5,99 €
Alle Welt ist von dem grausamen Mord in der Lagune schockiert – nur die Venezianer selbst nicht. Mario Giustian ist mit der Aufklärung des Falles beauftragt und stellt bald fest, dass es hier um mehr als nur einen Mord geht. Der Mörder hinterlässt keine Spuren, außer denen, die man finden sollte – Spuren aus Blut. Plötzlich nimmt der Fall eine entscheidende Wende, die Giustian auch emotional an den Mörder bindet. Ist es da bereits zu spät für ihn?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Alexander Guzewicz
Venedigs Mörder
eure-l.com
Vollständige eBook-Ausgabe der beim
eure-l verlag, Berlin
erschienen Taschenbuchausgabe
Copyright © 2023 by eure-l verlag, Berlin
Umschlaggestaltungeure-l software, Berlin
UmschlagfotoMirjam Hempel, Rösrath
DatenkonvertierungBook Designs, Potsdam
01 550-0216-23
ISBN978-3-939984-67-2
für
Beke Alena
Jeder von uns hat eine Leiche im Keller. Mancher versteht es einfach nur besser, sie zu verstecken.
Erster Teil
Er schnappte nach Luft, inhalierte sie tief, um das Unvermeidliche zu unterdrücken.
Natürlich wusste er, woher die stechende Übelkeit kam, aber das half ihm nicht, wenn er über seiner Toilettenschüssel hing und würgte.
Er fühlte nur noch die innere Leere, ein schwarzes Loch, in das er schon vor Wochen hineingefallen war. Er hatte keine Lust mehr, jeden Morgen dieselbe Prozedur zu ertragen.
Er betrachtete sich im Spiegel, war, bis auf die dunklen Augenringe, die er seit Tagen ignorierte, mit sich und seinem sportlichen Körper zufrieden, obwohl er schon seit Monaten nicht mehr sein Fitnessprogramm absolviert hatte, das er früher so verbissen Tag für Tag durchgezogen hatte.
Er hielt den Kopf unter das frische, kalte Wasser, das ihm guttat. Er hörte, wie sein Handy klingelte, raste durch die kleine Zweizimmerwohnung, zu seinem Nachttisch, auf dem das Handy vibrierte.
Ein Kollege aus der Einsatzzentrale, dessen Name er nicht verstanden hatte, teilte ihm mit knappen Worten einen Mord im Parco delle Rimembranze mit, den er mit einem Motoscafo erreichen würde, das ihn in weniger als einer Viertelstunde abholen würde.
Hastig zog er seine Uniform über den Slip, gelte sein dunkles Haar nach hinten und strich sich über den Dreitagebart, den er heute eigentlich abrasieren wollte.
Der Parco delle Rimembranze lag jetzt in einem wunderschönen Licht. Die morgendliche Frühlingssonne tauchte die Bäume und den Schnee in ein warmes goldgelb, das die Schneedecke bald zum Schmelzen bringen würde. Die Bäume trugen schon vereinzelt kleine Blätter, die im kühlen Meereswind hin und her tanzten. Hinter einer mit Plastikplanen verhüllten Bauabsperrung wimmelte es von Carabinieri, die ein kleines Gebiet notdürftig mit rotweißem Band abgegrenzt hatten.
Die unterdrückte Übelkeit kehrte blitzartig zurück, als er sich dem Tatort bis auf wenige Schritte genähert hatte.
Ein älterer Mann, er schätzte ihn auf Ende siebzig, war auf grausamste Weise mit einem stumpfen Gegenstand zugerichtet worden.
Überall innerhalb der Absperrung waren blutige Fleischstücke verstreut, die den angetauten Schnee in ein dunkles Rot färbten. Die Augen des Opfers waren ausgestochen worden und lagen neben ihm im Schnee.
Für die anderen völlig überraschend schlüpfte Giustian hastig unter der Banderole hindurch.
Er schaffte es gerade noch bis zu einem immergrünen Busch, bevor er sich in die dünne Schneeschicht erbrach.
Nachdem es ihm wieder besser ging und sich sein Magen beruhigt hatte, bedeckte er die Stelle notdürftig mit dem losen Schnee und kehrte wieder zu seinen Kollegen zurück.
»Das sieht nicht gerade nach einem Raubmord aus. Wer hat ihn eigentlich gefunden?« Mario Giustian sah fragend in die Runde, bis sich ein junger Brigadiere meldete.
Wortlos zeigte er auf eine ältere Dame, die zusammengekauert auf einer Holzbank ein Stückchen abseits saß.
Ein etwas untersetzter Carabiniere flüsterte ihr beruhigende Worte zu, während der Hund der älteren Dame brav auf ihrem Schoß lag.
»Ich werde mich um sie kümmern. Ist die Spurensicherung schon informiert? Haben Sie den Mann bereits identifiziert?«
»Nein, Maresciallo Capo. Wir wollten auf Sie warten. Wir haben nichts berührt, die Spurensicherung ist verständigt und auf dem Weg hierher«, antwortete der junge Beamte.
Die ältere Dame schien ungefähr im selben Alter zu sein wie das Opfer. Sie war etwas altmodisch gekleidet, aber ihre Haut war erstaunlich feinporig und frisch. Sie hatte sich leicht geschminkt, sehr dezent, aber doch sichtbar.
Giustian setzte sich neben sie, schwieg und beobachtete den Tatort, sah, wie die Spurensicherung eintraf und mit ihrer Arbeit begann. Dann beobachtete er sie, wie sie mit leeren Augen in den Schnee starrte, völlig fassungslos.
»Furchtbar, wozu Menschen in der Lage sind.« Seine Stimme war völlig ruhig, wie er es in den zahlreichen Psychologiekursen gelernt hatte, die er immer wieder gerne besucht hatte.
Sie nickte leicht, sagte aber nichts.
»Kannten Sie das Opfer?«
»Opfer …«, wiederholte sie mechanisch, die Augen immer noch auf einen undeutbaren Punkt fixiert.
Er nahm ihre warme Hand, streichelte sie sanft, bis sie ihm ihren Blick zuwandte.
»Ich kannte ihn nur vom Sehen. Ich gehe hier jeden Tag mit meinem Hund spazieren. Manchmal haben wir uns hier getroffen und ein bisschen erzählt. Er wohnt, glaube ich, ganz in der Nähe.«
»Ich werde Sie nach Hause bringen lassen. Einer meiner Mitarbeiter wird sie begleiten, wenn Sie möchten.«
Der Maresciallo winkte nach dem Kollegen, der sich schon zuvor um die ältere Frau gekümmert hatte.
Widerwillig kehrte Mario Giustian zum Tatort zurück.
Die Spurensicherung hatte unter einem losen Schneehaufen eine Maske entdeckt, die ihm ein Brigadiere in einem Plastikbeutel vor die Nase hielt.
