Eisgang auf der Elbe - Helmut Schwarz - E-Book

Eisgang auf der Elbe E-Book

Helmut Schwarz

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Inhalt

Eisgang auf der Elbe

Tod an der Schlednitz

Pedunculata

Stillstand

Die Entscheidung

Die Halde

Zurück in Travemünde

Düstere Ahnung

Eisgang auf der Elbe

Gerhard und Britta hatten nach der langen Unterbrechung wegen der Corona-Pandemie mit ihrem Sohn Timo ihre Verwandten und Bekannten in Radebeul besucht. Diese Region in der „Ehemaligen“ nördlich von Dresden zwischen Weinbergen und der Flussniederung war ihre alte Heimat. Hier waren sie aufgewachsen, zur Schule gegangen und hatten sich vor über fünfzig Jahren kennengelernt. Kurz vor der seinerzeit für nicht möglich gehaltenen Wende hatten sie der DDR den Rücken gekehrt und waren in den Westen gegangen. Ein einerseits schmerzlicher Schritt, andererseits ein Schritt zur Erlangung der lange ersehnten Freiheit.

Vor Antritt ihrer Rückreise nach Hamburg spazierten Gerhard und Britta noch einmal den schmalen, hartgefrorenen Pfad zwischen den Wiesen und Obstbäumen hinunter zur Elbe. Wie oft waren sie früher während der Schulzeit hier gewesen, hatten mit Freunden den Fluss aufgesucht, dort gebadet und gespielt. Ein wunderschöner Platz voller Erinnerungen. Es herrschte strenger Frost.

Als eine besonders große und dicke Scholle vorbeiglitt, fassten sich Britta und Gerhard ein Herz und sprangen wie in ihrer Jugendzeit hinauf. Die Eisscholle kam kurz ins Schwanken, setzte aber ihren behutsamen Weg fort. Dabei entfernte sie sich, ohne dass Britta und Gerhard es gleich bemerkten, immer weiter vom Ufer. Die Eisschollen an den Seiten ihrer großen Scholle waren zu klein, dass man darauf treten und wieder ans Ufer gelangen konnte. Je mehr ihre Eisscholle in die Mitte des Flusses driftete, umso schneller trieb sie mit dem Strom. Am Ufer und auf den angrenzenden Gartengrundstücken war zunächst niemand zu sehen, den sie auf ihre missliche Lage aufmerksam machen konnten. Dann kam ihr Sohn Timo den Pfad hinunter, um nach seinen Eltern zu sehen und sie zur Abreise zu drängen. Es ging bereits auf Mittag zu. Timo erkannte sofort die kritische Situation. Er rief seinen Eltern zu, dass er die Polizei verständigen werde. Er hetzte den Hang wieder hinauf und lief zu der in der Nähe liegenden Polizeidienststelle. Dort traf er einen Beamten an und schilderte ihm, was passiert war. Der Beamte machte ihm klar, dass er hier in der Dienststelle unabkömmlich sei. Er setzte sich aber mit seinen Kollegen in einem Streifenwagen in Verbindung, die unterwegs waren. Nach einer Viertelstunde trafen die Beamten in der Polizeistation ein. Timo erzählte ihnen, was passiert war und wo er seine Eltern zuletzt gesehen hatte. Da das Elbufer dort nur zu Fuß zu erreichen war, überlegten die Polizisten, wo sie weiter flussabwärts mit dem Wagen an das Elbufer gelangen konnten. Zusammen mit Timo fuhren sie nach wenigen Kilometern zu einer Uferstraße. Hier hatte die Elbe bereits eine größere Breite als in Radebeul. Mitten im Strom entdeckten sie auf einer Eisscholle stehend Timos Eltern. Durch Winken machten sie auf sich aufmerksam. Dann richtete einer der Beamten seinen Lautsprecher zum Fluss hin: „Achtung, Achtung. Hier spricht die Polizei. Bleiben sie ganz ruhig in der Mitte der Eisscholle. Gehen sie nicht an den Rand. Wir werden ihre Rettung organisieren. Bewahren Sie Ruhe.“ Die Polizeibeamten eilten mit eingeschaltetem Blaulicht zurück zur Polizeistation in Radebeul.

