Herbstwald - Alexander Guzewicz - E-Book

Herbstwald E-Book

Alexander Guzewicz

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Beschreibung

Eine junge Frau ist in der ältesten Sozialsiedlung der Welt ermordet worden. Zunächst spricht alles für einen schockierenden Ritualmord: Der Kopf des Opfers wurde kahl geschoren und die Haare in einer Plastiktüte über den Kopf gezogen. Ólafur Davídsson bricht widerwillig seinen Urlaub in Südfrankreich ab, um den Fall zu übernehmen. Das Motiv für die Tat bleibt lange Zeit im Dunkeln. Als Davídsson vermutet, dass der Mord aus Rache begangen wurde, fehlen ihm die Beweise. Nicht nur bei dem sonst so ruhigen Fallanalytiker liegen daher die Nerven blank. Schließlich wird der Hund des Opfers mit Drogen vollgepumpt aus der Lech gezogen und plötzlich stellt sich die Frage: Wer war die junge Frau? War sie drogensüchtig? In der Wohnung findet sich für beides keine Hinweise und die Bewohner der Fuggerei wissen angeblich nicht viel über ihre Nachbarin. Plötzlich führt die Spur zum bayerischen Innenminister und zur japanischen Mafia.

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Alexander Guzewicz

Herbst

wald

eure-l.com

[email protected]

 

Impressum

eure-l verlag, Berlin

erschienen Taschenbuchausgabe

 

Copyright © 2023 by eure-l verlag, Berlin

 

Umschlaggestaltungeure-l software, Berlin

UmschlagfotoPD design, Heidelberg

DatenkonvertierungBook Designs, Potsdam

 

01 550-0225-23

ISBN978-3-939984-82-5

 

 

für

meine Mutter

 

 

Gewalt ist die schlechteste Art der Kommunikation

 

Inhalt

 

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1

 

Grignan wurde von der goldenen Nachmittagssonne angestrahlt. Das festungsähnliche Renaissanceschloss thronte über den alten verwinkelten Gassen des typisch provenzalischen Dorfes, auf das Ólafur Davídsson gedankenversunken sah. Er konnte die Stiftskirche Saint-Sauveu erkennen, die unter der Schlossterrasse lag und die er am Vormittag besichtigt hatte. Er roch das Lavendelfeld, das den Hügel, auf dem Dorf und Schloss im 15. Jahrhundert erbaut worden waren, wie ein lila Teppich umschloss.

Die Musik, die er über die Kopfhörer in einem nahezu perfekten Rundumklang in sich aufsog, passte. Dave Brubeck spielte Take Five zum achten oder neunten Mal und es klang jedes Mal wieder, als sei es für diese Kulisse geschrieben worden. Davídsson hatte das Lied zufällig beim Frühstück in seinem Hotel gehört und es anschließend direkt auf seinen MP3-Player geladen.

Die frische, angenehm kühle Luft verwöhnte ihn zusätzlich, und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das Gefühl, richtig abschalten zu können. Der letzte Fall hatte ihn mehr mitgenommen, als er zunächst geglaubt hatte, und so hatte er sich mit seinem Urlaub Zeit gelassen. Die Fahrt nach Nizza war das Ziel, nicht der Urlaub dort.

Er wollte sich seinen Traum von einem Urlaub in der Provence und an der Côte d’ Azur verwirklichen, und jetzt endlich hatte er die Gelegenheit dazu.

Beinahe drei Wochen Entspannung lagen noch vor ihm.

Ursprünglich hat ihn Marian Zajícek begleiten wollen, aber er war kurzfristig nach Prag beordert worden und Davídsson hatte sich entschlossen, trotzdem zu fahren.

Der Zufall hatte ihn dann an diesen romantischen Ort verschlagen. Genau genommen war es seine braune Citroën DS gewesen, für die er einen neuen, schöneren Farbton gesucht hatte, den er schließlich in einer Werkstatt ganz in der Nähe gefunden hatte. Die Lackiererei hatte tatsächlich noch ausreichend Lack des Farbtons AC200 für seine Göttin, die zukünftig in edlem schwarzem Gewand daherfahren sollte.

Er hatte eine ganze Woche herumtelefoniert und sich von Internetforen und Sammlern über Liebhaber zu Oldtimer-Werkstätten gehangelt, bis er schließlich auf die Lackiererei in Montélimar gestoßen war. Die Lackierung kostete ein kleines Vermögen, aber dafür hatte er den Wagen günstig erstanden und das Geld, das er für seinen Saab 9-3 nach dem Unfall bekommen hatte, war mit dem Kauf noch nicht aufgebraucht gewesen.

Die Autovermietung in Montélimar hatte ihm einen silbernen Chrysler 300C Touring vermittelt, gegen dessen wuchtigen Kühlergrill er sich jetzt mit geschlossenen Augen lehnte, um den intensiven Geruch des Lavendels zu genießen.

Seine Hände rochen danach, seine schwarze Hose und vermutlich sogar die Lederschuhe, die durch die trockene Erde leicht staubig geworden waren, als er durch die Lavendelfurchen spaziert war.

Er war erstaunt über die unterschiedlichen Farben der Blüten, die er auf den Feldern gesehen hatte. Einige Sorten waren sehr intensiv, andere rochen stärker, als ihre blassen Farbtöne erwarten ließen.

Davídsson dachte an die unzähligen Postkartenmotive, die diese Gegend bot. Er war kein Freund der Fotografie, und doch wünschte er sich jetzt, einen Fotoapparat bei sich zu haben.

Seine Schwester Lovísa war da ganz anders als er. Sie brachte von jedem ihrer Ausflüge unzählige Bilder mit nach Hause. Zuerst waren es Papierabzüge gewesen, dann nur noch digitale Bilder, die noch zahlreicher wurden, weil es keinen Film mehr gab, mit dem sie sparsam umgehen musste.

Eine wahre Inflation an Fotografien.

Ólafur Davídsson hörte sein Handy, bevor er ein weiteres Mal im 5/4-Takt zu den Rhythmen des Dave Brubeck Quartetts auf die warme Motorhaube trommeln konnte.

Er ging um das Auto herum und nahm das Telefon aus dem linken Seitenfach.

