und Raketen verheerten London unlösbar. Andererseits war der Verfasser nach einer schweren Gehirnerschütterung und durch den Verfall seiner Augen nicht in der Lage, selbst für ein gutes, zur Übersetzung taugendes Manuskript zu sorgen. Daß all dies überwunden wurde, verdankt er neben dem unermüdlichen Einsatz seiner Frau der hingebenden Freundschaft und tätigen Hilfe der Schriftsteller Robert Neumann in England und Lion Feuchtwanger und Bertold Brecht in Kalifornien. Durch ihre Kameradschaft bewiesen diese Männer, daß kein noch so zerstörerischer Weltkrieg die Basis gemeinsam verbrachter und durchkämpfter Jahrzehnte antasten konnte. Diese Solidarität, neben der größten persönlichen Arbeitsleistung durchgehalten, scheint ein gutes Anzeichen für die Lebens- und Schaffenskraft, die sich in den weit ausgestreuten Kindern der deutschen Emigration verkörpert sieht, und die trotz aller Einstürze und Furchtbarkeiten des Hitlerregimes unentmutigt am Werke bleibt.

Haifa, April 1947.

Arnold Zweig

I. Teil

Erstes Buch Man hilft sich, wie man kann

Erstes KapitelEin gebrechliches Fahrzeug

I

Geschehnisse, wie sie hier abrollen werden, um in einem viermal geschwungenen Beil, einem Revolverschuß und dem Zuziehen einer eingeseiften Schlinge zeitgemäß zu gipfeln, beginnen oft mit einer unscheinbaren Bewegung. Diese hier bestand in dem energischen Hineinstoßen des Federhalters ins Tintenfläschchen, ausgeführt von der kräftigen Hand Albert Teetjens, eines schönen blonden Mannes von zweiundvierzig Jahren, mit einem geschwungenen Schnurrbart über würzigen Lippen und mit verschwommen blickenden Augen von norddeutsch blaugrauem Glanz und weiten Lidern.

Er saß, die Hemdärmel aufgekrempelt, am ovalen Tisch seines Wohn- und Eßzimmers, den seine Frau nach dem Abendbrot mal schnell trocken abgerieben hatte, eine große Zeitung als Unterlage benutzend, das Hamburger Fremdenblatt vom Freitag, 27. August 1937. Ein Firmament von durchsichtigem Grünblau spannte sich über die hohen Hinterwände der Häuser, in deren Erdgeschoß Teetjens Laden und Wohnung untergebracht waren, aber er sah nicht auf. Stine Teetjen hingegen verharrte, das Gesicht schräg emporgehoben und den rotblonden Haarknoten infolgedessen tief im Nacken, am geöffneten Fenster. Die Hände mit dem Wischtuch auf dem Rücken verschränkt, ließ sie ihre großen, grauen Augen mit dem Ausdruck verschämten Entzückens in den Abendhimmel schweifen, durstig atmend. Von links über ihnen und von gegenüber her musizierten die Lautsprecher, beide in der gleichen Kammermusik schwelgend, die der Hamburger Sender zusammen mit ganz Deutschland von der Großsendestelle Königswusterhausen empfing. Stine wußte nicht, was für einer Musik sie zuhörte, und daß es Mozarts Klarinettenquintett war, dem da gleichzeitig die Petersens im Vorderhaus und die Lawerenzens im gegenüberliegenden Seitenflügel lauschten. Aber was da in sie einströmte, eingeatmet gleichsam mit dem türkisfarbenen Licht, das gefiel ihr sehr. Blaugrüne Musik, dachte sie, Vergißmeinnicht und Rittersporn und Erika im Borsteler Moor. Mittendrinsitzen im warmen Kraut, sich zurücklegen; ach, wie gut das riecht! Und dann ist der Albert da, der bisher mit seinem Spazierstock in Mauselöchern, Maulwurfshaufen und einem verlassenen Fuchsbau herumgestochert hat, sonst kein Mensch weit und breit, bloß ein Flugzeug brummt nach Gotland, und ich kann meinen Rock ausziehen, damit er nicht zerdrückt wird. Albert aber dreht seine Gedanken weg von seinem Tick, wie’s wohl im Innern der Erde aussieht, freut sich über meine Beine und ... Damit kam ihr das Vorhandensein ihres schönen Mannes wieder voll zum Bewußtsein, und daß er sich den ganzen Nachmittag mit dem Abfassen des verdammten Briefes gequält hatte. Die Kasse war so gut wie leer, am Ersten aber die Miete zu entrichten, nicht nur für Wohnung und Laden, sondern auch für Kühlschrank, Schneidemaschine und Wiegewaagen, die heutzutage weiß lackiert und sauber geputzt zum Zubehör einer Schlächterei gehören, wenn die Kundschaft nicht ganz ausbleiben soll. Sie wandte sich um, bemerkte, daß er noch kein Licht gemacht hatte, zog die Pendellampe tiefer über den Tisch, die an einem viel zu starken Haken von der Decke hing, knipste den Schalter und sagte halb spottend: »Gut, daß du noch nichts aufs Papier gesetzt hast. Tätest dir bloß die Augen verderben.«

Er ging auf ihren Scherz nicht ein. Schwer brütend starrte er auf den leichten Schulfederhalter, hellbraun, mit dunkelbraunen Tupfen getigert, den er zwischen seinen behaarten Fingern hielt, sauber gewaschen und von rötlicher Haut. »Ich krieg’s nicht zusammen, Stine. ’S ist ja, als sollt’ man eine lockere Sanddüne hinaufsteigen, und man rutscht in einemweg ab. Diktier mir deins. Das klingt noch am besten.« Damit nahm er vom Bord über dem roten Plüschsofa eine Zigarrenkiste, roch wollüstig hinein, wählte unter den gefleckten Fehlfarben, stellte die Kiste wieder weg und zog, während Stine aus der Kommode eine schwarz gebundene Bibel nahm, sein großes Klappmesser, um die Spitze abzuschneiden. Dann atmete er den würzigen Rauch ein und aus und sagte, während sie einer zufälligen Stelle des Alten Testaments ein bekritzeltes Blatt entnahm: »Tja, die Sorge um den verfluchten Zaster. Haben die einen beim Halse, sitzt man allein in seiner Stube, als wäre nicht Stadt Hamburg rund um einen herum, mit anderthalb Millionen Volksgenossen und lauter vollen Safes.« – »Niemand ist allein«, sagte Stine, mit den Augen, besonders großen und ausdrucksvollen Augen, einige Zeilen des Propheten Hosea abtastend, »soll ich anfangen?«

»Fang an«, stimmte er zu, stieß den Federhalter durch den Hals des Fläschchens in die schwarzrötliche Schultinte und schrieb, mit durchaus nicht ungelenker Hand, in deutscher und deutlicher Schrift, Satz für Satz, wie er sauber und langsam von ihren blaßroten Lippen kam, in hamburgisch gefärbten Lauten und mit Schulmädchenstimme:

»Hamburg-Wandsbek, Wagnerstraße 17, den 27.8.37.

