Einstein, Freud und Sgt. Pepper - John Higgs - E-Book

Einstein, Freud und Sgt. Pepper E-Book

John Higgs

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Beschreibung

Alles hat sich geändert, als der Zeiger des Weltalters von 19 auf 20 sprang. Auf fast allen Gebieten wurden im 20. Jahrhundert Entdeckungen gemacht oder Ideen entwickelt, die unser Bild vom Universum und von uns selbst auf den Kopf gestellt haben. Alles schien neu, nichts unmöglich: Maschinen, die denken, Hunde im Weltall und Menschen auf dem Mond. Alte Gewissheiten büßten ihre Geltung ein, hergebrachte Autoritäten verloren ihre Macht. Die Welt wollte kein Zentrum mehr kennen.
Auf ganz eigene Weise führt John Higgs durch dieses Jahrhundert der Genies und Gurus. Er erläutert die Relativitätstheorie anhand eines fallenden Würstchens, erzählt von Satanisten im Raumfahrtprogramm der Amerikaner und geht der Frage nach, ob ein Schmetterling in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann. Das ist alles unglaublich seltsam und ziemlich wahnsinnig. Ein Buch wie ein Trip.

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Seitenzahl: 497

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Alles hat sich geändert, als der Zeiger des Weltalters von 19 auf 20 sprang. Auf fast allen Gebieten wurden im 20. Jahrhundert Entdeckungen gemacht oder Ideen entwickelt, die unser Bild vom Universum und von uns selbst auf den Kopf gestellt haben. Alles schien neu, nichts unmöglich: Maschinen, die denken, Hunde im Weltall und Menschen auf dem Mond. Alte Gewissheiten büßten ihre Geltung ein, hergebrachte Autoritäten verloren ihre Macht. Die Welt wollte kein Zentrum mehr kennen.

John Higgs beschwört hundert Jahre des produktiven Wahnsinns, charmant, rasant und mit hinreißendem Wissen um die skurrilen Details der Weltgeschichte.

John Higgs, geboren 1971, ist Journalist und Autor. Er veröffentlichte bisher unter anderem eine Biographie über den LSD-Guru Timothy Leary (I Have America Surrounded) und eine Geschichte der britischen Band The KLF. Außerdem produzierte er Computerspiele und arbeitete für die BBC.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

Stranger Than We Can Imagine. Making Sense of the Twentieth Century

bei Weidenfeld & Nicolson (London).

Für Lia, die Post-Credits-Wende des 20. Jahrhunderts, und für Isaac, die Vorspannsequenz des 21. Jahrhunderts.In Liebe, Dad x

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2018

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe

des suhrkamp taschenbuchs 4839

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016

© John Higgs 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagabbildungen:

akg-images (Laika);

Getty Images (Schallplatte, Foto: Christopher Stevenson;

Ufos, Foto: ZargonDesign; Keith Richards, Foto: Graham Wiltshire/Redferns; Salvador Dalí, Foto: Weegee (Arthur Fellig)/International Center of Photography); Simone de Beauvoir, Foto: Georges Bendrihem/AFP)

Umschlaggestaltung: hissmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-74064-4

www.suhrkamp.de

JOHN HIGGS

EINSTEIN, FREUD

& SGT. PEPPER

Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts

Aus dem Englischen von Michael Bischoff

Suhrkamp

Inhalt

Einleitung

1 RELATIVITÄTSTHEORIE

Die Zerstörung des Omphalos

2 MODERNE

Der Schock des Neuen

3 KRIEG

Hisst diesen Fetzen

4 INDIVIDUALISMUS

Tu, was du willst

5 DAS ES

Unter dem Pflaster liegt der Strand

6 UNBESTIMMTHEIT

Die Katze ist zugleich lebendig und tot

7 SCIENCE-FICTION

Es war einmal vor langer Zeit in einer weit,weit entfernten Galaxis

8 NIHILISMUS

Ich helfe niemandem

9 WELTRAUM

Wir kamen in Frieden für die ganze Menschheit

10 SEX

Neunzehnhundertdreiundsechzig(was recht spät war für mich)

11 TEENAGER

Wop-bom-a-loo-mop-a-lomp-bom-bom

12 CHAOS

Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien

13 WACHSTUM

Der Investor von heute profitiert nicht vom Wachstumvon gestern

14 POSTMODERNE

Ich habe Mr. McLuhan zufälligerweise gerade hier

15 NETZWERK

Ein Planet der Individuen

Dank

Anmerkungen und Quellen

Literatur

Bildnachweise

Register

»Wir mussten tun, was wir tun wollten.«

Keith Richards

EINLEITUNG

Die mörderische Flugmaschine von Max Ernst, 1920.

Im Jahr 2010 zeigte die Londoner Tate Modern Gallery in einer Retrospektive das Werk des spätimpressionistischen Malers Paul Gauguin. Wer diese Ausstellung besuchte, konnte sich stundenlang in Gauguins romantisierender Vision der Südseeinsel Tahiti während des 19. Jahrhunderts ergehen. Es war eine Welt voll lebhafter Farben und einer von jeglicher Schuld freien Sexualität. Gauguin sah in seinen Bildern keinen Unterschied zwischen Mensch, Gott und Natur, und wenn man am Ende des Ausstellungsparcours angelangt war, hatte man das Gefühl, den Garten Eden verstanden zu haben.

Wer aus der Ausstellung kam, landete am Eingang der Abteilung für das 20. Jahrhundert. Es hätte keinen brutaleren Übergang geben können. Dort fanden sich die Werke von Picasso, Dalí, Ernst und vielen anderen. Man fragte sich ganz unwillkürlich, ob hier eine andere Beleuchtung herrschte, aber es war die Kunst, die den Raum kälter wirken ließ. Die Farbpalette bestand hauptsächlich aus Braun-, Grau-, Blau- und Schwarztönen. An manchen Stellen erschienen auch grellrote Flecken, doch die vermochten kaum aufzumuntern. Abgesehen von einem späten Picasso-Porträt waren Grün- und Gelbtöne nirgendwo zu sehen.

Diese Gemälde waren Bilder fremdartiger Landschaften, unverständlicher Strukturen und beunruhigender Träume. Die wenigen menschlichen Gestalten waren abstrakt, formal und ohne jede Berührung mit der natürlichen Welt. Die Skulpturen wirkten ähnlich antagonistisch. Zum Beispiel Man Rays Cadeau, ein Plätteisen, dessen mit Reißnägeln besetzte Fläche jeden Stoff, den man damit bügeln wollte, zerreißen müsste. Diesen Werken in einer von Gauguins Bildern geprägten Stimmung zu begegnen war nicht empfehlenswert. In diesem Raum gab es keinerlei Mitgefühl. Dort betrat man das abstrakte Reich der Theorie und der Begriffe. Nach den Werken, die das Herz ansprachen, war der unvermittelte Wechsel zu Arbeiten, die allein den Verstand ansprachen, eine traumatische Erfahrung.

Gauguins Werk reichte bis zu dessen Tod 1903, so dass man eigentlich einen glatteren Übergang in die Abteilung für das frühe 20. Jahrhundert erwartet hätte. Allerdings war Gauguins Werk kaum typisch für seine Zeit und fand erst nach seinem Tod weithin Anerkennung, aber der schrille Übergang sorgt dafür, dass wir immer noch nach der Antwort auf eine sehr grundlegende Frage suchen: Was zum Teufel geschah zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der menschlichen Psyche? Die Tate Modern ist ein guter Ort, um diese Frage zu beantworten, kann sie doch als ein Tempel des 20. Jahrhunderts gelten. Aufgrund der Bedeutung, die das Wort »modern« in der Welt der Kunst besitzt, wird es für immer mit dieser Zeit verbunden bleiben. So gesehen verdeutlicht die Beliebtheit dieses Museums zugleich die Faszination, die diese Jahre bei uns auslösen, wie auch unseren Wunsch, sie zu verstehen.

Es gab einen Übergangsraum, der die beiden Ausstellungen voneinander trennte. Er wurde beherrscht von den Umrissen einer Industriestadt des 19. Jahrhunderts, die der italienisch-griechische Künstler Jannis Kounellis mit Kohle direkt auf die Wand gezeichnet hatte. Eine sparsame Skizze ohne jede menschlichen Figuren. Darüber hingen die ausgestopften Bälge einer Dohle und einer Nebelkrähe, die mit Pfeilen an die Wand gespießt worden waren. Ich bin mir nicht sicher, was der Künstler damit sagen wollte, doch für mich diente der Raum als Warnung vor dem Saal, den ich gleich betreten sollte. Es wäre möglicherweise netter gewesen, wenn die Tate diesen Raum als eine Art Dekompressionskammer benutzt hätte, als etwas, das die Entsprechung der Taucherkrankheit in der bildenden Kunst verhindern könnte.

Manche sähen in den toten Vögeln, so hieß es im Begleittext, »ein Symbol für den Todeskampf der Freiheit der Fantasie«. Im Kontext Gauguins und des 20. Jahrhunderts scheint mir allerdings eine andere Interpretation angemessener zu sein. Was immer dort über der Industriestadt des 19. Jahrhunderts gestorben sein mochte, die Freiheit der Fantasie war es nicht. Im Gegenteil, dieses Ungeheuer stieg gerade erst aus der Tiefe hervor.

Als ich kürzlich meine Weihnachtseinkäufe erledigte, ging ich in eine Buchhandlung, um dort ein Buch von Lucy Worsley zu kaufen, der Lieblingshistorikerin meiner im Teenager-Alter befindlichen Tochter. Falls Sie das Glück haben sollten, eine Tochter im Teenager-Alter zu haben, die einen Lieblingshistoriker besitzt, brauchen Sie nicht viel Überredungskunst, um dieses Interesse zu fördern.