»Ja?«

»Hans-Jürgen Wittkampf. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie in Ihrem Urlaub störe …« Davídsson wusste, dass es seinem Vorgesetzten ernst mit dieser Aussage war. Es gab bei ihm eine klare Regel: Im Urlaub wird niemand gestört, es sei denn, es ist ein absoluter Notfall, bei dem kein im Dienst befindlicher Kollege aushelfen kann. Bisher war das aber noch nie vorgekommen.

»Wir haben einen Fall, bei dem ich Sie leider brauche.« Wittkampf stand an der Fensterfront in seinem Büro. Davídsson konnte das Klappern der Jalousien im Wind hören und den Straßenlärm.

»Um was geht es?«

»Ein Mord in Augsburg. Es ist eine Journalistin.«

Davídsson schwieg. Bis jetzt konnte er noch nicht erkennen, warum ausgerechnet er den Fall übernehmen sollte. Normalerweise ermittelte die Kriminalpolizei bei einem Mord. Manchmal übernahm auch das LKA, aber dass ein Fallanalytiker des Bundeskriminalamtes zu einem einfachen Mordfall hinzugezogen wurde, kam äußerst selten vor. Und selbst wenn das der Fall sein sollte, weil zum Beispiel ein politischer Hintergrund vermutet wurde, konnte den Fall jeder seiner Kollegen übernehmen.

Wittkampf räusperte sich und überlagerte damit für einen Moment das Knacken der Leitung. Der Handyempfang in Grignan war schlecht. Davídsson musste sich anstrengen, seinen Vorgesetzten zu verstehen.

»Die Kriminalpolizeiinspektion Augsburg hat Sie persönlich angefordert. Es kommt von ganz oben und ist die gesamte Hühnerleiter rauf und runter gegangen. Die wollen Sie und Landhäuser«, sagte Wittkampf schließlich nach einer kurzen Pause.

»Zwei Fallanalytiker für einen simplen Mordfall?«

Lilian Landhäuser war eine neue Kollegin. Sie war erst seit einem halben Jahr im Team und auf die Aufklärung von Sexualstraftaten spezialisiert. »Warum Landhäuser? Ist das Opfer vergewaltigt worden?«

»So wie es aussieht, nicht. Sie wollen nicht, dass wir jetzt schon irgendwelche Vermutungen anstellen.«

»Dann hätten sie vielleicht nicht uns damit beauftragen sollen, ihren Fall zu lösen«, erwiderte Ólafur Davídsson, obwohl er wusste, dass Wittkampf seiner Meinung war. »Warum haben die Lilian Landhäuser und mich also dann persönlich angefordert?«

»Die KPI Augsburg sagt, sie hätten nicht die erforderlichen Kompetenzen.«

»Das sagen ausgerechnet Kollegen aus Bayern?«

»Vielleicht liegt es ja an dem Fundort der Leiche. Es ist die Fuggerei. Ich weiß nicht, ob Sie davon schon etwas gehört haben.«

Davídsson beobachtete, wie ein Wohnmobil langsam an ihm vorbeirollte, um dann vor ihm zum Stehen zu kommen.

Ein Mann mit einem kitschig bunten Hawaiihemd stieg aus. Seine Frau folgte von der anderen Seite.

»Sind Sie noch da, Davídsson?«

»Fuggerei? Das sagt mir nichts.«

»Ich kann mir das ja auch nicht erklären. Aber wie schon gesagt: Die haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, dass Sie beide den Fall übernehmen.«

»Ja.« Das Ehepaar vor ihm lud einen Campingtisch und weiße Plastikstühle aus einem kleinen Fach auf der rechten Seite des Campingaufbaus. Es waren Holländer. Das gelbe Kennzeichen blendete ihn. Die tief stehende Sonne warf ihre Strahlen auf das reflektierende Blech, als wolle sie Davídsson darauf aufmerksam machen.

Vielleicht hätte ich das Handy lieber auslassen sollen, dachte Davídsson, der nur sein Diensthandy zu Hause liegen gelassen hatte.

»Möglicherweise wurden Sie ja angefordert, weil es in der Fuggerei einen alten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg gibt.«

Davídsson wusste, dass Wittkampf auf den Schwerbelastungskörper in Berlin anspielte. Er hatte den Fall erst vor wenigen Monaten lösen können und war froh darüber, dass die Geschichte langsam verblasste. Er hatte als Isländer keine Lust auf noch mehr deutsche Vergangenheitsbewältigung und all die Vorurteile und Ängste, die mit einem solchen Fall verbunden waren. Das sollten andere machen.

»Ist das Opfer darin gefunden worden? In dem Bunker?«

»Nein. Zum Glück nicht.«

»Woher wissen Sie dann, dass es diesen Bunker gibt? Sind Sie mal dort gewesen?«

»Ja. Das ist aber schon eine ganze Weile her. Ich hatte in Augsburg mal eine Freundin, lange bevor ich geheiratet habe. Sie hat sehr nahe an der Fuggerei gewohnt und ich habe sie mal mit ihr besichtigt.«

Die Holländer hatten mittlerweile den Tisch gedeckt und aßen jetzt. Der Lavendelduft wurde von Schinkengeruch überlagert und Radio Nostalgie dudelte französische Chansons und vertrieb die Stille, die eben noch da gewesen war.

»Ich fahre hin.«

Wittkampf schien erleichtert zu sein.

Davídsson hätte ihm diese Bitte ohnehin nicht abschlagen können, nachdem Wittkampf ihm beim letzten Fall den Rücken gegenüber der Innenrevision freigehalten hatte und dabei selbst unter die Räder seiner Vorgesetzten gekommen war, um am Ende an Davídssons Stelle für einen Monat vom Dienst suspendiert zu werden. Auch wenn Wittkampf nie dafür einen Gefallen eingefordert hätte und jetzt auch keine Andeutungen darüber machte, war er ihm trotzdem einen Gefallen schuldig.

