Mordlast - Alexander Guzewicz - E-Book

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Alexander Guzewicz

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Beschreibung

In einem beinahe vergessenen Betongebilde aus Deutschlands düsterster Zeit wird ein Mann im besten Alter ermordet. Ólafur Davídsson ahnt, dass die Geschichte des Tatorts mit dem Mord in einem Zusammenhang steht. Sein Verdacht wird bestätigt, als sich herausstellt, dass das Opfer ein beispielloses Doppelleben geführt hatte: Ein Leben in der Vergangenheit und das moderne Leben eines Künstlers. Ist das ein Mordmotiv? Der Fallanalytiker versucht diese Frage zu klären, indem er herauszufinden versucht, in welchem Leben das Opfer seinem Mörder begegnet ist. Als er zu verstehen beginnt, was es mit dem Doppelleben des Opfers auf sich hat, begeht die Hauptverdächtige Selbstmord in ihrer Zelle und die Suche nach der Wahrheit beginnt erneut im Sumpf der Vergangenheit.

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Alexander Guzewicz

Mordlast

eure-l.com

[email protected]

 

Vollständige eBook-Ausgabe der beim

eure-l verlag, Berlin

erschienen Taschenbuchausgabe

 

Copyright © 2023 by eure-l verlag Frankfurt, Berlin

 

Umschlaggestaltungeure-l software, Berlin

Umschlagfotokallejipp©photocase.com

DatenkonvertierungBook Designs, Potsdam

 

01 550-0222-23

ISBN978-3-939984-77-1

 

für

meine Schwester

 

Rache ist vielleicht süß, aber sie heilt nie die Wunden der Vergangenheit.

Inhalt

1

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1

 

Es war der Regen, über den sie sich unterhielten. Das Wetter war ein beliebtes Thema und konnte für alles herhalten – für Kopfschmerzen, für schlechte Laune und eine Depression, und natürlich war es schuld daran, dass die Pflanzen vertrockneten oder wenn sie im Wasser ersoffen.

Ólafur Davídsson hatte nur die Wortfetzen gehört, und es hatte ihm gereicht.

Er hasste diese banale Art der Kommunikation. Wenn die Menschen sich nichts anderes zu sagen hatten, und er fand es ermüdend, ihnen dabei zuzuhören. Dauerregen gab es schon, als es noch keine Menschen gab, und die Natur ist damit bisher immer bestens klargekommen, dachte er, als er sich von ihnen wegbewegte, um außer Hörweite zu sein.

Er aß die Currywurst in seinem Saab 9-3 Cabriolet und beobachtete dabei durch die Windschutzscheibe, wie sie sich weiter über das Wetter unterhielten.

Eigentlich hätte er gerne im Freien gegessen und er überlegte, ob er das Verdeck öffnen sollte, ließ es aber sein. Für einen Moment hatte es aufgehört zu regnen. Für eine Fahrt ohne Dach war es aber noch zu kalt und es nur für diesen kurzen Moment zu öffnen, war ihm zu umständlich. Davídsson schaltete das Gebläse ein und versorgte sich auf diese Weise mit der frischen Luft, die der Regen vom Staub gereinigt hatte.

Als er den letzten Bissen nahm, ging auch die Frau, die nur das Wetter als Gesprächsthema kannte, von seinem Lieblingsstand. Dort gab es die beste Currywurst in der ganzen Stadt. Mit viel Curry und scharf, wie er es mochte. Die Frau kam an seinem Wagen vorbei, beachtete ihn jedoch nicht.

Zu der Verkäuferin hinter der Theke hatte er eine Art Beziehung aufgebaut. Sie kannten sich ein paar Jahre, und lange Zeit waren es nur die üblichen Worte gewesen, die sie gewechselt hatten:

»Eine Currywurst mit Pommes, scharf und viel Curry bitte ... Nein, keine Mayo auf den Pommes.«

Aber mit der Zeit hatte sie sich die Wünsche ihres Kunden gemerkt und sie konnten, sich über andere Dinge unterhalten. Er wusste einiges über sie und sie über ihn.

Sie wusste, dass er Fallanalytiker war und er, dass sie den Stand seit mehr als dreißig Jahren hatte. Sie wusste, dass er Isländer war und er, dass sie und ihr Mann schon seit Generationen in Ost-Berlin gelebt hatten, bis die Mauer gefallen war.