Lieber Volksgenosse und Kriegskamerad. Du hast schon lange nichts mehr von mir gehört, seit wir zusammen auf dem Floß den Njemen hinabtrieben und in Memel die Messinghülsen und Schmierbüchsen verkauften. Ich denke oft daran, was das für eine wilde und lustige Zeit war, und mein Harmonikaspiel Dir Spaß machte. Jetzt hab ich das Schifferklavier längst beiseite gelegt. Nach dem Tode meines Alten mußte ich die Fleischerei übernehmen, wie ich es ja gelernt hatte. Aber jetzt will es nicht mehr recht flecken. Die Lebensmittel von Ehape machen mich tot, seit die Filiale Wandsbeker Chaussee auch Fleisch- und Wurstwaren führt. Die Hausfrauen aus unserer Gegend brauchen mit dem Tram keine zehn Minuten. Sie sagen, die Auswahl ist größer und die Fahrt kommt wieder heraus. Da Du in Bürgerschaft und Senat etwas zu bestellen hast, kannst Du vielleicht veranlassen, daß sie in Wohnvierteln keine Fleischwaren feilhalten dürfen. Obwohl mein Sturmführer Preester nicht dieser Meinung ist, fasse ich doch die Absichten des Führers dahin zusammen, daß der kleine Mann auch leben soll. Lieber Kamerad, ich wäre Dir sehr dankbar, wenn ich Dich mal sprechen könnte, nachdem ich Dich noch niemals angegangen oder belästigt habe. Otto Lehmkes Bierstube, Wandsbek 8494, richtet mir jeden Anruf aus. In treuer Parteigenossenschaft, Heil Hitler, Dein Albert Teetjen, Schlächtermeister.«

Teetjen betrachtete seine Unterschrift, der er einen energischen Schwung gegeben hatte, infolgedessen sie mit einem leichten Anstieg endete, trocknete die Feder an der Zeitung, überlas den Brief noch einmal und sagte bewundernd: »Wo du das nur her hast, Stine. Das redt ja wie ich selbst, aber besser.« Stine lachte: »Tja, Dummchen«, rief sie, indem sie ihm den schön geteilten Scheitel zauste, »unsere Schule in Blankenese hat halt was aus mir gemacht. Und warum hast du dich seit unserem Ausflug nach Farmsen am Sonntag gewehrt und gesträubt, erstens überhaupt zu schreiben und zweitens, wie ich es mir dachte?« – »Weil’s keinen Spaß macht, den reichen Reeder Footh anzubetteln. Denn darauf kommt es doch heraus. – Ein Geldschrank hackt dem anderen die Augen nicht aus in unserem neuen Reiche.« – Stine runzelte die rotblonden Brauen. »Anbetteln«, sagte sie strafend. »Einer hilft dem anderen. Im Weltkrieg halfst du ihm dreioder viermal aus dem Dreck. Das vergißt du bloß immer.« – »Tja«, murmelte Albert Teetjen, den Brief zusammenfaltend, »das war damals, inzwischen haben sich die Weichen umgestellt. Klettert mächtig nach oben, der Footh. Sucht und findet Anschluß. Hat ja auch so was Nettes um die Augen und den Mund. Wenn wir uns trafen, war er immer der anständige PG. Aber was weiß man, wie es jetzt in ihm aussieht. Wirtschaftsführer! Große Geschäfte! Seine Tankerflotte zählt schon fünf Schiffe. Manchmal im Hafen zeigen sie sie mir, und wenn ich dann sage, wir waren Kriegskameraden in Weißrußland und haben manches Ding zusammen gedreht, dann beglückwünschen sie mich: Alberten kann’s nicht schlecht gehen. Komm, Albert, gib mal was aus. Und dann soll ich eine Runde Köhm schmeißen oder dänischen Aquavit, wenn wir im Freihafen arbeiten. Bis jetzt hat er mich nur gekostet, der Kamerad Footh.« – »Paß auf, Albert«, damit setzte sich Stine neben ihn aufs Sofa, »diesmal bringt er uns Glück. Soll sich ja so manche Braut unter den Fräuleins vom Harvestehuder Weg angelacht haben. Und was einer hat, das bringt er auch anderen. Hier ist seine Adresse.« – Und sie reichte ihm einen grauleinenen Briefumschlag, auf dem von fremder Frauenhand in wohlgestalten Schriftzügen »Herrn Hans P. Footh, Hamburg-Roterbaum, Harvestehuder Weg« geschrieben stand. »Privatadresse«, strahlte sie, »damit es nicht unter der Geschäftspost verschwindet.« – »Deern«, rief Albert bewundernd, »was haben wir doch für eine kluge Else.« – »Stine«, verbesserte sie die Redensart, die, wie sie wohl wußte, aus einem Grimmschen Hausmärchen stammte. Er faßte sie an den Schultern, schüttelte und küßte sie, erregte sich dabei und schob sie vor sich hin ins Schlafzimmer, wo im Dämmerlicht des Abends die beiden Betten den quadratischen Raum beherrschten. Sommerwarm stand die Luft zwischen den hell getünchten Wänden. Viel zu heiß lag es sich unter den dicken Federbetten, wenn man noch irgendetwas anhatte. »Über dem Eßtisch brennt noch das Elektrische«, mahnte Frau Stine, während sie ihre Röcke fallen ließ und das Hemd über den Kopf streifte. »Laß brennen«, rief Albert heiser, stürzte aber doch noch zurück und drehte den Knipser. Mozarts Musik hatte längst geendet.

II

»Bei Nathansons, so lange es sie gab, pflegte es in diesen Stunden hoch herzugehen, Garden Party und Hauskonzert zur Feier des Tages.«

Die junge Dame, die dies am folgenden Nachmittag sagte, lag, die Arme hinterm mattblonden Haar gekreuzt, in einem Liegestuhl. Die Terrasse, auf der er stand, erlaubte einen Durchblick zwischen den Villen und Wipfeln der vorderen Straßen auf das Becken der Außenalster, das sich hier kilometerweit öffnete.

Hans Peter Footh, die schweren Hände zwischen den Knien, richtete seine kleinen, intensiven Augen überrascht auf den blaßroten Mund seiner schönen, goldbraunen Freundin. In langen weißseidenen Beinkleidern, den Oberkörper nur mit einem Brusttuch geschmückt, hellrot-weiß-blau wie die holländische Flagge, lag sie da und gab ihm Rätsel auf. Aber gerade das liebte er an ihr. Auf seine bekannt nette Art war er seiner Sache und der Partei in allem Wichtigen sicher genug, um sich kleine Blößen geben zu dürfen. Annette Koldewey, Tochter eines hohen Verwaltungsbeamten, des Zuchthausdirektors von Fuhlsbüttel, galt als sehr gebildetes Mädchen. Sie hatte schon in der republikanischen Hamburger Gesellschaft verkehrt; weniger zu wissen als sie, schändete niemanden. »Feier des Tages?« fragte er, »was war denn 1870 am 28. August?« – Annette lächelte leise, ihre slawisch braunen Augen, eingebettet zwischen hochgerückten Backenknochen und einer eigensinnigen Stirn, musterten freundlich den Mann in den weiten blaugrauen Schifferhosen, der über hundertfünfzig Angestellte gebot und dem sie sich zu eigen gegeben hatte, auf Kündigung und bis auf weiteres. Vorsichtig vermied sie den Ausdruck Liebe, um das zu kennzeichnen, was sie mit Footh verband. Er hatte sich schon vor Jahren scheiden lassen und war bereit, sie jeden Tag zu heiraten. »Goethes Geburtstag«, gab sie Bescheid. »Nathansons feierten ihn. In den Tagen der Republik nahmen ja viele davon Kenntnis. Jetzt sitzen Nathansons drüben in Stockholm und warten auf den Tag ihrer Rückkehr.« – »Wird ihnen die Zeit nicht lang werden?« spottete Hans Footh. – »Wir sprachen sie im Frühjahr«, entgegnete Annette. »Konsul Nathanson ist klug. Ich gebe eurem Führer noch ein paar Jahre, sagte er. Dann macht er eine ganz große Dummheit und setzt die Welt in Brand, und danach kommen wir wieder. Seine komischen Vorstellungen von England und Amerika werden ihm den Hals brechen.« – »Kluger Mann!« empörte sich Hans Footh. »Sonderbaren Umgang erlaubte dir dein Vater.« Annette blickte vor sich hin: als ob ihr eigener Wille nicht ausgereicht hätte, sie zu leiten! Dann verzog sie ihre Brauen zu bedrängtem Ausdruck, wollte etwas entgegnen, zog es aber vor, die Glastasse mit Tee an die Lippen zu setzen, den Duft der Mischung einzuatmen, die sie selbst aus Darjeeling und Pekko hergestellt hatte, und sich in langen Zügen zu erfrischen.