Die Abteilung für Geschichte befand sich in einer Ecke des dritten Stocks ganz oben im Gebäude, als handelte Geschichte von verrückten Vorfahren, die man besser auf dem Speicher versteckt wie Figuren aus Jane Eyre. Das Buch, das ich suchte, war nicht vorrätig, weshalb ich es per Smartphone online bestellte. Ich wollte eine noch offene Zeitungsapp schließen, drückte dabei auf ein falsches Icon und startete ungewollt das Video einer Rede, die Präsident Obama wenige Stunden zuvor gehalten hatte. Das war im Dezember 2014, und er sprach über die Frage, ob der Hackerangriff auf Sony Pictures Entertainment – vermutlich orchestriert vom nordkoreanischen Regime, um Vergeltung zu üben für die als Beleidigung des Diktators Kim Jong-un verstandene Filmkomödie The Interview – als kriegerischer Akt zu werten sei.

Von Zeit zu Zeit gibt es Augenblicke, da wird deutlich, wie sonderbar das Leben im 21. Jahrhundert sein kann. Da befand ich mich also in Brighton, hielt ein dünnes Stück Metall und Glas in der Hand, das in Südkorea produziert worden war, mit amerikanischer Software betrieben wurde und mir den amerikanischen Präsidenten zeigte, der dem obersten Führer Nordkoreas drohte. Da wurde mir plötzlich bewusst, wie sehr sich doch das frühe 21. Jahrhundert von allen vorangegangenen Zeiten unterschied. Was an diesem Geschehen wäre wohl Ende des letzten Jahrhunderts unglaublicher erschienen? Dass es solch ein Gerät gab, mit dem ich den amerikanischen Präsidenten während meiner Weihnachtseinkäufe sehen konnte? Dass die Definition von Krieg sich in einer Weise verändert hatte, die nun auch Unannehmlichkeiten für das Sony-Management darunter fallen ließ? Oder dass die übrigen Käufer in diesem Laden mir gar keine Beachtung schenkten, während ich auf wundersame Weise diese zufällige Sendung verfolgte?

Ich stand zu diesem Zeitpunkt gerade bei den Regalen mit Büchern über die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Auf diesen Regalen befanden sich einige wunderbare Bücher, dicke und ausführliche Darstellungen jenes Jahrhunderts, über das wir am meisten wissen. Diese Bücher dienen als Straßenkarte für den Weg, auf dem wir die Welt erreicht haben, in der wir heute leben. Sie erzählen sehr präzise Geschichten über große Veränderung in der geopolitischen Machtverteilung: über den Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg, das amerikanische Jahrhundert und den Fall der Berliner Mauer. Aber irgendwie führt uns diese Geschichte gar nicht wirklich in die Welt, in der wir heute leben, verstrickt in ein Netzwerk ständiger Überwachung, unerträglichen Wettbewerbs, eines Tsunamis aus Trivialitäten und außergewöhnlichen Möglichkeiten.

Stellen Sie sich das 20. Jahrhundert als eine vor ihren Augen ausgebreitete Landschaft vor. Stellen Sie sich vor, die Ereignisse der zugehörigen Geschichte wären Berge, Flüsse, Wälder und Täler. Unser Problem liegt nicht darin, dass diese Zeit uns verborgen wäre, sondern dass wir zu viel über sie wissen. Wir alle wissen, dass diese Landschaft die Gebirge Pearl Harbors, der Titanic und der südafrikanischen Apartheid enthält. Wir wissen, dass sich in ihrem Zentrum die Verwüstungen des Faschismus und die Ungewissheit des Kalten Kriegs befinden. Wir wissen, dass die Menschen dieses Landes grausam, verzweifelt oder verängstigt sein konnten, und wir wissen auch warum. Das Gelände ist genauestens kartiert, katalogisiert und aufgezeichnet worden. Das kann überwältigend wirken.

Jedes der Geschichtswerke über das 20. Jahrhundert zeichnet einen anderen Weg durch dieses Gelände, aber diese Wege sind nicht so unterschiedlich, wie Sie vielleicht glauben. Viele stammen von Politikern oder politischen Journalisten oder besitzen eine starke politische Tendenz. Sie vertreten die Auffassung, Politiker hätten diese beschwerlichen Jahre geprägt, und folgen deshalb einem Weg, der diese Geschichte erzählt. Andere Bücher stecken Wege ab, die durch die Kunst oder die Technik der Zeit führen. Die sind möglicherweise nützlicher, können aber auch abstrakt und fern vom Leben der Menschen erscheinen. Und obwohl sich diese Wege voneinander unterscheiden, führen sie letztlich doch alle auf breite, ausgetretene Pfade.

Einen anderen Weg durch dieses Gelände zu finden ist ein einschüchterndes Unterfangen. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert kann wie eine epische Suche anmuten. Die furchtlosen Abenteurer, die sich auf diese Reise begeben, kämpfen zuerst mit drei Riesen namens Einstein, Freud und Joyce. Sie müssen durch den Wald der quantenmechanischen Unbestimmtheit und die Burg der Konzeptkunst hindurch. Sie gehen den Drachen Jean-Paul Sartre und Ayn Rand aus dem Weg, deren Anblick sie, wenn nicht physisch, so doch emotional in Stein verwandeln könnte, und sie haben die Rätsel der Sphinxe Carl Gustav Jung und Timothy Leary zu lösen. Dann wird es schwierig. Die letzte Aufgabe besteht darin, irgendwie durch den Sumpf der Postmoderne hindurchzukommen. Es ist, wenn wir ehrlich sind, keine verlockende Reise.

Nur wenige Abenteurer, die sich an das 20. Jahrhundert heranwagen, schaffen es bis zur Postmoderne und durch sie hindurch. In der Regel gestehen sie ihre Niederlage ein und ziehen sich in ihr Basislager zurück. Das ist die Welt, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts verstanden wurde, gleich jenseits der Grenze, auf sicherem freundlichem Gebiet. Die großen Entdeckungen, die man bis dahin machte, behagen uns, und wir kommen gut damit klar. Aber wäre das wirklich der beste Ort für uns? Wenn wir das 21. Jahrhundert mit den Augen des 19. Jahrhunderts betrachten wollten, könnten wir es unmöglich verstehen.

Im Gelände des 20. Jahrhunderts finden sich auch dunkle Flecken tiefer, dichter Wälder. Die üblichen Wege führen meist darum herum, streifen sie allenfalls kurz, aber dann geht es rasch weiter, als hätte man Angst, sich darin zu verirren. Das sind Gebiete wie die Relativitätstheorie, der Kubismus, die Schlacht an der Somme, die Quantenmechanik, das Es, der Existenzialismus, Stalin, Bewusstseinserweiterung, die Chaostheorie und der Klimawandel. Sie stehen im Ruf, anfangs schwierig zu sein und dann immer verwirrender zu werden, je weiter man in sie eindringt. Als sie erstmals aufkamen, waren sie so radikal, dass es eines weitreichenden Umbaus des Weltbildes bedurfte, wenn man sich mit ihnen arrangieren wollte. Früher wirkten sie beängstigend, aber heute ist das anders. Wir sind jetzt Bürger des 21. Jahrhunderts. Das Gestern haben wir hinter uns gelassen. Wir sind dabei, dem Morgen zu begegnen. Wir sind inzwischen in der Lage, uns in den dunklen Wäldern des 20. Jahrhunderts zurechtzufinden.

Und so sieht unser Plan aus: Wir wollen eine Reise durch das 20. Jahrhundert unternehmen, auf der wir die Hauptstraßen verlassen und in die dunklen Wälder eindringen werden, um dort nach Schätzen zu suchen. Uns ist bewusst, dass ein Jahrhundert eine willkürliche zeitliche Abgrenzung darstellt. Die Historiker sprechen vom langen 19. Jahrhundert (1789-1914) oder vom kurzen 20. Jahrhundert (1914 bis 1991), weil diese Zeitabschnitte jeweils einen klaren Anfang und ein klares Ende besitzen. Für unsere Zwecke reicht es allerdings, wenn wir vom üblichen 20. Jahrhundert ausgehen, denn wir unternehmen eine Reise von jenem Augenblick, da die Dinge keinen Sinn mehr ergaben, bis zu dem Punkt, an dem wir heute stehen.

Wenn wir das schaffen wollen, müssen wir auswählen. Es gibt Millionen von Themen, die es verdienten, in eine Darstellung dieser Zeit aufgenommen zu werden, aber wir kämen nicht weit, wenn wir aus nostalgischen Gründen all unseren Favoriten einen Besuch abstatten. Über alles, worauf wir stoßen, gibt es eine gewaltige Fülle an Büchern und Debatten, die wir rücksichtslos umgehen müssen, wenn wir nicht darin stecken bleiben wollen. Wir sind auf einer Mission, nicht auf einer Kreuzfahrt. Wir machen uns nicht als Historiker auf diese Reise, sondern als neugierige Reisende oder als Abenteurer, die ein Ziel verfolgen, denn wir wissen sehr genau, worauf wir unsere Aufmerksamkeit konzentrieren werden.

Wir werden nach Dingen schauen, die wirklich neu, unerwartet und radikal waren. Wir interessieren uns nicht für die Folgen und Auswirkungen dieser Ideen. Wir können davon ausgehen, dass alles, was wir hier besuchen werden, einst als Skandal empfunden wurde, Zorn auslöste und wütende Anschuldigungen vonseiten des Status quo hervorrief. Diese Nachbeben sind ein wichtiger Teil der Geschichte, aber wenn wir uns auf sie konzentrieren, verdecken sie möglicherweise ein gerade entstehendes Muster. Wir wollen unsere Aufmerksamkeit auf die Richtung lenken, in die solche neuen Ideen weisen. Und sie weisen weitgehend in eine ähnliche Richtung.

