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Alexander Guzewicz

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Beschreibung

Im Kölner Dom wird ein Bundestagsabgeordneter ermordet. Die Tatwaffe ist die Petersglocke. Die Partei des Opfers ist zerstritten und der Abgeordnete wird dafür verantwortlich gemacht. Ist die politische Gesinnung oder seine Verstrickung mit dem religiösen Parteiflügel das Motiv für die grausame Tat? Der Präsident des Verfassungsschutzes wird wegen seiner Nähe zum religiösen Parteiflügel abgesetzt und drei weitere Bundestagsabgeordnete werden nacheinander hingerichtet. Alle haben ein dunkles Geheimnis. Gibt es hier einen Zusammenhang? Die Ermittlungen führen Ólafur Davídsson in das Herz der Demokratie – in den Deutschen Bundestag. Hinweise am Tatort deuten plötzlich auf ein religiöses Motiv und der Fallanalytiker steht vor der Wahl: Soll er seine Karriere aufs Spiel setzen, um den Fall zu lösen?

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Vollständige eBook-Ausgabe der beim

eure-l verlag, Berlin

erschienenen Taschenbuchausgabe

 

Copyright © 2023 by eure-l verlag, Berlin

 

Umschlaggestaltung eure-l software, Berlin

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Datenkonvertierungpublish4you, Roßleben-Wiehe

 

01 550-0228-23

ISBN 978-3-939984-87-0

für meinen

treuesten Freund

1

Der Wind war eisig.

Es war nicht jene angenehm kühle Brise, die man in heißen Sommermonaten hinter den dicken Gemäuern suchte.

Diese Kälte war gleichbedeutend mit Leere.

Obwohl zwischenzeitlich gut zwanzig Personen – die meisten davon in Uniform – auf den gleichen Punkt vor ihnen starrten, als seien sie von einer unsichtbaren Kraft betäubt worden, war es im Glockenstuhl des Kölner Doms leer.

Das Menschliche war abwesend.

Ólafur Davídsson sah die Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern. Es war eine Mischung aus Ekel, Angst und Neugierde, die den Blick auf den Punkt vor ihnen fixierte. Ein Anblick, der sich binnen Sekunden für immer eingebrannt hatte und auf den jeder gerne verzichtet hätte.

Selbst Davídsson konnte sich nicht daran erinnern, so einen Tatort jemals zu Gesicht bekommen zu haben.

Die Petersglocke, die im Volksmund nur dicker Pitter genannt wurde, dominierte den hohen steinernen Raum. Sie hatte eine leicht grünliche Patina, die von weißem Licht aus eilig aufgestellten LED-Scheinwerfern angestrahlt wurde.

Eine Mischung aus Kleiderfetzen, Blut und Teilen des menschlichen Körpers hatte sich überall verteilt. Feine Blutspritzer hatten sich bis an den Stahlträger und die riesigen Antriebsräder links und rechts von der Aufhängung verteilt.

Es würde Wochen dauern, bis sie alle forensisch erfasst, in Fotografien festgehalten und schließlich von Tatortreinigern beseitigt wären.

Die Spurensicherung beschäftigte sich seit Davídssons Ankunft mit den Körperresten, die sich noch am Klöppel befanden. Der männliche Torso war mit Seilen am glänzenden Metall des Klöppels verschnürt worden. Über dem Brustkorb kreuzten sich die Seile, so dass er an Ort und Stelle geblieben war, als die Glocke zu schwingen begonnen hatte. Bevor ein Glockenschlag ertönte, musste eine Glocke dieser Größe mit Sicherheit einige Male hin und her bewegt werden, bis der Klöppel auf das dickwandige Gusseisen stieß und den ersten Klang erzeugte.

Der Brustkorb war vermutlich schon bei diesem ersten Schlag völlig zerschmettert worden.

Davídsson hoffte für das Opfer, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen war.

Der grauhaarige Mann, der neben ihm vor einem Eisengeländer stand, war bei seiner Ankunft beinahe über einen Infostand gestolpert, auf dem Davídsson gelesen hatte, dass der Klöppel gut dreieinhalb Meter lang war und rund 600 Kilogramm wog.

Wenn das Opfer noch gelebt hatte, als die Glocke zu schwingen begann, war der Klöppel die Mordwaffe. Er war nach einem Bruch erst vor ein paar Jahren wieder neu eingesetzt worden und glänzte deshalb noch, während die Patina der Glocke rau und matt wirkte.

Auf den Holzdielen, über denen die Petersglocke hing, waren die Kollegen von der Spurensicherung und ein Fotograf mit der Aufnahme des Tatortes beschäftigt. Alle anderen Anwesenden waren hinter der Absperrung geblieben, die die Besucher des Südturms von den verschiedenen Glocken, die hier hingen, fernhalten sollten.

Davídssons Blick wanderte zu den gotischen Spitzbögen über ihnen. Sie fingen jetzt den warmen Atem der Anwesenden auf, als seien sie hungrig danach. Die Luft war trocken. Es roch nach jahrhundertealtem Staub und Holz.

Der Mann neben ihm hatte seinen Namen gemurmelt, als er von Ólafur Davídsson aufgefangen worden war, aber Davídsson hatte ihn nicht verstanden. Er hatte nur ein »von« gehört, aber den Rest nicht.

»Von welcher Dienststelle sind Sie?«, fragte der Grauhaarige jetzt und zeigte dabei seinen Dienstausweis.

Raimo von Böhmer, Bundestagspolizei, las Davídsson und antwortete: »Ólafur Davídsson, Bundeskriminalamt.«

»Sie sind der Profiler?«

»Fallanalytiker – ja.«

Für einen Moment schien alles gesagt worden zu sein, was an diesem Ort und mit diesem Anblick auszusprechen war.

Davídsson war namentlich von Wolfram Scheible angefordert worden.

Vor seinem Amt als Bundestagspräsident, immerhin das zweithöchste Staatsamt in Deutschland, war Scheible Bundesinnenminister und damit oberster Dienstherr des Bundeskriminalamtes gewesen. Ólafur Davídsson konnte sich jedoch nicht erinnern, ihm jemals persönlich begegnet zu sein.

Hans-Jürgen Wittkampf, Davídssons Chef bei der operativen Fallanalyse, hatte Davídsson etwa zwei Stunden zuvor aus einer Besprechung in der Dienststelle des Bundeskriminalamtes in Meckenheim geklingelt und ihm mit kurzen Worten mitgeteilt, dass er sofort nach Köln fahren solle, um sich dort einem Ermittlerteam in einem Mordfall anzuschließen. Er sei namentlich angefordert worden und von allen anderen Aufgaben mit sofortiger Wirkung entbunden. Davídsson war erst während der Fahrt nach Köln richtig bewusst geworden, wie ungewöhnlich dieser Anruf war.