»Wann kommt Lilian Landhäuser nach Augsburg?«

»Morgen. Sie ist gerade mit einem anderen Fall beschäftigt. Ich musste hier einiges umorganisieren.«

Ólafur Davídsson saß in seinem silberfarbenen Chrysler. Die knapp 900 Kilometer nach Augsburg lagen noch vor ihm. Er sah auf den türkisfarbenen Swimmingpool in der Mitte des Hotelgartens, an dem er noch am Morgen gefrühstückt hatte. Jetzt wälzte sich ein kleiner Hund auf dem frisch gesprengten Rasen und genoss sichtlich das kühle Prickeln der einzelnen Grashalme auf dem Rücken.

Ein kurzes Telefongespräch, und die Erholung war verschwunden. Als wäre sie nie da gewesen, dachte er, als er den Motor anließ.

Er hatte sich Zeit dabei gelassen, seine Sachen zusammenzupacken, um dann in gebrochenem Französisch mit der Werkstatt zu sprechen und um anschließend dem Eigentümer des kleinen Hotels, der selbst an der Rezeption gesessen hatte, seine Abreise zu verkünden. Er hatte zunächst versucht, zu erklären, dass es weder am Hotel noch an dem verträumten Ort lag, dass er so überstürzt abreiste. Als ihm das nicht gelang, war er auf Englisch umgestiegen und der Hotelier hatte ihn verstanden.

Danach hatte er mit seiner Kollegin in Berlin telefoniert, und sie gebeten, sein Notebook mit der Spezialsoftware Analyst’s Notebook und den Zugängen zu diversen internen Datenbanken mit nach Augsburg zu bringen.

Sie war offenbar auch nicht von der Idee begeistert, dorthin zu fahren, um an einem Mordfall mitzuarbeiten. Vermutlich entsprach der Fall, an dem sie gerade gearbeitet hatte, eher ihrer Interessenlage.

Davídsson hatte von einem Fall mit mehreren sexuellen Übergriffen in einem Berliner Internat gelesen. Er hatte sich am Vortag in Montélimar eine deutsche Zeitung gekauft. Eigentlich interessierte ihn im Urlaub nur der Sportteil, aber die großen Buchstaben der Hauptüberschrift hatten dann doch seine Aufmerksamkeit erregt. Offenbar waren früher einige Schüler über Jahre hinweg von einem Pfarrer missbraucht worden, der heute ein angesehener Kardinal war. Angeblich hatten ihn mehrere Nonnen gedeckt und sogar einige Jungen für ihn herausgesucht.

Sicher hatte sie Wittkampf so lange bearbeitet, bis er ihr den Fall übertragen hatte.

Mit diesem Fall konnte man Karriere machen.

Und er wusste, dass das der Hauptantrieb von Lilian Landhäuser war. Sie wollte groß herauskommen. Sie hatte einmal im Kreise ihrer Kollegen gesagt, dass sie Starfallanalytikerin werden und in ganz Deutschland Berühmtheit für ihre guten Arbeitsergebnisse erlangen wolle.

Davídsson nahm ihr diese Aussage nicht übel. Die anderen Kollegen der Operativen Fallanalyse hatten sich über Landhäuser lustig gemacht, nach dem sie von ihren Karriereplanungen erzählt hatte. Vielleicht war es auch ein bisschen Neid gewesen, aber Davídsson wusste, dass sie im Grunde recht hatten: Die eigene Karriere ist auf jeden Fall die falsche Motivation bei den Ermittlungsarbeiten.

Außerdem wussten alle, dass eine Karriere wegen der starren Regeln im Beamtentum kaum möglich war. Es gab keine Planstellen, auf die sie hätte aufsteigen können. Selbst Wittkampf war nur eine Gehaltsstufe über Davídsson eingruppiert, und bis zu seiner Pensionierung würde sich das vermutlich auch nicht ändern.

Landhäuser war aber noch jung und voller Ideale. Sie erinnerte Ólafur Davídsson an seine Zeit beim FBI an der Academy in Quantico. Damals hatte er auch das Gefühl gehabt, die Welt aus den Angeln heben zu können. Die Welt ein Stückchen nach den eigenen Regeln zu beeinflussen.

Aber diese Illusion hatte er verloren.

Jetzt war er trotzdem nicht desillusioniert, aber er war mehr auf den Boden der Tatsachen gekommen. Er hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass man im Grunde nichts ändern konnte. Und trotzdem war die Arbeit der Operativen Fallanalyse wichtig. Ein Verbrechen aufzuklären, half zwar dem Opfer nicht mehr und es verhinderte vermutlich auch keine weiteren Verbrechen, aber es zog den Täter zur Verantwortung, und das war für die Angehörigen der Opfer ein wichtiges Signal.

»Einer weniger«, war der flapsige Kommentar von Engbers gewesen, als sie sich ein paar Wochen zuvor bei einem Bier beim Alten Schweden darüber unterhalten hatten.

Engbers war im Prinzip seiner Meinung und Davídsson wusste, dass Lilian Landhäuser im Laufe der Jahre auch noch ein gutes Stück ruhiger werden würde.

 

2

 

Sie trafen sich in einem breiten dunklen Durchgang, der sie vor dem grauen milchigen Himmel und dem Regen schützte.

Ólafur Davídsson war noch müde. Er wusste, dass er noch nicht genügend Aufmerksamkeit für einen neuen Fall aufbringen konnte, aber Landhäuser und die Kollegen von der Kripo konnten das offenbar. Er konnte kaum die Augen offen halten, nachdem er so lange gefahren war, bis ihm der Fuß eingeschlafen war und der Hintern wehtat. Dann hatte er ein paar Minuten auf einem Rastplatz die Augen geschlossen und gedöst, um anschließend den zweiten Teil der Strecke hinter sich zu bringen.

Erst am frühen Morgen war er schließlich in Augsburg eingetroffen, hatte beinahe schon im Halbschlaf seine Sachen in das für ihn reservierte Hotelzimmer gebracht, geduscht und sich dann in das weiche Bett gelegt. Dort hatte er sich dann vier Stunden hin-und hergewälzt, bevor er wieder aufstehen musste.

Landhäuser war von Berlin nach München geflogen und hatte den Rest der Strecke mit der Bahn zurückgelegt. Sie schien vor unbändiger Energie zu sprühen und hatte bereits erste Nachforschungen über die Fuggerei angestellt, die sie alle in einen Collegeblock geschrieben hatte.