In jeder Generation gibt es einen Augenblick, da Erinnerung in Geschichte umschlägt. Das 20. Jahrhundert entfernt sich immer weiter und kommt damit erst wirklich in Sicht. Man hat den Eindruck, dass die Ereignisse dieses Jahrhunderts inzwischen zur Geschichte gehören, und so ist dies der richtige Augenblick, um Bilanz zu ziehen.

Hier nun also ein alternativer Weg durch die Landschaft des 20. Jahrhunderts. Sein Zweck ist derselbe wie der aller Wege. Er wird uns dorthin führen, wohin wir gehen.

1 RELATIVITÄTSTHEORIE

Albert Einstein in Chicago, ca. 1930.

Die Zerstörung des Omphalos

Am Nachmittag des 15. Februar 1894 verließ der französische Anarchist Martial Bourdin das von ihm gemietete Zimmer in der Londoner Fitzroy Street. Er trug eine selbst gebaute Bombe und eine große Geldsumme bei sich. Es war ein trockener, sonniger Tag, und in Westminster bestieg er eine im oberen Stock offene Pferdetram. Damit fuhr er über den Fluss hinüber nach Greenwich.

Dort verließ er die Tram und ging durch den Greenwich Park zum Royal Observatory. Die Bombe explodierte zu früh, Bourdin befand sich noch im Park. Die Explosion riss ihm die linke Hand ab und fügte ihm eine tiefe Bauchwunde zu; das Observatorium nahm keinen Schaden. Eine Gruppe Schulkinder fand ihn auf dem Boden liegend; er war verwirrt und bat, nach Hause gebracht zu werden. Blut und Fleischfetzen fand man später noch mehr als fünfzig Meter vom Ort der Detonation entfernt. Bourdin starb eine halbe Stunde nach der Explosion der Bombe und hinterließ keine Erklärung für seinen Anschlag.

Der polnische Schriftsteller Joseph Conrad ließ sich von diesen Ereignissen zu seinem Roman Der Geheimagent (1907) inspirieren. Conrad fasste die allgemeine Empörung über Bourdins Tat zusammen, wenn er den Anschlag als »eine blutige Hirnverbranntheit von solcher Dummheit« beschrieb, »daß es unmöglich war, ihren Ursprung durch jedweden vernünftigen oder unvernünftigen Gedankengang zu ergründen […], so daß man letztlich der Tatsache ins Auge schauen mußte, daß ein Mann für nichts, was auch nur im entferntesten einer Idee glich, sei sie eine anarchistische oder etwas anderes, in Stücke gerissen wurde«.

Es waren nicht Bourdins politische Ideen, die Conrad als rätselhaft empfand. Die Bedeutung des Ausdrucks »Anarchismus« hat sich im Laufe des letzten Jahrhunderts verändert; heute versteht man darunter gemeinhin das Fehlen von Gesetzen und Regeln, so dass jeder tun kann, was ihm gefällt. Zu Bourdins Zeiten verwies der Begriff eher auf die Ablehnung politischer Strukturen als auf Forderungen nach schrankenloser persönlicher Freiheit. Die Anarchisten des 19. Jahrhunderts verlangten kein Recht auf totale Freiheit, sondern eher das Recht, sich keiner fremden Herrschaft zu unterwerfen, wie dies in einer ihrer Parolen zum Ausdruck kam: »Keine Götter, keine Herren!« Nach den Vorstellungen der christlichen Theologie begingen sie damit die Sünde des Hochmuts. Genau darin hatte Satans Rebellion bestanden, weshalb er denn auch aus dem Himmel vertrieben worden war: »Non serviam – Ich werde nicht dienen.«

Auch Bourdins Absicht, einen Bombenanschlag zu verüben, war für Conrad nicht unverständlich. Damals befand man sich bereits mitten in einer gewalttätigen Phase anarchistischer Bombenanschläge, die mit der Ermordung des russischen Zaren Alexander II. 1881 begonnen hatte und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs anhielt. Befeuert wurde diese Phase von der leichten Verfügbarkeit des Dynamits und einem anarchistischen Konzept, das als »Propaganda der Tat« bezeichnet wurde. Danach trugen individuelle Gewalttaten ihren Sinn in sich selbst, weil sie dazu dienten, andere zu inspirieren. So verübte der Anarchist Leon Czolgosz – um hier nur ein Beispiel zu nennen – im September 1901 erfolgreich ein tödliches Attentat auf den amerikanischen Präsidenten William McKinley.

Rätselhaft an Bourdins Tat war etwas anderes: Weshalb sollte sich ein Anarchist, der in London frei mit einer Bombe herumlief, ausgerechnet das Royal Observatory in Greenwich als Ziel aussuchen? Was hatte die Sternwarte, das etwa Buckingham Palace oder den Houses of Parliament fehlte? Beide Bauwerke lagen näher bei Bourdins Wohnung, waren prominenter und symbolisierten die Macht des Staates. Warum hatte er nicht versucht, sie in die Luft zu sprengen? Wie es schien, erkannte er im Royal Observatory einen Aspekt oder eine Qualität, die er für bedeutsam genug hielt, um bei dem Versuch, das Bauwerk zu zerstören, sein Leben aufs Spiel zu setzen.

Bei Ereignissen und Geschichten, die der Bombenanschlag in Greenwich inspirierte, schenkte man dem Ziel des Anschlags nur wenig Beachtung. In Conrads Roman erfuhr der Anschlag seine literarische Verarbeitung, und dieser Roman inspirierte wiederum den amerikanischen Terroristen Ted Kaczynski, besser bekannt unter dem Namen »Unabomber«. Alfred Hitchcock adaptierte die Geschichte 1936 in seinem Spielfilm Sabotage; dort modernisierte er die Fahrt des Terroristen durch London, indem er sie aus einer Pferdetram in einen modernen Bus verlegte. In Hitchcocks Film explodiert die Bombe gleichfalls zu früh, nämlich als der Bus auf The Strand, der Straße, die die City of London mit der City of Westminster verbindet, entlangfährt – eine gespenstische fiktive Vorwegnahme eines Vorfalls, der sich sechzig Jahre später ereignete, als ein IRA-Terrorist sich versehentlich in einem Bus in unmittelbarer Nähe der Strand in die Luft sprengte.

Conrad mag nicht recht verstanden haben, weshalb Bourdin das Observatorium zum Ziel gewählt hatte. Aber das heißt nicht, dass es auch für Bourdin bedeutungslos war. Wie der amerikanische Science-Fiction- und Cyberpunk-Autor William Gibson später einmal meinte: »Die Zukunft ist bereits da. Sie ist nur nicht sonderlich gleichmäßig verteilt.« Ideen breiten sich ungleichmäßig aus und reisen mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Vielleicht warf Bourdin einen flüchtigen Blick auf etwas, das entfernt einer Idee ähnelte, die für Conrad nicht erkennbar war. Als das 20. Jahrhundert begann, trat die hinter seinem Anschlagsziel steckende Logik langsam klarer hervor.

Die Erde raste durch das All. Auf ihrer Oberfläche schauten Gentlemen auf ihre Taschenuhren.

Es war der 31. Dezember 1900. Die Erde kreiste um die Sonne, und Minutenzeiger bewegten sich über Ziffernblätter. Als beide Zeiger auf zwölf standen, bedeutete dies, dass die Erde, nachdem sie Tausende Meilen zurückgelegt hatte, auf ihrer jährlichen Umlaufbahn den erforderlichen Punkt erreicht hatte. In diesem Augenblick begann das 20. Jahrhundert.

In der alten Geschichte findet sich ein Konzept, das als Omphalos bezeichnet wird. Der Omphalos ist der Mittelpunkt der Welt oder genauer das, was die jeweilige Kultur für den Mittelpunkt der Welt hielt. In einem religiösen Kontext betrachtet, war der Omphalos zugleich die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Gelegentlich wurde er auch als Nabel der Welt, als Axis Mundi oder als Säule der Erde bezeichnet und physisch durch ein Objekt wie eine Säule oder einen Stein dargestellt.

Der Omphalos war ein universelles Symbol, das fast allen Kulturen gemeinsam war, sich aber jeweils an unterschiedlichen Orten befand. Die alten Japaner hielten den Fujiyama für den Omphalos, die Sioux die Black Hills. Im griechischen Mythos schickt Zeus an den Weltenden zwei Adler los, die über Delphi aufeinandertreffen, so dass dieser Ort der Omphalos wird. Rom war selbst der römische Omphalos, denn alle Straßen führten dorthin, und christliche Karten waren später auf Jerusalem als Zentrum ausgerichtet.

Am Silvesterabend des Jahres 1900 war der globale Omphalos das in dem südlichen Londoner Vorort Greenwich gelegene, von Karl II. gegründete Royal Observatory, ein formschöner, ursprünglich von Sir Christopher Wren entworfener Bau. Im Jahr 1900 beruhte die Vermessung der Erde auf einer Linie, die von Nord nach Süd durch dieses Gebäude verlief. Auf diesen internationalen Standard hatte man sich sechzehn Jahre zuvor auf einer Konferenz in Washington geeinigt, auf der Delegierte aus fünfundzwanzig Ländern Greenwich als Nullmeridian akzeptierten. San Domingo stimmte dagegen, und Frankreich sowie Brasilien enthielten sich der Stimme, doch das Treffen hatte weitgehend nur formale Bedeutung, denn zweiundsiebzig Prozent des weltweiten Schiffsverkehrs benutzten damals schon Karten, auf denen Greenwich den nullten Längengrad definierte, und die USA hatten bereits ihre Zeitzonen an Greenwich ausgerichtet.