Wittkampf war noch fahriger als sonst gewesen. Der Ort, zu dem er geschickt wurde, hatte Davídsson irritiert und die Tatsache, dass er für die Bundestagspolizei tätig werden sollte, war mindestens genauso irritierend.

Die meisten Menschen wussten nicht einmal, dass der Bundestag eine eigene Polizei hatte. Noch weniger wussten vermutlich, dass die Bundestagspolizei keine eigenen Polizisten ausbildete, sondern Kolleginnen und Kollegen von den anderen deutschen Sicherheitsbehörden abwarb – mit Vorliebe von der Bundespolizei und vom Bundeskriminalamt.

»Das Opfer ist Bundestagsabgeordneter«, hatte Wittkampf fast ins Telefon gebrüllt, bevor er aufgelegt hatte, ohne sich zu verabschieden.

Davídsson fragte sich jetzt, nachdem er den Tatort und die Leiche gesehen hatte, wie man das herausgefunden hatte. Die menschlichen Reste waren jedenfalls nicht mehr zur Identifizierung geeignet. Der Schädel des Opfers war bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert worden. Davídsson konnte nicht einmal mehr erkennen, ob das Opfer rücklings am Klöppel hing oder mit dem Gesicht nach vorne. Die Haare klebten in einer blutigen Masse am Metall, ohne dass man das erkennen konnte.

»Bernd Höbel, AfD. Die Kollegen von der Landespolizei haben da drüben«, er zeigte auf das gegenüberliegende Fenster, hinter dem man in der Dunkelheit schemenhaft den Nordturm des Doms erkenenn konnte, »seine Brieftasche gefunden, und darin steckte ein Abgeordnetenausweis«, sagte von Böhmer, als ob er Davídssons Gedankengang gehört hätte.

»Ich habe Sie angefordert, weil es eine Inschrift auf der Glocke gibt, die vermutlich vom Täter stammt und die ich nicht verstehe.« Von Böhmer bewegte sich an den Polizisten vorbei, die noch immer die Tatortarbeiten der Spurensicherung beobachteten.

Er blieb schließlich am Motor der linken Aufhängung stehen. Von den Antriebsmotoren führten zwei schmale Metallketten zu den beiden riesigen Rädern über ihren Köpfen, die den Stahlträger in Bewegung versetzten, an dem wiederum der dicke Pitter verankert war.

»Die Petersglocke hat eine eigene Inschrift, aber über ihr hat jemand etwas eingeritzt. Die Kratzer sind frisch. Sie sind bisher keinem aufgefallen und sie könnten mit diesem Tötungsdelikt zusammenhängen.«

Ólafur Davídsson versuchte die Stelle mit dem bloßen Auge zu erkennen, sah aber nur die Glockeninschrift:

St. Peter bin ich genannt

schütze das deutsche Land.

Geboren aus deutschem Leid

ruf ich zur Einigkeit.

Von Böhmer schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben, konnte die Stelle jedoch offenbar ebenfalls mit bloßem Auge nicht erkennen.

»Der Fotograf hat hochauflösende Digitalfotos davon gemacht. Darauf lassen sich die Kratzer erkennen. Kommen Sie gleich mit zur Besprechung ins Polizeipräsidium.«

Davídsson nickte und dachte an die schmale Wendeltreppe, über die alle Anwesenden gekommen waren. 53 Meter unter ihnen war das fast 12 Meter dicke Turmfundament durchbrochen worden, um einer halben Million Besuchern jährlich einen direkten Zugang zum Südturm zu ermöglichen. Vor dem Durchbruch im Jahr 2009 mussten alle Besucher durch das Kirchenschiff und hatten so die Gläubigen beim Gottesdienst gestört.

Der oder die Täter müssen – wie das Opfer auch – die gesamten 260 Treppenstufen überwunden haben, um hierher zu gelangen, dachte Davídsson.

Wie bringt man jemanden dazu, freiwillig zu seiner eigenen Hinrichtungsstätte zu gehen?, fragte er sich leise und notierte diese Frage zugleich in seinem Gedächtnis.

Das Polizeipräsidium lag auf der anderen Rheinseite – der Schäl Sick, wie ihm ein uniformierter Kollege in breitem rheinischem Dialekt erklärte. Der Mann mit dem gezwirbelten Bart kam dem Stereotypen eines Kölner Urgesteins freiwillig oder unfreiwillig nahe. Die ganze Erscheinung schien jedenfalls an jeder Karnevalssession teilzunehmen, die ihm zwischen dem 11. November und Aschermittwoch in Köln geboten wurde.

Das war nicht Davídssons Welt. Dafür floss zu viel Wikingerblut in seinen Adern.

Das Polizeipräsidium war ein zweckmäßiger Neubau, der 2001 mit großem Tamtam eröffnet und zwischenzeitlich bereits um weitere Bauabschnitte erweitert worden war. Der Landesrechnungshof von Nordrhein-Westfalen hatte die hohen Mehrkosten medienwirksam angeprangert, was unter anderem dazu geführt hatte, dass man den Neubau der Liegenschaft des Bundeskriminalamtes in Treptow, in dem sich Davídssons Büro befunden hätte, noch einmal auf den Prüfstand gestellt hatte. Bisher hatte man deshalb nur einen Teil des Bauvorhabens umgesetzt und den Rest auf Eis gelegt.

Raimo von Böhmer hatte die Besprechung in der gläsernen Konferenzkanzel des neingeschossigen quadratischen Turms begonnen, ohne sich vorzustellen.

In dem Raum saßen jetzt rund zehn Personen mehr, als sich noch vor etwa einer halben Stunde im Glockenstuhl des Kölner Doms befunden hatten. Allerdings hatte sich das Ranggefüge deutlich erhöht. Ein Leitender Polizeidirektor war mit goldenem Sternen und Eichenlaub auf den Schulterklappen erkennbar der höchste Vertreter der Landespolizei. Er blickte etwas missmutig, weil er, obwohl Hausherr, die Besprechung nicht eröffnen durfte.

»Es ist nun einmal so, dass mich der Bundestagspräsident gebeten hat, in diesem Einzelfall selbst die Ermittlungen zu leiten. Selbstverständlich fehlt der Bundestagspolizei für eine Mordermittlung die fachliche Expertise für die Aufklärung eines derartigen Falls. Dennoch legt der Bundestagspräsident Wert darauf, dass die Leitung in meinen Händen liegt. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 wurde noch nie ein Bundestagsabgeordneter während der Mandatsausübung ermordet.«

Von Böhmer warf einen kurzen Blick auf den Leitenden Polizeidirektor, der nickte, den Blick dann aber abwandte und aus den großen Fenstern blickte.