Mittlerweile hatte er das besondere Privileg, bei ihr anrufen zu können, und sie bereitete dann alles vor, sodass er direkt essen konnte, wenn er ankam.

Sie hatten ein gutes Timing erreicht.

Die Currywurst war noch warm und die Pommes knackig frisch, wenn er an ihrem Stand ankam. In den Abendstunden stand daneben ein kühles Bier, auf das er sich den ganzen Tag freute. Heute war es dafür noch zu früh. Er stellte das weiße Plastikschälchen in den Fußraum des Beifahrersitzes und stellte den Motor an. Die Uhr im Display zeigte neun.

Er hatte noch den Weg durch die halbe Stadt vor sich, bis er in seinem Büro in Treptow sitzen würde, aber das war zurzeit kein Problem. Er hatte viele Überstunden angesammelt und momentan keinen Fall, den es zu lösen gab. Sein Chef erwartete ihn zu keiner Besprechung und seine Kollegen waren in ganz Deutschland unterwegs.

Ihm graute schon davor. Er hasste Tage, an denen er nichts zu tun hatte. Sie zogen sich in die Länge wie ein geschmacklos gewordenes Kaugummi, das man schon viel zu lange im Mund hatte.

Gerade, als er die Schranke zum BKA-Gelände passieren wollte, klingelte sein Handy. Er nahm das Gespräch über die Freisprecheinrichtung seines Saabs entgegen. Es war sein Vorgesetzter.

»Ich habe da etwas für Sie. Wo stecken Sie gerade?«

»An der Zufahrt.« Davídsson schaltete den Motor aus. Er beobachtete, wie der Pförtner ihn argwöhnisch durch das große Fenster musterte, bis er ihn erkannte. Er winkte Ólafur Davídsson ein paarmal zu, um dann wieder hinter seinem Computer zu verschwinden. Was für ein langweiliger Job, dachte Ólafur Davídsson.

»Wahrscheinlich handelt es sich um ein politisch motiviertes Verbrechen. Das LKA 1 hat uns deshalb eingeschaltet.«

»Wo und wann?«

»General-Pape-Straße Ecke Loewenhardtdamm in Tegel. Sie sollten sofort dorthin fahren.«

»Haben wir eine Hausnummer?« Davídsson sah im Rückspiegel, wie sich ein anderes Fahrzeug näherte.

»Nein. Es ist ein spezielles Bauwerk, kein Wohnhaus.«

Davídsson startete den Motor und machte dem anderen Wagen Platz.

»Sonst noch irgendwelche Infos?«

»Nein. Nichts.«

Er drehte seinen schwarzen Saab 9-3 und folgte der Straße ›Am Treptower Park‹ Richtung Tegel.

An der nächsten Ampel, an der er anhalten musste, sah er, was passiert war. Während des Wendemanövers war die Schale mit dem Ketchup umgekippt. Die rote klebrige Masse hatte sich während der Fahrt im ganzen Fußraum verteilt. Er fluchte laut, während er an der nächsten Tankstelle anhielt und die Flecken mit ein paar Papiertüchern beseitigte. Der Geruch nach Curry und Ketchup würde ihm allerdings noch einige Tage erhalten bleiben.

Ich muss den Wagen heute Abend unbedingt waschen, dachte er, als er sich wieder in den Stadtverkehr einfädelte.

Wenn er jetzt zu viel Zeit verstreichen ließ, konnte das erhebliche Folgen für seine Arbeit haben. Er hatte schon oft erlebt, dass ein übereifriger Kommissar bereits alle Spuren beseitigen ließ, bevor er am Tatort eintraf. Damit konnte er sich praktisch kein eigenes Bild machen, sondern musste sich auf ein paar Tatortfotos und den Bericht verlassen.

Meistens musste jedoch irgendein Anfänger diese Tatortberichte schreiben, die dann im Stakkatostil völlig unbrauchbare Beschreibungen lieferten.

Ólafur Davídsson beschleunigte seinen Saab. Er hatte schon genug Zeit verloren.

 

Der Fallanalytiker hielt endlich vor dem grauen Betonklotz. Er war mehrmals daran vorbeigefahren, ohne ihn zu sehen. Er war zweimal bis ans Ende der General-Pape-Straße gefahren, vorbei am S-Bahnhof ›Südkreuz‹, bis er auf einer Kreuzung stand und der Straßenname verschwunden war. Irgendwann hatte er bei einer Spedition in einem Hinterhof nach dem Schwerbelastungskörper gefragt. Der grauhaarige Mann mit dem Gesichtsausdruck eines Clowns hatte ihn nur fragend angesehen.