Davídsson ließ sie links liegen, nachdem er sie kurz begrüßt hatte.

Er wollte sich sein eigenes Bild machen und dabei unbeeinflusst von anderen Wahrnehmungen bleiben. Vielleicht auch, weil er keine Lust auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit seiner Kollegin hatte.

Gerade, als er zur Kasse gehen wollte, die sich hinter einem Fenster verbarg und auf die ein paar weiße Pfeile auf dem Boden zeigten, erschienen die Kollegen der Kriminalpolizei. Obwohl sie keine Uniformen trugen, war es ihnen sofort anzusehen, wer sie waren.

Der Freund und Helfer muss auch außerhalb des Dienstes erkennbar bleiben, dachte Davídsson zynisch. Er machte kehrt und stellte sich neben Lilian Landhäuser vor eine Wand mit Prospekten über die Fuggerei, von denen bereits jeweils ein Exemplar in ihrem Notizblock steckte.

»Kriminalkommissar Schedl und Kriminalhauptkommissar Hofbauer«, der Mann, der zunächst seinen Kollegen und dann sich selbst vorstellte, zeigte zur Bestätigung seinen Dienstausweis und nickte freundlich.

Landhäuser stellte zunächst Ólafur Davídsson und dann sich selbst vor, ließ aber ihren Dienstausweis in der beigen Ledertasche, die ihr über der Schulter hing.

»Unser Kollege von der Spurensicherung kommt auch gleich vorbei, aber wir können schon einmal vorgehen. Ich habe uns bereits beim Grafen angemeldet«, Hofbauer hatte einen unverkennbaren fränkischen Akzent und schien ein ruhiger und gewissenhafter Typ zu sein, der etwa Davídssons Größe hatte.

Schedl war leicht untersetzt und musste bereits kurz vor der Pensionierung sein. Er machte den Eindruck, dass er alles mit einer gewissen Gemütlichkeit anging. Er antwortete einsilbig auf den Redeschwall von Lilian Landhäuser, die ganz offensichtlich einen guten Gesprächspartner in ihm sah.

Davídsson beobachtete es amüsiert.

Sie wurden durch einen großen Vorraum über eine Treppe in den ersten Stock des mit Efeu überwachsenen Verwaltungsgebäudes geführt und dann in einen nüchternen Besprechungsraum. Sie setzten sich auf rote Stühle, die um einen buchefarbenen ovalen Besprechungstisch standen. Über ihnen hing ein alter Leuchter mit Kerzenlampen, die von goldenen Schlangen gehalten wurden. Ólafur Davídssons Blick fiel auf einen alten massiven Schrank, neben dem ein Beamer auf einem kleinen Wagen stand.

Hier wurde vermutlich über das Schicksal der Fürstlichen und Gräflichen Fuggerschen Stiftung entschieden, die hier ihren Sitz hatte, wie ein goldenes Schild am Eingang des Gebäudes verkündet hatte. Er sah das Porträt, das Albrecht Dürer um 1519 vom Stifter der Fuggerei, Jakob Fugger dem Reichen, angefertigt hatte, in einem goldenen Rahmen hängen. Auf dem Gemälde schien er keinerlei Gefühlsregungen zu haben.

Reichtum macht eben nicht zwangsläufig glücklich, dachte Davídsson. Er saß mit dem Rücken zu den vergitterten Fenstern. Hinter ihm standen ein alter Overheadprojektor und einige immergrüne Pflanzen auf der Fensterbank, die kaum Licht abbekamen.

Er hoffte, dass keine große Besprechung vor ihm lag. Er wollte dorthin, wo man die Leiche gefunden hatte. Alle anderen Informationen konnte er später noch abrufen, wenn er sie brauchte. Die Spuren an einem Fundort waren wichtiger für Rückschlüsse auf die Psyche eines Täters als die Informationen über historische Gegebenheiten.

»Der Administrator lässt sich entschuldigen«, sagte eine gepflegt aussehende Frau in dunkelblauem Kostüm, die Davídsson auf Mitte fünfzig schätzte. Sie schloss hinter sich die Tür zum Besprechungsraum und stellte ein Tablett mit fünf Tassen duftenden Kaffees auf den Konferenztisch. »Mein Name ist Elisabeth Hübner, ich werde Ihnen für Ihre Fragen zur Verfügung stehen und diene als Ansprechpartnerin für Ihre Ermittlungen.« Sie setzte sich neben Landhäuser und deutete auf die Tassen. »Wenn Sie mögen, können Sie auch ein Wasser trinken.«

»Ja, gut. Das sind die Kollegen vom Bundeskriminalamt, und uns kennen Sie ja schon«, sagte Hofbauer, der offenbar keinen richtigen Einstieg in ein Gespräch fand.

»Den drei fürstlichen Familien ist die ganze Sache sehr unangenehm. Wir würden es also begrüßen, wenn die Medien nur über unser Haus mit Informationen versorgt würden.«

»Wer ist bei Ihnen dafür zuständig?«, fragte Landhäuser, die sich erste Notizen in ihrem Block machte.

»Die Vorsitzende des Fürstlichen und Gräflichen Fuggerschen Familienseniorats hat das übernommen.«

»Und Sie, welche Funktion haben Sie?«, fragte sie weiter.

»Nur der Administrator und die Vorsitzende des Seniorates haben eine Art Amtsbezeichnung, wenn Ihre Frage darauf abzielte. Ich kümmere mich um alles Mögliche, auch deshalb gibt es keine genaue Bezeichnung meiner Arbeit. Wenn Sie so wollen, ist meine Aufgabe aber die Öffentlichkeitsarbeit und die interne Verwaltung. Ich kümmere mich aber auch um Personalangelegenheiten.«

»Und der Verwalter?«

Die Frau richtete das dunkelblaue Jackett mit den goldenen Knöpfen, bevor sie antwortete. »Der Administrator ist der Verantwortliche für die Fuggerei. Die Bezeichnung stammt noch aus der Zeit ihrer Gründung. Der Begriff Fuggerei hat sich erst später eingebürgert, aber die Position des Administrators war schon bei der Gründung der Stiftung vorgesehen, und so haben wir seine Funktionsbezeichnung über das 500-jährige Bestehen beibehalten, auch wenn uns das dann und wann Schwierigkeiten machte.« Sie nahm sich eine Tasse Kaffee und nippte daran. »Das Jubiläum war erst vor drei Wochen. Wir hatten Besucher aus aller Welt. Sogar drei Japaner waren da. Und jetzt so etwas. Das ist wirklich tragisch.«

Landhäuser wollte zu einer neuen Frage ansetzen, aber Davídsson fiel ihr ins Wort, bevor sie anfangen konnte: »Ich würde mir gerne den Fundort der Leiche ansehen, bevor wir zu den Details kommen.«

Er nahm einen großen Schluck Kaffee, in der Hoffnung, davon wacher zu werden, bevor er sich von dem roten Stuhl erhob. Er hatte immer noch Schmerzen von der langen Fahrt, die im Sitzen schlimmer wurden, aber in erster Linie wollte er damit seiner Forderung Nachdruck verleihen.