»Uwe Barschel war Landtagsabgeordneter«, ergänzte von Böhmer, obwohl ihm keiner widersprochen hatte. »Wir betreten also völliges Neuland, um es mal mit den Worten der Kanzlerin zu sagen. Ich habe daher einen Experten vom Bundeskriminalamt angefordert. Herr Davídsson ist Profiler. Wir benötigen außerdem die Unterstützung des Landeskriminalamtes. Die Kollegen sind noch vor Ort bei der Spurensicherung, aber ich möchte Ihnen den Leiter vorstellen, das ist Herr Menz.«

Das kölnische Urgestein erhob sich kurz und nickte in die Runde.

»Und wir benötigen die erfahrenen Mordermittler des Landeskriminalamtes, die sich gerne gleich selbst vorstellen können.« Von Böhmer sah in die Runde, bevor er nach einer kurzen Pause ergänzte: »Die Kollegen vom Polizeipräsidium Köln habe ich völlig vergessen, obwohl sie natürlich die Absicherung des Tatortes übernehmen und uns selbstverständlich mit ihrer Arbeit auch den Rücken freihalten. Vielen Dank an dieser Stelle nochmals an den werten Herrn Leitenden Polizeidirektor Hammerl, der uns auch diesen Raum zur Verfügung gestellt hat.«

Der Mann mit dem Lametta auf den Schultern zeigte keinerlei Reaktion auf die unglücklich formulierte Aufgabenverteilung, die seiner Dienststelle nur eine kleine Nebenrolle zugedachte.

»Wer nicht unmittelbar an dem Fall mitwirkt, möge bitte jetzt den Raum verlassen. Je kleiner der Kreis, der die internen Ermittlungsdetails kennt, desto kleiner auch der Kreis an Informanten für die Presse«, sagte von Böhmer, dem offenbar nicht bewusst war, dass er damit unterstellte, dass die Kollegen bei der erstbesten Gelegenheit Interna ausplaudern würden.

Entsprechend missmutig waren die Gesichter derjenigen, die die Konferenzkanzel wort- und grußlos verließen. Allen voran der Leitende Polizeidirektor, der jedoch keine Handhabe hatte, sich über das Verhalten von Böhmers zu beschweren. Die Polizei des Deutschen Bundestages unterstand unmittelbar dem Bundestagspräsidenten, und der würde sich nicht mit einem Leitenden Polizeidirektor aus Köln über derartige Beschwerden unterhalten.

Das war auch einem Leitenden Polizeidirektor klar.

Im Raum verblieb schließlich eine Handvoll verstreut sitzender Personen.

Auch die wenigen Anwesenden werden nicht verhindern, dass der Fall in den Schlagzeilen landet, dachte Davídsson.

»Gut. Bei Bernd Höbel handelt es sich um einen Bundestagsabgeordneten, der bei der letzten Bundestagswahl ein Direktmandat im Wahlkreis 159, also in Dresden I, erzielen konnte und für die AfD im Bundestag sitzt. Er ist Obmann der AfD im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Ich muss Ihnen weder erklären, dass die Partei polarisiert, weil sie mindestens – na, sagen wir mal – rechtspopulistische Züge aufweist, noch muss ich Ihnen erzählen, dass die AfD gerade quasi um die Ecke einen Bundesparteitag im Maritim-Hotel abhält. Sie haben alle in den Medien gelesen, wie kontrovers diskutiert wurde, dass das Hotel an die Partei vermietet hat. Von einer Herberge für Rechtspopulisten ist da unter anderem die Rede.«

Von Böhmer legte eine kurze Pause ein.

»Nun die Details, die – ich habe es ja schon angedeutet – den Raum nicht verlassen. In den Medien wurde nämlich nicht darüber berichtet, dass das Hotelmanagement in den vergangenen Tagen mehrere Morddrohungen erhalten hat, weil es die Veranstaltung zuerst erlaubt und dann auch die Stornierung abgelehnt hatte. Besonders sensibel ist wohl aber, dass die Partei über den Ausschluss des Abgeordneten Höbel diskutieren will, während er selbst Hausverbot auf dem Parteitag hat. Innerhalb der AfD ist er wegen seiner polemisierenden Haltung umstritten.« Er blätterte in seinen Unterlagen, bevor er weiterredete: »Sie können sich also jetzt vielleicht vorstellen, weshalb unsere Ermittlungen so hochsensibel sind und weshalb wir schnelle und gute Ergebnisse liefern müssen, bevor die Sache völlig eskaliert.«

»Was wissen wir über Höbel als Privatperson?«

»Vermuten Sie einen privaten Hintergrund?« Von Böhmer erwiderte Davídssons Frage mit einer Gegenfrage.

»Der Mord an Bernd Höbel ist ein klassischer Fall von Übertötung. Wenn eine Tat mit solcher Brutalität ausgeführt wird, kann wohl kaum ausgeschlossen werden, dass es einen persönlichen Hintergrund gibt«, erklärte Davídsson und bemerkte, dass die anderen seinen Gedankengang nicht so entschieden ablehnten, wie es von Böhmer offensichtlich tat.

Von Böhmer blätterte wieder in seinen Unterlagen.

»Bernd Höbel. Geboren am 2. Mai 1973 in Bremerhaven. Katholisch. Nicht verheiratet. Keine Kinder. 1992 Abitur in Bremen am Schulzentrum Huchting. Nach dem Abitur Grundwehrdienst bei der Bundeswehr. Von 1993 bis 1999 Studium an der Universität Bremen, Sportwissenschaften und Geschichtswissenschaft für das Lehramt am Gymnasium. Nach seinem zweiten Staatsexamen 2002 absolvierte er von 2004 bis 2006 einen Masterstudiengang für Schulmanagement, den er mit dem Master of Arts abschloss. 2016 dann der Umzug nach Dresden. Seither ist Höbel Mitglied der Ortsgruppe Nordost in Dresden und stellvertretender Ortsbeirat im Ortsbeirat Dresden-Blasewitz. Bis zur Bundestagswahl unterrichtete er am Julius-Ambrosius-Hülße-Gymnasium Sport und Geschichte, zuletzt als Oberstudienrat.«

Von Böhmer blickte kurz von seinen Notizen auf.

»Soweit die Informationen von seinem Abgeordnetenprofil auf der Homepage des Deutschen Bundestages. Außerdem ist wohl allgemein bekannt, dass das sächsische Kultusministerium 2018 vergeblich versucht hat, Höbel über ein Disziplinarverfahren aus dem Lehrerdienst zu entlassen. Das Oberverwaltungsgericht in Bautzen hat die Entlassung aus dem Staatsdienst abgelehnt, weil Höbel seine rechte Ideologie nicht als Oberstudienrat vertreten hatte, sondern als Bundestagsabgeordneter. Mehr weiß ich nicht über ihn als Privatperson. Sein Privatleben wird in den Medien nicht sonderlich beachtet. Sie konzentrieren sich eher auf ihn als Scharfmacher. Bei solchen Leuten bleibt der Glamour-Faktor aus.«

Die Männer lachten müde.