Timo schlug vor, dass er mit dem Auto seiner Eltern die Eisscholle auf der Uferstraße verfolgen könnte. Die Beamten stimmten zu. „Aber unternehmen Sie nicht auf eigene Faust, ihre Eltern zu retten. Dafür sind unsere Kräfte von der Feuerwehr und dem Technischen Hilfswerk zuständig.“

Die große Eisscholle, auf der Britta und Gerhard unterwegs war, hatte eine Größe von etwa fünfzig Quadratmetern, ca. acht Meter lang und sechs Meter breit. Gerhard schätzte, dass sie eine Dicke von knapp einem halben Meter hätte, die Gefahr des Auseinander- oder Durchbrechens also gering erschien. Sie bewegte sich jetzt in der Mitte des Flusses, eingerahmt von kleineren Schollen, die sich mitunter um ihre eigene Achse drehten.

Die drei Polizeibeamten in Radebeul berieten die Situation. Der Hauptkommissar beschloss wegen der lebensbedrohenden Situation, das übergeordnete Kommissariat in Dresden zu informieren. Die dortigen Beamten entschieden, einen Krisenstab zu bilden, und zwar bestehend aus Polizeibeamten, der Freiwilligen Feuerwehr in Meissen und dem Technischem Hilfswerk.

Sie vereinbarten, sich um 13 Uhr im Hotel Elbblick direkt an der Elbe bei Meissen zu treffen. Der leitende Kommissar erklärte: „Vor dieser Zeit dürfte die Eisscholle nicht weiter getrieben sein.“

Timo war zwischenzeitlich über die rechtsseitigen Nebenstraßen unterhalb der Weinberge dem Flusslauf gefolgt. Noch vor der kleinen Stadt Coswig entdeckte er die Eisscholle mit seinen Eltern. Wie ein Floß schwamm die Scholle Richtung Meissen. Er wusste, dass es dort eine Autobrücke über die Elbe gab. Ob er seinen Eltern von dort die Wolldecke, die sich in seinem Auto befand, zuwerfen sollte? Aber die Gefahr, nicht genau die Eisscholle zu treffen, war groß. Im Übrigen erinnerte er sich an die mahnenden Worte des Polizeibeamten, nichts auf eigene Faust zu unternehmen.

Der Bitte der Polizei an die Hilfsorganisationen, sich im Hotel Elbblick zu treffen, hatten alle Beteiligten folgegeleistet. Da die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr erst zusammengetrommelt werden mussten, trafen sie allerdings eine Viertelstunde nach 13 Uhr ein. Das Hotel selbst stand wegen Überholungsarbeiten jedoch nicht zur Verfügung. Man musste deshalb draußen auf dem Parkplatz das weitere Vorgehen beraten Es wehte ein eiskalter Wind. Die Retter trösteten sich damit, dass die Beiden auf der Eisscholle noch stärker der Kälte ausgesetzt waren.

Der Ortsbeauftragte des Technischen Hilfswerks, Diplomingenieur Fritsch, wurde zum Leiter des Krisenstabes benannt. Er hatte auf dem Gebiet der Rettung auf Gewässern die größten Erfahrungen. „Eine Bergung mit einem Rettungsboot der Wasserschutzpolizei, der Feuerwehr oder des THW kommt wegen des Eisganges nicht in Frage. Die Boote würden zerdrückt oder hochgehoben werden. Eine Rettung vom Ufer aus zur Eisscholle ist ebenfalls wegen der instabilen Eisdecke nicht möglich. Eine Bergung der Personen mit einem Hubschrauber erscheint mir ebenfalls zu gefährlich.

