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In miteinander verwobenen Episoden beschreibt der Münsteraner Autor Jens-Philipp Gründler, wie die Seelen von in der Vergangenheit zu Tode gekommenen, aber auch in der Zukunft lebenden Heiligen in der gegenwärtigen Welt in Erscheinung treten.
So stellt der Philosoph Leonhard Hagelstein während des Ersten Weltkriegs fest, dass in seinem Körper nicht nur seine eigene Seele haust, sondern auch die einer amerikanischen Sängerin. Daraufhin widmet sich der Denker der Protokollierung seiner Gesichte. Er identifiziert die Seele als aus dem Jahre 2017 stammend, wobei seine persönlichen Erinnerungen immer deutlicher mit den aus der Zukunft kommenden Eindrücken verschmelzen.
Sieben Kapitel handeln von den Lebensläufen dieser ungewöhnlichen Figuren, die mit der Tatsache konfrontiert werden, schon einmal gelebt zu haben und darüber hinaus über Erinnerungen aus künftigen Zeiten verfügen.
Schließlich finden die gemarterten Seelen Erlösung, gelingt es dem Bochumer Maler Hugo Wilhelm doch, das Unbegreifliche in seinen Ölbildern zu bannen und auf diese Weise den Seelen eine letzte Ruhestätte zu bieten...
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Veröffentlichungsjahr: 2022
JENS-PHILIPP GRÜNDLER
Einst gemarterte Heilige
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
EINST GEMARTERTE HEILIGE
Prolog
Das unheilige Leben der Ekaterina Kukava
Die Initiation des Dichters Stefano Rovere
Ferdinand von Lärchenbachs Reise ins Elysium
Keven und das Wunder von Prag
Die Gesichte des Philosophen Leonhard Hagelstein
Moon7 und der Zeitgeist
Die Seelenfängerei des Malers Hugo Wilhelm
Epilog
In miteinander verwobenen Episoden beschreibt der Münsteraner Autor Jens-Philipp Gründler, wie die Seelen von in der Vergangenheit zu Tode gekommenen, aber auch in der Zukunft lebenden Heiligen in der gegenwärtigen Welt in Erscheinung treten.
So stellt der Philosoph Leonhard Hagelstein während des Ersten Weltkriegs fest, dass in seinem Körper nicht nur seine eigene Seele haust, sondern auch die einer amerikanischen Sängerin. Daraufhin widmet sich der Denker der Protokollierung seiner Gesichte. Er identifiziert die Seele als aus dem Jahre 2017 stammend, wobei seine persönlichen Erinnerungen immer deutlicher mit den aus der Zukunft kommenden Eindrücken verschmelzen.
Sieben Kapitel handeln von den Lebensläufen dieser ungewöhnlichen Figuren, die mit der Tatsache konfrontiert werden, schon einmal gelebt zu haben und darüber hinaus über Erinnerungen aus künftigen Zeiten verfügen.
Schließlich finden die gemarterten Seelen Erlösung, gelingt es dem Bochumer Maler Hugo Wilhelm doch, das Unbegreifliche in seinen Ölbildern zu bannen und auf diese Weise den Seelen eine letzte Ruhestätte zu bieten...
Im Essener Museum Folkwang, welches ich regelmäßig in meinen Mittagspausen besuche, hängt ein von der Hand des Malers Hugo Wilhelm stammendes Polyptychon. Seit ich vor einer Dekade nach Essen gezogen bin, und das weltbekannte Museum erstmals besuchte, fasziniert mich diese Renaissancekunst und Neo-Expressionismus kombinierende Mehrfachtafel. Allein dem aufwendig gearbeiteten, goldenen Rahmen schenkte ich bereits stundenlang währende Aufmerksamkeit. Ein eigentümliches Glühen entsteht unter meinem Sternum, sobald ich vor Hugo Wilhelms siebenteilige Tafel trete. Es ist, als würde die Sonne unter meinem Brustbein strahlen und mir eine ungekannte, aber mich freundlich willkommen heißende Welt präsentieren. Schon lange spiele ich mit dem Gedanken, zu den sieben Abbildungen in Öl einzelne Geschichten zu erfinden. Aber am heutigen Tage brauche ich meine Fantasie gar nicht zu bemühen. Die Viten der einzelnen Figuren treten mir vor mein geistiges Auge, und ich habe nichts weiter zu tun, als sie niederzuschreiben.