Davídsson fiel auf, dass es keine Getränke auf den Tischen gab, und er hatte auch keinen Kaffeeautomaten gesehen, an dem er sich jetzt gerne einen Becher gezogen hätte. Obwohl das schwarze Wasser sicherlich nicht schmecken würde, machte es wach.

»Was ist mit seinen Verbindungsdaten?« Die Frage stellte einer der Ermittler vom Landeskriminalamt.

»Jede Maßnahme, die geeignet sein könnte, die Freiheit des Abgeordneten einzuschränken, ist nach Artikel 46 Grundgesetz verboten.« Von Böhmer betonte jedes Wort einzeln, während er den Kollegen vom Landeskriminalamt ansah, als habe er einen völlig abwegigen Vorschlag gemacht. »Nichts, aber auch gar nichts, was die Unabhängigkeit des Parlaments infrage stellen könnte, ist erlaubt. Bundestagsabgeordnete sind unsere Götter, ob uns das gefällt oder nicht und ob sie uns symphytisch sind oder nicht.«

Ein Kollege hatte Ólafur Davídsson tatsächlich vor Kurzem erzählt, dass sich die Bundestagsverwaltung seit Jahren weigerte, die Sicherheitsvorgaben des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik anzuwenden, weil die Behörde dem Bundesinnenministerium unterstellt war und die Abgeordneten deshalb um ihre Unabhängigkeit fürchteten.

Vor einigen Wochen waren dann aber die Server des Bundestages für mehrere Tage durch einen Hackerangriff lahmgelegt worden, weil der eigene Schutz versagt hatte.

»Diese Scheiß-Pseudo-Unabhängigkeit hat jetzt zu einem höheren Datenabfluss geführt, als wenn ein paar Beamte des Bundesamtes gewusst hätten, welche Spiele die Abgeordneten so auf ihren Computern spielten. Mit dem kleinen Unterschied, dass die Daten jetzt nicht bei einer Bundesbehörde, sondern beim Auslandsnachrichtendienst der Russen liegen«, hatte der Kollege süffisant grinsend erzählt.

»Und wie sollen wir dann ermitteln?«, fragte der Kollege vom Landeskriminalamt.

Die Frage blieb unbeantwortet. Von Böhmer sah stattdessen in Davídssons Richtung.

»Kennen wir einen Zusammenhang zwischen Opfer und Tatort?«, fragte Davídsson daraufhin.

Von Böhmer lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Das wissen wir noch nicht.« Und nach einer kurzen Pause: »Gibt es sonst irgendwelche Ermittlungsansätze?«

Der Mann mit dem Zwirbelbart meldete sich.

»Meine Mitarbeiter führen heute Nacht mit einem 3-D-Laserscanner eine photogrammetrische Vermessung vom Glockenstuhl durch. Die digitale HDR-Spezialkamera zeichnet in alle Richtungen in einem Winkel von 360 Grad horizontal und 180 vertikal vollsphärische Bilder auf, so dass am Ende eine fotorealistische Dokumentation des Tatortes vorliegen wird. Die ganzen anderen technischen Details erspare ich Ihnen, aber ich denke, mit der Tatortvermessung werden Sie arbeiten können.«

»Ich habe noch ein paar Infos zum Tatort, die man wissen muss, um die Tat besser einzuordnen.«

Einer der Mordermittler vom Landeskriminalamt legte die Hände parallel vor sich auf den Konferenztisch und sah sie an, während er weiterredete: »Der dicke Pitter läutet nur zu bestimmten festen Anlässen im Jahr. Insgesamt wird die Glocke an 19 Tagen 23 Mal geläutet. Zusätzlich wird sie 30 Minuten geläutet, wenn der Papst oder der Erzbischof stirbt, und 15 Minuten täglich bis zur Beisetzung der beiden Herren. 1984 wurde eine elektrische Lichtschranke eingebaut, die die beiden Motoren abschaltet, sobald ein bestimmter Läutwinkel überschritten wird. Mit dem Austausch des Klöppels wurde außerdem die Geschwindigkeit der Motoren auf 500 Umdrehungen pro Minute gedrosselt, weil der neue Klöppel deutlich leichter ist als der alte, der mit 750 Umdrehungen in der Minute bewegt wurde.«

Der Mann sah sich kurz um, als wollte er prüfen, ob die anderen Anwesenden seinen Ausführungen folgten.

»Die Petersglocke hat heute um 19:30 Uhr Allerheiligen eingeläutet. Dabei läutet die Glocke zunächst zehn Minuten allein und dann zusammen mit den übrigen Glocken im Südturm. Vielleicht ist noch erwähnenswert, dass der dicke Pitter zuvor mehrere Monate nicht geläutet wurde – zuletzt nämlich am 29. Juni zu Peter und Paul, wohingegen der nächste Termin schon morgen um 9:35 Uhr wegen Allerheiligen wäre. Der Polizeipräsident hat bereits beim Erzbischof von Köln darum ersucht, dass morgen keine der Glocken im Südturm läuten wird, um die Spurensicherung nicht zu behindern.«

Ólafur Davídsson sah auf seine Uhr. Bis zum nächsten Glockenschlag wären es noch gut neun Stunden. Es war kurz nach Mitternacht.

»Ersucht?«, fragte von Böhmer.

»Artikel 4 Absatz 1 und 2 Grundgesetz. Wenn Sie hier mit den ganz großen Schlachtrössern argumentieren, können wir Rheinländer das schon lange. Die ungestörte Religionsausübung ist nämlich mindestens genau so wichtig wie Ihre Immunität der Bundestagsabgeordneten«, antwortete der Beamte unbeeindruckt.

»Und, hat er dem Ersuchen stattgegeben?«

»Hat er, aber er kann das nicht alleine entscheiden, denn der Kölner Dom gehört nicht dem Erbischof von Köln, wie man vielleicht meinen könnte, und er gehört auch nicht der katholischen Kirche, sondern er gehört sich selbst.«

»Der Kölner Dom gehört sich selbst?«

»Ja. Das Eigentum wird deshalb auch von den 112 Mitgliedern des Domkapitels verwaltet und nicht vom Erzbischof ,und deshalb musste das Domkapitel als Gremium ebenfalls beteiligt werden. Weil das so kurzfristig aber nicht möglich war, hat der Dompropst als Leiter des Domkapitels zugestimmt.«

»War der Südturm heute für Besucher geöffnet?«, fragte einer der anderen.

»Nein, die Besucherplattform war heute geschlossen.«

»Der stellvertretende Dombaumeister war wegen einer Reparatur im Dom. Als die Glocke schlug, hat er bemerkt, dass sich das Glockenspiel nicht wie gewohnt anhörte, und hat nachgesehen. Den Rest können Sie sich denken. Er steht unter Schock und wird wohl heute Nacht im Krankenhaus bleiben«, ergänzte von Böhmer.