Durch die Aufwirbelung der Luft durch die Rotoren besteht die Gefahr, dass die zu rettenden Personen von der Eisscholle abrutschen und zwischen die Schollen ins Wasser geraten. Was bleibt, ist die Rettung durch Höhenretter von einer der flussabwärts querenden Brücken. Oder sieht einer von Ihnen eine andere Lösung?“

Allgemeines Kopfschütteln. „Die nächste Brücke ist in Meissen.“

Auf der anderen Elbseite, also am östlichen Ufer, hatte Timo die Eisscholle mit seinen Eltern verfolgt. Über die Handy-Nummer, die ihm ein Beamter der Polizei in Radebeul gegeben hatte, rief er den Beamten im Krisenstab auf dem Parkplatz an. Er teilte ihm die Lokation der Eisscholle mit. Er schätzte die Geschwindigkeit der Elbe auf etwa vier Kilometer pro Stunde, also gemächliches Fußgängertempo. Meissen war von der augenblicklichen Lokation der Scholle etwa fünf Kilometer entfernt. Der Polizeibeamte unterrichtete den Leiter des Krisenstabes.

„In einer Stunde schaffen wir es nicht, Höhenretter auf die Meissener Brücke zu schaffen. Wir könnten den zu Rettenden jedoch mit einem Seil von der Brücke Wolldecken zukommen lassen. Und warmes Getränk. Also los zur Brücke“, entschied der Leiter des Krisenstabes. Der Polizeibeamte, den Timo von der anderen Elbseite angerufen hatte, teilte Timo das Vorhaben und den Treffpunkt auf der Brücke in Meissen mit. Auch Timo setzte sich dorthin in Bewegung. Er kam nicht so schnell voran, weil ihm kein Blaulicht zur Verfügung stand.

Gerhard und Britta klapperten derweil auf der Eisscholle um die Wette. Vor allem der kalte Wind machte ihnen zu schaffen. Sich umklammernd versuchten sie sich zu wärmen und Mut auf baldige Rettung zu machen. „Timo wird einen Weg finden.“

Etwa dreihundert Meter bevor die Eisscholle die Brücke unterqueren würde, traf der Rettungstrupp auf der Brücke ein. Die Polizisten hatten in einem nahen Café eine Kanne mit warmem Kaffee und Plastikbecher organisiert und in einer Plastiktüte verstaut. Die THW-Leute banden vier graue Wolldecken an ein Seil, dazu die Plastiktüte und eilten zur Stelle auf der Brücke, wo die Eisscholle hindurch schwimmen musste. Die Scholle kam näher. Das Seil hing etwa ein Meter über dem Eis, als Gerhard zupackte und die Wolldecken und die Plastiktüte mit dem Kaffee ergreifen konnte. Es hatte geklappt. Timo, der inzwischen von dem anderen Ufer herbeigeeilt war, war froh, dass seine Eltern jetzt wenigstens gegen die Kälte ein wenig geschützt waren. Mit dem Megaphon in der Hand rief Einsatzleiter Fritsch Gerhard und Britta zu, dass bei der nächsten Brücke flussabwärts in Riesa Hilfe bereit stünde.

.Der Leiter des Krisenstabes ergriff das Wort. „Leute, der erste Teil wäre geschafft. Aber es war nur ein kleiner Schritt. Die eigentliche Bergung der Beiden wird schwieriger. Riesa, wo sich die nächste Brücke befindet, liegt rund dreißig Kilometer stromabwärts. Das heißt: Bei der Strömungsgeschwindigkeit von jetzt etwa sechs Stundenkilometer haben wir fünf Stunden Zeit. Es ist aber bereits 13:15 Uhr. Um 18 Uhr ist es dunkel. Wie wollen wir vorgehen? Bitte um Vorschläge. Bitte berücksichtigt, dass die Beiden zu Rettenden enorm unterkühlt sein werden und selbst nicht viel zu ihrer Rettung beitragen können.“