Er wusste selbst nichts über das Bauwerk, das er suchte, und hatte es daher nicht umschreiben können. Der Mann hatte ihm schließlich gesagt, dass es einen Betonklotz am Anfang der Straße gab.

Davídsson war noch einmal zurück an den Anfang der General-Pape-Straße gefahren und stand jetzt vor einem pilzförmigen Gebäude aus Beton.

Das muss es sein, dachte er, obwohl er nirgendwo ein anderes Auto entdecken konnte, das zum Ermittlungsteam gehören konnte. Er sah keine Polizeiwagen, keine stummen Blaulichter und keinen Lieferwagen der Spurensicherung. Aber er konnte unmöglich der Erste am Tatort sein.

Das Areal war weiträumig mit einem neuen Militärzaun abgeschirmt. Auf der anderen Seite des Metallzauns hinter einem Tor stand ein Schild: ›Zutritt für Unbefugte verboten‹. Er betätigte die Klinke und die Tür glitt nahezu geräuschlos zur Seite.

Erst als er sich dem Klotz näherte, der jetzt einen riesigen Schatten auf ihn warf, hörte er Stimmen. Er konnte nur einzelne Worte verstehen, aber nicht deren Sinn.

Der Boden war grau und matschig von den Regengüssen der letzten Tage. Er ärgerte sich, dass er seine teuren Schuhe anhatte, die er sich gerade erst vor einem Tag gekauft hatte. Schwarze Ledersneakers.

Er ging an einer Grube vorbei, in der drei Betonquader lagen. Es sah beinahe so aus, als seien sie einfach so vom Himmel heruntergefallen. Jedenfalls konnte sich Ólafur Davídsson den Sinn dieser Betonbrocken nicht erklären, genauso wenig wie den dieses Bauwerks.

Davídsson ging über einen schmalen befestigten Weg zu der einzigen Tür, die in das Innere des Pilzes führte. Jetzt hörte er die typischen Geräusche eines Tatortes. Er hörte das Piepen einer Digitalkamera, bevor sie auslöste, und die Schuhe der Spurensicherer, über die sie Plastiküberzieher gestülpt hatten, um keine eigenen Fußspuren zu hinterlassen. Es war ein ganz eigenes Geräusch, wenn man damit über den Boden lief. Ein leichtes Knistern oder Rascheln.

Die Metalltür gab nicht nach, als er sie öffnen wollte. Sie war großflächig mit Rost überzogen, wirkte aber trotzdem noch sehr stabil, und das Schloss war das einer modernen Schließanlage.

»Sie müssen durch das Fenster hereinklettern«, hörte er eine Stimme durch die Tür. Sie klang verzerrt, aber Davídsson konnte es trotzdem verstehen.

Er kletterte eine kleine matschige Anhöhe herauf und sah dann Löcher in einer gemauerten Wand. Hier waren einmal Fenster gewesen, jetzt gab es nur noch ausgerissene Reste davon, an denen man erkennen konnte, dass es auch einmal Gitterstäbe gegeben haben musste.

Ólafur Davídsson sah die Männer in ihren Schutzanzügen. Sie standen in einer Ecke des Raumes und schienen mit ihrer Arbeit fertig zu sein. Er duckte sich unter dem Mauerwerk hindurch auf einen Tisch, von dem er dann in den Raum sprang.

»Wer sind Sie?« Der Mann sah aus wie ein Mondmensch in dem weißen Schutzanzug.

»Ólafur Davídsson, Fallanalytiker vom BKA.« Er wollte seinen Ausweis aus der Manteltasche ziehen, aber sein Gegenüber winkte ab.

»Andreas Rach. Ich bin der Leitende Sachbearbeiter der Spurensicherung. Wie kommt es, dass sich das BKA für das hier interessiert?«

»Es könnte sich um eine politisch motivierte Straftat handeln«, wiederholte Davídsson die Worte seines Chefs. Er wusste nicht einmal, um was für eine Straftat es sich hier handelte. In den meisten Fällen waren es jedoch Morde, zu denen er hinzugezogen wurde.