The Unholy Life of Saint Catherine, lautet der Titel des Pornofilms, in dem Ekaterina Kukava, genannt Eka, die Hauptrolle spielt, ihre erste. Schweißüberströmt lässt Eka den Akt über sich ergehen, doch es dauert und dauert. Immer wieder erscheint der Set Assistent, um die bleiche Haut der gebürtigen Osteuropäerin vom salzigen Rinnsal zu befreien. Ekas Herz schlägt panisch, arrhythmisch und setzt von Zeit zu Zeit aus. In den letzten Tagen hatte Eka Starr, so ihr pornografischer Nom de Guerre, in gleich fünf Produktionen mitgewirkt, aber heute spielt sie ihren ersten Hauptpart. Ihre Nasenlöcher weisen noch Spuren vom Kokain auf, welches sie vor Beginn der Dreharbeiten zu sich genommen hatte. Der picklige Assistent wird vom Regisseur zurechtgewiesen, er solle doch die auffälligen Rückstände des Drogenkonsums entfernen. In der Drehpause bekommt Eka ein weißes Handtuch überreicht, in welches sie sich sofort einwickelt. Ausgehungert beißt die Frierende in das Tofu-Sandwich, welches sie sich morgens in der Küche ihres am Burbank Boulevard gelegenen Apartments zubereitet hatte. Der Geschmack des geräucherten Sojaprodukts ruft in Eka unschöne Assoziationen hervor. Sie denkt nämlich an Feuer, Asche, mittelalterliche Szenen aus Filmen, die sie irgendwann einmal gesehen hat. Eigentlich hätte der dauerhafte Kokainmissbrauch ihre Geruchssinne abtöten müssen, doch jetzt funktionieren sie hervorragend. Eka reibt sich die Nasenspitze, aber der Gestank wird immer intensiver und bald so stark, dass sie ihre Mahlzeit in den Mülleimer befördern muss. Ich habe olfaktorische Halluzinationen, geht Eka auf, der Geruch ist nicht wirklich da, ich bilde ihn mir bloß ein.
Die Dreharbeiten sind äußerst kräftezehrend und die Pausen kurz. Schnell schnupft Eka eine weitere Prise von dem weißen Pulver, und dankt dem Regisseur für seine Großzügigkeit. Im Grunde hatte Eka seit einem halben Jahr keinerlei Drogen mehr angerührt, erst in diesen Tagen, wo sie ihre erste Hauptrolle spielen darf, greift sie wieder zum betörenden Gift. Boris Burduli, der hier Regie führt, bearbeitete seine Aktrice so lange, bis sie nicht länger nein sagte. Denn Kokain, das weiß Boris aus langjähriger Erfahrung, beflügelt nicht nur die Sinne, sondern betäubt auch die Schleimhäute. Und für die nächste Kameraeinstellung ist diese Tatsache von Vorteil.
Man nimmt Eka das Handtuch ab, so dass sie sich nackt und unmerklich zitternd zum Poolbereich der für die Dreharbeiten gemieteten Villa begibt. Gleich fünf männliche Darsteller warten auf ihr zartgliedriges Opfer. Indifferent lässt sich Eka auf ein hölzernes Wagenrad schnallen, denn die Namensgeberin des Schmutzfilmchens, die Heilige Katharina von Alexandrien, wurde ja auf einem ebensolchen gefoltert.
Regisseur Boris Burduli lässt es sich nicht nehmen, die mehr oder minder tauben Glieder seiner Landesgenossin persönlich mit dicken Hanfseilen an die Streben des Rades zu binden. Bei diesem Streifen handelt es sich für Boris um ein Prestigeprojekt, um einen skandalösen Präzedenzfall. Das Leben einer Heiligen hat seines Wissens noch niemand in einem Sexfilm behandelt. Der Ruch des Verbotenen, des moralisch Verwerflichen und Blasphemischen haftet den Szenen an, die jetzt in den Kasten gebracht werden. Von einer Handvoll muskulöser Akteure soll Eka Starr bearbeitet werden, während das Rad auf einer Verankerung zirkuliert.