Dort also befand sich der Mittelpunkt der Welt, in einer wissenschaftlichen Einrichtung, die vom britischen König gefördert wurde. Er lag auf einem Hügel über der Themse in London, der Hauptstadt des größten Weltreichs der Geschichte. Das 20. Jahrhundert begann erst in dem Augenblick, da die in diesem Gebäude befindlichen Uhren bestimmten, dass es begonnen habe, denn die Kalibrierung dieser Uhren basierte auf der Position der Sterne unmittelbar darüber. Dieser moderne, wissenschaftliche Omphalos hatte die Verbindung zwischen Himmel und Erde noch nicht verloren.

Wer heute das Observatorium in der Dämmerung oder abends besucht, sieht einen grünen Laserstrahl, der gerade und stetig in den Himmel zeigt und den Nullmeridian markiert. Er beginnt im Observatorium und folgt genau dem nullten Längengrad. Den Laser gab es 1900 natürlich noch nicht. Damals war der Nullmeridian nur eine gedachte Linie, eine der realen Welt übergestülpte geistige Projektion. Nach Westen und nach Osten schlossen sich gleichartige Längengrade an, rund um die Erde, bis sie einander auf der anderen Seite begegneten. Quer dazu verlief ein ähnliches, mit dem Äquator beginnendes Linienwerk aus Breitengraden, das sich nach Norden und Süden fortsetzte. Zusammen bildete dieses Netz ein universelles Zeitzonen- und Positionssystems, das alle und alles auf dem Planten zu synchronisieren vermochte.

Am Silvesterabend des Jahres 1900 gingen die Menschen in zahlreichen Ländern und Städten rund um den Erdball auf die Straße, um das neue Jahr zu begrüßen. Fast hundert Jahre später feierte man den Beginn des nächsten Jahrtausends am Silvesterabend des Jahres 1999 statt des Jahres 2000. Das war ein Jahr zu früh und in einem technischen Sinne falsch, aber das war den allermeisten egal. Als Vertreter des Greenwich Observatory erklärten, das 21. Jahrhundert beginne in Wirklichkeit erst am 1. Januar 2001, wurden sie als Pedanten abgetan. Doch als das 20. Jahrhundert begann, besaß das Observatorium noch die nötige Autorität, und die Welt begrüßte das neue Jahrhundert nach dessen Anweisungen. Zu jener Zeit war Greenwich der Ort, auf den es ankam. So schauten denn die dort versammelten Mitglieder der viktorianischen Gesellschaft mit einer gewissen Befriedigung auf ihre Uhren, warteten auf den korrekten Zeitpunkt und wurden Zeugen der Geburt eines neuen Zeitalters.

Oberflächlich betrachtet, erschien es als ein geordnetes, strukturiertes Zeitalter. Das viktorianische Weltbild ruhte auf vier Säulen: Monarchie, Kirche, Empire und Newton.

Die Säulen wirkten solide. Das britische Empire sollte in ein paar Jahren ein Viertel der Erde umfassen. Trotz der Demütigungen in den Burenkriegen erkannten nicht viele, wie schwer das Empire verwundet war, und noch weniger erkannten, wie bald es zusammenbrechen würde. Die Stellung der Kirche schien ebenso unanfechtbar, trotz der Fortschritte in den Naturwissenschaften. Die Autorität der Bibel hatte durch Darwin und neue geologische Erkenntnisse zwar Widerspruch erfahren, aber die Gesellschaft hielt es nicht für höflich, allzu sehr auf solchen Dingen herumzureiten. Newtons Gesetze waren sorgfältig überprüft, und das geordnete Uhrwerk des Universums, das sie beschrieben, schien unanfechtbar zu sein. Gewiss, es gab ein paar Absonderlichkeiten, die der Wissenschaft Rätsel aufgaben. Und dann war da noch das Ätherproblem.

Der Äther war eine theoretisch postulierte Substanz, die das gesamte Universum erfüllen sollte. Seine Existenz galt weithin als gesichert. Experimente hatten immer wieder gezeigt, dass Licht sich wie eine Welle ausbreitet. Lichtwellen benötigten ein Medium, so war man überzeugt, in dem sie sich ausbreiteten, wie Meereswellen Wasser und Schallwellen Luft benötigen. Die Lichtwellen, die von der Sonne zur Erde gelangten, mussten durch ein Medium hindurchgehen, und dieses Medium war der Äther. Das Problem war nur, dass alle Experimente, mit denen man ihn nachzuweisen versuchte, gescheitert waren. Das hielt man jedoch nicht für einen ernsten Rückschlag. Man musste nur weiter forschen und geschickte Experimente ersinnen. Die Erwartung, dass man den Äther schon entdecken werde, glich der Erwartung hinsichtlich des Higgs-Bosons vor der Fertigstellung des Large Hadron Collider am CERN. Die wissenschaftliche Weisheit bestand auf der Existenz des Äthers, und so war es sinnvoll, sich immer weitere und teurere Experimente auszudenken, um ihn nachzuweisen.

In den Naturwissenschaften herrschte ein Klima der Zuversicht, als das neue Jahrhundert begann. Man verfügte über ein solides Grundlagenwissen, das trotz diverser Zusätze und Verschönerungen Bestand haben würde. So soll Lord Kelvin 1900 in einem Vortrag gesagt haben: »In der Physik gibt es heute nichts Neues mehr zu entdecken. Alles, was bleibt, sind immer genauere Messungen.« Solche Vorstellungen waren recht weit verbreitet. »Die wichtigsten grundlegenden Gesetze und Tatsachen der Physik sind entdeckt«, schrieb der deutsch-amerikanische Physiker Albert Michelson 1903, »und daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand durch neue Entdeckungen ergänzt, äußerst gering.« Und der amerikanische Astronom Simon Newcomb soll 1888 erklärt haben: »Wir nähern uns wahrscheinlich der Grenze dessen, was wir in der Astronomie wissen können.«

Der große deutsche Physiker Max Planck erhielt von einem Freund der Familie, dem legendären Philipp von Jolly, den Rat, besser nicht Physik zu studieren, da »in dieser Wissenschaft fast schon alles erforscht sei, und es gelte, nur noch einige unbedeutende Lücken zu schließen«. Planck erwiderte ihm, er wolle nichts Neues entdecken, sondern nur die bekannten Grundlagen des Fachgebiets besser verstehen. Vielleicht hatte er noch nichts von der alten Maxime gehört: Wenn du die Götter zum Lachen bringen willst, erzähle ihnen von deinen Plänen. Und so wurde er zum Vater der Quantenphysik.

Die Naturwissenschaftler erwarteten durchaus einige neue Entdeckungen. Maxwells Arbeiten zum elektromagnetischen Spektrum legten den Gedanken nahe, dass an beiden Enden dieses Spektrums neue Formen von Energie zu finden waren, aber man erwartete auch, dass diese neuen Energieformen seinen Gleichungen gehorchten. Mendelejews Periodensystem der Elemente ließ erkennen, dass es irgendwo da draußen neue Formen von Materie gab, die nur darauf warteten, entdeckt und benannt zu werden; es versprach aber auch, dass diese neuen Stoffe genau in das Periodensystem passen und den dort beschriebenen Mustern entsprechen würden. Pasteurs Theorie der Keime und Darwins Evolutionstheorie verwiesen auf die Existenz unbekannter Lebensformen, boten zugleich aber auch an, sie einzuordnen, sobald sie entdeckt würden. Mit anderen Worten, für die Zukunft waren zwar wunderbare, aber keine überraschenden Entdeckungen zu erwarten. Der Wissensbestand des 20. Jahrhunderts werde sich von dem des 19. Jahrhunderts allenfalls im Umfang, nicht aber in der Substanz unterscheiden.

Zwischen 1891 und 1901 schrieb H.G. Wells eine Reihe von Büchern mit Titeln wie Die Zeitmaschine, Der Krieg der Welten, Der Unsichtbare und Die ersten Menschen auf dem Mond. Damit legte er die Grundlage für Science-Fiction, eine neue Art von Ideen und technischen Spekulationen, deren sich das 20. Jahrhundert annehmen sollte. 1901 schrieb er Anticipations: An Experiment in Prophecy, eine Artikelserie, in der er versuchte, die kommenden Jahre vorauszusagen, und mit der er seinen Ruf als führender Zukunftsforscher der Zeit festigte. Blicken wir mit unserem heutigen Wissen auf diese Artikel zurück und drücken uns peinlich berührt um den extremen Rassismus einiger Passagen herum, erkennen wir, dass er mit einer eindrucksvollen Zahl von Prognosen richtiglag. Wells sagte Flugmaschinen und Luftkriege voraus. Er sagte Züge und Autos voraus, die zu einer Verlagerung der Bevölkerung aus den Städten in die Vororte führen würden. Er sagte die faschistische Diktatur, einen Weltkrieg um 1940 und die Europäische Union voraus. Er sagte sogar größere sexuelle Freiheit für Männer und Frauen voraus, eine Prophezeiung, für deren Verwirklichung er selbst sein Bestes tat, indem er sich auf eine Vielzahl außerehelicher Affären einließ.

Aber es gab auch vieles, was Wells nicht voraussagen konnte: die Relativitätstheorie, Kernwaffen, die Quantenmechanik, Mikrochips, Schwarze Löcher, die Postmoderne und so weiter. Und zwar weniger, weil er diese Dinge nicht gesehen hätte, sondern weil sie unvorhersehbar waren. Seine Voraussagen hatten insofern große Ähnlichkeit mit den Erwartungen der wissenschaftlichen Welt, als auch sie Extrapolationen des bereits Bekannten darstellten. Wie der englische Astrophysiker Sir Arthur Eddington gesagt haben soll, ist das Universum »nicht nur seltsamer, als wir es uns vorstellen, es ist seltsamer, als wir es uns vorstellen können«.