»La Maschera hat wieder zugeschlagen. Sein erstes Opfer in diesem Jahr nehme ich an«, sagte er lakonisch.
Giustian hatte in seiner Heimat ein oder zweimal von einem sogenannten Maskenmörder in der Zeitung gelesen, aber damals hatte ihn der Fall nur am Rande interessiert, weshalb er jetzt nichts mit diesem Begriff anfangen konnte.
»Entschuldigung, ich hatte ganz vergessen, dass Sie ja noch nicht lange hier sind.«
Ein leichtes Grinsen huschte seinem Gegenüber über das Gesicht, was Giustian wenigstens äußerlich völlig unbeeindruckt ignorierte.
»Der Maskenmörder schlägt, präzise wie ein Uhrwerk, alle zwei Jahre zu. Es ist immer dieselbe Vorgehensweise: Immer lässt er eine Maske bei dem Opfer zurück, immer sind die Morde grausam und immer endet das Spiel spätestens am Karnevalsdienstag.«
»Wo hat man die Maske gefunden?«
»Unter einem Haufen Schnee, man sollte sie finden. Sie war nur leicht versteckt. Er hätte sie genauso gut auch neben dem Opfer liegen lassen können.«
»Das hat er aber nicht getan. Jedes Detail ist bei so einem Fall wichtig. Machen Sie auch ein Bild von dem Fundort der Maske und legen Sie irgendetwas daneben, um die Entfernung zur Leiche abschätzen zu können.«
Die Spurensicherung war mittlerweile dabei, ein großes Zelt über dem Opfer zu errichten, um den möglichen Tatort vor neugierigen Blicken der schaulustigen Parkbesucher zu schützen und um mögliche Spuren davor zu bewahren, zerstört zu werden.
Die Männer mit ihren weißen Schutzanzügen und ihren Hauben auf dem Kopf und mit den blauen Müllsäcken, die sie sich um ihre Schuhe gebunden hatten, machten das Bild noch grotesker, als es ohnehin schon wirkte. Giustian beschloss, außerhalb des Zeltes auf die ersten Untersuchungsergebnisse zu warten.
Nach mehr als vier Stunden Arbeit der Spurensicherung waren die Leichenbestatter angekommen. Nachdem die Gerichtsmedizin und die Spurensicherung und schließlich auch Giustian die Leiche freigegeben hatten, wurde das Opfer in einem schwarzen Plastiksarg abtransportiert.
Vor gerade einmal zwei Monaten war Maresciallo Capo Mario Giustian nach Venedig versetzt worden.
Er wollte schon immer nach Venedig, es war die Stadt seiner Träume. Er liebte das Meer und die Romantik, die er mit einer immer vorhandenen Melancholie, die über der Stadt zu schweben schien, verband.
Er konnte jetzt allerdings von dieser Romantik der Lagune nichts entdecken. Sie zeigte sich kalt und grau und vor allem schien die Stadt menschenleer zu sein.
Aber diese Menschenleere hatte für Mario Giustian auch etwas Gutes – er hatte die Ruhe, die er im Augenblick brauchte.
Der Schreibtisch in dem Großraumbüro quoll über von unliebsamen Akten, die seine neuen Kollegen im Laufe der Zeit dort abgelegt hatten.
An das Großraumbüro musste er sich erst einmal gewöhnen, wie an seine Mitarbeiter in dem fünfköpfigen Team, das er hier übernommen hatte, von denen er anfangs noch nicht einmal die Namen kannte. Unentwegt klingelte ein Telefon, von einer Ecke hörte man ständig lautes Lachen, das ihn immer wieder daran hinderte, sich zu konzentrieren.
Er fragte sich, wie die anderen überhaupt in so einem Büro Erfolge erzielen konnten.
Sein Schreibtisch war ziemlich in der Mitte des Raumes. Er hatte nur einige wenige persönliche Dinge mitgebracht, die aber immer noch in einem Schuhkarton darauf warteten, von ihm aufgestellt zu werden.
Der Computer war glücklicherweise eine Verbesserung gegenüber seinem alten Arbeitsplatz, denn er war schneller und moderner.
Jetzt, nachdem Giustian seinen ersten Mordfall in seiner Wahlheimat übertragen bekommen hatte, entledigte er sich der unerwünschten Akten auf seinem Schreibtisch, denn er benötigte den Platz, um den Fall zu überblicken.
Der Anruf der Gerichtsmedizin erreichte ihn kurz vor vier. Giustian war erstaunt, wie schnell die Obduktion durchgeführt worden war, denn er war es von seiner ehemaligen Dienststelle auf dem Land gewohnt, dass die Gerichtsmedizin dafür mehrere Tage benötigte.
Die grün gekachelten Wände und das kalte Neonlicht, aber vor allem der Geruch des Todes machten die unteren Stockwerke des Krankenhauses zu einem unangenehmen Ort.
Das Opfer, von dem er eigentlich nichts wusste, denn der Ermordete hatte weder Ausweis noch sonst irgendwelche Papiere bei sich, lag auf einer Bahre am Ende des Raumes.
Er hasste diesen Teil seines Berufes, den er ansonsten mit Leib und Seele liebte. Besonders nach der Trennung von seiner Frau, die vor ein paar Monaten die Scheidung eingereicht hatte – ein Grund für sein Versetzungsgesuch.
Ohne sich dem Maresciallo vorzustellen, begann der Gerichtsmediziner mit seinen mit monotoner Stimme vorgetragenen Ausführungen.
»Anhand der Fingerabdrücke, die ich von der Leiche genommen habe, konnte ich herausfinden, wer das Opfer war. Ein Deutscher namens Frank Unger. Von der Einwanderungsbehörde weiß ich, dass er hier seit zwanzig Jahren lebte. Nächste Woche wären es jedenfalls genau zwanzig Jahre geworden.
Er ist mit einem stumpfen Gegenstand so zugerichtet worden. Ich habe über fünfzig Einstiche gezählt, alle mit der gleichen Tatwaffe. Die genaue Form des Gegenstandes konnte ich nicht mehr rekonstruieren, da alle Einstiche mehrmals wiederholt wurden.
Fest steht nur, dass es immer wieder derselbe war. Vermutlich hat der Täter zunächst die ersten beiden Hautschichten mit einem spitzen Werkzeug, vermutlich einem Messer, angeritzt und dann mit einem hölzernen Objekt, einer Art Holzpflock, die Wunde vergrößert.«
»Starb das Opfer gleich beim ersten Einstich oder erst später?« Giustian fühlte wieder, wie die Übelkeit in ihm hochkroch, versuchte sie aber unter Kontrolle zu bringen.