Footh und sie hatten die ersten Stunden des Nachmittags auf seinem Segelboot verbracht und waren noch nicht lange wieder zu Haus. Da Sonnabend Mittag das Weekend begann, belebte sich das Wasser von Stunde zu Stunde. – Grund für manche Leute, den Tee lieber daheim zu nehmen. Zuviel Gesang, Gerufe und Grammophon. »Armer Papa!« seufzte sie bedrückt.

Im Schlafzimmer, vor welchem die Terrasse sich erstreckte, und das sie gleichsam ins Freie fortsetzte, schnarrte das Telefon. Herr Footh erhob sich schwer aus seinem Sessel, Stahlrohr, bespannt mit bunten Gurten, sogenannter Bauhausstil, und ging hinein. Annette musterte den wiegenden Gang, den Herr Footh von den Kapitänen seiner Tankschiffe gelernt hatte. Eigentlich müßten von seinem Rücken Hosenträger herunterbaumeln, hin und her, wie bei Jannings im Film, dachte sie angeärgert. Und hoffentlich bringst du auch einmal so viel Verständnis für den Stil deiner Tochter auf wie mein Papa. Der Vater hatte Sorgen. Die Krankheit dieses Herrn Denke aus Magdeburg, zuerst nur eine leichte Betriebsstörung, machte ihm seit ein paar Tagen schwer zu schaffen. Annette, seine Älteste, seit dem Tod ihrer Mutter daran gewöhnt, mit ihm zu tragen, was ihn bekümmerte und freute, wand sich jetzt auf ihrem Liegestuhl vor Hilflosigkeit. Ihre Blicke, wie Rat suchend, schweiften in den blauen Sommerhimmel; dann griff sie zu einer Zigarette. Wer konnte hier helfen?

Herr Footh kam zurück, einen Brief in der Hand, der ihm durch den Speiseaufzug hinaufgesandt worden war. »Kennst du die Schrift?« fragte er Annette, bevor er den Umschlag aufriß. »Das ist Käte Neumeiers Schrift. Sie hat sich doch in Wandsbek niedergelassen, nicht? Was will sie von dir?« Herr Footh hatte inzwischen das beschriebene Blatt durchstudiert, zusammengelegt und in die Tasche gesteckt. Halb ärgerlich, halb belustigt sah er vor sich hin. »Deine Freundinnen sollten mit meiner Privatadresse sparsamer umgehen«, meinte er. »Der Brief kommt von jemand ganz anderem, aber der Umschlag stammt von ihr. Ein Wandsbeker Kriegskamerad, der eine Unterstützung braucht. Willst du lesen?« – Annette ließ die Hülle, grau und leinenartig, auf die Holzroste gleiten. »Ich habe wenig Sinn für fremde Leute, solange Papa derart im Druck steckt.«

Herr Footh wußte Bescheid. Annette, vorhin auf dem Deck der Yacht »Goldauge« ausgestreckt wie eine braune Najade, hatte ihm berichtet, daß der Senat ihren Vater dringend ersucht hatte, endlich die Hinrichtung der vier längst zum Tode Verurteilten anzusetzen, ihre Zellen freizumachen. Der Führer wünschte, nach Hamburg zu kommen, der Hochbrücke über die Elbe wegen, die er plante. Aber erst mußte da reiner Tisch gemacht werden, der Prozeß gegen Timme und Genossen ausgespielt haben. Das Reichsjustizministerium war vorstellig geworden, Herr Denke aber, Scharfrichter aus Magdeburg, noch immer bettlägerig. Jetzt mahnte man ihren Vater, Ersatz zu schaffen. »Wenn dein alter Herr diese Genossen noch länger in Pension behält, wird er sich schließlich selbst in den Geruch bringen, Kommunist zu sein«, hatte Herr Footh lachend bemerkt und war ins Wasser gesprungen, während Annette die Segelleine hielt und ihm ein Tau zuwarf, damit »Goldauge« ihm nicht in der leichten Brise um Hunderte von Metern entschlüpfte. Jetzt plötzlich erhob er sich vom Stuhle, schlenderte an die Brüstung der Veranda, kam zurück, schenkte sich einen Kognak ein, Martell stand auf der dickbäuchigen Flasche. »Dem Manne kann geholfen werden. Beiden Männern. Deinem Vater auch. Nu, lies das mal.« Und er reichte ihr mit leicht zitternder Hand das geöffnete Briefblatt hin: »Geburtstagsgeschenk vom alten Herrn Goethe«, schmunzelte er.

Annette überflog die Zeilen, blickte verständnislos zu ihm hoch. »Ein Kriegskamerad«, wiederholte sie, »gut und schön. Albert Teetjen. Und was hat das mit meinem Vater zu schaffen?« – »Dummchen«, rief er und machte mit dem Zeigefinger unter den Namenszug eine unterstreichende Bewegung. »Albert Teetjen, Schlächtermeister«, betonte er dazu. Annette ließ die Hand mit dem Briefe sinken, das Papier fallen. Der Wind trieb es ein paar Schritte über die Veranda, nun lag es neben dem grauen Kuvert. Aus weitgeöffneten Augen drängten sich ihre Blicke in die seinen, sonst regte sich nichts in ihrem Gesicht. »Laß die kostbare Adresse nicht fortfliegen«, rief Footh und setzte seinen Fuß mit dem Segelschuh darauf, bückte sich und barg es in der Seitentasche. »Wieviel, sagtest du, soll dem Herrn Denke die Berufsausübung diesmal einbringen?« – Annettes Mund stand leicht geöffnet, mehrere Atemzüge lang. Sie legte ihre braune Hand ans Kinn, über dem sich die Wangen straff und schön rundeten, herzförmig gleichsam, ziemlich slawisch: »Ich glaube zweitausend Mark«, antwortete sie halblaut, bewegt von Bedenken, gleichsam benommen. Er verstand die Regungen nicht, die in ihr auf- und abstiegen. »Wetten, daß es klappt?« rief er. »Was kriege ich, wenn deinem Vater der Rotwein wieder schmeckt?« Ein glückliches Lächeln lockerte ihren Mund, und indem sie ihm beide Arme entgegenstreckte und auch die Schultern zu ihm emporhob, hörte sie, sie wußte nicht warum, von ihrer inneren Stimme zwei berühmte Verse Gretchens, die hier genau paßten: »Ich habe schon so viel für dich getan, daß mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt.« Aber sie sprach sie nicht aus, da er bestimmt hätte fragen müssen, woher das sei. Und niemand, sie am wenigsten, wäre imstande gewesen, einem so offenkundig hilfsbereiten, warmherzigen Manne Bildungslücken vorzuwerfen. Die gehörten fast zu seinem Typ, einem guten, neuen, wohlverstanden.