Diese unvorhersehbaren neuen Entdeckungen wurden nicht in Greenwich oder Großbritannien gemacht, wo die versammelten Würdenträger ganz zufrieden mit der Struktur der Welt waren. Und auch nicht oder zumindest anfangs nicht in den Vereinigten Staaten, wenngleich die um diese Zeit erfolgte Erschließung der Ölfelder in Texas massive Auswirkungen auf die kommende Welt haben sollte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand sich das wirkliche Interesse an der Erprobung und Diskussion radikaler Ideen in den Cafés, Universitäten und Zeitschriften Deutschlands, Österreichs und des deutschsprachigen Teils der Schweiz.

Wenn wir eine einzelne Stadt als Geburtsort des 20. Jahrhunderts auswählen müssten, wäre unser erster Anwärter für diese Stellung Zürich, eine alte, am Ufer der Limmat gelegene Stadt unmittelbar nördlich der Schweizer Alpen. Zürich war um das Jahr 1900 eine blühende Stadt mit Alleen und Gebäuden, die es schafften, zugleich imposant und hübsch zu sein. Dort, im Polytechnikum der Stadt, waren der einundzwanzigjährige Albert Einstein und seine Freundin Mileva Marić auf dem besten Wege, Schlusslichter in ihrer Klasse zu werden.

Einsteins Karriere erschien damals alles andere als vielversprechend. Er war ein rebellischer, freigeistiger junger Mann, der bereits sowohl auf seine jüdische Religion als auch auf seine deutsche Staatsbürgerschaft verzichtet hatte. Sechs Monate zuvor, im Juli 1899, verursachte er im Physiklabor durch seine Ungeschicklichkeit eine Explosion, die seine rechte Hand verletzte und ihn zeitweilig daran hinderte, auf seiner geliebten Geige zu spielen. Wegen seines unkonventionellen Charakters geriet er häufig in Konflikt mit den akademischen Autoritäten, weshalb er denn auch nach seinem Abschluss keine Anstellung als Physiker erhielt. Es gab kaum Anzeichen dafür, dass die wissenschaftliche Welt diesen widerborstigen, kämpferischen jungen Mann zur Kenntnis nehmen würde.

Es hat einige Debatten über die Frage gegeben, welche Rolle Mileva Marić, die Einstein 1903 heiratete, bei dessen frühen Leistungen spielte. Sie war keine Frau, wie man sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschätzt hätte. Sie gehörte zu den ersten Frauen in Europa, die Mathematik und Physik studierten. Es gab zahlreiche Vorurteile hinsichtlich ihrer slawischen Herkunft und der Tatsache, dass sie an einer Gehbehinderung litt. Einstein interessierte sich jedoch nicht für die dummen Vorurteile seiner Zeit. Sie besaß etwas Intensives, das ihn in ihren Bann zog. Sie war, wie seine zahlreichen Liebesbriefe zeigen, seine »Hex« und sein »Gassenbub«, und ein paar Jahre lang waren sie alles füreinander.

Mileva Marić glaubte an Einstein. Eine Muse vermag bei einem Wissenschaftler geradeso wie bei einem Künstler das in ihm steckende Genie hervorzuholen. Es bedurfte eines seltenen und jugendlichen Hochmuts, um auch nur versuchsweise ins Auge zu fassen, was Einstein vorhatte. Mit Milevas Liebe, die ihn in seinem Glauben an sich selbst bestärkte, und der geistigen Freiheit, die er in einer akademischen Stellung niemals besessen hätte, schuf Einstein ein neues Verständnis des Universums.

»Was machen Sie denn, Sie eingefrorener Walfisch, Sie geräuchertes, getrocknetes eingebüchstes Stück Seele«, schrieb Einstein im Mai 1905 an seinen Freund Conrad Habicht. »Es herrscht ein weihevolles Stillschweigen zwischen uns, so daß es mir fast wie eine sündige Entweihung vorkommt, wenn ich es jetzt durch ein wenig bedeutsames Gepappel unterbreche.«

In dem »wenig bedeutsamen Gepappel« des nun folgenden Briefes beschrieb Einstein ganz nebenher vier Arbeiten, mit denen er sich gerade befasste. Jede von ihnen war eine Leistung, mit der er Karriere gemacht hätte. Dass er alle vier in so kurzer Zeit vollendete, ist geradezu unglaublich. Wissenschaftshistoriker bezeichnen 1905 gerne als Einsteins »Wunderjahr«, und es kommt nicht oft vor, dass Wissenschaftshistoriker nach dem Ausdruck »Wunder« greifen.

Einsteins Arbeit von 1905 erinnert an Newtons Leistungen im Jahr 1666, als die Universität Cambridge wegen der Pest schließen musste und Newton in das Haus seiner Mutter im ländlichen Lincolnshire zurückkehrte. Er nutzte die Zeit, um die Infinitesimalrechnung, eine Farbenlehre und die Gravitationsgesetze zu entwickeln, wodurch er sich als größtes wissenschaftliches Genie Großbritanniens unsterblich machte. Einsteins Leistung ist noch eindrucksvoller, wenn man bedenkt, dass er nicht müßig unter Apfelbäumen im Gras lag, sondern einer Vollzeittätigkeit nachging. Er war damals im Patentamt in Bern angestellt, da es ihm nicht gelungen war, eine Stelle als Physiker zu finden. Es ist unglaublich, aber er schrieb diese vier Arbeiten in seiner Freizeit.

Die erste Arbeit »handelt über die Strahlung und die energetischen Eigenschaften des Lichtes und ist sehr revolutionär«, heißt es in dem Brief an Habicht. Das ist keineswegs übertrieben. In dieser Arbeit behauptet Einstein, das Licht bestehe aus diskreten Einheiten, die wir heute als Photonen bezeichnen, und der Äther existiere nicht. Wie wir später noch sehen werden, legte die Arbeit unbeabsichtigt die Grundlage für die Quantenphysik und ein Modell des Universums, das so seltsam war und derart im Widerspruch zur alltäglichen Erfahrung stand, dass Einstein selbst den größten Teil seines Lebens darauf verwandte, dessen Implikationen zu bestreiten.

»Die zweite Arbeit ist eine Bestimmung der wahren Atomgröße.« Dies war die am wenigsten umstrittene unter den vier Arbeiten – nützliche Physik, die keinen Umsturz etablierter Vorstellungen bedeutete. Damit promovierte Einstein. Seine dritte Arbeit nutzte eine statistische Analyse der Bewegung sichtbarer Teilchen in Wasser, um die Existenz von Atomen zweifelsfrei zu beweisen – was weithin angenommen wurde, bis dahin aber noch nicht zwingend bewiesen worden war.

Einsteins bedeutsamste Entdeckung resultierte aus der Betrachtung eines scheinbaren Widerspruchs zwischen zwei verschiedenen physikalischen Gesetzen. »Die vier[te] Arbeit liegt erst im Konzept vor und ist eine Elektrodynamik bewegter Körper unter Benützung einer Modifikation der Lehre von Raum und Zeit.« Daraus sollte die Spezielle Relativitätstheorie werden. Zusammen mit der zehn Jahre später formulierten Allgemeinen Relativitätstheorie sorgte sie für einen Umsturz des eleganten, von Newton beschriebenen Uhrwerk-Universums.

Die Relativitätstheorie zeigt, dass wir in einem äußerst seltsamen, komplexen Universum leben, in dem Raum und Zeit keine festen Größen mehr darstellen, sondern durch Masse und Bewegung gedehnt werden können. Es ist ein Universum mit Schwarzen Löchern und gekrümmter Raum-Zeit, das mit der alltäglichen Welt, in der wir leben, kaum etwas zu tun hat. Die Relativitätstheorie wird oft in unverständlicher Weise dargestellt, aber der Kerngedanke ist erstaunlich leicht zu erfassen.

Stellen Sie sich einen Ort im denkbar tiefsten, dunkelsten, leersten Weltraum vor, weit entfernt von allen Sternen und Planeten oder sonstigen Einflüssen. Stellen Sie sich vor, dass Sie in dieser tiefsten Leere schweben, sicher und warm in einen Raumanzug gehüllt. Aber vor allem stellen Sie sich vor, dass Sie sich nicht bewegen.

Dann stellen Sie sich vor, eine Teetasse schwebte langsam an Ihnen vorbei und verschwände schließlich in der Ferne.

Auf den ersten Blick erscheint dieses Szenario vernünftig. Nach dem Ersten Newton’schen Gesetz verharrt ein Körper im Zustand der Ruhe oder einer gleichförmigen geradlinigen Bewegung, sofern keine äußere Kraft auf ihn einwirkt. Das ist zweifellos eine perfekte Beschreibung Ihres Verhaltens wie auch des Verhaltens der Teetasse.

Aber wie können wir behaupten, dass Sie im Ruhezustand wären, würde Einstein fragen. Woher wissen wir, dass nicht die Teetasse sich in Ruhe befindet und Sie sich an ihr vorbeibewegen? Aus Ihrer Sicht erscheinen beide Situationen als identisch. Und ebenso aus der Sicht der Teetasse.

In den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts wandte man gegen Galilei ein, die Erde könne sich nicht um die Sonne bewegen, da wir doch auf der Erde nicht das Gefühl hätten, uns zu bewegen. Aber Galilei wusste, dass wir uns keiner Bewegung bewusst wären, wenn wir uns gleichmäßig, das heißt ohne Beschleunigung oder Verzögerung, bewegten und auch sonst keine sichtbaren oder hörbaren Indizien auf eine Bewegung hindeuteten. Er erklärte, wir könnten nicht behaupten, uns »in Ruhe« zu befinden, weil man ohne einen zum Vergleich herangezogenen äußeren Bezugspunkt unmöglich einen Unterschied zwischen einem bewegten und einem ruhenden Objekt feststellen könne.