Davídssons Plan war aufgegangen. Die Gruppe hatte sich in Bewegung gesetzt. Sie waren an einem Parkplatz vorbeigegangen, um dann wieder durch einen Torbogen zu gehen, in dem rechts Mülltonnen aufgereiht standen. Davídsson war sich sicher, dass sie im Sommer einen unangenehmen Geruch verbreiten würden. Auf der linken Seite standen Fahrräder, deren Sättel bei Regen wenigstens trocken blieben, auch wenn man sie dafür bei Hitze aus einer Gestankshölle holen musste.

Schließlich blieb ihre Ansprechpartnerin vor einem der gelben Reihenhäuser stehen. Die anderen Gebäude ringsherum sahen alle gleich aus. In der Mitte von zwei Eingängen war eine 54 in einen roten Stein gemeißelt worden.

»Die Hausnummern wurden schon 1519 im gotischen Stil angebracht. Damals bestand die Fuggerei nur aus 52 Häusern, aber es waren dafür die ersten Hausnummern in Augsburg überhaupt. 1973 kamen dann weitere 15 Häuser dazu, sodass es jetzt 67 Häuser in der Fuggerei gibt.« Elisabeth Hübner wirkte nervös. Sie zupfte sich ein paarmal an den Ärmeln ihrer Bluse, die unter einem dunkelgrünen Mantel hervorlugten.

Rechts neben der verblichenen grünen Tür war ein altmodischer Klingelzug angebracht worden, der so alt sein mochte wie die Gebäude der Siedlung selbst. Über eine verrostete Stange konnte man im Hausinnern eine Glocke läuten, die den Besuch ankündigte.

»Die alten Klingelzüge sind bei fast jedem Haus anders gestaltet worden. Man sagt, dass man damit erreichen wollte, dass die Bewohner der Fuggerei ihre Häuser auch nachts finden konnten. Heute sind die meisten nur noch Zierde. Wir erteilen immer häufiger eine Genehmigung für eine elektrische Klingel.«

Davídsson dachte an das kleine Häuschen in Siglufjörður, in dem er groß geworden war. Dort gab es nicht einmal eine solche Klingel. Die Haustür war unverschlossen und der Besuch trat einfach ein und machte dann durch Rufen auf sich aufmerksam, wenn überhaupt ein Besucher den Weg zu ihnen gefunden hatte.

»Ich würde gerne hier draußen auf Sie warten«, bat Hübner, der sichtlich unwohl bei dem Gedanken wurde, Spuren eines Toten zu sehen.

Schedl nickte verständnisvoll.

»Das Opfer ist eine junge Frau namens Catharina Aigner. Sie ist bereits zur Obduktion abgeholt worden. Wir haben aber Fotos, die wir Ihnen zeigen können. Auf denen können Sie auch die Lage und Position des Opfers erkennen«, sagte Hofbauer, der das Siegel mit dem bayerischen Wappen von einer grünen Holztür löste, als könnte man es an einer anderen Tür noch einmal verwenden.

»Wie ist sie ermordet worden?«, fragte Landhäuser.

»Vermutlich wurde sie erstickt«, erwiderte Hofbauer, der die Tür jetzt öffnete.

»Und warum haben Sie uns zu den Ermittlungen angefordert?«

»Der jungen Frau wurden vor ihrem Tod alle Haare vom Kopf rasiert und dann in einem Plastikbeutel über den Kopf gestülpt. Der Täter hat ihr die Tüte mit einem Gummizug um den Hals gebunden. Da wir nicht einschätzen können, ob es sich um eine politisch motivierte Tat handelt, haben wir die Operative Fallanalyse des Bundeskriminalamtes um Mithilfe gebeten.« Hofbauer gab den Weg frei und Landhäuser betrat das Haus als Erste.

Ólafur Davídsson folgte ihr durch einen schmalen Flur mit dunklem Steinboden. An der Decke hing eine altmodische Lampe, die nur wenig Licht von sich gab.

»Die Leiche wurde im Wohnzimmer gefunden. Das ist gleich hier vorne rechts«, sagte Hofbauer, der ihnen gefolgt war, während sein Kollege bei Hübner blieb.

Davídsson dachte an den Begriff ›Wohnzimmer‹, als er in der Mitte des kleinen Raumes stand. Hier erfuhr das Wort eine neue Bedeutung. Wohnlich war der Raum jedenfalls in seinen Augen nicht. Er war karg mit alten Möbeln eingerichtet, die eher auf den Sperrmüll passten als in ein Wohnzimmer.

Er stellte sich neben eine speckige Ledercouch, deren Rückenlehnen mit einem bunten Stoff überzogen worden waren, vermutlich, nachdem das Leder brüchig geworden war.

Vor einem hellen Steintisch, der auf dreieckigen Füßen stand, war mit Farbe die Silhouette eines Menschen gesprüht worden. Die Umrisse waren zum Teil auf einem grob gewebten Teppich und auf dem Holzboden zu sehen.

»Diese Hübner hat uns als Allererstes gefragt, ob die Farbe wieder rausgeht, wenn das alles hier vorbei ist«, sagte Hofbauer, der Davídssons Blicken gefolgt war.

Ólafur Davídsson kommentierte das nicht.