»Wo wohnt Höbel in Köln und warum ist er hier, wenn er nicht auf den Parteitag kann?«, fragte jetzt der Mordermittler, der die Informationen über den Dom vorgetragen hatte.

»Er wohnt in einem Hotel in Bonn. Hier gibt es kaum noch verfügbare Zimmer wegen der Messe und dem Parteitag«, antwortete von Böhmer. »Was er hier wollte, weiß ich nicht. Das mit dem Hotelzimmer weiß ich von seinem Abgeordnetenbüro, aber die wollten mir nicht sagen, weshalb er hier war.«

Die Anwesenden schwiegen.

»Das mit der Lichtschranke beschäftigt mich«, stellte der Mann vom Landeskriminalamt fest. Immer wenn er sprach, hörte es sich so an, als würde er dabei auf einem Bonbon herumlutschen, das viel zu groß für seinen Mund war. »Hätte die Lichtschranke nicht reagieren müssen, als Höbel an dem Klöppel festgeschnürt wurde?«

»Das wird von meinen Technikern noch untersucht, aber so, wie ich es verstanden habe, sind die Lichtschranken weiter oben im Glockenstuhl angebracht und regulieren nur die Antriebsmotoren, wenn die Glocke zu weit ausschwingt. Ich habe keine Ahnung, wie viel der werte Herr Abgeordnete gewogen hat, als er dort befestigt wurde, aber ich denke nicht, dass sein Gewicht Auswirkungen auf den Läutwinkel gehabt hat.«

»In die Glocke wurde wohl erst vor Kurzem etwas eingeritzt: II2015V519. Dem stellvertretenden Dombaumeister waren die Kratzer jedenfalls zuvor nicht aufgefallen. Offensichtlich sind sie auch nach der Spurenlage erst vor Kurzem in das Metall gekratzt worden, weshalb wir zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass sie mit der Tat im Zusammenhang stehen und möglicherweise von dem oder den Tätern stammten.« Von Böhmer legte eine Notiz zur Seite. »Allerdings wissen wir im Augenblick noch nicht, ob es sich um eine Kombination aus arabischen Zahlen und Buchstaben oder römischen Ziffern handelt und was das Ganze bedeutet.«

»Gibt es da oben Kameras?«, fragte Davídsson.

»Außer denen von uns gibt es leider keine«, antwortete Menz.

2

Schon am frühen Morgen war die Wucht des Falls beim Ermittlerteam angekommen.

Alle Medien hatten den Mord an Bernd Höbel als Aufmacher genommen. Das Display von Davídssons Handy zeugte von einer dreistelligen Zahl verpasster Anrufe, und das, obwohl er gerade einmal etwas mehr als vier Stunden geschlafen hatte.

Er hatte keinen einzigen beantwortet, sondern war verabredungsgemäß mit seiner schwarzen Göttin, der Citroën DS, nach Bonn gefahren. Dort war er auf von Böhmer, Menz und Philipp Schep, den Mann mit dem übergroßen Bonbon, getroffen, um das Hotelzimmer von Bernd Höbel zu untersuchen.

Als eine der ersten Maßnahmen hatte von Böhmer noch in der Nacht einen Polizisten vor dem Hotelzimmer postieren lassen, ohne jedoch dem Polizeipräsidium in Bonn mitzuteilen, wessen Zimmer sie da bewachen sollten.

Heute wussten sie es.

Das Zimmer im Best Western Hotel Domicil war so klein, dass sie es nur nacheinander ansehen konnten. Zuerst nahm Menz DNA-Proben, fotografierte den Zustand des Raumes und der persönlichen Habseligkeiten des Abgeordneten, bevor sich schließlich erst Phillip Schep, dann von Böhmer und zum Schluss auch Davídsson ein Bild davon machen konnten.

Obwohl die Untersuchung auf den ersten Blick ergebnislos verlief, ließ von Böhmer den Raum versiegeln und weiterhin von einem Polizisten bewachen.

Gut eine Stunde später saßen sie wieder im Polizeipräsidium von Köln. Die gläserne Konferenzkanzel stand ihnen nicht mehr zur Verfügung. Sie wurde für erste Pressestatements benötigt und war ohnehin viel zu groß für den kleinen Kreis der Ermittler.

Von Böhmer hatte auf der Fahrt nach Köln ein paar hektische Telefongespräche geführt. Ólafur Davídsson hatte ihn in seinem Wagen mitgenommen. Er wusste jetzt, dass von Böhmer vor seinem Wechsel zur Bundestagspolizei über zehn Jahre als Dezernatsleiter beim Landeskriminalamt in Stuttgart Tötungsdelikte aufgeklärt hatte.

Das Ermittlerteam saß im Halbdunkeln. Menz hatte die Jalousien wortlos heruntergefahren und seine Mitarbeiter hatten ihr Equipment aufgebaut, während die restlichen Ermittler in Akten blätterten.

Keiner von ihnen hatte lange geschlafen. Entsprechend gering war jetzt der Wille bei ihnen ausgeprägt, miteinander zu sprechen.

Allen war klar, dass auf ihnen ein hoher Erfolgsdruck lastete, der mit jeder Schlagzeile und jedem Aufmacher in den Nachrichten noch größer werden würde.

Die AfD war bekannt dafür, sich als Opfer zu inszenieren. Davídsson wusste, dass sie die Ermordung Höbels nutzen würden, um ihn zum Märtyrer der Partei zu machen: Er vermutete, dass sie Höbel wie eine Ikone vor sich hertragen würden, um damit Wählerstimmen zu gewinnen.

»Ich hoffe, Sie hatten noch keine Zeit, zu frühstücken«, sagte Menz trocken, sobald die Technik einsatzbereit war. »Wir haben das Tötungsdelikt anhand des Obduktionsergebnisses, der Spurenlage, der technischen Daten und hier insbesondere der Motorenleistung des Glockenantriebs und anhand eines Films rekonstruiert, der vom Erzbistum Köln anlässlich der Einweihung des neuen Klöppels am 7. November 2011 gedreht wurde.« Menz gab seinem Mitarbeiter ein Zeichen.

Der Film startete.

Vor ihnen erschien der Glockenstuhl mit der Aufhängung und den Antriebsrädern. Es waren keine Menschen zu sehen.

Unter der Petersglocke ragte der kegelförmige Klöppel heraus, an dem eine menschliche Gestalt festgebunden war. Die Seile waren über dem Brustkorb verschnürt und um die Beine und Füße gewickelt, so dass sie beinahe eine Einheit bildeten.