III

Es geht auf den Herbst zu, dachte Herr Koldewey, während er seine Rasiersachen zurechtmachte. Perlmutternes Morgenlicht und von der See her schon eine kühle Brise, die Wipfel der Ebereschen angegilbt und die Früchte darin kostbar rot wie mexikanische Opale. Ohne den September könnte unsereiner das ganze Leben kaum noch so gut mitspielen. Wer die Sechzig überschritten hat, lebt ohnehin im September, bestenfalls. – Er hätte sich gern einen Backen- oder Kinnbart stehen lassen, wie er eigentlich zur hamburgischen Tradition eines älteren Herrn gehörte. Aber sein Sinn für Physiognomie und passendes Aussehen verbot ihm das. Sein Kopf, an welchem mit hoher Stirn, langer Oberlippe und langem Kinn, bei leicht offenstehendem Munde, ohnehin alles in die Länge strebte, wäre im Bartschmuck lächerlich hamburgisch erschienen. Wenigstens behauptete das seine Tochter Annette, so oft er auf derartiges hinpirschte, und Annette hatte bei ihm nicht nur einen Stein im Brett. Es gibt geheime Hintergründe innerhalb von Familien und Menschen, aus denen die Handlungen und Meinungen wachsen, die Freunde nur von der Außenseite wahrnehmen, dachte Herr Koldewey, während er seine Wange mit dem vergoldeten Rasierapparat bearbeitete, den ihm ein amerikanischer Freund und Berufskollege geschenkt hatte. Nichts erschien Herrn Koldewey sinnbildlicher für die moderne Gesellschaft als solch ein goldenes Gerät – cäsarischer Luxus, der im Grunde genommen als Material kaum den Wert eines Groschens darstellte. Mit seinem ornamentierten Schaft, glatten Flächen und goldenen Glanz war er von den Arbeitern der Gilette-Werke und dem Geschick der Propagandisten zu einer ansehnlichen Dollarware veredelt worden; würdige Gabe eines Zuchthausleiters in New Jersey an einen hamburgischen Staatsbeamten, der innerhalb seines Amtsbereichs auch ein KZ-Lager dulden mußte. Was nun die Hintergründe anlangt, fuhr er in seinen Gedanken fort, so gleicht jeder Zustand meiner Rasierschale hier. Von dem Tischchen, auf dem sie steht, krümmt sie sich jeden Augenblick weg, von ihm aus gesehen ist sie konvex. Auf mich aber krümmt sie sich jeden Augenblick zu, von mir aus ist sie konkav. So steht es um die Beziehungen von Menschen zueinander. Sie werden von ganz verschiedenen Koordinaten beherrscht, je nachdem man sie von außen sieht oder von innen. Es gehört jedenfalls zu den Pflichten des Kulturmenschen, weder alles wissen zu wollen, noch sich in die Karten gucken zu lassen. Sich umzukrempeln wie ein Handschuh vor dem Feldwebel, dem Steuereinnehmer und dem Herrn Pastor war protestantische Ethik, das Geschenk Luthers an seine Fürsten. Kehren Sie gefälligst Ihr Innerstes nach außen, damit wir sehen können, daß auch Sie nichts sind als Teig. Das verlangt heute die Partei. Bitte sehr, meine Herren. Als der Kaiser noch regierte, war ich bismarckisch; während der Republik ein konservativer Hamburger. Und jetzt soll ich vor dem Müll kapitulieren, dem uns diese Schwerindustrie verkauft hat? Das dürfte sich Lebenslinie nennen! Nein, meine Herrschaften. Sie konnten uns einen notorischen Lumpen zum Gauleiter setzen, der sich das E.K.I. selber verliehen hat, gleich Herrn Hitler, und niemals im Kriege war, gleich Herrn Goebbels; sich aber mit dem Flieger- und dem Verwundetenabzeichen schmückt. Diesem Mann und seinem Blockwart bin ich natürlich Rechenschaft schuldig schon am frühen Morgen – denkt er, aber, mit ganz langem A ... Dann trocknete Herr Koldewey sein Gesicht, rieb es mit wohlriechender Essenz ab und säuberte das vergoldete Gerät, zu welchem ein ebenso prunkvolles Etui gehörte. Er wartete sehnlich auf seine Tochter Annette. Immer, wenn das Geräusch eines Motors zu ihm drang, beugte er sich aus dem Fenster; aber es waren zumeist Flugzeuge, die den Flughafen Fuhlsbüttel anflogen oder von ihm aufstiegen. Im weiten Himmel brummten kreuzförmige Libellen. Zeitig muß anfangen, wer einen Horch von einem Daimler unterscheiden lernen will, lächelte er. Am Klang nämlich. Thyra und Ingebottel verstehen das, von Annette zu schweigen. Haben eben schon zeitig angefangen, die Gören. Die beiden ersten Namen bezeichneten seine jüngeren Töchter mit den Spitznamen, die sie in der Familie trugen – gutgewachsene, engäugige junge Damen, die vorhin mit dem Vater bereits gefrühstückt und sich dann von ihm verabschiedet hatten. Solche berufstätige junge Mädchen von Familie wurden zwar wochentags in den Kontoren der Innenstadt und der Staatsverwaltung festgehalten, strebten am Sonntag aber um so eiliger ins Freie, wo sie in der Harksheide oder dem Tangstedter Forst mit ihren Klubs ein heidnisch gesundes Körperleben pflegten, soweit neuere Bedürfnisse des Heeres und der Partei den Wald nicht sperrten. Zum Kaffee hatte Koldewey also noch Gesellschaft, um acht war man allein, um neun, schon gefrühstückt und geschwommen, kam Annette. Wer weise war, legte sich mit seinem Nietzsche wieder zu Bett und rauchte eine Vorstenlanden. Gebenedeite Stille des Sonntagmorgens. Kein Telefon, kein Rapport, keine Besichtigungen. Die Nachteile der Dienstwohnung, der roten Ziegelvilla außerhalb der roten Mauern, aufgewogen durch die Lage weit draußen, wiewohl eng angeschlossen an das hochentwickelte Verkehrsnetz, das die Republik hinterlassen hatte. Und was für Spaziergänge hinüber nach Ohlsdorf, wo man in einem See baden konnte, nachdem man als philosophischer Mensch die Nachbarschaft der Toten auf dem Zentralfriedhof sich hatte gefallen lassen. Die Toten störten nie. Nur die Lebendigen gaben zu Klagen Anlaß. Das KZ-Lager da drüben, beispielsweise. Unbeeinflußbar, unzugänglich, nicht loszuwerden.

Erst als Annette ihn mit einem Kuß weckte, stellte sich heraus, daß Herr Koldewey eingeschlafen war, die Zigarre ordentlich im Aschenbecher und die Hand mit der »Götzendämmerung« auf der Bettdecke des Doppelbettes, das er, obwohl schon so lange Witwer, nie abgeschafft hatte. »Kind«, rief er aus, »bist du durchs Fenster hereingeflogen? Wie ist es dir ergangen? Glänzend, wie ich sehe.« – Sie setzte sich auf den Bettrand und puderte ihre Nase, die von der Fahrt in dem schlanken Sportwagen, ihrem »Adlerchen«, gerötet worden und ohnehin sommersprossig war. »Ich bringe dir etwas mit«, sagte sie. – Dich selbst, dachte er, bewegt von einem Gefühl der Eifersucht gegen ihren Freund, wovon er sich durchaus Rechenschaft gab; ein Liebhaber Nietzsches durfte sich nichts vormachen. »Wart ein Weilchen«, sagte er, »sonst vergesse ich die Stelle, über der ich weggedöst sein muß. Ist ein Mensch verantwortlich für den Schatten, den er wirft, ein Dichter oder Denker für die Mißverständnisse, die er erzeugt oder denen er unterliegt? Das sag mir mal.« – »Eine Kernfrage des Morgens früh«, lächelte sie, die feinen Brauen zusammenziehend. »Dein Nietzsche zum Beispiel für ›blonde Bestie‹ und dergleichen?« – »Das Grundproblem unserer Tage«, bestätigte er und las vor: »›Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks. Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott Lieder singend.‹ – So Friedrich der Schnauzbärtige. Nun paß auf. Er spielt hier auf den Vers an:

›So weit die deutsche Zunge klingt

Und Gott im Himmel Lieder singt.‹

Offenbar scheint er hier, gleich dem Volksmund, Gott singend und im Nominativ vorzuführen, statt, wie es doch gemeint ist, passiv und im Dativ. Jedenfalls deutet er nirgendwo das Gegenteil an. Nicht?« und er hielt ihr das Buch hin. Annette aber nahm und schloß es. Sie hatte lange genug die Mutter vertreten, um sich alles gestatten zu können; außerdem aber drängte es sie, die große Freude loszuwerden. »Herr Footh«, schoß sie los, »läßt sich dir empfehlen; er ist auf der Fährte eines Stellvertreters für Herrn Denke und hofft, morgen abend schon berichten zu können. Ich habe ihn daraufhin zu einer Schüssel Krebse eingeladen, deine Einwilligung vorausgesetzt.« – Herr Koldewey richtete sich langsam im Bette auf, sog mit der Unterlippe an seinem kurz gehaltenen Schnurrbart, umfaßte mit beiden Händen die Schultern seiner Tochter. »Berichte mehr, Annette«, bat er, und die Lider von den gewölbten Augäpfeln weit zurückgezogen, hörte er ihr zu. »Hm«, sagte er dann. »Du weißt, daß ich in dieser ganzen Angelegenheit passiver geblieben bin, als es meiner Natur entspricht. Warum?« – »Weil du diese vier Hinzurichtenden für unschuldig hältst?« fragte sie zurück. »Kluge Kleine«, nickte er. »Auf keinen Fall so schuldig, wie das Urteil will. Wenn die Prozeßführung aus einer Schießerei zwischen aufgeregten Jugendgruppen überlegte Morde konstruieren muß, so ist das ihre Sache, die Sache preußischer Juristen in Altona. Nun paß auf. Erinnerst du dich an den ›Fischer un syne Fru‹?« – »Ein Grimmsches Hausmärchen, das nur plattdeutsch vorliegt«, lächelte sie. »Ich lese es gern mal wieder.« – »Dort führt der Erzähler seine Fabel so, daß noch Hoffnung für das Ehepaar bliebe, welches hier die Menschen vertritt, wenn sich diese Ilsebill einmal zufrieden gäbe. Sie kann sich aber nicht zufrieden geben; immer aufs neue plagt sie den braven Butt mit größeren Wünschen. Es ist eine malaiische Geschichte, habe ich mir sagen lassen, eine Zaubergeschichte, von Seeleuten mitgebracht und darum nur niederdeutsch erzählt. Nun, in der Sache dieser vier Leute verhalte ich mich ein wenig wie jener geduldige Zauberfisch, der verwünschte Prinz, nur umgekehrt. Als Einzelperson vermag ich ja gar nichts. Aber die Vertreter einer regierenden Schicht sind gewissermaßen auswechselbar, und nimmst du statt meiner zum Beispiel Freund Lintze, Oberstleutnant Lintze vom Wehrkreis 10, so vermöchte der schon allerhand. Also – ich zögere hin. Ich finde niemand. Ich gebe unserem Staate noch eine Chance, unserem Hamburg, dem Reiche, unserer bürgerlichen Gesellschaft. Es sind Gnadengesuche für die Vier unterwegs, gleichzeitig wird Scharfrichter Denke krank und liegt in seinem Bette. Du siehst, es kann etwas geschehen. Und nun kommst du und dein Herr Footh, und ihr macht es spannend.« – »Und ich habe es so gut gemeint«, rief Annette klagend. – »Weiß ich«, nickte er zärtlich und küßte sie neben den Mund. »Du bist nur Werkzeug, dein Footh, ich, wir alle. Etwas vollzieht sich in der Welt, wir haben die Ehre, dabei mitzuspielen.« – »Es ist ja auch noch nicht gewiß, daß etwas aus der Sache wird«, tröstete sie sich. – »Nein«, bestätigte er langsam und stand auf, »es ist noch nicht gewiß. Vor ein paar Wochen las ich irgendwo, daß nicht einmal mehr die mechanische Physik an die Determination glaubt. Selbst bei den Molekülen, sagt James Jeans, liegen gewisse Entscheidungen auf den Knien der Götter. Laß also sehen, ob wir Hoffnung haben. Die Chancen stehen föftig föftig. Werden die Vier gerettet, so geht das Kreuz an uns vorbei. Herr Hitler stürzt sich in einen kleinen Krieg, und der ganze Spuk versinkt in einem Blutsumpf. Besteigen sie das Schafott, so bleibt das Dritte Reich in Kraft und Blüte und verpestet unser Volk, Europa, die Erde, ohne Aussicht auf Hoffnung. Denn von innen her zerfällt das nicht. So seh ich diesen Kram.« – »Das wäre zum Verzweifeln«, meinte sie leise. »Und ich dachte schon, im vorigen Jahre seien die Würfel gefallen. Weiser Vater.« Und jetzt küßte sie ihn, und gar nicht kindlich, wie ein erwachsener Mensch einen anderen. Im vorigen Jahre waren ihr Bräutigam Hans Wieck und ihr Vetter Manfred Koldewey in Spanien als Franco Flieger abgeschossen worden, im gleichen Bomber, von einem russischen Kampfflugzeug, nachdem sie baskische Städte in Trümmer gelegt hatten. Ohne diesen Vorfall, den die Zeitung ein tragisches Unglück hatte nennen müssen, wäre Hans P. Footh mit seiner Werbung wohl im Schatten geblieben. Vater und Tochter, beide dachten an diese jähe Kurve; dann fragte er: »Hast du Lust, mich ein wenig hinauszufahren? Um zwölf möchte ich bei Hagendörps sein. Sie spielen Brahms.«