Daraufhin meldete sich einer der Drei von der Freiwilligen Feuerwehr. „Warum versorgen wir die Beiden nicht zwischenzeitlich mit einer Transportdrohne. Die könnten wir, sobald wir die erforderlichen Dinge zusammen haben, vom Ufer aus steuern und per Hand ans Ziel dirigieren.“

Herr Fritsch gab daraufhin Folgendes zu bedenken: „Wir müssen zunächst prüfen, ob wir die Beiden noch heute von der Eisscholle holen können. Oder wir müssen die Beiden so versorgen, dass sie auf der Scholle gut durch die Nacht kommen und wir morgen bei Helligkeit mit der Bergung beginnen. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass eine Rettung auf dem Fluss, d.h. über die Eisschollen, nicht möglich ist. Es bleibt also nur die Rettung aus der Luft, entweder von einer Brücke oder mittels eines Hubschraubers mit einem Bergretter, der mit einem Seil von dem Hubschrauber bis zur Scholle abgeseilt wird und die beiden Personen zum Hubschrauber hinaufgezogen werden. Ein solcher Bergretter steht aber hier in Sachsen nicht auf Abruf zur Verfügung. Ich werde mich deshalb nach unserer Besprechung mit der Bayerischen Bergwacht in Verbindung setzen und um Hilfe bitten. Ersatzweise kämen vielleicht die Gebirgsjäger oder die Tiroler Bergrettung in Frage.

Die dringlichste Frage lautet also: Wie kommen die Beiden auf der Eisscholle durch die Nacht? Ich greife gern den Vorschlag mit der Drohne auf. Mit der Drohne könnten wir auf dem Wege zwischen Meissen und Riesa ein Zelt, das leicht aufzubauen ist, auf die Scholle bringen. Frage: Woher bekommen wir ein derartiges Zelt? Ich nehme an, dass das gut sortierte Sporthaus Schäffer in Dresden geeignete Zelte auf Lager hat. Ich werde mich dort gleich erkundigen. Wie kommt das Zelt von der Dresdner Innenstadt hierher ans Elbufer?“

„Unsere Kollegen von der Polizei werden das mit Blaulicht schnell hinkriegen. Auch dicke Isomatten und wintertaugliche Schlafsäcke, wie sie bei Antarktisexpeditionen verwendet werden, müssten herbeigeschafft werden.“

An den jungen Feuerwehrmann gewandt fragte er: „Kennen Sie jemanden, der eine Transportdrohne steuern kann, so dass die genannten Dinge auf die Eisscholle transportiert werden können?“ Der Feuerwehrmann antwortete: „Ich kümmer mich drum“, griff zu seinem Smartfon und schilderte dem Angerufenen die Situation. „Kannst Du die Drohne hierher nach Meissen bringen oder brauchst Du Polizeiunterstützung? Okay, es muss aber schnell passieren, um 18 Uhr wird es dunkel, d.h. bis dahin müssen die Sachen auf der Scholle sein.“

Dann erklärte der Feuerwehrmann den Umstehenden, dass dieser Bekannte, mit dem er gerade gesprochen hätte, ähnliche Transporte schon einmal für die Post durchgeführt hätte. Auf eine Erdölförderinsel vor Dithmarschen.

Der Leiter des Krisenstabes ließ sich den Geschäftsführer des Sporthauses Schäffer in Dresden geben. Er schilderte ihm, dass Leben in Gefahr sei und höchste Eile bestünde. Der Geschäftsführer erwiderte, dass zwei Einmannzelte, Isomatten und wetterfeste Schlafsäcke zur Verfügung stünden und abgeholt werden könnten. Zu den Polizisten gewandt fragte der Einsatzleiter: „Alles klar? Ihr wisst, wo Schäffer ist?“ Die Polizeibeamten sprangen in ihren Dienstwagen, schalteten das Blaulicht ein und brausten mit Martinshorn-Unterstützung Richtung Dresden.