»Bei dem Seil handelt es sich eigentlich um einen Hanfstrick der Marke Lux-Tools. Der Strick hat eine Stärke von einem Zentimeter und ist besonders reißfest und strapazierfähig. Er musste wegen der glatten Oberfläche des Metalls sehr eng um den Körper gebunden werden. Der Klöppel bietet aufgrund seiner Form keinen natürlichen Halt. Das Seil wurde durch das Glockeninnere geführt und an der Aufhängung befestigt«, erklärte Menz.

Die Petersglocke begann vor ihren Augen allmählich zu schwingen.

Noch blieb der Klöppel nahezu an der gleichen Stelle hängen, als sei er kein Teil der Glocke.

Schließlich setzte auch er sich langsam und gleichmäßig in Bewegung.

Einmal. Zweimal. Dreimal.

Noch war die Glocke stumm.

Noch hatte der Klöppel die Glockenwand nicht berührt.

Noch folgte er nur zeitverzögert den Bewegungen der Glocke.

Langsam wurden die Bewegungen jedoch schneller und der Klöppel nahm weiter an Fahrt auf.

Viermal. Fünfmal.

Der erste Schlag ließ die Anwesenden zusammenzucken, obwohl jeder wusste, dass er kommen würde.

Ein klares, dunkles Dröhnen erfüllte den Besprechungsraum.

Metall war auf Metall geschlagen.

Wenige Augenblicke später schossen tausende Bluttropfen in alle Himmelsrichtungen.

Der Brustkorb platzte vor ihren Augen auf, als sei er eine Seifenblase. Nur die Seile hielten den Körper noch an Ort und Stelle.

Bereits nach dem dritten Schlag war nur noch ein undefinierbarer Fleischklumpen übrig geblieben.

Ein Leben war ausgelöscht worden.

Die Petersglocke bewegte sich weiter und der Klöppel mit ihr.

Unbarmherzig. Kalt.

Davídsson dachte, er würde nie wieder eine Kirchenglocke schlagen hören, ohne diese Bilder vor Augen zu haben.

Er schloss sie, aber er sah die Bilder weiterhin vor sich.

Sein Oberkörper zog sich zu einem Bleimantel zusammen und war wie versteinert. Er spürte, wie sich sein Hals zuzog und das Blut aus seinen Adern wich. Er hatte Mühe, den Reiz in seiner Kehle zu unterdrücken.

Wieder ein dumpfer Schlag.

Metall war auf Mensch geschlagen. Ein Mensch, in dem kein Leben mehr steckte. Dessen Körper sich auflöste.

»Könnten … könnten wir das bitte abschalten«, bat er, ohne die Augen wieder zu öffnen.

Die Geräusche verstummten wenige Augenblicke später, aber es war zu spät. Der Geruch von Erbrochenem lag in der Luft.

Eine halbe Stunde später war der Raum noch immer von dem Geruch erfüllt, aber die Spuren waren verschwunden.

Ólafur Davídsson war nicht der Einzige gewesen, der sich übergeben hatte.

»Vom ersten bis zum letzten Schlag vergehen 27 Minuten.«

Menz stand wieder neben der Leinwand, auf der immer noch der Glockenstuhl zu sehen war.

»Und der Obduktionsbericht?«

»Die Todesursache ist doch wohl klar«, antwortete Menz auf Davídssons Frage.

»Ich meine den toxikologischen Teil des Gutachtens. Gibt es Spuren von einem Betäubungsmittel oder anderen Substanzen, die ihm das erspart haben?«

»Nein.«

»Wieso lässt sich jemand freiwillig und bei vollem Bewusstsein am Klöppel der größten Kirchenglocke in Köln festbinden?« Da war die Frage wieder in Davídsson Kopf. Jetzt hatte er sie ausgesprochen, aber keiner konnte sie beantworten.

Sie schwiegen.

»Wissen wir jetzt mit Bestimmtheit, dass das Opfer Bernd Höbel ist?«, fragt von Böhmer schließlich. Offenbar hatte er das gerichtsmedizinische Gutachten noch nicht gelesen.

»Die DNA-Analyse ist eindeutig. Ja.«

»Dann muss ich das wohl jetzt der Presse bestätigen.«

Die Fallwinde stießen als stürmische Böen auf den Beton unter seinen Füßen und von dort scheinbar direkt in Davídssons Gesicht. Er zog unwillkürlich den Mantel dichter an seinen Körper heran, obwohl er nicht fror.

Auf der Domplatte blieben jetzt nur ein paar hartgesottene Touristen stehen, um einen Blick auf den Dom zu werfen.

Tristesse und feuchte Luft.

Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor zehn.

Das Glockengeläut um 9:35 Uhr war ausgeblieben. Ob die Touristen das bemerkt hatten?

Davídsson war überrascht, dass sich noch keine Übertragungswagen und Kameras eingefunden hatten, die in Endlosschleifen den Dom oder den Südturm zeigten, während über den grausamen Mord an Bernd Höbel berichtet wurde.

Eine junge Bettlerin stand mit gebeugtem Rücken am Eingangsportal des Doms. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen den kalten grauen Stein. Die Touristen beachteten sie nicht.

Ólafur Davídsson passierte die Kreuzblume – eine originalgetreue Kopie der acht Meter hohen Domspitzen – bevor er in Richtung Roncalliplatz einbog.

Zehn Minuten später stand er in der gläsernen Lobby des Maritim-Hotels am Heumarkt. Der Glaskasten, der die beiden Gebäudeteile des Hotels miteinander verband, erinnerte ihn an ein überdimensionales Gewächshaus, in dem es allerdings nur wenige Pflanzen gab.

Stattdessen waren hier die Kameras aufgebaut.

Er hörte Wortfetzen in Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch – oder war es Spanisch?

Bernd Höbel klang in allen Sprachen gleich.

Davídsson beeilte sich, eine ausladende rote Steintreppe nach oben zu gehen, um in den hinteren Teil des Gewächshauses zu gelangen, wo er das Kongresszentrum vermutete.

Zwischen zwei frei stehenden Aufzugsschächten, die mit üppigen goldfarbenen Ornamenten verziert waren, versperrte ihm ein Polizeianwärter den Weg. Die älteren Kollegen waren mit Maschinenpistolen bewaffnet und schirmten den hinteren Teil der Hotellobby vor Besuchern und der Presse ab.

»Sehen Sie die Linie mit den schwarz-weißen Steinen?«

Davídsson sah, dass sich das Steinmuster auf dem Boden geändert hatte. Er suchte wortlos in seiner Manteltasche nach dem Portemonnaie, zog schließlich seinen Dienstausweis aus einem der Kreditkartenfächer und hielt ihn dem jungen Kollegen vor die Augen.

»Wenn Sie keinen Delegiertenausweis haben, nicht von der Polizei oder vom Hotel sind, endet an diesen Steinen Ihr Recht auf Bewegungsfreiheit«, fuhr der Polizeianwärter unbeirrt fort.