Eka Kukava, die seit zwei Jahren in den Vereinigten Staaten lebt, ist eine Fremde geblieben, der englischen Sprache kaum mächtig. Freunde hat die Brünette mit den graublauen Wolfsaugen in jener Zeitspanne nicht gefunden, denn im Pornobusiness sind Kameradschaften eher selten. Und Eka ist nie aus San Fernando Valley hinausgekommen, hat sie doch ununterbrochen zunächst in soften, dann aber bald in härteren, besser bezahlten Filmen mitgespielt, um ihrer verarmten Familie in Georgien Geld schicken zu können. San Fernando Valley ist das Mekka der Pornoindustrie. Vor wenigen Jahren gab es einen Streit darüber, ob bei den Dreharbeiten Kondome benutzt werden sollten, da Aids in der Szene grassierte und mehrere Darsteller und Pornoqueens elendig verreckten. Man hatte damals beschlossen, einfach abzuwarten, bis die unschönen Vorfälle vergessen waren, um dann so weiterzumachen wie vorher auch.
Eka hörte von den Skandalen, indes kann sie von ihrem zu Zornesausbrüchen neigenden Regisseur Boris Burduli nicht verlangen, dass er Präservative einsetzt. Denn, so Boris, die Konsumenten der bewegten Bilder mögen es raw, hart oder rau. Heutzutage lässt sich Eka, bevor sie gefilmt wird, ärztlich beglaubigte Atteste zeigen, aus denen hervorgeht, dass die Darsteller HIV-negativ sind. Die Echtheit dieser Dokumente hat Eka aus gutem Grunde nicht angezweifelt, belügt sie sich doch selbst, um ihre Ängste zu verbannen. Dass es genügend Ärzte im kalifornischen Valley gibt, die derlei Schreiben gegen Schmiergelder ausstellen, ist ein Fakt, den auch Eka kennt. Jedoch gibt es keine Alternative, sie muss auf Anstand und Ehrlichkeit ihrer Kollegen vertrauen.
»Niemals gab es eine Zeit, als ich oder du oder all die Könige nicht existierten, noch wird in Zukunft einer von uns aufhören zu sein.« Indem sie sich teilnahmslos auf dem Wagenrad dreht, geht Eka immer wieder dieser Satz durch den Kopf. Wo hatte sie die feierlich klingenden Worte bloß aufgeschnappt? Ekas weit geöffneter Schlund wird von den muskelbepackten Akteuren bereitwillig benutzt. Wie die trocken werdende Zunge eines hechelnden Köters hängt auch ihre über der Unterlippe. Jetzt legt sich einer der Männer unter das Rad, um Eka von unten zu nehmen. Zur gleichen Zeit nähert sich Eka ein Hüne von der Oberseite ihres leidenden Körpers. Trotz der durch das Rauschmittel hervorgerufenen Betäubung spürt Eka unendliche Schmerzen, die vor allem seelischer Natur sind. Warum tue ich mir das permanent an, fragt sie sich und findet die Antwort umgehend. Ihre Großeltern, Vater und Mutter wie auch ihre Brüder haben die Dollars dringend nötig. Für meine Familie lasse ich mich quälen, denkt Eka und greift auf eine Regieanweisung hin in die Intimzone zweier Akteure, um diese mithilfe ihrer Hände zum Höhepunkt zu bringen. Sie ekelt sich vor dem Samen der animalischen Kreaturen, denen der maschinenartige, sterile Sex tatsächlich Spaß zu machen scheint. Stundenlang sind sie in der Lage, ihre Hüften auf und ab zu bewegen, verwenden die meisten Schauspieler doch Elixiere, die den Orgasmus weit hinauszögern. Nach Ende der Dreharbeiten pflegt Eka stundenlang zu duschen, um den Dreck von ihrem Leib abzuwaschen. Doch je länger sie unter dem heißen Wasserstrahl steht, desto schmutziger fühlt sie sich. Eka Kukava kann es kaum erwarten, endlich in ihre Wohnung zurückzukehren, um sich gründlich zu reinigen, so sinnlos dieses Ritual auch sein mag. Aber noch kreist ihr erschöpfter Körper auf dem Folterrad in der Villa, wo die professionellen Mimen das tun, was sie am besten können. Boris Anweisungen überschreiten oftmals die Grenze zum Sadismus, immer wieder muss sein Aufnahmeleiter den hitzigen Georgier darauf hinweisen, dass der Film, den sie drehen zwar hardcore, aber keinesfalls gewaltpornografisch ausfallen soll. Denn die Zielgruppe, für die The Unholy Life of Saint Catherine produziert wird, die Mehrheit unter den Pornokonsumenten, bevorzugt wohl Andeutungen von Gewalt, aber keine real vollstreckte. Die Schauspieler schäumen über vor Testosteron und müssen gebändigt werden wie wilde Bestien. Einer verpasst Eka eine heftige Ohrfeige, ein anderer schlägt ihr wiederholt auf den ohnehin schon geröteten Hintern. Tskhoveli, Tier, flüstert Eka, als einer der Darsteller ihr mehrfach in die Brust kneift.