Timo, der der Besprechung mit wachsender Ungeduld gefolgt war, fragte den Leiter, wie es mit der Verpflegung sei. „Sehr guter Punkt“, antwortete der Leiter. Ein Polizeibeamter wandte sich an Timo: „Wollen wir einkaufen? Belegte Brote und heißen Tee?“ Beide setzten sich in Timos Auto und fuhren los.

Inzwischen war es kurz nach 16 Uhr geworden. Die Eisscholle mit Gerhard und Britta hatte Meissen längst hinter sich gelassen. Als der Bekannte des jungen Feuerwehrmannes mit der Drohne erschien, ordnete der Einsatzleiter die Verlegung des Teams nach Riesa an, ca. 30 km stromabwärts. Sie positionierten sich am Ufer der Elbe nahe einer Brücke. In seinem SUV hatte der junge Mann eine gut eineinhalb Meter im Durchmesser große Drohne. „Schafft die denn so einen Transport?“ fragte der Leiter des Krisenstabes mit einem zweifelnden Unterton. „Wenn die voll aufgedreht wird, schafft die einen Zentner“, antwortete der Angesprochene. Er machte die Drohne betriebsbereit. Auch die Scheinwerfer wurden überprüft. „Falls es länger dauert“, meinte er. Er positionierte das Fluggerät auf dem direkt am Elbufer verlaufenden Wanderweg. Dann holte er Gurte, an denen das Transportgut befestigte werden konnte und überprüfte sein Steuergerät. Alles funktionierte.

Ein Mitarbeiter des THW, der schon des Öfteren mit seinem Fernglas auf die Elbe vor Riesa geschaut hatte, meldete, dass die Eisscholle mit den beiden Personen noch nicht in Sicht gekommen wäre.

Timo und der Polizeibeamte hatten in einer kräftigen Tragetasche belegte Brote, Kekse, in einer Thermosflasche heißen Tee, ein kleines Rumfläschchen und mehrere Plastikbecher verstaut.

„Die Tragetasche werden wir sozusagen als Probelauf als erstes auf die Scholle fliegen“, meinte der Drohnenführer. „Außerdem habe ich einen Airtag mitgebracht. Den sollten wir dem Ehepaar auf der Scholle geben. Über mein Smartfon kann ich die Signale des Airtag empfangen und damit feststellen, wo sich die Scholle genau befindet.“ „Tolle Idee“, fand der Leiter.

Dann sahen sie auf der Straße am rechten Elbufer das Blaulicht und ein Martinshorn ertönen. Die für die Übernachtung notwendigen Utensilien kamen. Der Drohnenführer erklärte den Umstehenden, dass die Sachen nacheinander in ein Netz gepackt werden müssten und dann nach und nach auf die Scholle geflogen würden. Er fragte den Leiter, ob er ein Megafon zur Verfügung hätte, damit man dem Ehepaar auf der Scholle notfalls Hilfe beim Aufbau der beiden Kleinzelte geben könnte. Der Leiter bejahte dies.

Kurz vor 18 Uhr meldete der Feuerwehrmann mit dem Fernglas, dass er die Scholle mit den Eheleuten jetzt im Blickfeld hätte. „Ungefähre Entfernung?“ fragte der Leiter. „Ich schätze ein Kilometer.“ Also etwa 10 Minuten bis zum Eintreffen. Alle zu befördernden Sachen wurden in der Reihenfolge des Transports zurechtgelegt: Verpflegung, Zelte, Isomatten und Schlafsäcke. Der Leiter erklärte, er würde mit seinem Megafon hinauf auf die Brücke gehen und von dort die notwendigen Schritte ankündigen.