Rach nickte. »Er liegt da hinten in der anderen Kammer. Wir sind gerade fertig geworden. Die Gerichtsmedizin ist noch an ihm dran.«

Davídsson überlegte, ob er sich erst in diesem Raum umsehen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Er ging ein paar Stufen nach oben und dann durch einen breiten Tunnel. Hier war es kühler und feuchter, aber die Luft roch nicht nach Schimmel. Er zog ganz automatisch den Mantel am Kragen zusammen.

Der zweite Raum war wesentlich kleiner als der andere. Es war eher eine Kammer mit verrosteten Halterungen an den nackten Betonwänden, deren Nutzen Davídsson nicht kannte.

In der Mitte lag das Opfer.

Der Pathologe beugte sich über den Mann. Zwei uniformierte Polizisten standen in einer Ecke vor einem offenen Sicherungskasten.

»Achtung! Die Stange!«, brüllte einer der beiden, aber es war zu spät.

Davídsson war bereits mit dem rechten Fuß hängen geblieben und konnte gerade noch das Gleichgewicht zurückgewinnen.

Der Uniformierte grinste. »Wir sind alle darüber gestolpert.« Er hatte einen breiten Stiernacken, der aus dem Hemdkragen quoll.

Er sieht aus wie ein Zuchtbulle oder ein Terrier, dachte Davídsson, während er ihm die Hand schüttelte. Seine Kollegin war das genaue Gegenteil: schmächtig, mit einem zierlichen Hals, um den sich eine enge Silberkette schmiegte. Sie gab ihm ebenfalls die Hand, ohne sich vorzustellen.

Der Gerichtsmediziner war wesentlich älter als der Zuchtbulle und seine Partnerin und älter als Davídsson. Er schätzte ihn auf Mitte sechzig. Er nickte nur, als sich Davídsson zu dem Opfer hinunterbeugte.

Der Tote war auch älter als Davídsson. Aber nicht viel. Vielleicht vierzig, eher ein paar wenige Jahre älter. Seine Augen waren aus den Höhlen hervorgequollen. Ein rosa Bademantelgürtel hing dem Opfer schlaff um den Hals. Die beiden Hände hatten offensichtlich die Enden festgehalten, lagen jetzt aber links und rechts von seinem Kopf.

»Er ist erstickt?« Davídsson war neben dem Pathologen in die Hocke gegangen.

»Wahrscheinlich Selbstmord.« Seine dunkle Stimme hallte von den kahlen Wänden.

Der Tote hatte einen dunkelgrünen Kutschermantel um, der jetzt halb offen einen Blick auf ein kariertes Hemd und eine Boss-Jeans freigab. In unmittelbarer Nähe seines Kopfes lag eine rot-braune Kunststoffbrille. Davídsson betrachtete die kreisrunden Gläser. Sei waren noch intakt. Er konnte nur die üblichen Gebrauchsspuren daran sehen. Leichte Kratzer auf der Oberfläche, die vom Putzen stammen konnten.

Davídssons Blick glitt zu den Schuhen des Opfers. Sie sahen gepflegt aus, aber ebenfalls nicht mehr neu. An der rechten Sohle sah er Abriebspuren, die von einem Gehfehler stammen konnten.

»Oder Mord«, sagte er schließlich, obwohl er noch keinen Anhaltspunkt dafür gefunden hatte.

»Sie kenne ich noch nicht. Sind Sie neu beim LKA 1?«

»Ich bin vom BKA. Fallanalytiker. Man sagte mir, es könnte sich um eine politische Straftat handeln?«

Der Gerichtsmediziner sah ihn überrascht an.

»Es sieht ganz nach einem Selbstmord aus. Wer hat Ihnen denn den Quatsch erzählt?«

Bevor Ólafur Davídsson antworten konnte, betrat ein weiterer Mann die Kammer. Er wirkte angespannt.

»Alle, die nichts mit der Gerichtsmedizin zu tun haben, verlassen sofort den Raum«, befahl er, ohne sich den Anwesenden zuzuwenden.

Die beiden uniformierten Polizisten gehorchten. Davídsson sah keine Veranlassung, es ihnen gleich zu tun.

»Das gilt auch für den Lackaffen im Christian Dioranzug, oder sind Sie von der Gerichtsmedizin?« Der Mann mit dem breiten Gesicht und den kurzen lockigen Haaren sah ihn an. Davídsson sah, dass er breite Lachfalten um den Mund hatte.

Anscheinend ist ihm der Humor heute verloren gegangen, dachte er und richtete sich auf. Er war ein gutes Stück größer als sein Gegenüber.