Er versuchte sich das Bild vorzustellen, dass die Ermittler gesehen hatten, als sie zum ersten Mal in diesem Raum gestanden hatten. Er dachte an die beiden Zehn-Krónur-Münzen in seiner Sakkotasche und hoffte, dass die Tote auch ohne sie den Styx überqueren durfte. Seitdem sein Vater gestorben war, hatte er sie immer bei sich. Er hoffte, dass sie ihm jemand auf die Augen legen würde, wenn er einmal sterben musste, damit Charon ihn in das Reich von Pluto schiffen würde.

Es war seine Art, um die Toten zu trauern, und er hoffte, dass um ihn auf die gleiche Art getrauert werden würde, wenn er von dieser Welt gehen musste.

Er hatte schon oft genug gesehen, wie nichts als ein kleiner Karton mit ein paar wenigen Habseligkeiten von einem Menschenleben übrig blieb. Alle Konten wurden gelöscht, die Wohnung wurde aufgelöst und die Erinnerung verblasste allmählich, bis nicht einmal mehr der Karton oder ein Name übrig blieb.

Davor hatte er Angst.

Bei allen, die er liebte. Bei seiner Schwester und seinem Bruder und bei sich selbst, aber auch bei allen Opfern, deren Leben er untersucht hatte und die er auf seine Art kennengelernt hatte. Auch wenn ihre Namen in den Zeitungen standen, wusste bald niemand mehr, wer sie wirklich waren. Was diese Personen ausmachte und was für Träume sie gehabt hatten, bevor sie sterben mussten.

Die ursprüngliche Vorstellung der griechischen Mythologie gefiel ihm, weil man demnach im Hades ein scheues Leben im Schattenreich führen konnte, bei dem es keine Unterschiede mehr machte, wer man früher einmal gewesen war oder wie viel man einmal besessen hatte. Er war davon überzeugt, dass jeder in seinem tiefsten Inneren diesen Traum hatte, den er nach dem Tod seiner Eltern in seiner Gefühlswelt kultiviert hatte.

»Ich brauche die Fotos von der Leiche, und geben Sie meiner Kollegin auch einen Satz. Wer hat sie hier gefunden?«, fragte er schließlich.

»Ein Nachbar, der die Wohnung darüber bewohnt. Sie hat sich wohl ein bisschen um ihn gekümmert.«

»Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«

»Das wollten wir Ihnen überlassen.«

Davídsson nickte stumm, während Lilian Landhäuser einen alten Vitrinenschrank öffnete, in dem eine heillose Unordnung herrschte. Neben Kleidungsstücken fand sie auch Papiere und Zeitschriften.

Der Fallanalytiker hatte die vordergründige Ordnung bemerkt, die in diesem Zimmer herrschte. Er hatte eine Fernsehzeitung gesehen, die auf dem Tisch lag, und Zigarettenschachteln. Eine von ihnen war leer, die andere schien noch nicht geöffnet worden zu sein. Neben der Couch lagen zwei angebrochene Chipstüten und eine alte Zeitung, auf der ein Glas mit brauner Flüssigkeit stand. Vermutlich war es Cola. Ein paar wenige Kohlensäureperlen stiegen noch an die Oberfläche auf.

Er ging zu einem kleinen Regal, auf dem ein klobiger Fernsehapparat und ein Videorekorder standen.

»Hat jemand Videokassetten in der Wohnung gefunden?«, fragte er Hofbauer, der sich gegen die Fensterbank gelehnt hatte. Ein moderner Heizkörper war das einzig Neue in diesem Raum. Erst jetzt fiel ihm die Kälte auf, die in der Wohnung herrschte.

»Im Rekorder steckte eine. Sie ist im Labor. Sonst haben wir keine finden können.«

»Gibt es Einbruchspuren?« Ólafur Davídsson sah erst Schedl und dann Hofbauer an.

»Die Spurensicherung hat keine gefunden«, antwortete Schedl.

»Wer hat einen Schlüssel zu dem Eingang?« Davídsson sah, dass Lilian Landhäuser eifrig mitschrieb.

»Nur das Opfer, soweit wir wissen. Vielleicht gibt es noch einen Zweitschlüssel in der Administration, aber sonst hat niemand einen Schlüssel.«

»Das würde bedeuten, dass das Opfer seinen Mörder gekannt haben musste«, schlussfolgerte Lilian Landhäuser und sprach damit aus, was alle dachten.

»Und was wissen wir über Catharina Aigner?« Davídsson versuchte sich den Namen einzuprägen.

Er hasste es, nur von einem namenlosen Opfer zu sprechen. Diese Anonymität ist nicht gut, dachte er. Sie lässt uns vergessen, dass es sich hier um einen Menschen handelt, der Gefühle und Träume hatte, bevor er ermordet wurde. Menschliche Regungen, die vielleicht die Wege des Mörders wegen dieser Träume gekreuzt hatten.

Er stellte sich vor die Couch und betrachtete das einzige Bild im Raum. Es war ein Nachdruck eines klassischen Blumengemäldes.

Davídsson versuchte sich an den Künstler oder den Namen des Gemäldes zu erinnern, aber beides fiel ihm nicht ein,

»Naja, nicht viel.« Schedl stellte sich neben Davídsson zu dem Bild und schien nun ebenfalls zu überlegen, wer der Künstler war. »Um in die Fuggerei aufgenommen zu werden, muss man bestimmte Bedingungen erfüllen, die bei der Aufnahme überprüft werden.«

»Für eine junge Frau ist diese Wohnung erstaunlich altmodisch eingerichtet«, stellte Davídsson fest, ohne dabei direkt jemanden anzusprechen. Dann wandte er sich an Schedl. »Was sind das für Bedingungen?«

»Die Person muss aus Augsburg stammen, katholisch sein und sie muss unverschuldet in Not geraten sein. Das alles trifft offensichtlich auf das Opfer zu, sonst wäre sie nicht hier gewesen.«

»Ja.«

»Wieso katholisch?«, wollte Landhäuser wissen.