IV

Das vielfache Brausen des Hafens am Montag vormittag wurde jetzt gerade übertönt durch den tiefen Baß, mit dem ein Ozeandampfer sich an seinen Platz schob, aus mächtiger Kehle reichlich Laut gebend. »Yaukuni Maru«, sagte Herr Footh, indem er seinem Gegenüber, Kapitän Carstanjen, über den Schreibtisch weg die Hand auf die Schulter legte, ihn wieder in seinen Stuhl drückend. Kapitän Carstanjen, breit und kahlköpfig und zu Schmeicheleien geneigt, wie viele Seeleute, äußerte etwas Verbindliches für Herrn Footh, daß er alles, was sich in der Nähe seiner Räume im Hafen rege, offenbar schon auswendig kenne. »Wär’ ja auch ein Skandal«, lachte Footh, »heute, wo alle Straßenjungen der ganzen Welt einen Junkers von einem Dornier am Klang unterscheiden können. Diese Japaner sind gute Schiffe, habe ich mir sagen lassen.« – Der Kapitän bestätigte: »Sehr gute. Moderne Motorschiffe, die durch die bewegte See fahren wie Bügeleisen über ein Plättbrett.« Mit ihren schwarzen Rümpfen und gelben Schornsteinen traf man die Marus der Nippon-Yusen-Kaisha gelegentlich in Neapel oder Marseille; in Hamburg war er noch mit keinem zusammengetroffen. Dabei horchte er immer unruhig nach draußen, wo vor dem breiten Fenster im fünften Stock des Bürohauses die von Dunst und Dampf überwölkte, grau bewegte Fläche des Hafens sich ausdehnte – eines kleinen Teiles vielmehr, über dem Möwen blitzten, Kräne knirschten, den Schuten und Fährboote durchzogen und hinter dem sich um den hoch aufsteigenden Turm von St. Michaelis ein Stück von Hamburg lagerte, die wie ein Insektenbau dicht gedrängte, von Häusern wimmelnde Innenstadt. Kapitän Carstanjens »Neunauge« befuhr die Mittelmeerroute und kam gerade, alle seine Tanks voll hochwertigen Öls, aus Haifa. Er war bestrebt, zu wissen, ob seine nächste Fahrt nur bis Konstanza oder durchs Schwarze Meer nach Batum führen werde. Er wurde Mitte Oktober fünfzig Jahre alt und wünschte, diesen Ehrentag daheim zu verbringen und Sohn und Schwiegersohn dabei zu haben; da der eine bei der Lufthansa angestellt war, der andere bei der Reichsbahn, war es höchste Zeit zum Disponieren. »Beruhigen Sie sich, Käppn«, sagte Footh, »das hängt nicht ganz von mir ab. Mitte Oktober sollen Sie bestimmt wieder zu Hause sein, aber vielleicht kriegen wir Schmieröl aus Tampico, und dann verschiebt sich dieses und jenes. Übermorgen wissen wir Bescheid.« Er fragte ins Telefon, ob Fräulein Petersen schon erfahren habe, wohin die Verteilungsstelle das Öl von »Neunauge« geliefert haben möchte; wo, unbeschadet der Bohrarbeiten für die Fundamente der Elbhochbrücke, über oder unter der Erde, gerade Platz für Petrol sei. »Wär’ ja wunderbar, wenn solch ein Riesenwerk unsere Unterelbe bei Finkenwärder überspannte oder sonstwo. Gruß und Sinnbild des Neuen Reiches«, äußerte Herr Footh ernst, zu seinem Besucher hingekehrt. »Leider hapert es mit dem Untergrund, behaupten die Geologen. Nun, der Führer wird’s schon schaffen.« Eine große Wandkarte hinter seinem Kopf zeigte Nordwestdeutschland mit Flughäfen, Autostraßen, Großtankstellen und verschiedentlich gelben Kreisen, nahe von Eisenbahnen und Kanälen. Da lagen die großen unterirdischen Reservoire, die der Heeresleitung unterstanden. Auf der linken Schmalseite des Zimmers aber, und die massige blaue Gestalt Kapitän Carstanjens verdeckte sie zum Teil, hing eine mehr schematische Weltkarte kleineren Maßstabes, auf welcher die Petroleum liefernden Häfen mit roten Bohrtürmen angegeben waren, kleine Fähnchen mit Ziffern eins bis fünf bezeichneten Punkte, an denen sich gerade Herrn Fooths Flottille befand. »Was seh’ ich, Sie sind noch in Haifa!« rief Herr Footh munter, drückte eine Klingel und ließ von dem eintretenden Fräulein Krüger das Fähnchen drei von Haifa nach Hamburg übertragen. In Spanien siegte Franco. Neville Chamberlains Engländer wagten nicht zu mucksen, wenn ›unbekannte U-Boote‹ britische Frachtschiffe versenkten oder mit Kanonen beschossen, und die russischen Hilfsmaschinen erwiesen sich als Dreck. Das autoritäre Prinzip setzte sich überall durch, wo es offen auftrat, noch mehr aber im geheimen. »Neugierig, was uns Kapitän Meinke aus Rio berichten wird. Lateinamerika segelt großartig voran. In den USA. machen die Republikaner, mit dem deutschstämmigen Wendell Willkie an der Spitze, bei den Wahlen übers Jahr bestimmt das Rennen – nein, ich irre mich, erst in zwei Jahren rutscht Mr. Roosevelt in die Versenkung. Der alte Löwe Großbritannien hingegen weiß sehr gut, daß seine Zähne wackeln. Wie sieht’s für ihn und seine Juden in Palästina aus? Aufstände im ganzen Lande. – Stopfen Sie sich doch noch eine Piepe, Käppn.« – Carstanjen wußte, daß seine Abrechnungen inzwischen geprüft wurden, und daß er also noch gut eine Viertelstunde hier werde sitzen müssen; er stopfte, paffte und berichtete. Überall im Lande flogen Minen unter den Lastwagen auf, die englische Truppen an besonders bedrohte Plätze beförderten. Just während seiner Anwesenheit in Haifa war im Geschäftsviertel eine Aktentasche mit einer Bombe explodiert, die einem arabischen Radfahrer die Beine lädierte. Im Hafen machten sich die Italiener breit, die Schiffe des Lloyd Triestino und die Flugzeuge der Ala Littoria; die Briten in ihrem Dünkel ließen alles ruhig gehen. Die getrennt gesprochenen Sp- und St-Laute gaben den Sätzen des Kapitäns ein anheimelndes Gepräge, während er erzählte, daß die deutsche Kolonie in Haifa von den Geheimnissen des Aufstandes mehr wüßte als der Intelligence Service, wenn auch weniger als das italienische Konsulat. Eine besonders hübsche Sache habe er selber im Shuk mitangesehen. Dort sei ein riesiger Tisch zur Schau gestellt worden mit Solinger Schlächtermessern, die ein Mann der NSBO. vom »Neunauge« aus Parteimitteln mitgebracht und an Araber zum Weiterverkauf geliefert hatte; lange, gerade Klingen, so recht für den heimischen Gebrauch, wie die Araber ihn verstanden. Sie hätten denn auch mit entsprechenden Mienen den Tisch umfeilscht; leider wenig gekauft – vorläufig, weil die Japaner mit ihrem »Solingen« die Preise verdarben. Aber eine tapfere jüdische Dame, die bei Besorgungen vorüberkam, hätte sich mal eben an die Wand lehnen müssen und sei schleunigst umgekehrt. Vielleicht besaß sie das zweite Gesicht, wie so viele Leute von der Waterkant, und witterte schon, wo diese Klingen in »ihren Leuten« stecken bleiben würden. »Schlächtermesser?« wiederholte Herr Footh lächelnd. »Dabei fällt mir was ein. Entschuldigen Sie, Käppn«, und er gab telephonisch Fräulein Blüthe die Anweisung, ihn mit Wandsbek 8494 zu verbinden und seinen Kriegskameraden Albert Teetjen an den Apparat rufen zu lassen. Otto Lehmkes Bierstube werde sich melden. Dann warf er die Frage hin, was denn die Haifaer Arbeiter dazu sagten, wenn im Hafen die Hakenkreuzflagge wehte. Und er schmunzelte, als ihm der Kapitän versicherte, da dürfe keiner die Miene verziehen. Von Fall zu Fall hinge ja auch in der deutschen Kolonie die neue Reichsflagge über die Straße. Und wenn gerade angesehene deutsche Touristen im Windsor-Hotel abstiegen, Major von Hindenburg oder Herr von Papen, zeige auch das unsere Farben. »Wird sich wohl so gehören«, grinste Herr Footh, und er erzählte dem Kapitän, der es ja auf See nur kurz durchs Radio gehört hatte, wie wohl sich voriges Jahr der englische König in Salzburg gefühlt habe, und wie herzlich ihn die österreichischen Parteigenossen begrüßt hatten, als er in weißen Lederhosen und Nazistrümpfen dort Einkäufe machte. »Sie haben Eduard VIII. zwar inzwischen kaltgestellt. Aber es sollen in England schon Könige ab- und eingesetzt worden sein, wenn ein starker Königsmacher, wie zum Beispiel der zukünftige Sieger im deutsch-russischen Krieg, auf etwas derartiges dringen sollte.« Der Kapitän rutschte auf seinem Stuhl nach vorn: ob denn Herr Footh an einen Krieg glaube? Die englische Flotte, in Alexandria zum Beispiel, sei keine wurmige Nuß. Gerade hätten in Haifa das Schlachtschiff »Hood« und der Kreuzer »Repulse« ihre Visitenkarten abgegeben – keine bloßen Schaustücke mit ihren riesigen Rohren. »Unser Führer erreicht alles ohne Krieg. Darauf können wir einen trinken.« Und Footh verlangte durchs Telephon zwei Gläser Kümmel.

Sie wurden gebracht von Fräulein Blüthe, die bescheiden und lächelnd ein Tablett auf den Schreibtisch stellte. Dann bat sie, während die Herren anstießen, etwas ausrichten zu dürfen. Herr Teetjen war auf dem Zentralschlachthof und konnte nicht an den Apparat kommen, aber seine Frau war da; ob sie etwas ausrichten solle? Herr Footh stellte sein Glas auf die blanke Nickelplatte zurück und ließ seine Augen, nach innen gekehrt, auf dem hübschen Gesicht des Fräuleins ruhen. »Was Wichtiges. Ich bitte Herrn Teetjen morgen mittag mit mir bei Cölln zu frühstücken, pünktlich zwölf Uhr. Das wird seinem Kredit zugutekommen, zum mindesten bei Otto Lehmkes Bierstube«, zwinkerte er lustig. Und jetzt bemerkte er auch, wie hübsch die Blüthe sich frisiert hatte, und wieviel Wert sie darauf legte, daß er es bemerkte. Leider mußte er ihr gleich einen Schmerz bereiten. »Und nun rufen Sie noch in Fuhlsbüttel an: es habe dann wohl keinen Sinn, wenn ich schon heute herauskäme. Ob wir besagte Krebse auch am Dienstag noch knacken könnten?« – »Sehr wohl, Herr Footh.« Und mit einem wehen Blick ihrer Vergißmeinnichtaugen eilte Anneliese Blüthe an ihr Telephon, wo der schwarze Hörer noch immer auf dem Tische ruhte.