»Ólafur Davídsson. Kriminalanalytiker beim Bundeskriminalamt. Der Anzug ist übrigens von Emporio Armani«, entgegnete er ruhig, ohne dabei provokativ zu werden.

»Raus!«

Davídsson sah, dass er es ernst meinte, aber er blieb stehen. Der Gerichtsmediziner erhob sich jetzt ebenfalls und machte einen Schritt zwischen Davídsson und den anderen.

»Engbers, jetzt komm mal wieder runter. Hast du nicht gehört? Er ist vom BKA. Er darf hier sein.«

Der Angesprochene grummelte etwas Unverständliches und beugte sich zum Opfer hinunter, ohne Ólafur Davídsson weiter zu beachten.

»Was haben wir?«

»Sieht aus wie Selbstmord. Er ist erst ein paar Stunden tot.«

»Geht das auch genauer?« Engbers griff wie aus einem Automatismus heraus an seine Hemdtasche.

Davídsson sah eine kleine leere Ausbuchtung, wo sich vor Kurzem noch eine Zigarettenpackung befunden haben musste.

»Nach der Obduktion«, der Gerichtsmediziner machte einen Satz nach oben. »Er kann abtransportiert werden, wenn die Spurensicherung einverstanden ist.«

»Wir sind fertig hier«, sagte Rach, der die ganze Zeit über unbemerkt von Engbers und Davídsson in dem Gang gestanden hatte, um alles mit anzusehen. Auch die anderen Männer der Spurensicherung standen da.

»Dann soll der Leichenwagen jetzt kommen. Hat ihn schon jemand gerufen?«, fragte Engbers in Richtung seiner uniformierten Kollegen.

»Wir haben gewartet, bis …«

»Scheiße. Ihr solltet lieber den Verkehr regeln, als an einem Tatort herumzutrampeln.« Engbers Augen funkelten, aber der bullige Polizist blieb ruhig. Er zog ein Handy aus der Uniform und bestellte einen Leichenwagen, während Engbers sich zwischen den Kollegen hindurch in den größeren Raum drängte.

»Er hat erst vor Kurzem aufgehört zu rauchen«, sagte der Gerichtsmediziner.

»Wer hat das Opfer überhaupt gefunden?« Davídsson sah in die Runde. Eigentlich sollte der ermittelnde Kommissar diese Fragen beantworten.

»Ein Mitarbeiter vom Bezirksamt. Er sitzt in unserem Bus hinter dem Ding hier. Eine Kollegin passt auf ihn auf. Er hat wohl noch nie eine Leiche gesehen«, antwortete Rach.

»Und was wissen wir über das Opfer?« Der Fallanalytiker ging wieder in die Hocke und musterte aus dieser Perspektive den Raum.

An zwei Wänden waren große kreisrunde Löcher, aus denen ein schwacher Windzug kam. Vor einem der Löcher lagen Holzstücke auf dem Boden. An der hinteren Wand gab es ein rechteckiges Podest, auf dem eine Metallschale mit einem blauen Rand stand. Davídsson erkannte einen Schriftzug, der mit einem schwarzen Stift auf den weißen Grund gemalt worden war. 435a. Daneben lagen ein paar alte, verrostete Bolzen, die einen Durchmesser von mindestens fünf Zentimetern hatten.

»Was ist das hier überhaupt?«, fragte Davídsson, nachdem ihm auf seine letzte Frage niemand geantwortet hatte.

»Der Raum hier, oder das … Ding?« Rach hatte sich neben die Stange gestellt, die bei genauerem Hinsehen eher ein T-Pfosten war, der etwa knietief aus dem Boden ragte.

»Beides.«

»Das Ding ist der sogenannte Schwerbelastungskörper. Was das nun wieder ist, weiß ich auch nicht so genau. Ich habe nur irgendwann einmal in der Zeitung gelesen, dass er von den Nazis gebaut worden ist. Welche Funktion der Raum hier hat, weiß ich leider auch nicht.« Es sah beinahe so aus, als ob Rach den Pfosten bewachen würde.

Davídsson zog aus der Innentasche seines Sakkos zwei Zehn-Krónur-Münzen und legte sie beide mit der Seite, die die vier Kapelane zeigten, auf die Stirn des Toten.

»Hey, was machen Sie da?«, fragte Engbers, der in diesem Moment wieder den Raum betrat.