Als die Eisscholle noch etwa hundert Meter von der Brücke entfernt war, hob die Drohne mit der Tragetasche und den Nahrungsmitteln und Getränken ab. Während sie der Eisscholle entgegenflog, kündigte der Leiter den Beiden auf der Scholle mit seinem Megafon den Inhalt der Tragetasche an. Der Drohnenführer dirigierte sein Fluggerät langsam zu der Scholle. Man konnte erkennen, wie Gerhard die Tragetasche löste und ein Okayzeichen gab. Die Drohne kehrte zurück ans Ufer. In einem Netz wurden die beiden Zelte verfrachtet. Wieder startete die Drohne und legte den inzwischen kürzeren Weg zur Scholle zurück. Zusammen mit den Thermomatten verstauten sie bei dem letzten Flug noch zwei Wasserflaschen und eine Taschenlampe in dem Netz. Nicht einmal hundert Meter war die Scholle jetzt von der Stelle am Ufer entfernt, wo sich die Helfer aufhielten. Timo war inzwischen zu dem Leiter der Aktion auf die Brücke gelaufen. Als die Eisscholle mit seinen Eltern unter der Brücke hindurch schwamm, konnten sie sich kurz aus der Nähe sehen. Das Gespräch zwischen Ihnen ging leider im Verkehrslärm unter, der auf der Brücke durch den starken Autoverkehr verursacht wurde. Timo gewann jedoch den Eindruck, dass seine Eltern guter Dinge waren. Von der anderen Brückenseite rief er ihnen noch zu „Ich begleite Euch mit dem Auto!“

Der Leiter des Krisenstabes ging zusammen mit Timo hinunter zu seinen Leuten auf dem Uferweg. Ein Mitglied des THW sagte, dass er die Fließgeschwindigkeit ermittelt hätte. Sie läge hier vor der Brücke bei etwa 7 Stundenkilometer. Bei konstanter Geschwindigkeit wäre demnach die Scholle morgen früh um etwa 10 Uhr auf der Höhe von Torgau, etwa 100 Flusskilometer von hier.

„Ich werde deshalb den Rettungshubschrauber mit den Höhenrettern der Bayerischen Bergwacht für 10 Uhr nach Torgau anfordern. Sie kommen aus Mittenwald und benötigen natürlich eine ganze Zeit, um hierher zu kommen.

Mehr können wir hier im Augenblick wohl nicht unternehmen und deshalb die Aktion für heute unterbrechen. Vorschlag: Wir treffen uns morgen um 9 Uhr am Fähranleger in Torgau. Gibt es Gegenvorschläge oder Ergänzungen? Das ist nicht der Fall. Deshalb danke ich Euch allen, insbesondere natürlich unserem Drohnenführer, für den tollen und erfolgreichen Einsatz. Kommen Sie gut heim. Bis morgen früh.“

Dann wandte er sich an Timo: „Wo werden Sie die heutige Nacht verbringen?“ „Ich fahre zurück nach Radebeul, wo ohnehin noch das Gepäck in unserem Hotel liegt. Ich denke, dass ich dort noch eine Nacht verbringen kann. Ich werde morgen rechtzeitig in Torgau sein“.

Die Polizisten, THWler und Feuerwehrleute verabschiedeten sich. Der Drohnenführer verfrachtete sein teures Gerät und das Netz wieder in seinen SUV und begab sich ebenfalls auf den Heimweg. Er konnte stolz auf seine Leistung sein. Über dem Elbtal war es dunkel geworden.

Gerhard und Britta hatten von dem Geschehen an Land wenig mitbekommen. Sie verspeisten die geschmierten Brote und genossen den warmen Tee. Dann bauten sie die kleinen Einmannzelte nebeneinander auf der Scholle auf. Es bedurfte nur weniger Handgriffe, dann spannten sich die beiden Zelte wie eine Halbröhre auf. Danach schoben sie die Isomatten und die Schlafsäcke hinein. Sie genehmigten sich noch einen kleinen Schluck aus der kleinen Rumflasche, umarmten sich und krochen in ihre beiden Zelte und in die dicken Schlafsäcke. An das Fußende hatten sie die Taschenlampe gelegt. Draußen hörten sie nur noch das Aneinanderreiben und Knirschen der Eisschollen und das Gurgeln des Wassers. Sie riefen sich eine gute Nacht zu. Nach dem aufregenden Tag fielen sie bald trotz ihrer misslichen Lage in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen wachte zunächst Britta auf. Sie schälte sich aus ihrem herrlich warmen Schlafsack und zog den Reissverschluss ein wenig auf. Sie traute ihren Augen nicht: Es schneite. Wie auf einer weißen Wolke glitten sie jetzt durch das Elbtal. Britta machte sich bemerkbar. Gerhard war auch wach geworden. Britta rief zu ihm hinüber „Schau mal nach draußen!“ Ihre Eisscholle und die vielen sie umgebenden kleinen Schollen trugen eine etwa zehn Zentimeter hohe Schneeschicht. Ein tolles Bild.