»Genau kann ich das nicht sagen. Ich habe zwar erhöhte Werte verschiedener Hormone festgestellt, die bei Angstzuständen ausgeschüttet werden, aber mit Bestimmtheit kann ich das nicht sagen, ich schätze, es war ein Todeskampf von mindestens zwanzig Minuten. Gestorben ist das Opfer auf jeden Fall durch die Verletzungen der Herzkammern.«
»Wann erhalte ich den vollständigen Bericht?«
»Ich denke, das dauert noch eine Weile, ich habe noch einiges zu tun. Sagen wir übermorgen?«
Giustian notierte sich einige Details, unter anderem auch den Namen des Opfers, über den er im Computer die Adresse und den Familienstand herauszubekommen hoffte. Die Behörden brauchten für derartige Informationen einfach zu lange und der Aufwand war unverhältnismäßig.
Als er in das Großraumbüro zurückkehrte, war bereits für die meisten Mitarbeiter der Stazione Feierabend, sodass eine angenehme Ruhe herrschte, die Mario Giustian genoss.
In seiner Abwesenheit hatte man ihm die angeforderten Akten über die bisherigen Fälle, die La Maschera zugeschrieben wurden, an seinen Arbeitsplatz gebracht.
Er sortierte sie zunächst nach Jahren, dann nach Datum, sodass die oberste Akte zugleich der jüngste Fall war.
Er studierte jede einzelne Akte, machte sich Notizen zu den Opfern, dem rekonstruierten Tathergang und zu den gefundenen Beweisstücken.
Der Müdigkeit trat er mit etlichen Tassen Ristretto entgegen, die ihn vor dem Einschlafen bewahrten.
Endlich, weit nach Mitternacht, hatte er ein ungefähres Bild von La Maschera, wie die Venezianer den Maskenmörder nannten, zusammengetragen.
Der andere Morgen war, wie jeder seit einigen Wochen, ein schwieriger, denn er schlief vor allem in den Morgenstunden besonders gut.
Nachdem er sich einen Slip und eine frisch gereinigte Uniform aus dem Kleiderschrank geholt hatte, in dem penible Ordnung herrschte, zog er sich an. Ihm war ausnahmsweise einmal nicht übel, weshalb er sich gleich ein Frühstück gönnte, das er in der kleinen Küche einnahm.
Sein Schreibtisch war glücklicherweise unverändert geblieben, es waren keine weiteren Akten mehr hinzugelegt worden.
Der Maresciallo nahm sich die Liste mit den bisherigen Opfern vor, neben deren Namen er die wichtigsten Daten notiert hatte.
Begonnen hatten die Morde bereits 1979, wie er jetzt erstaunt feststellte.
Auf den ersten Blick gab es keine der für Serientäter üblichen Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern. Das Alter, die Größe und das Aussehen waren ebenso unterschiedlich wie der Familienstand, die Augen- und Haarfarbe, das Geschlecht, die Figur und sogar die Religionen der einzelnen Opfer unterschieden sich voneinander.
Immer wieder wurden in einer gleichbleibenden Periode von zwei Jahren drei Menschen ermordet. Die Opfer wurden immer auf brutalste Weise getötet oder sogar hingerichtet.
Bei der Durchsicht der Akten hatte er bemerkt, dass sich in den Jahren mehr als hundert Personen mit den Fällen beschäftigt hatten. Die Aktenführung war zum Teil so unterschiedlich, dass es dem Maresciallo schwerfiel, sich ein umfassendes Bild von den einzelnen Fällen zu machen.
Als er sich seine Notizen zu den Fundorten der Opfer vornahm, fiel ihm sofort auf, dass eine Gemeinsamkeit von Anfang an vorhanden war: die Masken.
Sie waren zwar unterschiedlich von der Beschaffenheit und der Gestaltung, aber es wurde immer mindestens eine Maske am Fundort, der manchmal auch mit dem Tatort übereinstimmte, gefunden und das von Anfang an – seit 1979.
Als er dann das soziale Umfeld der Opfer einer näheren Betrachtung unterzog, wurde eine Gemeinsamkeit, die sich wie ein roter Faden durch die Morde zog, immer offensichtlicher. Immer war eines der Opfer aus einer niedrigen sozialen Schicht: Rentner, Arbeitslose oder sogar Landstreicher, Menschen, die nicht viel Geld zur Verfügung hatten. Ein weiteres Opfer kam immer aus dem Mittelstand: Angestellte, Beamte, Kleinunternehmer, Menschen, die ein passables, aber nicht verschwenderisches Leben führen konnten. Wohlhabende, reiche Personen aus der Schicht der Besserverdienenden, Bürgermeister, Stadträte, Kirchenvorstände und sogar ein Regierungsmitglied zählten zu der gesellschaftlichen Ebene, aus der sich La Maschera sein jeweils letztes Opfer wählte.
Erst ab dem Jahr 1985 kam ein weiteres Opfer hinzu, das den unterschiedlichsten sozialen Schichten entstammte, und doch waren sich alle Vorgänger darin einig, dass es sich jeweils um Opfer von La Maschera handelte. Die Brutalität und die Masken, die anderen Markenzeichen von La Maschera also, stimmten nämlich auch bei dem jeweils vierten Opfer überein.
Im Laufe der Jahre gab es natürlich auch Versuche, die Morde von La Maschera zu imitieren, sich hinter der Maske des Mörders zu verstecken. Doch die Imitationen wurden größtenteils deshalb aufgedeckt, weil sie nicht von der einzigartigen Präzision, die La Maschera auszeichnete, zeugten. Es waren eher plumpe Versuche, La Maschera zu kopieren.
Selbst nach der zunächst vielversprechenden Auswertung der Akten ergab sich für Mario Giustian kein klares Bild vom Täter, das er sonst normalerweise zu diesem Zeitpunkt bereits vor Augen hatte. Bisher war das Bild zwar am Anfang ohne Gesicht, aber der Charakter und manchmal auch das Motiv waren für ihn sichtbar gewesen, ohne den eigentlichen Täter zu kennen. Die Auswertung dieses Falls jedoch warf nur noch mehr Fragen auf. Vor allem eine ließ ihn nicht mehr los: Wie konnte La Maschera fast ein Vierteljahrhundert sein grausames Spiel treiben, ohne dabei entdeckt zu werden?
Ihm lagen in der Zwischenzeit auch die vollständigen Berichte der Pathologie und der Spurensicherung vor. Einer der beiden anderen Maresciallos, mit denen er sich die Zuständigkeit innerhalb des Stadtkerns von Venedig teilte, hatte sie ihm mitgebracht, als er von der Gerichtsmedizin kam.
Giustian blätterte die Berichte durch, sah, dass die ihm bereits bekannten Tatsachen bestätigt worden waren, die eine oder andere Feinheit ergänzt wurde, aber im Großen und Ganzen keine Neuigkeit in den Berichten zu lesen war.
Die RaCIS hatte keine Spuren finden können, nicht einmal, nachdem der Schnee künstlich geschmolzen und der Untergrund nach weiteren bisher verborgenen Spuren untersucht worden war.