»Ich bin von der Polizei.«

»Da steht ›Bundeskriminalamt‹.«

Davídsson versuchte in den Augen zu lesen, ob der Uniformierte einen Witz gemacht hatte.

Es schien nicht so.

Einige Kollegen der Kriminalpolizei betrachteten die uniformierte Polizei geringschätzig als ihre Erfüllungsgehilfen. Für sie waren das nur diejenigen, die den Tatort absperren mussten, auf Demonstranten einprügelten oder sich von marodierenden Fußballgruppen vermöbeln ließen. Umgekehrt hatte der Fallanalytiker so etwas noch nie gehört.

Während Ólafur Davídsson noch überlegte, was er dem Auszubildenden antworten sollte, kam ihm einer der älteren Polizeibeamten zuvor. Mit strengem Blick, aber ohne Worte bedeutete er dem Polizeianwärter, dass er Davídsson passieren lassen sollte.

»Davídsson ist ein nordischer Name. Spreche ich Ihren Nachnamen richtig aus?«

Der Fallanalytiker wusste, dass die germanische Mythologie in der rechten Szene weit verbreitet war. Seine nordische Herkunft konnte jetzt von Vorteil sein. Er war allein aufgrund seines Geburtsortes in den Augen der Nazis kein Untermensch. Der Parteivorsitzende der AfD galt jedoch als gemäßigt und war bisher noch nicht als Anhänger einer solchen Ideologie aufgefallen.

»Ja.«

»Sie ermitteln im Mordfall Bernd Höbel.«

»Wenn man es Mordfall nennen will. Ich würde es eher als

Blutbad bezeichnen.«

»Ich verstehe.«

Die Hotelsuite war kaum größer als ein gewöhnliches Hotelzimmer. Das Interieur war in verschiedenen Blautönen gehalten, aber schon in die Jahre gekommen. Über den beiden Fensterfronten, die den Raum zu einer Treppe und zum Rhein hin öffneten, waren altmodische und klobige Gardinenkästen angebracht. Sie saßen vis-à-vis an einem kleinen runden Holztisch und waren allein.

»Vermuten Sie ein politisches Motiv?«

Davídsson hatte bisher in alle Richtungen nachgedacht. Die Brutalität des Mordes sprach eindeutig für ein persönliches Motiv, während der Tatort, die räumliche Nähe zum zeitgleich stattfindenden Bundesparteitag und das Verfahren zum Parteiausschluss tatsächlich ein Indiz für ein politisches Motiv sein konnten.

»Wir stehen noch am Anfang der Ermittlungen. Was können Sie mir über Herrn Höbel sagen?«

Jörn Merten dachte nach.

»Wir waren politisch zum Teil sehr weit voneinander entfernt. Für mich war Bernd Höbel ein Spalter, der den Fortbestand der Partei gefährdete.«

Merten musterte den Fallanalytiker einen kurzen Augenblick.

»Sie haben sicherlich schon davon gehört, dass wir auf diesem Bundesparteitag über den Ausschluss Höbels diskutieren wollten. Das Verfahren geht auf mich zurück.«

»Weil er die Partei spaltete und ihren Fortbestand gefährdete?«

Merten sah Ólafur Davídsson wieder prüfend an.

»Der Verfassungsschutz hat gedroht, die Partei zu einem Verdachtsfall zu erklären. Damit wäre der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel gegen die Mitglieder der Partei möglich. Mit anderen Worten, alles, was ich hier sage, könnte abgehört und gespeichert werden. Ich dachte, Sie wüssten davon,«

Auf dem gläsernen Schreibtisch spiegelte sich das Bild einer kopfstehenden Straßenbahn, die hinter ihnen über die Deutzer Brücke auf die andere Rheinseite fuhr. Ohne die dicke Isolierverglasung wäre der Straßenlärm in der Suite ohrenbetäubend gewesen. Das Hotelzimmer lag fast auf der Höhe der Brücke.

»Als Parteivorsitzender bin ich zuallererst meiner Partei und erst als Zweites den Mitgliedern verpflichtet. Ich habe also die Interessen abgewogen, und das war meine Entscheidung.«

»Sie haben ihm auch ein Hausverbot für den Bundesparteitag erteilt.«

»Ja.«

»Warum?«, fragte Davídsson, als keine Erklärung kam.

»Im Prinzip gibt es zwei Lager innerhalb der AfD. Die Höbel-Befürworter und die Höbel-Gegner. Wenn er hier gewesen wäre, hätte das den Bundesparteitag gesprengt.«

»Gehört es nicht zu den demokratischen Prinzipien, dass man sich verteidigen kann?« Davídsson bereute sofort wieder, dass er sich zu dieser Frage hatte hinreißen lassen.

»Demokratische Prinzipien? Ich will Ihnen mal was über demokratische Prinzipien erzählen. Als sich nach der letzten Bundestagswahl abzeichnete, dass die AfD als größte Oppositionspartei in den Deutschen Bundestag einziehen würde, haben die Altparteien beschlossen, dass die konstituierende Sitzung künftig vom dienstältesten Abgeordneten eröffnet wird. Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland war immer der betagteste Abgeordnete automatisch auch der Alterspräsident. Weil das nun ein Abgeordneter der AfD gewesen wäre, wurde das schnell noch geändert, bevor die AfD dagegen stimmen konnte. Durch diese Änderung der Geschäftsordnung wird es wohl Jahrzehnte dauern, bis ein Abgeordneter meiner Partei die Rede zur konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages halten wird. Ich lasse mir also nicht nachsagen, dass die AfD keine demokratische Partei sei. Das Parteiausschlussverfahren gibt jedem Mitglied ausreichend Gelegenheit, sich zu verteidigen.«

»Herrn Höbel steht diese Möglichkeit jetzt nicht mehr offen«, sagte Davídsson. Seine Aussage hatte nicht so provokant wirken sollen, wie sie es letztlich tat. »Was wissen Sie über ihn als Privatperson?«

»Nicht viel. Sie werden ja vermutlich seine biografischen Angaben auf unserer Homepage gelesen haben.«

»Ja. Darüber hinaus, meine ich.«

»Er hat eine Halbschwester in Bremen, zu der er wohl einen relativ engen Kontakt pflegte. Ansonsten war er derzeit nicht liiert, soweit ich weiß.« Merten sah für einen Augenblick an Davídsson vorbei. Durch die halb durchsichtigen Gardinen war ein Ansatz von blauem Himmel zu erkennen. »Sie können sich sicherlich vorstellen, dass er mir nicht viel über sein Privatleben erzählt hat«, sagte Jörn Merten schließlich.

»Das klingt danach, als würde niemand Bernd Höbel vermissen«, stellte Davídsson fest.