V

Lehmkes gehörten zu den besten Kunden der Teetjenschen Schlächterei – groß im Bestellen von Eisbein, Wellfleisch und Würsten. Herr Lehmke saß an einem seiner Gasttische, sortierte mehrere Spiele Karten, die Preesters Leute gestern nacht auf unmögliche Weise durcheinander gebracht hatten, schob ein Stück Kautabak, einen sogenannten Priem, in die Backentasche und sagte zu seiner Frau, die, Gläser spülend, hinter der Theke stand: »Nun siehst du’s doch. Ollsche Teetjen ist ein feiner Mann. Denn nur feine Leute haben feine Freunde.« Frau Lehmke, Kielerin, eine korpulente Dame mit einem Dutt aus grauen Strähnen über dem Scheitel und kleinen scharfen Augen, neigte offenbar nicht zu der Gutmütigkeit, die man Frauen ihres Formats zuschreibt. »Tja«, erwiderte sie, »Albert hat doch Gardemaß, und die Uniform steht im bannig schön. Aber wenn dich einer fragt, ob sich Stine Teetjen die Haare färbt, so sag nur: meine Frau meint, ja.« – »Das laß du seine Sache sein.« – »Laß ich ja. Meine man bloß. Man wird doch noch was sagen dürfen.«

Als lange verheiratete Leute verstanden Lehmkes einander auch unterhalb des Ausgesprochenen. Frau Fiete Lehmke hatte den erfreuten Blick wohl bemerkt, den ihr Mann der Stine nachgesandt, als sie vorhin so schlank und rank aus der Schanktür eilte, weil sie befürchtete, der Reis brenne ihr an.

»Und ich dachte, die Freundschaft mit dem Footh sei längst eingeschlafen.« Sie zog anstatt des feuchten ein trockenes Wischtuch aus einem Wandfach vor und polierte ihre Gläser. »Warum denn?« entgegnete er. »Die SS. ist doch Adolfs Elite. Da sieht man, wozu es gut ist.« – »Fand immer, Albert gehöre in die SA., und mit der SS. habe er sich eigentlich übernommen.« – »Aber nun zeigt sich’s ja. Einen SA.-Mann Teetjen hätte der reiche Reeder Footh kaum angeklingelt.« – »Und zu Cölln bestellt. Reichtum hin und her – wird wohl auch Gewerkschaftsgelder, ich meine Arbeitsfront, in seinem Betrieb haben.« – »Verbrenn du dir die Snut. Davon ist an unseren Tischen noch nie die Rede gewesen.« – »Nehm’s also zurück. Mir kam’s hoch wegen Cölln, Lehmkes Bierstube hätt’ wohl nicht gereicht.« – »Reg dich ab, Olsch. Der Footh ist doch auch SS. Und wenn’s ihm gerade liegt, kommt er doch zu uns und schnackt sich eins mit dem Albert.« – »Und bindet der Stine das Schürzenband auf, wenn Albert just nicht hinsieht.« – »Glaub ich nicht«, damit stand er auf, um die Spielkarten, des Teufels Gebetbuch, wieder einzuschließen. »Möcht nicht anbinden mit Alberten. Ein Fleischer, der nicht kinderlieb ist. Sonst sind die doch immer so gutmütig.« Frau Lehmke trocknete sich die Hände an der Schürze ab. »Wenn er mal wieder Bargeld braucht, wie halt ich’s ’mit?« – »Immer gib ihm. Hat ja noch stets prompte geblecht. Und jetzt erst recht.«

VI

Stine Geisow, verehelichte Teetjen – es lohnte sich, ihr nachzuschauen. Wie ein Junge lief sie mit ihren schlanken Hüften, die geraden Beine ohne Strümpfe im halblangen Rock kräftig gebrauchend, den Weg in ihren Laden. Sie hielt dabei ihre Brust fest, denn in diesen letzten Augusttagen genoß sie noch die Sommerfreude, so leicht wie möglich und anständig gekleidet zu sein, in helle Baumwollstoffe, bunt bedruckt und weiß punktiert, wie die Mode und die Warenhäuser es wollten; olivgrün vertrug sich gut mit ihrem fast maisfarbenen Haar. Sie wußte wohl, daß sie Otto Lehmke gefiel, hatte es gemerkt und genossen, aber neben Albert kam Lehmke nicht in Betracht, solch ein schwerer Bulle. Gastwirte sitzen immer so dabei und schütten sich Bier in den Bauch, und der gedeiht dann entsprechend. Die Lehmkesche durfte beruhigt sein und ihre Giftblicke im Futteral lassen.

Stine mußte schnell machen. Sie hatte einen Hamburger Klöben, einen Stollen aus Kuchenteig mit Mandeln und Rosinen und bescheiden verwandtem Zitronat in der Backröhre; außerdem aber stand der Reis auf dem Gas, kleingedreht und die Asbestplatte zwischen Topf und Flamme. Aber dennoch, Reis war tückisch; hast du nicht gesehen, brannte er an. Und es sollte heute Reis mit Würstchen geben, die sich nicht verkauft hatten und weg mußten, bevor man sie nur noch als Hundefutter dazugeben konnte. Diese Stunde jetzt, zwischen halb zehn und halb elf, durfte zum Glück die geeignete genannt werden zum Telefonieren. Die Frühauf-Hausfrauen hatten ihr Suppen- und Schmorfleisch schon eingeholt, und die andern, die mal schnell was zum Braten besorgten, weil sie sich erst auf den letzten Drücker entschieden, ob Schweinsschnitzel, Kalbsschnitzel oder Muttonchops, die kamen erst ab etwa halb zwölf. Indes saß als Stellvertretung Dörte Lehmke in Teetjens Laden, naschte einen Wurstzipfel Salami und fertigte die Kunden ab, falls welche kamen. Sie tat das leidenschaftlich gern, ein verfressenes kleines Mädchen, das dick und vollbusig ihrem Vater nachgeriet und danach strebte, Verkäuferin im Dachgeschoß von Tietz zu werden, am Dammtorbahnhof oder bei der Börse, wo im Frühstücksraum schmucke junge Leute Sandwichs zu essen kamen und einen Malaga dazu genehmigten. Die verstanden es, die genossen ihr Leben und ließen anderen auch ein Teilchen. Dörte, eigentlich Dorothea, war noch nicht lange vom Jungvolk der Hitlerjugend zum Mitglied des BDM. aufgerückt, des Bundes deutscher Mädel. Sie schwärmte für Baldur von Schirach, diesen Dichter und Patrizier, seitdem sie ihn bei der Einweihung des Horst-Wessel-Brunnens hatte erblicken dürfen. Noch lieber wäre ihr ja freilich der Anblick von Hermann Göring gewesen, der nach den Bildern ihrem Vater am ähnlichsten sah von allen Führern des Reiches. Aber der kam jetzt nicht nach Hamburg. Der baute die Luftwaffe auf, zur Zerschmetterung der roten Bolschewisten, die die arme Ukraine knechteten und ausraubten. Dörte haßte die Kommunisten, denn ihr Vater haßte sie, sie verdarben ihm bis 33 das ganze Geschäft. »Ja, Frau Teetjen, ich habe was verkauft«, rief Dörte triumphierend als Stine die Türklingel zum Schnappen brachte. »Herr Lawerenz hat plötzlich Besuch bekommen und ein Viertel Pökelzunge holen lassen. Möcht ich auch mal frühstücken.« – »Gott, Dörte«, lachte Stine, »tust ja, als ließe Mutter dich verhungern.« – »Bewahre«, antwortete das halbwüchsige Ding und schnappte begeistert nach dem Rest einer halben Scheibe, die sie zuviel abgeschnitten hatte, als sie vorhin die steif gekühlte schwere Zunge aus dem Kühlschrank nahm, der weißlackiert die Rückwand des Ladens halbierte, der großen Fensterscheibe gegenüber. »Mm«, schmatzte sie, »das läßt sich mal schön an. Aber richtig wär’s erst mit einem Butterbrötchen.« – Frau Stine war inzwischen in der Küche gewesen, wo sie ihren Reis durch Umrühren davor gerettet hatte, anzuhängen, nämlich am Boden des Topfes festzubacken und das ganze Gericht zu verderben; ihr Markknochen, den Albert ihr vor dem Weggehen noch kleingehackt, kochte fleißig und strömte schon Bouillongeruch aus, mit Suppengrün und Petersilie, als sie den Deckel lüftete und wieder schloß. Dabei fiel sie, sie wußte nicht wie, in die Rolle der Köchin zurück, die sie so lange bei Plauts wahrgenommen hatte, bei Apotheker Plaut in der Rothenbaumchaussee. Sie schob Dörten Lehmke die kleine, ebenso dicke Marga Plaut von damals unter (die jetzt längst selbst eine Tochter hatte, in Blomfontein, Südafrika) und sagte: »Mit Gänsefett natürlich, Kind! Wie kommst du auf Butter?« – »Kanonen statt Butter«, rief Dörte strahlend und eilte nach Haus, den Küchenausgang zum Hof benutzend, damit die Ladenglocke nicht überflüssig läute.