La Maschera hatte es geschafft aus dem Nichts aufzutauchen und auch wieder dorthin zu verschwinden, ohne einen einzigen Beweis für seine Existenz zu hinterlassen, wäre da nicht dieser grausame Mord gewesen.
Die Zeitungen berichteten nur sehr kurz von dem Mord, nicht einmal auf die Titelseite hatte es La Maschera mehr gebracht. Die Leute waren es satt, die immer gleiche Story zu lesen, die scheinbar schon zu Carnevale a Venezia gehörte wie Sahne zu einem anständigen Eis.
Giustian war natürlich nicht gerade begeistert über diese Gleichgültigkeit, die sich in Venedig breitgemacht hatte, eine Art Salonfähigkeit von La Maschera, aber es hatte ohne Zweifel auch sein Gutes, denn er musste nicht unnötig Zeit auf Pressekonferenzen verbringen und auch der Druck der Öffentlichkeit würde wohl nicht zu groß werden.
Frank Unger war bereits seit mehreren Jahren kinderlos verwitwet, wodurch Giustian wenigstens erspart blieb, irgendjemandem die Nachricht über seinen Tod überbringen zu müssen. Diesen Teil seines Jobs hasste er nämlich mehr als alles andere.
Die Wohnung des Opfers hatte bei der Spurensicherung nichts Besonderes ergeben. Man fand keine Spuren einer weiteren Person, die in den letzten Wochen bei dem Opfer gewesen war. Allem Anschein nach war das Leben von Frank Unger ein langweiliges und einsames gewesen; ein bedauernswerter, armer Mann, dem der Tod allerdings auf sehr unwürdige Weise, unter Umständen sogar zu Hilfe gekommen war, dem traurigen Leben endlich ein Ende zu bereiten.
Die Nachbarn beschrieben Frank Unger als unauffälligen, freundlichen Mann, der ziemlich zurückgezogen gelebt hatte. Alles in allem passte das Bild zusammen. Giustian veranlasste, dass der Hausrat einem Altersheim zur Verfügung gestellt wurde.
»Eine Sache beschäftigt mich bei diesem Fall ganz besonders«, fasste der Maresciallo vor seinen Mitarbeitern, die er kurz nach der Mittagspause zusammengerufen hatte und die jetzt im Halbkreis um ihn herum in einem winzigen Besprechungsraum saßen, zusammen.
»La Maschera wusste anscheinend genau über sein Opfer Bescheid. Er wusste von den Verhältnissen, in denen Frank Unger lebte, er wusste, dass Frank Unger zur ersten sozialen Schicht gehörte, aus der La Maschera sich sein Opfer suchte, und doch fand die Spurensicherung keinen Hinweis darauf, dass Frank Unger in den letzten Wochen von irgendjemandem Besuch bekommen hatte. Die Nachbarn beschrieben ihn als unauffällig. Er führte nicht gerade ein Leben, das er hauptsächlich damit verbrachte, in irgendwelchen Bars herumzuhängen, und doch muss es La Maschera gelungen sein, einen sozialen Kontakt zu seinem Opfer aufzubauen, um ihn in sein System einordnen zu können. Ich will wissen wie.« Giustian nippte an seiner Tasse Caffè, die er sich in den Besprechungsraum mitgebracht hatte.
»Vielleicht liegt darin der Schlüssel, um La Maschera zu enttarnen. Vielleicht hatte er einen Hausarzt, aus dessen Kartei sich jemand Informationen besorgen konnte, oder er hatte jemanden, mit dem er sich regelmäßig traf, einen flüchtigen Bekannten oder einen Freund. Was ist mit der Frau, die ihn gefunden hat? Sie hat gesagt, dass sie ihn manchmal im Parco delle Rimembranze traf. Das ist die Arbeit der nächsten Wochen für uns, und ich möchte, dass Sie jede freie Minute damit verbringen, das Privatleben von Frank Unger auseinanderzunehmen.«
Der Maresciallo sah in die Runde und erkannte, dass seine Mitarbeiter seinen Eifer nicht unbedingt teilten.
»Ich kenne mich hier nicht so aus wie Sie. Ich kenne die Mentalität der Venezianer nicht, ich habe nicht Ihre Kontakte und ich weiß nichts über einschlägige Informationsquellen, also brauche ich Ihre Hilfe.«
Einer seiner Mitarbeiter, Brigadiere Capo Giorgio Foscardi, ein hochgewachsener südländischer Typ mit stechenden blauen Augen, meldete sich zu Wort:
»Maresciallo Capo, wir sind der Meinung, dass wir nach all den Jahren der erfolglosen Ermittlungen nicht die Möglichkeit und die Erfahrung haben, La Maschera zu stoppen, selbst wenn wir Tag und Nacht nichts anderes machen, als in diesem Fall zu ermitteln. Verstehen Sie uns nicht falsch, wir wollen natürlich auch La Maschera festnehmen, aber wir sehen einfach keine realistische Chance.«
»Selbst wenn wir keine realistische Chance haben, müssen wir doch unser Bestes geben. Wenn wir La Maschera enttarnen, gehen wir in die venezianische Kriminalgeschichte ein und bekommen wahrscheinlich sogar eine mehrseitige Lobeshymne im Il Carabiniere. Das ist doch auch etwas.«
Der Regen setzte wieder ein und als wären die Regenfälle nicht genug, ertönten noch die Warnsirenen, die das für diese Jahreszeit nahezu alltägliche Acqua alta ankündigten. Der Maresciallo konnte ein leises Fluchen nicht unterdrücken.
Das Hochwasser hatte ihn in den letzten Wochen schon so manches Mal an den Rand der Verzweiflung gebracht.
Er sehnte sich wieder zurück in seine Heimat, in die Berge, die frische Luft und vor allem nach der Ruhe, die er hier in Venedig verloren hatte.
An der nächsten ACTV-Station war glücklicherweise ein Plan angebracht, auf dem die Holzstege eingezeichnet waren, über die man selbst bei Hochwasser trockenen Fußes sein Ziel erreichen konnte, wenn auch nur sehr mühsam, da die Stege zur Karnevalszeit, und ganz besonders jetzt, vor dem Wochenende, mit Touristen überfüllt waren.
Der normalerweise ziemlich kurze Weg wurde fast zum Verzweiflungsakt für Giustian. Immer wieder musste er Umwege in Kauf nehmen, um dann endlich ans Ziel zu gelangen.
Der Platz vor der schlichten, fast schon hässlich wirkenden Kirche war auf zwei Ebenen aufgeteilt. Die untere Ebene bildete die Anlegeplätze für die Linienschiffe der ACTV und der Gondeln, die obere Ebene war ein fast schon viereckiger Platz, der meistens von Touristen zum Ausruhen nach einem langen Fußmarsch durch die engen Einkaufsgassen genutzt wurde. Auf den elegant geschwungenen Holzbänken, von denen man sonst einen schönen Blick auf den Canal Grande und die gegenüberliegenden Häuser hatte, lauerten jetzt neugierige Touristen, um einen besonderen Blick auf den Fundort des Opfers zu erhaschen.