Das mag fragwürdig und pedantisch erscheinen, und wir denken vielleicht, auch wenn nichts um uns herum wäre, seien wir doch entweder in Ruhe oder in Bewegung. Wie konnte jemand behaupten, die Aussage: »Ich befinde mich in Ruhe«, sei absurd oder sinnlos?

In der Schule lernen wir, die Position von Objekten zu bestimmen, indem wir sie in ein Koordinatensystem einzeichnen, das ihre Entfernung von einem festen Punkt im Sinne von Höhe, Länge und Breite zeigt. Man spricht hier von der x-, y- und z-Achse, und der feste Punkt wird gewöhnlich als Nullpunkt oder Ursprung bezeichnet. Dieser Punkt ist der Omphalos, von dem aus alle übrigen Distanzen gemessen werden. Den durch die drei Achsen definierten Bereich nennt man einen kartesischen Raum. In diesem Bezugsrahmen ließe sich ganz einfach feststellen, ob sich der Astronaut oder die Teetasse in Bewegung befindet, indem man beobachtet, ob sich ihre Koordinaten innerhalb des kartesischen Raums über die Zeit verändern.

Wenn Sie Einstein dieses Schaubild gezeigt hätten, hätte er ein Radiergummi genommen und den Ursprung samt den drei Achsen ausradiert.

Damit hätte er nicht den »Raum« beseitigt, sondern lediglich das Bezugssystem, mit dessen Hilfe wir den Raum definiert hatten. Und er täte das, weil das Bezugssystem kein Element der realen Welt darstellt. Das Bezugssystem des kartesischen Raums ist ein Produkt unseres Geistes – ganz wie die Längengrade, die von Greenwich ausgehen und die wir auf den Kosmos projizieren, um ihn zu erfassen. Dieses Bezugssystem existiert nicht wirklich. Und außerdem ist es willkürlich. Wir hätten seinen Ursprung auch an einen anderen Ort legen können.

Instinktiv haben wir das Gefühl, wir oder die Teetasse müssten sich vor irgendeinem definitiven »Hintergrund« bewegen – oder nicht. Aber wenn es einen definitiven Hintergrund gibt, was könnte das sein?

In unserem alltäglichen Leben ist der feste Boden unter unseren Füßen ein Bezugssystem, auf das wir alles ganz unbewusst beziehen. Wer mit solch einem klaren Fixpunkt lebt, kann sich nur schwer vorstellen, dass er nicht existierte. Aber wie fest ist der Boden wirklich? Seit sich die Theorie der Plattentektonik in den sechziger Jahren durchsetzte, wissen wir, dass die Kontinente sich langsam bewegen. Wenn wir nach einem festen Punkt suchen, ist der jedenfalls nicht der Boden, auf dem wir stehen.

Könnten wir stattdessen unsere Position unter Bezug auf den Mittelpunkt der Erde bestimmen? Auch der ist nicht fix, denn die Erde bewegt sich mit 100000 Kilometern pro Stunde um die Sonne. Können wir dann vielleicht nicht die Sonne als Fixpunkt wählen? Die Sonne bewegt sich mit 220 Kilometern pro Sekunde um das Zentrum der Milchstraße. Und die Milchstraße bewegt sich mit 552 Kilometern pro Sekunde relativ zum übrigen Universum.

Was wäre mit dem Universum als solchem? Könnten wir nicht als allerletzten Versuch, einen festen Punkt zu bestimmen, das Zentrum des Universums zu unserem Omphalos machen? Die Antwort lautet auch hier wieder nein. Es gibt kein »Zentrum des Universums«, wie wir später noch sehen werden, aber für den Augenblick können wir den Gedanken schon deshalb zurückweisen, weil er auf geradezu lächerliche Weise unpraktisch wäre.

Wie können wir unter diesen Umständen überhaupt etwas Definitives über unsere Position oder die der Teetasse sagen? Es mag ja vielleicht keinen realen »Fixpunkt« geben, den wir nutzen könnten, aber wir haben immer noch die Freiheit, jedes beliebige Bezugssystem zu wählen, das uns genehm ist. So könnten wir ein Bezugssystem konstruieren, in dessen Ursprung wir selbst stünden und das uns zu sagen erlaubte, der Tee bewege sich relativ zu uns. Oder wir könnten eines konstruieren, in dessen Ursprung sich der Tee befände, so dass wir uns nun relativ zur Teetasse bewegten. Wir können allerdings nicht behaupten, eines dieser Bezugssysteme sei korrekt oder dürfe mehr Geltung beanspruchen als das andere. Wenn wir sagten, der Tee bewege sich relativ zu uns, bewiesen wir damit nur unsere angeborenen Vorurteile im Hinblick auf den Tee.

Einsteins 1916 erschienenes Buch Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie bietet ein gutes Beispiel dafür, dass kein Bezugssystem mehr Geltung beanspruchen kann als andere. In der ursprünglichen deutschen Fassung benutzte er den Potsdamer Platz in Berlin als Beispiel. Als das Buch ins Englische übersetzt wurde, ersetzte man den Potsdamer Platz durch den Trafalgar Square in London. Als das Urheberrecht an dem Buch abgelaufen war und der Text im Internet frei zur Verfügung gestellt wurde, ersetzte der Herausgeber den Trafalgar Square wiederum durch den Times Square in New York, weil dies »für Englischsprachige heute der bekannteste und am leichtesten zu identifizierende Ort« sei. Wichtig an diesem Bezugssystem ist also lediglich, dass es als Bezugssystem definiert worden ist. Praktisch könnte sich der Ursprung überall befinden.

Der erste Schritt zu einem Verständnis der Relativitätstheorie ist also die Einsicht, dass eine Positionsangabe erst dann sinnvoll ist, wenn zugleich auch ein Bezugssystem definiert worden ist. Wir können jedes Bezugssystem wählen, das uns beliebt, aber wir können nicht behaupten, dass es mehr Geltung beanspruchen dürfe als andere.

Mit diesem Wissen wollen wir nun in das Zürich des Jahres 1914 zurückkehren.

Dort besteigt Einstein einen Zug und reist damit nach Berlin. Er verlässt seine Frau Milena samt den beiden noch lebenden Kinder, um gemeinsam mit seiner Cousine, die später seine zweite Frau werden wird, ein neues Leben zu beginnen. Stellen Sie sich vor, der Zug fährt mit einer konstanten Geschwindigkeit von hundert Kilometern pro Stunde auf einer geraden Strecke, und irgendwo im Zug steht Einstein, hält ein Würstchen in Kopfhöhe und lässt es auf den Boden fallen.

Das wirft zwei Fragen auf: Wie weit fällt das Würstchen? Und warum verlässt er seine Frau? Von diesen beiden Fragen hätte Einstein die erste für die interessantere gehalten, und darum wollen wir uns hier auf sie konzentrieren.

Sagen wir einmal, er hielt das Würstchen in einer Höhe von 1,60 Metern über dem Boden. Wie zu erwarten, landet es gleich vor seinen abgewetzten Schuhen, und zwar senkrecht unter seiner erhobenen Hand. Deshalb können wir sagen, dass es genau 1,60 Meter gefallen ist. Wie wir gesehen haben, hat solch eine Aussage nur dann Sinn, wenn ein Bezugssystem definiert worden ist. Hier nehmen wir Einsteins Bezugssystem, also das Innere des Waggons, und wir können sagen, dass dieses Würstchen relativ dazu genau 1,60 Meter gefallen ist.

Welche anderen Bezugssysteme könnten wir verwenden? Stellen wir uns vor, auf dem Bahndamm sitzt eine Maus, und der Zug fährt gerade über sie hinweg, als Einstein das Würstchen fallen lässt. Wie weit fällt das Würstchen, wenn wir die Maus als Bezugssystem benutzen?

Das Würstchen beginnt seinen Fall immer noch in Einsteins Hand und landet vor seinen Füßen. Aber für die Maus bewegen sich Einstein und das Würstchen auch über sie hinweg, während das Würstchen zu Boden fällt. Zwischen dem Zeitpunkt, da Einstein es loslässt, und dem Zeitpunkt, da es den Boden erreicht, hat das Würstchen auch eine gewisse Entfernung entlang der Bahnstrecke zurückgelegt. Einsteins Füße befinden sich zu dem Zeitpunkt, als das Würstchen davor auftrifft, nicht mehr an derselben Stelle wie zu dem Zeitpunkt, als er es losließ, sondern haben sich mit dem Zug ein Stück weit entlang der Bahnstrecke bewegt. Das Würstchen ist relativ zur Maus immer noch 1,60 Meter gefallen, aber es hat zugleich auch eine gewisse Entfernung in Fahrtrichtung des Zuges zurückgelegt. Wenn Sie die Entfernung messen wollten, die das Würstchen von der Hand bis zum Boden relativ zur Maus zurückgelegt hat, verliefe die Falllinie nicht senkrecht, sondern in einem gewissen Winkel zum Boden, und das bedeutet, dass es mehr als 1,60 Meter zurückgelegt hat.

Das ist, instinktiv betrachtet, ein Schock. Die von dem Würstchen zurückgelegte Entfernung verändert sich, wenn wir sie in verschiedenen Bezugssystemen messen. Aus der Sicht der Maus hat das Würstchen eine größere Entfernung zurückgelegt als aus Einsteins Sicht. Und wie wir gesehen haben, können wir nicht behaupten, dass ein Bezugssystem größere Geltung beanspruchen dürfe als andere. Wenn das stimmt, wie können wir dann irgendeine definitive Aussage über Entfernungen treffen? Wir können allenfalls sagen, das Würstchen habe in einem bestimmten Bezugssystem eine bestimmte Strecke zurückgelegt, aber diese Strecke könne eine andere sein, wenn man sie in anderen Bezugssystemen misst.