„Haben wir eigentlich noch Tee?“ fragte Gerhard. Britta schüttelte die Flasche, die sie mit in ihr Zelt genommen hatte. „Die Flasche ist noch halbvoll“, rief sie zu Gerhard hinüber. „Ein wenig Brot haben wir auch noch.“ Sie rieben sich mit dem frischen Schnee Gesicht und Hände ab und fühlten sich, wie neu geboren. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sich beide auf der Eisscholle sehr sicher fühlten und an der erfolgreichen Rettung keinen Zweifel hatten.

Ihre Eisscholle, die umliegenden Schollen, die angrenzenden Uferwege und Wiesen – alles war in Weiß umhüllt. „Man sieht überhaupt kein Haus an den Ufern. Wo wir uns wohl befinden“, fragte sich Gerhard.

Es war zwar heller geworden, aber der Schnee rieselte unverändert vom Himmel. Timo hatte die Nacht wie erhofft in dem gleichen Hotel verbracht, in dem sie die Tage zuvor übernachtet hatten. Er frühstückte rasch, packte seine Reisetasche und das Gepäck seiner Eltern in seinen Wagen, bezahlte und begab sich auf den Weg elbabwärts nach Torgau.

Am dortigen Fähranleger versammelten sich bis neun Uhr die Helfer, die bereits gestern an der Rettungs- und Versorgungsaktion beteiligt waren. Auch der Drohnenführer war mit seinem wertvollen Gerät gekommen.

Dann meldete sich über Funk der Pilot des Rettungshubschraubers. Er wäre auf dem Flugplatz in Dresden gelandet. Wegen des starken Schneefalls wäre eine Rettungsaktion momentan nicht möglich. Sie müssten auf Wetter- und Sichtbesserung warten. Der Wetterbericht hätte gegen Mittag ein Nachlassen der Niederschläge prognostiziert.

Der Leiter der Rettungsaktion wandte sich an den Drohnenführer. „Können Sie denn nun feststellen, wo sich unsere Eisscholle bzw. das Ehepaar befindet?“ Der Drohnenführer schaute auf das Display seines Smartfons. Eine Landkarte wurde sichtbar. Als er sie so verschoben hatte, dass Torgau ins Bild kam, suchte er die Elbe ab und fand die Stelle, wo sich sein Sender, sein Airtag befand. „Sie schwimmen gerade an dem Dorf Pülswerda vorbei. Das liegt geschätzt fünf Kilometer von hier stromaufwärts. Also etwa eine Stunde Fahrzeit.“ Der Leiter der Rettungsaktion war begeistert. „Tolle Technik!“ Ein daneben stehender junger Feuerwehrmann meinte „Mit so einem Ding suchen wir unsere Oma auch immer.“

Um halbzwölf meldete sich der Pilot des Rettungshubschraubers. „Hier reißt die Bewölkung auf. Der Schneefall hat nachgelassen. Wir starten. Wie sieht’s bei Euch aus?“ „Ebenfalls kein Schneefall mehr.“ „Okay, wir kommen zum Parkplatz an der Fähre. Knappe halbe Stunde. Over“.