Es musste sich in Sekundenschnelle in ganz Venedig herumgesprochen haben, dass es wieder etwas zu sehen gab.
Die Mehrheit der Schaulustigen waren Ausländer, die vermutlich extra wegen des Karnevals angereist waren.
Die Carabinieri hatten alle Mühe, ein kleines Rechteck um eine gut gekleidete Frau, die jetzt auf den von Regenwasser überfluteten Betonplatten lag, frei zu halten.
Die Frau war von ihrer Figur keine herausragende Schönheit, obgleich sie etwas Anmutiges an sich hatte. Vielleicht, weil sie dieses elegante lindgrüne Kostüm unter ihrem dicken Pelzmantel trug. An den grazilen Finger steckten mehrere Ringe mit Steinen, die, wie Giustian vermutete, ebenso echt und wertvoll waren wie der Pelz. Ihr Gesicht war mit einer ovalen schwarzen Maske verdeckt.
»Hat irgendjemand etwas verändert?«, fragte der Maresciallo etwas zu hektisch in die Runde.
»Nein, soweit wir wissen, ist nichts verändert worden. Ich war einer der Ersten, die hier waren, Maresciallo Capo«, antwortete ein junger Carabiniere im Rang eines Vice Brigadiere.
Der warme Atem der Männer formte sich in der Kälte zu einer kleinen Wolke, als sie die Schaulustigen, die inzwischen wieder ein gutes Stück näher gekommen waren, weiter nach hinten drängten.
Giustian zweifelte für einige Sekunden daran, dass es sich bei diesem Opfer um ein Opfer von La Maschera handelte. Die Szene erschien auf den ersten Blick nicht brutal genug und zu unauffällig für La Maschera.
Der Maresciallo kniete sich direkt vor die Frau, um sie sich aus der Nähe zu betrachten.
Seine Uniform hatte sich mittlerweile mit den feinen Regentropfen vollgesogen und war jetzt viel schwerer als sonst, und außerdem klebte sie jetzt kalt an seinem ganzen Körper.
Plötzlich bemerkte Giustian, dass die Maske des Opfers, im Gegensatz zu der übrigen Kleidung, völlig trocken zu sein schien. Vom Hals der Frau perlten die Regentropfen ab und liefen über die freiliegende Schulter zu Boden.
Erst jetzt bemerkte Giustian, dass die Regentropfen, die auf die Maske trafen, mit einem kaum hörbaren Zischen verpufften.
Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis er die ganze Grausamkeit erfasst hatte und sich sicher war, dass es sich bei diesem Opfer eindeutig um eines von La Maschera handelte.
Er schnellte für die übrigen Kollegen völlig überraschend nach oben und trat mit einem großen Schritt auf den jungen Vice Brigadiere zu.
»Lassen Sie sofort den ganzen Platz räumen. Sperren Sie die ACTV-Station und die Anlegestelle für die Gondeln und holen Sie die Feuerwehr. Wir brauchen unbedingt noch Verstärkung. Sind die Spurensicherung und der Arzt schon auf dem Weg hierher?«
»Ich habe sie rufen lassen. Ein Kollege hat das für mich erledigt. Ich war damit beschäftigt, den Platz zu sperren. Ich werde alles Weitere veranlassen«, meinte er etwas verdutzt über die plötzlichen Befehle seines Vorgesetzten.
Foscardi traf fast zeitgleich mit den Männern von der Spurensicherung ein. Der Arzt folgte wenige Minuten später.
Die Carabinieri waren immer noch damit beschäftigt, verärgerte Touristen von dem Platz fernzuhalten. Die Gondolieri fuhren nur widerwillig an eine der anderen Anlegestellen, die sie normalerweise nicht anfahren durften.
Giustian hatte mittlerweile Foscardi über seine Vermutung informiert, der jetzt sichtlich betroffen auf das Opfer starrte, das immer noch unangetastet in der Mitte des Platzes lag.
»Was ist das für eine Maske?«, fragte Giustian in der Hoffnung, durch sie etwas über das Opfer zu erfahren.
»Das ist, soweit ich weiß, eine Frauenmaske mit dem Namen ›moretta‹. Sie ist klein, oval und schwarz.« Foscardi bestätigte seine eigene Aussage mit einem leichten Kopfnicken, ohne seinen Blick von dem Opfer abzuwenden.
»Gibt es denn irgendwelche Zeugen, die gesehen haben, wie das Opfer hierhergekommen ist?«, fragte Giustian den inzwischen neben ihm stehenden jungen Carabiniere, der jedoch nur mit dem Kopf schüttelte.
»Scheiße. Wieder keine Zeugen. Irgendwie muss sie doch hierhergekommen sein. Hier sind so viele Tausend gottverdammte Touristen und keiner von denen will was gesehen haben? Wo bleibt die Feuerwehr? Heute ist ein verdammter Scheißtag«, fluchte Giustian und noch bevor er eine Antwort von einem seiner Mitarbeiter bekam, sah er die schwarz-gelb gekleideten Männer, die aus dem feuerroten Motorboot mit der Aufschrift ›Vigili Fuoco‹ stiegen und auf sie zukamen.
»Wer ist hier unser Ansprechpartner?«, fragte der gut fünfzigjährige Feuerwehrhauptmann, der mindestens einen Kopf kleiner war als Giustian.
»Maresciallo Capo Giustian. Nehmen Sie der Frau die Maske mit feuerbeständigen Handschuhen ab. Sie ist wahrscheinlich noch mehrere Hundert Grad heiß«, befahl Giustian barsch.
Der Anblick, der sich den umherstehenden Carabinieri bot, als einer der Feuerwehrleute die Maske vorsichtig ein kleines Stück vom Gesicht des Opfers löste, war ekelerregend. Das Gesicht der Frau war unter der Maske nicht mehr zu erkennen, es war völlig verbrannt und die Haut hatte sich zu einer schwarzen, undefinierbaren Masse verkrustet. Die Augen und die Schleimhäute des Opfers waren hervorgequollen. Hautfetzen klebten noch an der mit Blut verschmierten Maske, die der fassungslose Feuerwehrmann in den Händen hielt. Die Luft war plötzlich mit dem abstoßenden Geruch von verbranntem Fleisch erfüllt.
Die Männer starrten erschrocken auf den Leichnam.
Manche wandten sich sofort ab und übergaben sich in den Canal Grande. Giustian, der mit einem derartigen Anblick gerechnet hatte, gab den Männern der Spurensicherung und dem Arzt den Befehl, mit ihrer Arbeit zu beginnen.