Die Dreharbeiten werden nach einer weiteren Unterbrechung fortgeführt, nachdem Eka kollabierte. Ihr fahles Gesicht, die blau angelaufenen Lippen und die rot geäderten Augen lassen sie aussehen wie eine Vampirin. Boris versorgt seine Protagonistin mit Zuckerwasser und ebenso süßem Schwarztee, auf die Gabe von Kokain verzichtet der Regisseur, umsichtig wie der in Tiflis Geborene sein kann. Eka kann nicht mehr, das ist Boris Burduli klar. Wenn sie diesen Dreh nicht mehr durchhält, wird er die ätherische Schöne austauschen müssen. Wie so viele abgehalfterte Ex-Pornosternchen wird Eka eine Weile mit ihren Ersparnissen auskommen, bis sie bei Burger King oder anderswo als Putzkraft anheuern muss. Echte Stars, die es im sogenannten Pornotal selten gibt, gehen nach Karriereende dazu über, selbst als Produzenten ins heiß umkämpfte Gewerbe einzusteigen. Doch Eka ist noch zu jung, gerade mal einundzwanzig Jahre alt, und trotzdem schon am Ende.
In der Regel fackelt Boris nicht lang, wenn ein weiterer Körper verbraucht ist. Gnadenlos schießt der dezent tätowierte, ehemalige Soldat selbst die kapriziösesten Diven in den Wind, wenn sie zu leichenhaft wirken und engagiert auf der Stelle neue. Rekrutiert werden diese Aktricen aus dem Pool von Neuankömmlingen, die oft aus den früheren Sowjet-Satellitenstaaten stammen. Sicherlich gibt es auch nach dem Ende der physische Spuren hinterlassenden Laufbahn als Erotikstarlet Möglichkeiten, weiterhin auf diesem Sektor Geld zu machen. Indem man zum Beispiel in ein anderes Genre wechselt, und vor noch unangenehmeren Spielarten des Verkehrs keine Angst hat. Doch mit diesen Optionen setzte sich Eka Kukava bisher nicht auseinander, nahm sie doch an, dass ihr mehr und mehr geschundener Leib noch mindestens fünf Jahre im Business aushält. Nach einem weiteren Kreislaufzusammenbruch fällt es Eka jedoch wie Schuppen von den Augen, mit einem Mal weiß sie, ab heute wird Schluss sein.
Eka beschließt, die letzten Szenen von The Unholy Life of Saint Catherine noch zu Ende zu bringen, um sich dann den Rest der Woche freizunehmen und den endgültigen Ausstieg aus dem Geschäft vorzubereiten. Zucker und Koffein beleben die Kollabierende für einen Moment lang wieder. Weiterhin schwach auf den Beinen, schleppt sie sich zum Schwimmbecken der komplett in weiß gehaltenen, postmodernistisch gestalteten Villa, die einem mit Boris befreundeten Ärzteehepaar gehört. Hier werden die virilen Kollegen von fluff girls bei Laune gehalten, während sie auf Ekas Wiederkehr warten. Lethargisch legt sich der bleiche Star der Produktion auf das Drehrad und lässt sich von einer Assistentin den kalten Schweiß auf Rücken und Beinen abtupfen.