Das ist indessen nur der Anfang unserer Schwierigkeiten. Wie wir mit der Vorstellung eines beständigen Fixpunkts unter unseren Füßen leben, so glauben wir auch, dass es eine konstante universelle Zeit gebe, die da im Hintergrund abliefe. Stellen Sie sich das Gewimmel der Pendler vor, die in London die Westminster Bridge überqueren, mit den Houses of Parliament und der großen Uhr von Big Ben über sich. Die Uhr hängt hoch über den Köpfen der gut gekleideten Passanten und geht ihren absolut regelmäßigen Gang, gänzlich unberührt von dem Leben da unter ihr. Ganz intuitiv haben wir das Gefühl, dass Zeit genauso funktionieren muss. Sie schwebt über uns, ganz unberührt von unserem Tun. Aber Einstein erkannte, dass dies nicht zutrifft. Die Zeit hängt wie der Raum von den Umständen ab.

Das alles scheint uns in eine verzwickte Lage zu bringen. Messungen der Zeit und des Raumes fallen je nach dem verwendeten Bezugssystem verschieden aus, aber es gibt kein »korrektes« oder »absolutes« Bezugssystem, auf das wir uns verlassen könnten. Was beobachtet wird, hängt zum Teil vom Beobachter ab. Auf den ersten Blick scheint uns das in eine ausweglose Lage zu bringen, in der jegliche Messung relativ ist und nicht als endgültig oder »wahr« gelten kann.

Um alledem zu entkommen, griff Einstein zu den Mitteln der Mathematik.

Nach gesicherten Erkenntnissen der Physik muss sich Licht (wie alle anderen Formen elektromagnetischer Strahlung) im Vakuum mit einer ganz bestimmten Geschwindigkeit bewegen. Diese Geschwindigkeit, die bei 300000000 Metern pro Sekunde liegt, bezeichnen Mathematiker als »c« – und Nichtmathematiker als »Lichtgeschwindigkeit«. Aber wie kann das sein, wenn doch Messungen, wie wir gesehen haben, je nach Bezugssystem unterschiedlich ausfallen?

Insbesondere ist hier das Gesetz der Addition der Geschwindigkeiten zu berücksichtigen. Man denke etwa an eine Szene aus einem James-Bond-Film, in dem 007 vom Handlanger des Bösewichts beschossen wird. Wir brauchen keine Angst zu haben, dass Bond getötet wird, denn Handlanger sind notorisch schlechte Schützen. Stattdessen wollen wir uns fragen, welche Geschwindigkeit die Kugel hat, wenn sie – ohne Schaden anzurichten – über seinen Kopf fliegt. Nehmen wir der Einfachheit halber an, das Geschoss erreichte eine Geschwindigkeit von 2000 Kilometern pro Stunde. Falls der Handlanger beim Abfeuern seiner Waffe auf einem Motorschlitten sitzt und dieser Motorschlitten mit einer Geschwindigkeit von 80 Kilometern pro Stunde auf James Bond zufährt, addierten sich für die Kugel die beiden Geschwindigkeiten zu insgesamt 2080 Kilometer pro Stunde. Sollte Bond auf Skiern mit einer Geschwindigkeit von 20 Kilometern pro Stunde vor dem Motorschlitten flüchten, müsste man auch dies einrechnen, und die Kugel hätte gegenüber Bond eine Relativgeschwindigkeit von 2060 Kilometern pro Stunde.

Nun zurück zu Einstein, der in seinem Zug das Würstchen inzwischen gegen eine Fackel eingetauscht hat, die durch den gesamten Speisewagen leuchtet. Aus seiner Sicht bewegen sich die von der Fackel emittierten Photonen mit Lichtgeschwindigkeit (streng genommen müsste im Zug allerdings ein Vakuum herrschen, wenn die Photonen Lichtgeschwindigkeit erreichen sollen, aber solche Details wollen wir hier einmal beiseitelassen, damit Einstein nicht erstickt). Für einen ruhenden, das heißt nicht im Zug befindlichen Beobachter wie die Maus eben oder einen Dachs, der unter einem nahe gelegenen Baum sitzt, bewegten sich die Photonen mit der Lichtgeschwindigkeit plus der Geschwindigkeit des Zuges, also eindeutig mit mehr als Lichtgeschwindigkeit. Und da scheint sich nun in den Gesetzen der Physik ein fundamentaler Widerspruch zwischen dem Gesetz der Addition der Geschwindigkeiten und dem Gesetz zu zeigen, wonach elektromagnetische Wellen sich stets mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten müssen.

Irgendetwas stimmt da nicht. Zur Lösung dieses Problems könnten wir uns fragen, ob das Gesetz der Addition der Geschwindigkeiten vielleicht fehlerhaft oder ob die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wirklich so gut gesichert ist, wie immer behauptet wird. Einstein sah sich beide Gesetze an, befand sie für verlässlich und gelangte zu einem aufsehenerregenden Schluss. Die Lichtgeschwindigkeit, wie gesagt: etwa 300000000 Meter pro Sekunde, sei gar nicht das Problem. Das Problem seien vielmehr die »Meter« und »Sekunden«. Wenn ein Objekt sich in Bewegung befindet, so erkannte er, verkürzt sich der Raum, und die Zeit vergeht langsamer.

Einstein unterfütterte seine kühne Erkenntnis, indem er sich in die Welt der Mathematik vertiefte. Das wichtigste Instrument, das er einsetzte, war ein Verfahren, das als Lorentz-Transformation bezeichnet wird und ihm die Möglichkeit bot, Umrechnungen zwischen Messergebnissen aus verschiedenen Bezugssystemen vorzunehmen. So konnte Einstein objektiv über Zeit und Raum sprechen und genau aufzeigen, in welcher Weise sie von Bewegung beeinflusst werden.

Um es noch komplizierter zu machen: Nicht nur Bewegung kann dafür sorgen, dass Raum und Zeit schrumpfen. Auch die Gravitation hat eine ähnliche Wirkung, wie Einstein zehn Jahre später in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie entdeckte. Wer im Erdgeschoss wohnt, wird langsamer altern als sein Nachbar über ihm im ersten Stock, weil die Schwerkraft in Bodennähe etwas stärker ist. Diese Wirkung ist natürlich nur winzig. Über hundert Jahre beträgt der Zeitunterschied zwischen zwei Punkten mit einem Höhenunterschied von etwa dreißig Zentimetern ungefähr hundert Nanosekunden. Dennoch ist der Effekt real, und man hat ihn auch schon in der realen Welt gemessen. Wenn man von zwei völlig gleichartigen, äußerst genau gehenden Uhren eine in ein Flugzeug stellt, während die andere am Boden bleibt, wird auf der Uhr im Flugzeug nach einem Flug weniger Zeit vergangen sein als auf der am Boden gebliebenen Uhr. Die von Satelliten gelieferten Daten, mit denen das Navigationssystem Ihres Autos arbeitet, sind nur deshalb genau, weil die Auswirkungen der Gravitation und ihrer Geschwindigkeit bei der Berechnung der Positionen berücksichtigt werden. Es ist Einsteins Mathematik und nicht unser Alltagsverständnis des dreidimensionalen Raumes, die unser Universum zutreffend beschreibt.

Wie können Nichtmathematiker Einsteins mathematische Welt verstehen, die er als Raum-Zeit bezeichnete? Wir sind in dem Bezugssystem gefangen, mit dessen Hilfe wir unsere normale Welt verstehen, und vermögen nicht in jene der höheren Mathematik vorbehaltene Sichtweise zu entkommen, in der sich deren Widersprüche auflösen. Allenfalls können wir hoffen, eine beschränktere, aber verständliche Perspektive einzunehmen und sie als Analogie zu benutzen, um uns die Raum-Zeit begreiflich zu machen.

Stellen wir uns eine flache, zweidimensionale Welt vor, in der es zwar Länge und Breite, aber keine Höhe gibt. Der viktorianische Schulleiter und Theologe Edwin Abbott Abbott schrieb eine wunderbare Novelle über solch einen Ort, die er Flatland nannte. Selbst wenn Sie dieses Buch nicht kennen, können Sie sich solch eine Welt leicht veranschaulichen, indem Sie ein Blatt Papier in die Hand nehmen und sich vorstellen, dass alle Dinge sich innerhalb dieser Ebene abspielten.

Wenn dieses Blatt Papier wie in Abbotts Geschichte eine von kleinen flachen Wesen bevölkerte Welt wäre, könnten diese Wesen niemals erkennen, dass wir das Blatt in der Hand halten. Sie könnten unsere dreidimensionale Welt nicht erfassen, da ihnen die Vorstellung von »oben« oder »unten« fehlte. Auch wenn wir das Blatt wölben oder krümmen, können sie das nicht bemerken, da sie keine Vorstellung von der Dimension besitzen, in der diese Veränderung stattfände. Ihnen erschiene alles immer noch beruhigend flach.