»Informieren Sie die RaCIS. Ich möchte jeden Millimeter auf der Maske nach Fingerabdrücken und sonstigen Spuren von denen untersuchen lassen«, befahl er einem der Männer in den weißen Spezialanzügen, die für die Spurensicherung arbeiteten, und zu Foscardi gewandt meinte er: »Ich möchte alles über diese Maske wissen. Finden Sie heraus, wer sie hergestellt hat und an wen sie verkauft worden ist. Irgendwie muss es doch eine Spur zu diesem Bastard geben. Weiß denn schon jemand, wer das Opfer überhaupt ist?«
»Wir haben einen Ausweis bei ihr in der Handtasche gefunden. Man kann ja leider das Gesicht nicht mehr identifizieren, aber laut Ausweis heißt sie Maria Caravella«, antwortete einer der Männer von der Spurensicherung, der das Gespräch zwischen Giustian und Foscardi mitverfolgt hatte.
»Oh mein Gott«, entfuhr es Foscardi, »das ist auf jeden Fall das wohlhabende Opfer. Die Familie Caravella ist eine ziemlich bedeutende Familie in Venedig. Ihr Mann war in den 1990ern Bürgermeister von Venedig. Er ist vor etwas mehr als einem Jahr gestorben und ging als Philosophieprofessor, erfolgreicher Buchautor und als prominentester Vertreter des bürgerlichen Aufstands der Städte beim Zusammenbruch des Parteiensystems in die Geschichte Italiens ein. Signora Caravella stammt von den Dogen ab, die hier in früheren Jahrhunderten regiert haben. Soweit ich weiß, hat, äh, ich meine natürlich hatte sie noch einen Sohn, der in der nächsten Wahlperiode für die kommunistische Partei als Bürgermeister kandidieren wird. Ich glaube, man hat die Familie Caravella auch mit der Mafia in Verbindung gebracht, aber die Ermittlungen liefen alle ins Leere.«
Giustian beobachtete, wie Maria Caravella in einem schwarzen Leichensack abtransportiert wurde. Einer der Männer von der Spurensicherung und der Arzt hatten ihm bestätigt, dass sie ihre Arbeit getan hätten und jetzt gerne nach Hause gehen würden.
»Ich wollte morgen nach Hause zu meinen Eltern fahren. Scheiße. Foscardi, wir müssen das ganze Wochenende durcharbeiten. Sorgen Sie dafür, dass wir den Bericht der Spurensicherung und den der Gerichtsmedizin spätestens morgen früh auf dem Schreibtisch liegen haben. Ich werde jetzt meine wunderbare Aufgabe wahrnehmen, den Sohn vom Ableben seiner Mutter zu benachrichtigen.«
In Giustians Stimme schwang purer Sarkasmus mit, als er dem schwarzen Leichensack nachsah, der in einem Motoscafo in die Gerichtsmedizin weggefahren wurde.
Der Platz hatte sich, nachdem die Carabinieri ihre Absperrung aufgehoben hatten, wieder zu füllen begonnen. Die ersten Maskenträger posierten bereits vor dem Canal Grande, als ob nie etwas gewesen wäre.
Der Regen verstärkte sich und die Wetteraussichten versprachen, soweit man den Zeitungen glauben konnte, auch keine Veränderung in den nächsten Tagen. Es gab also wenig Hoffnung, dass das Hochwasser in den nächsten Stunden zurückgehen würde, auch wenn es nur indirekt mit dem Regen zusammenhing.
Der Maresciallo hatte schwitzige Hände, als er in der riesigen, von einem majestätischen Kronleuchter erhellten Empfangshalle, die nach frischem Bohnerwachs duftete, auf den Sohn des zweiten Opfers von La Maschera wartete.
Eine kleine grauhaarige Dame, die Giustian auf höchstens fünfzig schätzte, hatte ihn in das von außen eher unscheinbare Haus gelassen.
Giustian ging noch einmal im Kopf durch, was er Caravella sagen würde, bevor dieser die breite, ausladende Marmortreppe herunterkam, die größtenteils von einem dicht geknüpften, roten Teppich verdeckt war, der jeden seiner Schritte schluckte.
Ein großer, hagerer Mittdreißiger stand nun vor Giustian, musterte ihn abschätzend von oben bis unten durch kleine, ausdruckslose Augen. Die schwarzen Haare trug er sorgfältig geordnet und der Armanianzug schien ihm auf den Leib geschneidert zu sein, so gut saß er.
»Maresciallo Capo …?«, fragte er mit sonorer Stimme.
»Giustian. Maresciallo Capo Giustian. Ich möchte Sie gerne unter vier Augen sprechen, wenn das möglich ist.« In Giustians Stimme schwang leichte Aufregung mit.
»Wenn es unbedingt sein muss. Ich habe nämlich nicht viel Zeit. Ich bereite mich gerade auf meinen Wahlkampf vor. Folgen Sie mir in das Wohnzimmer.«
Sie gingen durch einen breiten Gang an der Treppe vorbei in den hinteren Teil des Hauses. Die Wände des Wohnzimmers waren feinkörnig verputzt und in einer eigenartigen Mischung aus altrosa und rostfarben gestrichen. Die gedimmten Halogenstrahler, die parallel zu den Wänden in die Decke eingelassen waren, hüllten den großzügigen Raum in ein geheimnisvolles Licht. Vor dem wuchtigen offenen Kamin aus weißem Marmor standen zwei elegante Sessel aus schwarzem Leder. Das knisternde Feuer verströmte einen angenehmen, aber nicht aufdringlichen Duft von brennendem Nadelholz, das sich mit dem Wachs, mit dem der dunkle Parkettboden behandelt war, verbunden hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte neben mehreren Bücherregalen ein Steinwaykonzertflügel seinen Platz gefunden. Giustian blieb vor einem eleganten Humidor aus Mahagoniholz stehen, in dem erlesene Zigarren aus Cuba, der Dominikanischen Republik und Brasilien lagerten.
»Was ist jetzt mit der Befragung?« Caravella wurde ungeduldig, als Giustian sich kurz in dem Raum umsah.
»Es ist keine Befragung, Signor Caravella. Bitte könnten wir uns für einen Augenblick setzen?«, fragte Giustian höflich, da ihm Caravella keinen Platz angeboten hatte. Caravella gehorchte und auch Giustian setzte sich auf den noch freien Sessel vor dem offenen Kamin. Caravella schlug die Beine übereinander und musterte erneut den Maresciallo im flackernden Licht des Feuers.
»Es geht um Ihre Mutter. Sie ist vor ein paar Stunden Opfer eines Gewaltverbrechers geworden. Es tut mir schrecklich leid, ihnen diese traurige Nachricht überbringen zu müssen.«
Caravella zeigte keinerlei Reaktion.