Im Rahmen ihrer Ohnmacht überfielen Eka wohlbekannte Bilder. Traumgebilde waren das, denkt sie, Halluzinationen oder Gesichte. Die gequälte Darstellerin wähnte sich, wie so oft in schlaflosen Nächten, plötzlich in der grauen Vorzeit. Pyramiden und Wüstensand umgeben den Ort, von dem Eka häufig träumt. Entblößt hält sie der durch gnadenlose Geißlung ausgelösten Pein stand. Die Peitschenhiebe ihrer Folterer verletzen nicht nur die dünne, pergamentpapierartige Haut ihres Rückens, sondern vor allem ihre Seele. Die beißende Sonne und die aufgeheizte Wüste tragen, neben den Schlägen, dazu bei, dass Eka in ihrer Vision immer wieder zusammensackt, als habe sie nicht einen einzigen Knochen im Leib. Da es keine Rettung zu geben scheint, betet sie im Traum. Sie betet so heftig, dass die Henker ihr Werk zunächst unterbrechen, um ihr Opfer in den kühlenden Kerker zu werfen. Dankbar wendet sich die vermeintlich Gerettete erneut an den Himmel. Indessen haben die Qualen kein Ende, denn im kaltfeuchten Gefängnis gibt es weder Nahrung noch Flüssigkeit. Wahnsinnig vor Hunger und Durst rauft sich die Gefangene den Haarschopf und reißt handtellergroße Büschel aus. Die Pein ist zwar unerträglich, doch Eka weiß ja, dass sie bloß halluziniert.
Regisseur Boris Burduli ist außer sich, da die Hauptakteurin schon wieder zusammengeklappt ist. Als früherer Soldat hat er gelernt, wie man Bewusstlose wieder aufweckt. Da dies in seinem heutigen Gewerbe öfter vorkommt, bringt Boris stets ein Fläschchen Riechsalz mit. Aus der modernen Medizin eigentlich verschwunden, schwört Boris auf das Ammoniumcarbonat enthaltende Hirschhornsalz, welches schon seine Großmutter in Tiflis gerne verwendete. Außerdem hatte Boris in seiner Zeit in Kabul mithilfe des Salzes mehrfach ohnmächtige Kameraden wieder zu Bewusstsein gebracht. Unter deutschem Kommando hatten sich Boris sowie weitere georgische Soldaten im Jahre 2004 am Militäreinsatz in Afghanistan beteiligt. Zehn Jahre später wurde Boris ehrenhaft aus der Armee entlassen und zog in die USA, wo der ehemalige Kämpfer sofort ins Pornobusiness einstieg. Ein alter Freund aus ISAF-Tagen hatte es genauso gemacht und Boris gegenüber von den Frauen in San Fernando Valley geschwärmt. Seinen Militärsold hatte Boris Burduli stets ökonomisch verwaltet, ein Teil ging an die am Schwarzmeer lebenden Eltern, ein weiterer wurde gespart und den dritten gab er aus, meistens für Zigaretten und Alkohol.
Aufgrund der permanenten Zusammenbrüche der Hauptdarstellerin ziehen sich die Dreharbeiten in die Länge. Boris macht Druck, weil die Villa nur bis zwanzig Uhr vom Team benutzt werden darf. Bis dahin müssen alle Hinterlassenschaften der Crew verschwunden sein. »Katharinas unheiliges Leben muss heute noch bis zum Ende verfilmt werden«, ruft Boris wütend. Man bindet die nun willenlose Eka erneut ans Wagenrad, um die letzten Szenen aufzunehmen. Der Legende nach zerbrachen Engel das Rad, nachdem die Heilige Katharina von Alexandrien Stoßgebete gen Himmel gesandt hatte. Boris hat sich für den Schluss des Films etwas besonders Anstößiges ausgedacht. Während Eka weiterhin auf dem Rad herumwirbelt, tauchen zwei ihrer Kolleginnen auf, befreien die Märtyrerin und haben zu dritt Sex. Mit einem gewaltigen Orgasmus der Katharina soll die Produktion enden. Jedoch ist Eka inzwischen dermaßen geschwächt, dass sie die Darstellung einer Klimax nicht mehr hinbekommen würde. Also wird umdisponiert, die Engel sollen anstelle von Eka den Hauptpart in der Schlusseinstellung übernehmen. Im Whirlpool entspannt sich das lesbische Trio, und Boris kommt herbeigeeilt, um Milch über die nassen Körper der Damen zu schütten. Literweise prasselt die weiße Flüssigkeit auf die Extremitäten der Darstellerinnen. Die eindrucksvollen Szenen werden in Zeitlupe gefilmt, denn sie bilden den Abschluss des Pornos. Dabei handelt es sich um eine symbolhafte Adaption der Heiligenlegende. Nicht Blut, sondern Milch soll aus den Wunden der Katharina von Alexandrien geströmt sein, als sie gemartert wurde.