Davídsson hatte nicht vor, es ihm zu erklären. Er hatte während seiner Schulzeit in Reykjavík von diesem Brauch gelesen und seither war er von der griechischen Mythologie fasziniert. Es war nicht so, dass er an ihre Bedeutung glaubte, aber trotzdem war es eine gute Art, von einem Toten Abschied zu nehmen.

Es war seine Art, Abschied zu nehmen.

Als sein Vater auf dem Fossvogskirkjugarður beerdigt worden war, hatte er zum ersten Mal von diesem Ritual Gebrauch gemacht. Es war das erste Mal gewesen, dass er mit dem Tod konfrontiert worden war. Das erste Mal, dass er eine Leiche gesehen hatte, sie berührt hatte und verstanden hatte, dass das ein unwiderrufliches Ende bedeutete. Für ihn, für seine beiden Geschwister und für seine Mutter. Seither bedeutete dieses Ritual für ihn, den Toten nicht einfach wie eine Sache zu betrachten. Wie einen weiteren Arbeitsauftrag oder die Tagebuchnummer eines Falls.

Für diesen Moment machte er sich klar, dass es hierbei um mehr ging. Um einen Menschen und um damit verbundene Schicksale.

»Es ist meine Art, von den Toten Abschied zu nehmen«, sagte er und richtete sich wieder auf.

Engbers nahm die beiden Münzen an sich und steckte sie in seine Hosentasche.

»Nachdem jetzt auch der werte Herr vom BKA seine seltsamen Spielchen treiben konnte, möchte ich wissen, wer der Tote ist.«

»Wir wissen noch nicht viel mehr über das Opfer, als der Inhalt seines Portemonnaies hergibt. Er hieß Bernd Propstmeyer, er war fünfundvierzig Jahre alt, einen Meter fünfundachtzig groß. Augenfarbe …«

»Falls es jemand noch nicht bemerkt hat: Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt«, schnauzte Engbers den Terrier in Uniform an.

Der Mann zuckte zusammen, obwohl er Engbers sicher spielend leicht fertigmachen konnte.

»Gibt es noch etwas, was ich wissen muss, bevor ich wieder in mein Büro fahren kann?«

»Eine Selbststrangulation ist eine sehr seltene Form des Suizids«, sagte der Gerichtsmediziner, der anscheinend keine Probleme damit hatte, mit Engbers Launen umzugehen.

»Aber deine Obduktion wird doch sicher klären, ob es ein Suizid war oder nicht.« Engbers sah den Pathologen an, der daraufhin leicht nickte.

»Gut. Dann gehe ich jetzt.«

»Haben Sie schon mit dem Mann gesprochen, der das Opfer gefunden hat?«, fragte der Fallanalytiker.

»Stellen Sie sich das Mal vor. Deshalb kam ich hier als Letzter rein.«

»Ich will den Mann sprechen. Jetzt gleich.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an.«

 

2

 

Davídsson fand den Lieferwagen der Spurensicherung auf einem Parkdeck auf dem Loewenhardtdamm. Er war silbern und nicht weiß. Die einzige Frau in Andreas Rachs Team saß schweigend einem rotblonden Mann gegenüber. Er war leicht untersetzt und etwa in seinem Alter.

Er sieht nicht mehr sonderlich aufgebracht aus, dachte Ólafur Davídsson, als er sich vorstellte.

Rach und der Rest des Teams hatten ihre Kollegin hier zurückgelassen. Sie war jetzt dabei, ihre Sachen zusammenzuräumen, um ihren männlichen Kollegen ins Labor zu folgen.

Dort wartete eine Menge Arbeit.

Die sichergestellten Spuren mussten untersucht und ausgewertet werden und ein Leichenbefundbericht musste mit der Gerichtsmedizin geschrieben werden. Sie sah darüber nicht besonders erfreut aus.

»Ich würde Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen. Müssen Sie zurück in Ihr Büro?«

»Ich fahre jetzt erst einmal nach Hause, um mich von dem Schock zu erholen«, antwortete der Mann, der sich als Rudolf Werner vorstellte.

Zwei Vornamen. Das kam in Davídssons Heimat noch häufiger vor als hier. Normalerweise erbten in Island die Kinder den Vornamen des Vaters als Nachnamen, indem bei einem Sohn die Endung -son und bei einer Tochter die Endung -dóttir angehängt wurde. Danach änderte sich der Name auch bei einer Heirat nicht mehr. Deshalb war es in Island auch üblich zu fragen, von welcher Familie man abstammte. Diese Frage konnte fast jeder Isländer über Generationen hinweg beantworten.