Bevor er eine weitere Frage stellen konnte, öffnete sich die Zimmertür mit einem dezenten Klacken. Der Pressesprecher deutete auf seine Armbanduhr, ehe er das Zimmer richtig betreten hatte.

»Sie haben gleich eine Live-Schalte, Herr Parteivorsitzender.«

Merten stand wortlos von seinem blauen Sessel auf und reichte Davídsson die Hand. Davídsson erhob sich ebenfalls. Beiden war klar, dass sie das Gespräch an anderer Stelle fortsetzen mussten.

Davídsson spürte die Vibration in der Jacketttasche.

Er nahm das Gespräch nicht an.

Für einen Moment blieb er allein in der Suite zurück und verfolgte die vorbeifahrenden Autos auf der Deutzer Brücke. Der Himmel war wieder zugezogen und wirkte jetzt grau und abweisend. Der graue Himmel passte zu Davídssons Stimmung.

Das persönliche Umfeld des Opfers war entscheidend, um sich ein Bild vom Mordmotiv zu machen.

Bei Bernd Höbel gab es jedoch weder ein persönliches Umfeld noch ein klar erkennbares Motiv.

Die Tat war aber nicht im Affekt verübt worden und vermutlich über Wochen geplant. Dafür sprach unter anderem, dass die Petersglocke nur an wenigen Tagen im Jahr läutete und ausgerechnet an diesem Tag der Südturm für Besucher gesperrt war.

Oder war es Zufall, dass Bernd Höbel mit der Petersglocke getötet worden war?

Davídsson verwarf die Frage wieder. Die Kratzspuren, die sie am dicken Pitter entdeckt hatten, sprachen dafür, dass der Mord genau mit dieser Glocke verübt werden sollte.

Wo war die Verbindung? Wieso der Kölner Dom? War es ein religiöses Motiv?

Er wählte die Nummer des verpassten Anrufs und hatte nach zwei Mal Klingeln von Böhmer am Ohr.

»Wo sind Sie?«

»Im Maritim.«

»Sind Sie mit dem Auto dort?«

»Das steht im Parkhaus unter der Domplatte.«

»Können wir uns dort treffen?«

»Klar.«

»Es gibt einen weiteren Mord. Vielleicht haben wir es mit einem Serientäter zu tun. Ich würde Sie gerne mitnehmen.«

»Wieder eine Kirche?«

»Ja, in Hamburg. Ich bin in zehn Minuten im Parkhaus. Ihr Auto ist ja nicht zu übersehen. Wir treffen uns dort.«

3

Unter Ihnen lag ein grüner Streifen, der zwischen Lagerhallen mit hellen, flachen Dächern und endlosen bunten Containerreihen eingekeilt war. Als sie sich aus der Luft mit der Superpuma 332 näherten, sah Davídsson ein einzelnes rotes Dach aus der grünen Vegetation herausragen.

Die Kirche wirkte wie ein Fremdkörper, der zwischen dem Gewerbegebiet und den Bahngleisen des Güterzugterminals vergessen worden war.

Von Böhmer hatte Ólafur Davídsson gut anderthalb Stunden zuvor nach Sankt Augustin zur Fliegerstaffel der Bundespolizei gelotst, wo sie direkt in einen abflugbereiten Hubschrauber gestiegen waren.

Der Fallanalytiker hatte stillschweigend zur Kenntnis genommen, dass von Böhmer offenbar sehr gut mit den Bundesbehörden vernetzt war und auf sie zurückgreifen konnte, wann immer es nötig war.

Der Hubschrauber landete auf einer Rasenfläche südlich der Kirche.

Die einzige Straße, die zu dem grünen Streifen führte, war mit Fahrzeugen der Polizei, einem Leichenwagen und einem schwimmbadblauen Fiat 500 zugeparkt, so dass die Superpuma 332 dort nicht landen konnte.

Erst als sie weit genug von den Rotorblättern weg waren und Davídsson die Umgebung wahrnahm, erkannte er, dass es sich bei der Grünfläche um einen Friedhof handelte. Vereinzelt standen noch alte Grabsteine auf dem gemähten Rasen. Das rot verklinkerte Kirchengebäude lag vor ihnen. Es schien, als seien die weißen Fenster erst kürzlich erneuert worden. Das gesamte Gebäude war in einem erstaunlich guten Zustand – beinahe, als wäre es erst kürzlich in diesem Niemandsland errichtet worden.

Hinter dem Kirchturm ragte ein gut 200 Meter hohes modernes Windrad hervor. Es erinnerte Ólafur Davídsson an eine Fernsehserie, die er als Jugendlicher gesehen hatte, als sie in dem heruntergekommenen Mehrfamilien­haus in der Barmahlíð in Hlíðar Suður wohnten. In einer postapokalyptischen Welt bewegten sich Außerirdische in martialischen Metallkapseln auf drei wackligen Stelzen über die Erdoberfläche. Die dreibeinigen Herrscher kontrollierten die Menschen mithilfe von kunstvoll gearbeiteten goldenen Kappen und nahmen ihnen damit jegliche Emotionalität. Eine dieser dreibeinigen Metallkapseln überragte gleich in der ersten Szene einen Kirchturm, um bei den Jugendlichen die Weihe zu vollziehen, was nichts anderes bedeutete, als ihnen die goldene Kappe in die Kopfhaut zu pflanzen.

»Der Leichenfundort ist dieses Mal offenbar im Kirchenschiff und nicht im Kirchturm«, sagte von Böhmer und riss Davídsson damit aus seinen Kindheitserinnerungen, die er beinahe vergessen hatte.

»Die Kirchenglocke ist nicht die Tatwaffe?«

»Das werden wir gleich sehen. Die Kollegen haben mir nur gesagt, dass ich in die Kirche kommen soll. Vom Glockenturm haben sie nichts gesagt.«

Die beiden grauen Türen des Hauptportals waren verschlossen. Zwei Polizisten bewachten einen Seiteneingang und wiesen von Böhmer und Davídsson an, ihre Schuhe mit einem Überzug zu schützen.

»Ganzkörperanzüge sind nicht mehr notwendig? Konnte die Tatortaufnahme so schnell abgeschlossen werden?«, fragte von Böhmer.

Der Polizist nickte wortlos und Davídsson dachte an Blut, vor dem sie sich auf diese Weise schützen konnten.

Die Wände der Kirche wirkten selbst im matten Novemberlicht hell und freundlich. Nur die Balustrade war mit schmalen Goldauflagen verziert. Ansonsten war das Kircheninnere schnörkellos und in nüchternem Weiß-Grau gehalten, das dezent von hellblauen Ornamenten unterbrochen wurde.

Vor dem Altar standen einige Polizisten im Kreis und unterhielten sich. Neben ihnen befand sich ein würfelartiges Gebilde, das sich bei näherer Betrachtung als überdimensionaler Eiswürfel herausstellte.

---ENDE DER LESEPROBE---