Stine aber, leicht beweglich und wie beschwingt, schlüpfte ins Schlafzimmer, zog ihr Kleid aus, dehnte die Arme, erblickte im kleinen Spiegel über dem Waschtisch das rötliche Haar in ihrer linken Achselhöhle und lächelte glücklich. Ihr schmucker Albert liebte sie noch, nach bald zehn Jahren Ehe. Das war was. Im Winter 27 hatten sie geheiratet, nach Ablauf des Trauerjahres, dem Tod ihrer guten Eltern, die der großen Springflut von 26 zum Opfer gefallen waren, auf ihrer Hallig, nahe der dänischen Küste. Damals war der Hindenburgdamm, den die Republik gerade vom Festland nach der Insel Sylt baute, in den grauen Wassern der Nordsee weggeschmolzen, und die alten Geisows, zugleich mit vielen anderen Halligleuten, von ihrer kleinen, flachen Insel verschwunden. Von dem bißchen, das sie ihr vererbten, wurde Alberts Fleischerei modernisiert, eigentlich eine Last. Aber jetzt sah es ja so aus, als seien sie aus dem Schlimmsten. Vielleicht konnte man bald daran denken, doch noch die hübschen braunen Sportschuhe zu kaufen, die ihr in die Augen stachen, so oft sie an Schuh-Leemanns Schaufenster in der Wandsbeker Chaussee vorüberkam. Für braune Schuhe durfte man es ja wohl reichlich spät nennen, aber Mitte September wurden sie im Preise bestimmt zurückgesetzt, und ihr machte es nichts aus. Zu Hause sahen braune Schuhe immer freundlich aus, und der Straßenschmutz im Winter kannte keinen Unterschied zwischen braunem Boxcalf und schwarzem. Auf alle Fälle würde sie jetzt mal ihre Straßenschuhe besohlen lassen. Etwas kam bestimmt heraus morgen um zwölf bei Cölln – und mit wirklichen Ausgaben wartete man selbstverständlich, bis dies Ergebnis sich greifen ließ. Ob freilich Herr Footh fähig sein würde, auf einen großen Warenhauskonzern Einfluß zu nehmen, stand noch gar sehr dahin. Vielleicht aber konnte ihm Albert einen Vertrag abluchsen, das Frischfleisch für seine fünf Tankschiffe zu liefern, das sie in ihren Eiskästen mitnahmen. Regelmäßige Einkünfte, darauf kam es an, sie den laufenden Ausgaben entgegenzusetzen. Damit hatte sie sich die Haare wieder festgesteckt, eine blaue Küchenschürze statt des Kleides angelegt und den Küchenstuhl an eine Stelle gezogen, von der aus sie den Laden und ihren Herd gleichzeitig zu überwachen pflegte. Sie hatte eine Tüte früher Äpfel eingehandelt, grün wie das Rattengift, das Herr Plaut mit seiner feinen Waage den Schiffsgesellschaften zuwog, die es in ihren Speichern und Kielräumen ausstreuten. Eigentlich Fallobst und recht madig; und sie putzte es jetzt für Apfelmus, Kompott, aus dem sie sich sehr viel machte, und Albert auch. Hätte es nur nicht so viel Zucker verschlungen! Wenn man sie geschält und die Griebsche herausgepuhlt hatte, wie Frau Plaut das Kerngehäuse nannte, waren es ja man bloß kleine Viertel, die sie da in die Emailleschüssel mit Wasser plumpsen ließ. Aber helf er sich. Sie wuchsen halt noch nicht größer.

Morgen um zwölf bei Cölln. Albert mußte auf alle Fälle einen Taler Bargeld in die Tasche stecken. Reiche Leute waren oft knickrig und Überraschungen gab es immer.

Zweites KapitelDie Versuchung

I

»Die meisten großen Städte«, bemerkte Herr Footh und träufelte ein wenig Zitronensaft auf ein geröstetes Brötchen mit grauem Störrogen, genannt Kaviar, »die meisten großen Städte verdanken ihr Stadtbild dem Zusammenspiel von Wasser und Feuer. Alle sind einmal tüchtig abgebrannt wie auf Bestellung.« – Albert Teetjen kaute erst zu Ende. Ihm lag nicht viel an Kaviar. Er hatte der weißen Porzellandose in Form eines Fäßchens, mit der Aufschrift Beluga, nur zwei oder drei knappe Löffelchen entnommen: »Was Gott tut, das ist wohlgetan, für die Baumeister und die Terrainschieber«, bekräftigte er dann. – Herr Cölln, den es schon lange nicht mehr gab, hatte seine Gaststätte, in absichtlichem Gegensatz zu süddeutschen Bieren, darauf abgestellt, dem Brauwesen West- und Ostfalens auf die Beine zu helfen oder unter die Arme zu greifen. Infolgedessen genossen seine Gäste noch hundert Jahre nach der Gründung Bier aus Dortmund und Einbeck, das nirgendwo besser gepflegt auf den Tisch kam. Das Holz dieser Tische, naturfarben und gefirnißt, gelblichgrün vor Alter, kam in urwüchsiger Schönheit zur Geltung; es lagen keine Tischtücher bei Cöllns, und die Gäste saßen auf breiten, braunen Sitzen und Bänken, ungepolstert und dennoch behaglich. Man stieg eine Anzahl Stufen in das niedere Gewölbe hinab, von dessen Decke die Modelle hansischer Koggen und Fregatten in genauer Nachbildung hingen, und freute sich dann der Kühle und der würzigen Gerüche, denn Cöllns Küche verwendete nur die allerbesten Zutaten und hielt auf Tradition auch bei den Speisen: solide, reichlich und first class.

Die beiden Herren in SS.-Uniform hatten sich den Platz noch wählen können – man frühstückt spät in Hamburg; vor halb eins liefert die Küche kaum Gerichte, die sie als Tagesplatten ankündigt. Das machte nichts; dafür konnte man sich in eine Ecke kuscheln, hinter einem halbzugezogenen Vorhang aus schwerem Fries, und ungestört eins schnacken. Ein schlanker, brauner Dackel, Ebert geheißen, war mit Herrn Footh dem hellgrauen Mercedes entstiegen und lag jetzt unter seinem Stuhl, zusammengerollt und der Dinge wartend, die in Form von Bissen und Knöchlein aus der Oberwelt zu ihm herabfallen würden. Keiner der Tische stand so nah, daß jemand das Gespräch hätte belauschen können, dem Albert Teetjen gespannt entgegenwartete. Aber er hatte gelernt, sich zu beherrschen und keine Miene zu verziehen. Ihm schien es schon von guter Vorbedeutung, daß Herr Footh sich von Anfang an des Hamburger Platt bediente, als sie einander vor den Eingangsstufen begegneten.

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