Beim Glockengeläut um 12 Uhr landete der rote Rettungshubschrauber. Der Parkplatz war durch den Wind, den die Rotoren verursachten, fast schneefrei geblasen. Drei Rettungssanitäter sprangen aus dem Helikopter und stellten sich den übrigen Hilfskräften vor. Der Leiter der Retter erkundigte sich zunächst, wo sich die Eisscholle momentan befände. Der Leiter der Rettungsaktion berichtete, dass die Scholle in knapp einer halben Stunde hier vorbeikommen müsste. Der Retter erklärte dann den geplanten Verlauf der Rettungsaktion: „Wenn die Eisscholle mit den beiden Personen in Sichtweite ist, steigen wir auf und schweben mit der gleichen Geschwindigkeit etwa 60 m über der Scholle. Unser Sanitäter Uwe wird dann an einem Seil zur Scholle zu den Personen hinuntergelassen. Dann wird er – beginnend mit der Frau – ihr einen Hosengurt umlegen. Dieser wird dann mit einem Karabinerhaken an Uwes Gurt befestigt, und wir ziehen beide wenige Meter in die Höhe und bringen sie hierher zum Parkplatz. Die Frau wird entkoppelt und Uwe wird zurück zur Eisscholle gebracht, um die zweite Person zu holen. Bei einer dritten Seilung können dann noch die Gegenstände von der Scholle geborgen werden.

Als die Scholle mit Gerhard und Britta vielleicht hundert Meter entfernt war, warf der Helikopter seine Rotoren an, stieg auf und flog zu den beiden Personen auf der Scholle. Man sah vom Parkplatz, wie Uwe aus etwa 60 Meter Höhe abgeseilt wurde und neben Gerhard und Britta auf der Eisscholle landete. Nachdem Uwe Britta an seinem Gurt befestigt hatte, stieg auf sein Handzeichen der Helikopter einige Meter hoch, flog über die Eisschollen hinweg zum Ufer und setzte Britta und Uwe auf dem Parkplatz ab. Britta wurde entkoppelt und von ihrem Sohn Timo in die Arme geschlossen. Alle Helfer begrüßten sie und freuten sich mit ihr, dass alles vorüber war. Dann flog der Heli mit Uwe am Seil wieder hinüber zur Scholle.

Gerhard wurde befestigt und ebenfalls zum Parkplatz geflogen. Dann flog Uwe mit dem Netz nochmals zur Eisscholle, verstaute die Zelte, die Schlafsäcke, die Wolldecken und die übrigen Gegenstände in das Netz. Nur die Thermomatten konnte er nicht bergen. Sie waren auf der Eisscholle festgefroren. Alle waren froh, dass das ganze Manöver gut gelungen war, dass Britta und Gerhard wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Der Drohnenführer hatte während der Bergungsaktion seine Drohne aufsteigen lassen und die ganze Rettungsaktion mit der Drohnenkamera gefilmt. „Ihr bekommt den Film, damit Ihr Euch die Rettung noch einmal in aller Ruhe zu Hause ansehen könnt“, versprach er den Geretteten.

Gerhard und Britta schauten auf die Eiswüste auf der Elbe und sahen, wie ihre Scholle im Schatten unter der Brücke verschwand. Sie wussten noch gar nicht, wem sie zuerst danken sollten. Sie drückten allen umstehenden Helfern die Hand. Selbst einige hartgesottene Helfer bekamen feuchte Augen. Die Freude über die geglückte Rettung war an ihnen nicht spurlos vorübergegangen.

Dann ergriff noch einmal der Leiter des Krisenstabes das Wort. „Männer, ich danke Euch für Euren Einsatz. Ihr könnt stolz sein, dass Ihr zwei Menschenleben gerettet habt. Es war eine hervorragende Teamarbeit verschiedener Organisationen. Besonderen Dank und Anerkennung möchte ich dem Drohnenführer für die Versorgung unserer Geretteten am gestrigen Abend sowie dem Helikopterteam für die rasche Bergung der Geretteten aussprechen.“