Die ausdruckslosen Augen taxierten Giustian mit kalten Blicken. Die schmalen Lippen bewegten sich nicht, die Haltung veränderte sich nicht, er saß einfach nur da, wie eine gegossene Statue.
Schließlich brach er das Schweigen, das sich unheimlich über den Raum gelegt hatte, denn auch Giustian wusste nicht, wie er in einer solchen Situation reagieren sollte. Es war einfach nicht vorgesehen in seinem Plan. Er hatte einen Schock erwartet, vielleicht sogar einen Zusammenbruch, aber mit einer derartigen Kaltblütigkeit hatte er nicht rechnen können.
»Möchten Sie etwas trinken, Maresciallo Capo? Einen Whisky oder einen Champagner vielleicht?«
»Champagner …?«, fragte Giustian, dessen Aufregung sich blitzartig gelegt hatte, etwas verblüfft.
»Sie wundern sich vielleicht, warum ich jetzt nicht zusammenbreche oder in Tränen ausbreche? Ich will es Ihnen erklären. Sagen Sie mir, was sie trinken wollen, und ich erzähle es Ihnen.«
»Einen Whisky bitte.«
Caravella ging zu einem aufwendig gearbeiteten Barschrank aus Mahagoniholz auf der anderen Seite des Wohnzimmers, holte zwei Gläser hervor, öffnete eine unangebrochene Flasche irischen Whisky, die Marke blieb Giustian verborgen, aber er war sich sicher, dass es ein sehr teurer Whisky sein musste, und goss ein. Er stellte ein Glas auf den kleinen Beistelltisch direkt neben Giustian, das andere behielt er in der Hand und schwenkte es sanft im Licht des Feuers, sodass der Whisky wie flüssiges Gold wirkte.
»Meine Mutter und ich, wir hassten uns. Zunächst war es nur mangelnde Liebe, wenn Sie so wollen. Sie wollte mich nicht. Ich war ein bedauerlicher Unfall bei ihren vielen kleinen Abenteuern. Meinen Vater störte das nicht. Er hatte auch seine kleinen Gören, die seine Triebe befriedigten. Er zahlte ihnen gut für ihre Dienste. Mein Vater hasste meine Mutter genau wie ich, und das machte uns zu Verbündeten. Meine Eltern haben sich aber trotzdem aus den unterschiedlichsten Motiven nicht voneinander scheiden lassen. Nach außen waren wir die perfekte Familie eines langjährigen, berühmten und sehr beliebten Bürgermeisters Venedigs, der seine schützende Hand vor allem über Minderheiten wie die schwarzafrikanischen Handtaschenverkäufer, Prostituierte oder die Anarchisten, die im Hafengebiet ihr Centro Sociale aufgebaut hatten, hielt. Aber warum erzähle ich Ihnen etwas über meinen Vater? Sie sind nicht von hier und kennen ihn vermutlich nicht einmal von Erzählungen.«
»Ich kenne Ihren Vater zwar wirklich nicht persönlich, aber ich weiß, dass er sich als Philosophieprofessor, als Buchautor und vor allem als einer der bekanntesten Vertreter des bürgerlichen Aufstands der Städte ausgezeichnet hat«, warf Giustian ein, der bei dem anerkennenden Nicken Caravellas in sich hineingrinsen musste, weil er die Informationen gerade erst durch Foscardi bekommen hatte.
»Wie dem auch sei, das nach außen hin gute Verhältnis meiner Eltern änderte sich erst mit dem Tod meines Vaters. Er vererbte mir sein Vermögen und ließ sie leer ausgehen. Sie hat es ihm nie verziehen, nannte ihn einen Hurensohn und einen Versager, und mich demütigte sie in der Öffentlichkeit, wann immer sie konnte.« Er holte eine Havanna aus einem der Schubfächer des Humidors, schnitt das eine Ende an, zündete sie schließlich an und paffte genüsslich daran, bis sich der Duft der Zigarre im ganzen Raum verteilt hatte.
Er fixierte Giustian aus seinen zu Schlitzen verengten Augen.
»Ich habe sie dafür zwar gehasst, aber den Tod habe ich ihr trotzdem nicht gewünscht.« Er machte eine kurze Pause, spielte mit der Zigarre, die er durch seine Hand wandern ließ, bis er schließlich wie beiläufig fragte: »Wie ist sie eigentlich gestorben?«
»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Wir müssen erst die Berichte der Gerichtsmedizin abwarten. Ich denke, sie werden morgen vorliegen. Hatte Ihre Mutter Feinde? Fiel Ihnen an ihr etwas Besonderes auf in letzter Zeit? Hatte sie einen neuen Freund, der sie in letzter Zeit öfter besuchte?«
Caravella ließ sich Zeit mit seiner Antwort.
»Feinde? Sie war nirgends sonderlich beliebt. Am wenigsten in der High Society. Wir haben uns nicht oft gesehen, deshalb kann ich über einen neuen Freund nichts sagen. Bestimmt hatte sie einen, aber ob er neu war? Keine Ahnung.«
»Auf jeden Fall gehört Ihnen das Vermögen jetzt unangefochten«, ließ Giustian eher beiläufig in das Gespräch einfließen, aber es zeigte seine Wirkung.
»Haben Sie etwa den Verdacht gehegt, ich sei der Mörder meiner Mutter?«
Caravella lachte mit kehliger Stimme laut auf, doch plötzlich waren seine Gesichtszüge ganz ernst.
»Das ist ja lächerlich. Glauben Sie, ich bringe meine eigene Mutter wegen ein paar Familienstreitigkeiten um? Das ist wirklich lächerlich. Sie war schließlich meine Mutter.«
»Die Sie hassten. Ich glaube überhaupt nichts, aber Morde werden manchmal aus den unglaublichsten Motiven begangen und meistens ist entweder Geld oder Macht eines davon. Gestatten Sie mir noch eine Frage: Hatte Ihre Mutter Kontakt zu kriminellen Vereinigungen?«
»Ich bitte Sie, was für eine Frage! Glauben Sie etwa, sie war Teil der Familie? Natürlich nicht und selbst wenn, sie hätte es mir bestimmt nicht gesagt. Wir hatten uns geschäftlich seit dem Tod meines Vaters nichts mehr zu sagen. Wenn sie der Mafia oder sonst einer kriminellen Organisation angehört hätte, hätte ich es wahrscheinlich nicht bemerkt. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss weiter an meinem Wahlkampf arbeiten und außerdem ist es schon spät.«
Caravella leerte das Glas mit dem Whisky in einem Zug, bevor er sich von dem Ledersessel löste und Giustian in die Empfangshalle begleitete.
»Schadet Ihnen der Tod Ihrer Mutter nicht bei dem bevorstehenden Wahlkampf?« Giustian war in der Eingangshalle abrupt stehen geblieben und hatte sich zu Caravella umgedreht.