»Die Fuggerei ist die älteste noch bestehende Sozialbausiedlung der Welt. Als Jahresmiete muss man nur einen Rheinischen Gulden bezahlen, was umgerechnet gerade einmal einem Gegenwert von 88 Cent entspricht, und außerdem verpflichtet man sich, täglich drei Gebete für den Stifter und seine Familie zu sprechen. Wie soll man für die Fugger ein ›Ave Maria‹, ein Glaubensbekenntnis und ein ›Vaterunser‹ sprechen, wenn man nicht katholisch ist?«

»Ist das nicht etwas antiquiert?«

»Fragen Sie das Frau Hübner«, antwortete Hofbauer, bevor Schedl etwas sagen konnte.

»Und was wissen wir sonst noch über Catharina Aigner? Warum war sie hier? Hatte sie keine Familie, die ihr helfen konnte? Was ist mit dem Sozialamt?«

»Wir wissen noch nicht besonders viel über das Opfer«, antwortete jetzt wieder Schedl.

Davídsson ging durch eine Verbindungstür in die Küche, die genauso spartanisch eingerichtet war wie das Wohnzimmer.

Die Küchenzeile bestand nur aus Unterschränken, einer einfachen Spüle und einem Herd mit Elektroofen, der direkt neben dem Fenster stand und völlig unbenutzt aussah. Er öffnete die Türen der Schränke und fand ein Sammelsurium an Töpfen und Tellern, die alle völlig unterschiedlich waren. Auf der braunen Arbeitsplatte stand ein Wasserkocher, der dringend entkalkt werden musste, und daneben eine leere Colaflasche eines Discounters.

Hinter ihm stand ein einfacher Küchentisch und eine hölzerne Eckbank, die reichlich unbequem aussah. Unter einem Holzkreuz lag ein buntes Kissen, das den harten Untergrund offensichtlich etwas erträglicher machen sollte.

Davídsson dachte an ein Kloster. So hatte er sich das Leben dort immer vorgestellt. Einsam, kalt und spartanisch, aber ohne Cola und Chips.

Er trat in den Flur und warf einen Blick auf zwei Hundenäpfe, die unter einem Spiegel mit goldenem Rahmen standen.

Der Fallanalytiker atmete die Luft bewusst ein, ohne dabei einen Geruch wahrzunehmen. Die Luft in dieser Wohnung schien klinisch rein zu sein, ohne die üblichen Gerüche, die Menschen im Laufe der Jahre hinterließen, wenn sie sich in den Räumen ihrer Wohnungen länger aufhielten. Davídsson konnte nicht einmal den Geruch eines Hundes bemerken.

»Hat jemand hier einen Hund gesehen?«, fragte er schließlich den Kriminalkommissar, der direkt hinter ihm stand.

»Der ist offensichtlich verschwunden.«

»Hat ihn vielleicht der Nachbar?«

»Bestimmt nicht.« Schedl grinste, als hätte er einen guten Scherz gemacht.

Davídsson betrat das Badezimmer, das relativ neu aussah. Der Boden musste erst vor Kurzem neu gefliest worden sein. Es gab nirgendwo Schimmel oder Feuchtigkeit. Neben dem Waschbecken stand eine Waschmaschine und ein Wäschekorb aus Kunststoff. Er kniete sich in der ebenerdigen Dusche auf den Boden und fand Haare, die sich im Sieb des Ablaufs verfangen hatten.

»Hat die Spurensicherung davon Proben genommen?«, fragte er Hofbauer, der ihn daraufhin überrascht ansah.

»Ich habe keine Veranlassung dazu gesehen, die Spurensicherung damit zu beauftragen. Die Identität des Opfers ist eindeutig geklärt. Wieso also ein DNA-Abgleich?«

»Wissen Sie denn schon, an welchem Ort das mit den Haaren passiert ist, bevor sie in einer Plastiktüte über dem Kopf von Catharina Aigner gelandet sind?« Davídsson stand auf und ging ins danebenliegende Schlafzimmer.

»Glauben Sie etwa, dass sie dabei mit ihrem Mörder unter der Dusche gestanden hat?«

Hofbauer und Lilian Landhäuser waren ihm in das Schlafzimmer gefolgt und standen jetzt nebeneinander vor einem Kleiderschrank. Davídssons Kollegin konnte der Versuchung nicht widerstehen und öffnete eine der Türen, um sich ordentlich zusammengelegte Jeans und T-Shirts anzusehen.

»Mit Spekulationen kommen wir nicht weiter. Gibt es sonst irgendwo in der Wohnung eine Stelle, wo besonders viele Haare zu finden waren?«

Hofbauer schüttelte den Kopf und Davídsson war versucht, es ihm wegen seiner Ignoranz gleichzutun.

»Anhand der Proben kann man im Labor feststellen, ob ihr die Haare hier abrasiert worden sind. Vielleicht sind ja auch Haare dabei, die vom Täter mit der ganzen Haarwurzel ausgerissen wurden, und möglicherweise finden wir auch noch DNA-Spuren von einer anderen Person, die hier unter der Dusche stand und etwas mit dem Mord zu tun hat. Bisher steht ja noch nicht fest, ob es sich hier um eine Beziehungstat handelt. Wenn Sie allerdings an die Statistiken denken, kommt als häufigstes Motiv eines Gewaltverbrechens eine persönliche Beziehung zu den Opfern in Betracht. Ich kann also nicht ausschließen, dass die junge Frau mit ihrem Mörder unter der Dusche gestanden hat. Es kann natürlich auch sein, dass ihr die Haare einfach beim Duschen ausgefallen sind und wir einer völlig falschen Spur gefolgt sind. Das hätten wir dann mit einer Untersuchung jedoch auch ausgeschlossen.«

Hofbauer grummelte etwas Unverständliches und wies dann Schedl an, die Spurensicherung zu informieren.

Der Kriminalanalytiker warf einen Blick auf die sorgfältig zusammengelegte Tagesdecke mit Rosenmuster, die auf dem Bett lag. Auf dem Nachttisch lagen ein paar Bücher mit deutlichen Gebrauchsspuren und eine Packung unbenutzter Kondome.

Die Idee, dass Catharina Aigner einen Freund gehabt hatte, war nicht so abwegig, wie Hofbauer dachte, auch wenn sich Davídsson kaum vorstellen konnte, dass sie ihn in so einer Umgebung empfangen hatte.

»Sind Kondome überhaupt bei Katholiken erlaubt?«

»Ich glaube nicht …«, antwortete Hofbauer, dessen Kopf plötzlich rot angelaufen war, als ihm Landhäuser die Frage gestellt hatte.