Jetzt stellen wir uns vor, wir biegen das Blatt auf sich selbst zurück, so dass ein Rohr entsteht. Unsere kleinen flachen Freunde werden auch jetzt nicht bemerken, dass da irgendetwas geschehen ist. Aber sie werden überrascht sein, wenn sie entdecken, dass sie, wenn sie lange genug in eine Richtung wandern, nun nicht mehr ans Ende der Welt, sondern wieder an ihren Ausgangspunkt gelangen. Wenn ihre zweidimensionale Welt die Form eines Rohrs oder die einer Kugel nach Art der Hülle eines Fußballs besitzt, wie könnten sich diese Leute dann diese verblüffenden, niemals endenden Reisen erklären? Die Menschheit hat lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass wir auf einem runden Planeten leben, und dies obwohl wir Fußbälle besaßen und den Vorteil hatten, das Konzept der Kugel zu verstehen, aber diese Plattlinge verfügen nicht einmal über die Idee der Kugel, die ihnen als Anhaltspunkt dienen könnte. Sie müssen warten, bis unter ihnen ein plattes Gegenstück zu Einstein entsteht, der mithilfe einer seltsamen, geheimnisvollen Mathematik behauptet, dass ihre flache Welt in ein höherdimensionales Universum eingebettet sein muss, in dem irgendein dreidimensionaler Schweinehund die flache Welt aus ihnen unerfindlichen Gründen krümmt. Die anderen Plattlinge fänden all das sehr verwirrend, aber mit der Zeit würden sie feststellen, dass ihre Messungen, Experimente und regelmäßigen langen Spaziergänge genau den Voraussagen des platten Einstein entsprächen. Damit stünden sie dann vor der Erkenntnis, dass es tatsächlich eine höhere Dimension gibt, so aberwitzig das auch erscheinen oder so unvorstellbar sie auch sein mag.

Wir befinden uns in einer ähnlichen Lage wie diese flachen Wesen. Wir verfügen über Messungen und Daten, die sich nur mit der Mathematik der Raum-Zeit erklären lassen, aber die Raum-Zeit bleibt den meisten von uns unverständlich. Die Begeisterung, mit der Wissenschaftler die sonderbareren Aspekte der Relativitätstheorie beschreiben, hilft da nicht weiter; sie sollten lieber erklären, was sie ist und wie sie mit der uns vertrauten Welt zusammenhängt. Die meisten dürften schon einmal gehört haben, dass zum Beispiel ein ferner Beobachter, der Sie in ein Schwarzes Loch stürzen sähe, den Eindruck hätte, dass der Sturz unendlich lange dauerte, während Sie selbst das Gefühl hätten, sehr schnell zu fallen. Physiker lieben solches Zeug. Es macht ihnen Spaß, die Leute zu verblüffen, aber nicht alle haben etwas von solcher Verblüffung.

Es stimmt, dass die Raum-Zeit aus menschlicher Sicht äußerst bizarr wirkt, da sich die Zeit darin wie alle übrigen Dimensionen verhält und Begriffe wie »Zukunft« und »Vergangenheit« nicht in der Weise anwendbar sind, wie es unserem üblichen Verständnis entspricht. Doch das Schöne an der Raum-Zeit ist gerade, dass sie, wenn man sie erst verstanden hat, die Seltsamkeiten nicht hervorbringt, sondern beseitigt. Anomale Messergebnisse jeglicher Art, etwa die Umlaufbahn des Merkurs oder die Ablenkung des Lichts in der Nähe sehr großer Sterne, verlieren ihren mysteriösen und widersprüchlichen Charakter. Die Situation, in der die Tasse Tee im All an Ihnen vorbeifliegt oder nicht vorbeifliegt, wird vollkommen klar und unumstritten. Nichts befindet sich in Ruhe, sofern es nicht als in Ruhe befindlich definiert wird.

Durch die Allgemeine Relativitätstheorie wurde Einstein zu einer weltweiten Berühmtheit. Auf das Publikum machte er einen ganz unmittelbaren Eindruck dank der Pressefotos, die sein ungekämmtes Haar, seine zerknitterte Kleidung und seine freundlich lächelnden Augen zeigten. Die Vorstellung eines aus Europa stammenden »komischen kleinen Mannes« mit einem Verstand, der sah, was andere nicht sehen konnten, war ein liebenswerter Archetyp, von dem Agatha Christie positiven Gebrauch machte, als sie 1920 die Figur des Hercule Poirot schuf. Die Tatsache, dass Einstein ein deutscher Jude war, machte ihn nur noch interessanter.

Die Aufnahme, die Einstein und seine Relativitätstheorie in der Welt fanden, zeigte, dass man sich mehr für den Menschen als für seine Ideen interessierte. Viele Autoren fanden ein geradezu freudiges Vergnügen an der Tatsache, dass sie seine Theorien nicht verstanden, und schon bald setzte sich die Vorstellung fest, dass normale Menschen die Relativitätstheorie unmöglich begreifen könnten. In zeitgenössischen Zeitungsartikeln konnte man lesen, es gebe auf der ganzen Welt nur zwölf Menschen, die diese Theorie verstünden. Als Einstein 1921 Washington besuchte, fühlte der Senat sich bemüßigt, über seine Theorie zu debattieren, wobei eine Reihe von Senatoren erklärte, sie sei nicht zu verstehen. Präsident Harding räumte nur zu gern ein, dass er sie nicht verstand. Chaim Weizmann, der später der erste Präsident Israels werden sollte, begleitete Einstein auf der Überfahrt über den Atlantik. »Während der Überfahrt hat mir Einstein täglich seine Theorie erklärt, und bei der Ankunft habe ich erkannt, daß er sie wirklich versteht«, erzählte Weizmann später.

Für den Anarchisten Martial Bourdin kam die Relativitätstheorie zu spät. Er wollte das Observatorium in Greenwich zerstören, das den Omphalos des britischen Empire und dessen weltumspannendes Ordnungssystem symbolisierte. Aber jeder Omphalos, so hat Einstein uns gelehrt, ist vollkommen willkürlich. Hätte Bourdin auf die Allgemeine Relativitätstheorie gewartet, wäre ihm klar geworden, dass es gar nicht notwendig war, eine Bombe zu bauen. Er hätte nur erkennen müssen, dass der Omphalos in jedem Fall bloße Fiktion ist.

2 MODERNE

Szene aus einer Aufführung von Le Sacre du printempsim Théâtre des Champs-Élysées, 1913.

Der Schock des Neuen

Im März 1917 heuerte der in Philadelphia lebende moderne Maler George Biddle eine zweiundvierzigjährige Deutsche als Modell an. Sie besuchte ihn in seinem Atelier, und Biddle sagte, er wolle sie nackt sehen. Die Frau öffnete ihren scharlachroten Regenmantel. Darunter war sie nackt – abgesehen von einem aus zwei Tomatendosen und grüner Schnur gefertigten Büstenhalter und einem kleinen, um ihren Hals hängenden Vogelkäfig, der einen erbarmungswürdig wirkenden Kanarienvogel beherbergte. Ansonsten beschränkte sich ihre Kleidung auf eine große Zahl kürzlich im Kaufhaus Wanamaker’s gestohlener Gardinenringe an einem ihrer Arme und einen mit Karotten, Rote Bete und anderem Gemüse verzierten Hut.

Armer George Biddle. Da stand er nun. Er hatte geglaubt, er sei der Künstler und die Frau vor ihm, Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, sei sein Modell. Doch mit einer einzigen enthüllenden Bewegung hatte die Baroness klargemacht, dass sie die Künstlerin und er lediglich ihr Publikum war.

Baroness Elsa, damals eine bekannte Figur in der New Yorker Avantgarde-Kunstszene, war Performance-Künstlerin, Dichterin und Bildhauerin. Sie trug Kuchen als Hüte, Löffel als Ohrringe, schwarzen Lippenstift und Briefmarken als Make-up. Sie lebte in bitterer Armut, umgeben von ihren Hunden und den Mäusen und Ratten in ihrer Wohnung, die sie fütterte und umsorgte. Immer wieder wurde sie wegen kleiner Diebstähle oder öffentlicher Nacktheit verhaftet und inhaftiert. In einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Beschränkungen für das öffentliche Auftreten von Frauen gerade erst in Anfängen gelockert wurden, rasierte sie sich den Kopf oder färbte ihr Haar zinnoberrot.

Ihr Werk wurde von Ernest Hemingway und Ezra Pound gefördert; sie war Partnerin von Künstlern, darunter Man Ray und Marcel Duchamp, und wer ihr begegnete, vergaß sie nicht so leicht. Doch in den meisten Darstellungen der Kunstwelt des frühen 20. Jahrhunderts bleibt sie unsichtbar. Man findet kurze Bemerkungen über sie in Briefen und Zeitschriften der Zeit, in denen sie als schwierig, kalt oder vollkommen verrückt beschrieben wird, häufig verbunden mit einem Hinweis auf ihren Körpergeruch. Viel von dem, was wir über sie wissen, basiert auf einem Entwurf ihrer Lebenserinnerungen, den sie 1925, zwei Jahre vor ihrem Tod, in der Landesirrenanstalt Eberswalde verfasste.

Den meisten Leuten, denen sie begegnete, erschienen ihre Art zu leben und ihre Kunst vollkommen sinnlos. Vielleicht war sie ihrer Zeit allzu weit voraus. Die Baroness gilt heute als die erste amerikanische Dada-Künstlerin, aber man könnte ebenso gut behaupten, sie sei – sechzig Jahre zu früh – die erste New Yorker Punkerin gewesen. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts fand ihre feministische Dada-Kunst Anerkennung. Diese Neubewertung ihres Werks eröffnet eine faszinierende Möglichkeit: Könnte es sein, dass Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven für ein Werk verantwortlich ist, das vielen als das bedeutendste Kunstwerk des 20. Jahrhunderts gilt?

Else Hildegard Plötz wurde 1874 in dem an der Ostsee gelegenen, damals zu Preußen, heute zu Polen gehörenden Swinemünde (polnisch: Świnoujście) geboren. Mit neunzehn Jahren, nach dem Krebstod ihrer Mutter und einem körperlichen Angriff ihres gewalttätigen Vaters, verließ sie ihr Zuhause und ging nach Berlin, wo sie als Modell und Revuetänzerin arbeitete. Es folgte eine hitzige Phase sexuellen Experimentierens, die ihr einen Krankenhausaufenthalt wegen Syphilis einbrachte, bevor sie sich mit dem Maler, Grafiker und Transvestiten Melchior Lechter anfreundete und sich in Avantgarde-Kunstkreisen zu bewegen begann.