»Das ist alles eine Frage der Präsentation. Ich habe ja offiziell ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter gehabt. Die Paparazzi werden sich auf ihren Tod stürzen und ich werde in der Beliebtheit steigen, weil die Menschen mit mir leiden. So läuft das Geschäft in der Politik. Gefühle spielen dabei eine große Rolle.«
Giustian widerte die Gefühllosigkeit Caravellas an und er fragte sich, ob La Maschera wirklich hinter dem grausamen Mord steckte, aber er ließ sich gegenüber Caravella nichts anmerken.
»Ich würde mir noch gerne die Räume Ihrer Mutter ansehen, bevor ich gehe.«
»Ich werde Sie ja wohl kaum davon abhalten können. Die Hausdame wird Ihnen alles zeigen. Auf Wiedersehen, Maresciallo Capo Giustian.«
Die Hausdame führte Giustian über die breite Marmortreppe in den ersten Stock. Sie schritten über den mit Mahagoniholz vertäfelten Flur zu einer offen stehenden Tür.
»Bitte«, sagte die Hausdame und ließ Giustian an sich vorbei in das wie aus einem Märchen wirkende Schlafzimmer der Signora gleiten. Die Wände waren mit hellblauer, seidig glänzender Tapete verkleidet. Das Doppelbett war so sorgfältig gemacht, wie es Giustian nur aus Hotels der gehobenen Klasse kannte. Auf der zu der Tapete passenden Tagesdecke lag eine rote Rose. Das Interieur musste schon über hundert Jahre alt sein.
Als die Hausdame die Bewunderung in Giustians Augen bemerkte, meinte sie nicht ohne Stolz: »Achtzehntes Jahrhundert. Die Signora stammt aus einer Dogenfamilie. Die Räume im ersten Stock, in denen die Signora wohnt, sind noch im Originalzustand und vor einigen Jahren aufwendig restauriert worden. Die anderen Räumlichkeiten sind ähnlich gestaltet.«
»Alles sehr aufgeräumt«, entfuhr es dem Maresciallo Capo. »Hat die Signora hier wirklich gelebt? Es sieht mehr wie ein Museum als wie eine Wohnung aus.«
Die Hausdame nickte verlegen und Giustian entschloss sich, in diesem Haus nicht weiter nach Spuren zu suchen.
Der Wecker klingelte um acht Uhr. Giustian war erst um drei ins Bett gegangen, nachdem er fast zwei Stunden mit einer netten Frau in einem privaten Chatroom geflirtet hatte.
Er wusste nicht viel über sie, nur dass er sich mit ihr gut unterhalten konnte und sie ihn zu verstehen schien. Das reichte ihm. Giustian blieb noch eine Viertelstunde in seinem warmen Bett liegen. Schließlich ging er ins Bad, duschte ausgiebig und zog eine seiner Uniformen an, die er sich aus der Reinigung mitgebracht hatte. Nach einem kurzen Telefonat mit seiner Mutter, der er mitteilte, dass er es auch an diesem Wochenende wieder nicht schaffen würde, nach Hause zu fahren, um sie und seinen Vater zu besuchen, verließ er kurz vor neun Uhr das Haus.
Giustian fuhr mit dem fast leeren Vaporetto der ACTV bis ›Arsenale‹, um dann über die Riva degli Schiavoni in Richtung San Marco zu gehen, auf der jetzt nur wenige Touristen den Blick auf das offene Meer und den leichten Windhauch, der sie umfächelte, genossen.
Die meisten Touristen saßen jetzt in ihren Hotels und frühstückten oder sie schliefen noch, weil sie die Nacht in einem Bacaro zum Tag gemacht hatten. Das Wetter war über Nacht besser geworden. Erste Sonnenstrahlen zeigten sich am immer noch wolkenbehangenen Himmel. Die ersten Gondoliere entfernten die blauen Kunststoffüberzüge von ihren kapitalträchtigen Gondeln, die im Wasser des Canale di San Marco unruhig hin und her schaukelten.
Für einen Moment kam es Giustian vor, als sei er im Urlaub – fernab von La Maschera und den Problemen, die sonst wie eine schwere Last auf seinen Schultern lagen. Als er den Ponte Selpolcro überquerte, leerten die rot-grün gekleideten Männer der städtischen Müllabfuhr gerade einen der Metallkörbe, in denen die Müllbeutel in den engen Calle gesammelt wurden, in das kleine Boot mit der Müllpresse. Der Maresciallo beobachtete sie kurz, bevor er in dem engen Durchgang mit dem weißen Schild, das auf die Stazione der Carabinieri hinwies, verschwand.
Giustian mochte das alte rot verputzte Gebäude mit den dunkelgrünen Klappläden und dem Metallzaun, den man in gebührendem Abstand um den Komplex aufgestellt hatte, damit nicht jeder Tourist einfach in die Fenster des Erdgeschosses starren konnte. Obwohl an manchen Stellen schon der Putz bröckelte und die darunterliegenden Backsteine sichtbar wurden, und obwohl der kleine Park neben dem hinteren Seitengebäude auch etwas trostlos wirkte, weil sich keiner für eine liebevolle Pflege bereit erklärte und kein Geld da war, um einen professionellen Gärtner zu beauftragen, war es doch ein schönes Anwesen.
Die Flagge schwebte, wie jeden Tag, in gut acht Meter Höhe majestätisch an dem mit einem goldenen Globus endenden Fahnenmast. Die Kameras, die man rings um den Gebäudekomplex der Carabinieri angebracht hatte, störten etwas an dem traditionsreichen Bau, aber die Sicherheit erforderte es nun einmal. Auf dem marmornen Schild rechts neben dem dunklen Portal, gleich neben der Gegensprechanlage, mit der man den wachhabenden Brigadiere auch nachts rufen konnte, stand mit großen, goldenen Lettern ›CARABINIERI – Comando – Provinciale Compagnia Stazione‹, der volle Name, des von den Carabinieri einfach nur liebevoll ›Stazione‹ genannten Kommandos über die gesamte Provinz Veneto.
Über dem aufwendig aus Naturstein gearbeiteten Eingang glänzte eine schon teilweise verblasste lateinische Inschrift und darüber das ovale Emblem mit dem italienischen fünfzackigen Stern und dem Lorbeerkranz.
Der wachhabende Brigadiere salutierte sofort, als er seinen Vorgesetzten sah.
Giustian ging in den ersten Stock im hinteren Teil des Gebäudes, wo er der Erste in dem Großraumbüro war. Die meisten Kollegen der anderen Abteilungen hatten am Wochenende frei. Es würde also ein ruhiger Tag werden, den er mit einigen Kollegen seiner Abteilung damit verbringen würde, eine Verbindung zwischen den Opfern von La Maschera herzustellen und aufgeschobene Arbeiten zu erledigen.