Davídsson grinste innerlich. Landhäuser hatte ins Schwarze getroffen. Wieder einmal.

»Kann uns Frau Hübner etwas zu dem Opfer sagen? Kümmert sie sich auch um die Aufnahme neuer Bewohner der Fuggerei?«, fragte sie, als sei nichts gewesen.

Hofbauer hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Nein. Das macht jemand anderes. Die Dame ist aber erst heute Nachmittag da. Sie musste heute Morgen zum Arzt. Irgendetwas mit den Zähnen.«

»Was ist mit Angehörigen?«, fragte Davídsson nach einer Weile. Sie waren wieder in den kleinen Vorgarten hinausgegangen. Es regnete nicht mehr, aber der Himmel war grau geblieben.

Hofbauer sah ihn fragend an.

»Gibt es welche? Wenn ja, haben Sie sie bereits verständigt oder sollen wir das erledigen?« Davídssons Stimme wurde schärfer. Er war diese Begriffsstutzigkeit nicht gewohnt.

»Es gibt keine. Besser gesagt: Wir haben keine gefunden.«

Der Vorgarten sah gepflegt aus. Ólafur Davídsson kannte sich mit Pflanzen zu wenig aus, aber er erkannte, dass es kein Unkraut gab. Alle Büsche waren beschnitten und die Blumenblüten waren nach Farben sortiert. In der Mitte stand eine Weide mit weißen, beinahe elliptischen Blättern.

»Das ist eine Salix integra Hakuro Nishiki, eine japanische Weide«, sagte Lilian Landhäuser. »Meine Eltern haben so eine im Garten. Der Austrieb ist zart flamingorosa, dann wird das Laub rosa-weißlich gepunktet und zum Schluss sind die Blätter grün-weiß marmoriert.«

»Toll«, sagte Davídsson und sah, wie sie versuchte, seinen Kommentar einzuordnen.

Er meinte es durchaus nicht zynisch.

Vielleicht kaufe ich mir so eine japanische Weide für den Balkon, überlegte er.

»Wann kommt der vorläufige Obduktionsbericht?«, fragte er zu Hofbauer gewandt.

»Eigentlich sollte der Pathologe hierherkommen.« Der Kriminalhauptkommissar zog ein Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer und führte daraufhin ein kurzes Telefongespräch.

»Er hat die Ergebnisse der Toxikologie noch nicht vorliegen.«

»Dann würde ich mich gerne noch ein bisschen alleine hier umsehen und schlage deshalb vor, dass wir uns heute Nachmittag wieder treffen. Am besten wieder an der Kasse.«

 

3

 

Davídsson hatte sich nicht in der Fuggerei umgesehen. Er hatte Ruhe gebraucht. Bisher hatte er noch kein klares Bild vor Augen. Es war noch diffus, ohne Leiche, auf deren Augen man Zehn-Krónur-Münzen legen konnte.

Vielleicht brauchte er das, um richtig in Gang zu kommen.

Er war zum Hotel gefahren. Von Weitem sah der Turm wie ein überdimensionaler Maiskolben aus, der in den Himmel ragte, als warte er darauf, von einem Riesen abgeerntet zu werden.

Einem Augsburger Riesen, hatte er gedacht, als er das Hotel in der Nacht leicht hatte finden können. Es war immerhin das höchste Bauwerk in der ganzen Umgebung und gehörte zu den zehn höchsten Gebäuden in ganz Bayern, wie ein Schild im Aufzug stumm verkündete.

Jetzt konnte er aus seinem Zimmer im 11. Stock auf die Stadt sehen und gleichzeitig die Gedanken in die Ferne schweifen lassen.

Eigentlich war er hergekommen, um zu schlafen, aber das Kopfzerbrechen hatte bereits begonnen und ließ sich nicht mehr abschalten.

Er wusste noch zu wenig, um schon eine Idee zu haben, aber trotzdem spürte er, dass es nicht einfach werden würde. Vielleicht lag es an dieser eigenen Welt, die wie ein Fremdkörper in der heutigen Gesellschaft zu sein schien.

Wer betete heute noch dreimal am Tag? Oder taten das die Bewohner der Fuggerei überhaupt noch? Wurde das tatsächlich noch von ihnen verlangt?

Er wusste, dass es in Bayern noch viele gläubige Katholiken gab, die ihre Traditionen und ihre Religion ernst nahmen.

So etwas war ihm von Island fremd.

Natürlich gab es auch da noch genügend Menschen, die zu den Gottesdiensten in die Hallgrímskirkja strömten. Aber die Protestanten in Reykjavík waren längst nicht so gläubig wie die Menschen in Bayern. Davon war er überzeugt. Obwohl formal noch rund 79 Prozent aller Einwohner der Isländischen Staatskirche angehörten.

Ólafur Davídsson erinnerte sich an seinen letzten Besuch in der Hallgrímskirkja. Er war dort mit seinem jüngeren Bruder zu einem Konzert gewesen. Óðinn faszinierten damals die Dimensionen der Orgel, die ihresgleichen in Island suchte. Sie hatten sich den mechanischen Spieltisch mit den vier Manualen angesehen und Óðinn hatte ihm erzählt, dass der Orgelbauer aus Deutschland stammte. Später, als er dann selbst in Deutschland lebte, hatte er irgendwo gelesen, dass die Firma Johannes Klais Orgelbau einen internationalen Ruf hatte und ihre Orgeln auf der ganzen Welt verteilt waren. Selbst Davídsson war damals von dem Klangbild fasziniert gewesen. Auch wenn er nicht zum Beten dorthin gegangen war, hatte eine Kirche auch auf ihn eine gewisse sakrale Wirkung, die er nicht beschreiben konnte.

Er sah auf die Uhr und legte sich noch einmal auf das viel zu weiche Bett.

Als er wieder aufwachte, war es später, als es sein sollte. Hektisch zog er sein weißes Hemd über den Oberkörper und dann den schwarzen Anzug an. Schließlich schlüpfte er in die Schuhe, die er zuvor abgestreift hatte, ohne die Knoten zu öffnen.

---ENDE DER LESEPROBE---