Die Einstellung ist abgefilmt, doch die Uhr schlägt acht. Im Rausch der überbordenden sexuellen Handlungen vergaßen Regisseur und Team die Zeit. Ein Schlüssel wird umgedreht und ins Antichambre tritt das Ärzteehepaar Turaschwili, welchem die Villa gehört. Erstaunlich ruhig reagieren die berühmte Chirurgin Nino und der nicht minder bekannte Zahnarzt Lado auf das innerhalb eines Tages entstandene Chaos. Überall lungern nackte Pornoschauspieler herum, gebrauchte, zusammengeknüllte Hand- und Küchentücher überziehen den teuren Marmorboden und am Sockel des Whirlpools findet sich eine Lache von sauer gewordener Milch. Boris kennt das Ehepaar noch aus Tiflis. Von Lado, seinem alten Soldatenfreund, weiß der Regisseur von dem Trick mit dem Riechsalz. Und auf Nino, die androgyn anmutende Fee mit den kohlrabenschwarzen Augen, hatte es Boris schon immer abgesehen. Doch sie mag ihn nicht, und vor allem verachtet sie das, was er tut. Als sie aber erfuhr, dass Boris ihr luxuriöses Zuhause anmieten wolle, für tausend Dollar pro Tag, stimmte sie sogleich zu. Man begrüßt sich, indem Küsschen und Umarmungen ausgetauscht werden. Boris Burduli verspricht, das Wirrwarr auf der Stelle zu beseitigen und muss feststellen, dass die launenhafte Mimin Eka Starr nicht aufzufinden ist. Dem Aufnahmeleiter ruft Boris zu: »Finde sie, sofort!« Nino lässt sich auf der ausladenden Couch nieder, nachdem Assistenten die von hart gewordenen Körperflüssigkeiten durchtränkten Taschentücher entfernt haben. Zu ihrem Entsetzen stößt die nüchtern und rational aufs Chaos Reagierende auf ihren mit pulvrigen Resten verschmutzten Kosmetikspiegel. Ninos Gesichtszüge entgleisen, als Boris das Accessoire kleinlaut zur Seite räumt. »Worauf habe ich mich hier nur eingelassen?«, spricht Nino Turaschwili, »in meinem Haus herrschen Sodom und Gomorrha!«
Als sei das verstörende Szenario noch nicht ärgerlich genug, schwankt jetzt eine in Bettlaken gehüllte, von konvulsivischen Zuckungen beherrschte Nackte aus einer der zahlreichen Gästetoiletten auf Nino zu. Pikiert will Boris der Chirurgin Nino seine Hauptakteurin vorstellen, doch in diesem Moment knicken ihre Beine weg und Eka Kukava geht hart zu Boden, wo ihr Hinterkopf auf dem Marmor aufschlägt und augenblicklich Blut absondert. Sogleich sind die Ärzte zur Stelle, Nino bettet den leblosen Korpus auf Sofakissen und versucht, die Blutung mithilfe eines Betttuchs zu stillen, vergeblich. Lado schlägt vor, die Halbtote umgehend in ein Krankenhaus zu bringen, doch der Regisseur Boris Burduli spricht sich vehement dagegen aus. »Die wird schon wieder«, spricht er, und ergänzt: »Unkraut vergeht nicht!« Nach und nach verebbt der Blutfluss,unterdessen färbt sich das weiße Baumwolllaken dunkelrot. »Sie verliert zu viel Blut«, stellt Lado Turaschwili empört fest. »Nein«, wendet Boris ein, »seht Ihr nicht, dass die Blutung gestoppt ist? Könnt Ihr die klaffende Wunde nicht nähen?« Lado und Nino blicken sich kurz an, um die Frage ihres alten Freundes dann zu bejahen. Beide wissen, weshalb der Regisseur seine Aktrice nicht im Hospital sehen will. Ungebändigte Wut strahlt aus Ninos schwarzen Pupillen, während sie nach ihrem mit Kokainresten behafteten Spiegel greift und ihn an die unverputzte Wand pfeffert. Ein paar Zentimeter neben dem goldenen Holzrahmen des wertvollen Jackson Pollock-Gemäldes zerbirst das Kosmetikutensil. Und Lado reibt sich vor Erregung seine glänzende Stirnglatze. »Eka ist immer noch bewusstlos«, meldet sich Boris zu Wort, »tut doch was, sie stirbt uns hier noch weg!«
Von all dem Trubel um ihre Person bekommt Eka Kukava nichts mehr mit. Ein weiteres Mal ist sie zu Gast auf der metaphysischen Ebene, wohin sich ihre Seele stets zurückzieht, wenn der Körper versagt. Dieser regeneriert sich, indem Ekas Seele neue Kräfte tankt. Schon als Dreijährige besuchte Eka diese geheimnisvolle Region, ihre Traumwelt, aus der ihre Seele ursprünglich zu stammen scheint. Eka ist fest davon überzeugt, dass es irgendwo dort oben eine Art Pool gibt, wo sich die Seelen der Toten versammeln und darauf warten, erneut in einen irdischen Leib einzukehren und darin ein neues Leben zu beginnen. Einst las Eka Kukava in der Schule das Werk eines altgriechischen Philosophen, dessen Namen sie vergessen hat. Der bärtige Denker, dessen Büste auf dem Cover des Buchs abgebildet war, beschrieb eine kristallene Pyramide, die alle Totenseelen beherbergt. In der Mitte des vermutlich imposanten Bauwerks entspringt ein Fluss, dessen Wasser die Erdexistenz der jeweiligen Seele vergessen macht. Der in ihr gespeicherte Inhalt wird gewissermaßen ausradiert oder gelöscht, um dann in der Bibliothek der Pyramide archiviert zu werden. Ist sie erst einmal reingewaschen, darf die Seele wieder auf die Erde zurückkehren und neue Impressionen aufnehmen.
»Der Tod steht ihr gut«, denkt Boris Burduli und kichert lautlos in sich hinein. Denn er weiß nicht, dass sich Eka tatsächlich auf dem Weg in die Nachwelt befindet. Boris, ein veritabler Zyniker, glaubt nicht an den Tod seiner Hauptdarstellerin, vielmehr ist er von einem schnellen Erwachen überzeugt. Unterdessen bleibt Eka bewusstlos, und Boris holt die winzige, Riechsalz enthaltende Flasche. Lado Turaschwili warnt seinen Freund: »Das sollten wir lieber sein lassen, ich weiß nämlich nicht, wie die Patientin darauf reagiert.« Nino, die stoisch agierende Chirurgin, versucht es mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassagen, aber weder das eine noch das andere hilft.
Was für ein prächtiger Palast, denkt die in der Kristallpyramide schwebende Eka. Manchmal verspürt sie schmerzende Stiche in der Gegend ihres Sternums und hört ganz leise Stimmen, die sie rufen: »Wach auf, Eka, komm zurück!« Vorsichtig dreht sich Eka nach hinten um, wo sie den Weg liegen sieht, den sie gekommen ist. Pure Schwärze erblickt die auf das Elysium Zufliegende dort und entfernt sich so schnell es eben geht. Vor ihr lockt indes ein angenehm gedimmtes Licht, welches heller wird, je näher sie ihm kommt. Vorerst driftet Eka aber durch die kristallene Pyramide, um sich am kühlenden Nass des Flusses zu laben, dessen Name Lethe lautet, wie ein Schild besagt. Durstig stürzt sich Eka auf das türkisblaue Wasser und trinkt Schluck für Schluck. Während sie sich an der köstlich schmeckenden Flüssigkeit gütlich tut, verhallen die Rufe in ihrem Kopf und auch das Stechen in ihrer Brust lässt nach.