Werner folgte ihm zum Auto.

»Ist das hier Blut?«

Davídsson hatte den Fleck im Fußraum vergessen. »Ich hatte vorhin einen kleinen Unfall mit einer Currywurst. Sie können sich auch gerne hinter den Beifahrersitz setzen.«

Davídsson schob den Sitz ganz nach vorne, damit Werner Platz hatte.

»Arbeiten Sie beim Denkmalamt?« Er startete den Wagen und fuhr los. Werner hatte ihm den Weg zu seiner Adresse beschrieben. Er wohnte in Plänterwald.

»Abgekürzt könnte man das so nennen.« Werner schmunzelte aus einem unbekannten Grund, so als hätte er einen versteckten Witz gemacht.

»Und Sie betreuen damit dieses Bauwerk?«

Davídsson sah ein Nicken im Rückspiegel.

»Was ist das für ein Ding?«

»Der Schwerbelastungskörper wurde gebaut, um das Verhalten des Untergrundes bei hoher Last zu messen.«

»Warum?«

Werner lachte.

»Tja, das haben wir den Plänen von Albert Speer und seiner Idee von der Welthauptstadt Germania zu verdanken. Speer wollte eine prägnante Nord-Süd-Achse zwischen den Zentralbahnhöfen in Moabit und in Tempelhof bauen. Auf dem Schnittpunkt mit der Querachse, die als eine Verbindungsstraße zum Flughafen Tempelhof geplant war, sollte nach einer Skizze von Adolf Hitler ein Triumphbogen stehen.«

Davídsson hielt an einer roten Ampel. Er beobachtete, wie zwei Männer im Anzug über die Kreuzung hetzten.

»Und statt des Triumphbogens hat man dann diesen Schwerbelastungskörper gebaut?«

»Der Triumphbogen war so größenwahnsinnig angelegt wie ganz Germania. Das Ding sollte 117 Meter hoch werden und 170 Meter breit. Er sollte zu Ehren der im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten gebaut werden. Damit man herausfinden konnte, wie sich diese riesige Belastung auf den Untergrund auswirkt, hat man das Gewicht des Triumphbogens mit dem Schwerbelastungskörper simuliert.«

»Und warum dann diese Hohlräume?«

»Das sind Messkammern. Es gibt eine obere Messkammer. In der habe ich den Toten gefunden, und es gibt noch untere Messkammern und natürlich die Werkstatt, durch die Sie vermutlich hereingekommen sind.«

Davídsson musste wieder an einer Ampel halten. Er warf einen Blick Richtung Himmel, wo dunkle Wolken aufgezogen waren. Es würde den ganzen Tag regnen, wie im Wetterbericht vorhergesagt.

»Steht der Schwerbelastungskörper unter Denkmalschutz? Ich meine jetzt, wegen der Abteilung, für die Sie arbeiten.«

»Seit 1995. Ja.« Er zögerte einen Augenblick. »Ja und nein. Ich bin auch für die Planung verantwortlich.«

»Die Planung?« Davídsson fuhr gemütlich weiter. Er hatte es nicht eilig, durch den Regen zu seinem Büro zu laufen.

»Der Schwerbelastungskörper musste dringend saniert werden. Ursprünglich sollte er nur zwanzig Tage stehen. In den letzten Jahren ist der Beton rissig geworden. Wasser ist durch das undichte Dach in den Beton eingedrungen und dann ist er bei Frost abgeplatzt. Deshalb auch die ganzen hellen Flecken rundherum. Wir haben das ganze Dach neu betonieren müssen und jetzt wird das gesamte Areal etwas ansehnlicher gestaltet. Vor der Sanierung war alles total verwildert und überwuchert. Sie haben ja vielleicht die Reste gesehen.«

Davídsson hatte das Gestrüpp gesehen, das in einer Ecke des Grundstücks aufgehäuft war, aber er hatte es auch sofort wieder vergessen, weil er es als unwichtig betrachtet hatte.

»Was wird noch gemacht?«, fragte er jetzt.

»Wir bauen einen kleinen Pavillon und eine Aussichtsplattform, die über das Dach des Schwerbelastungskörpers ragt. In dem Pavillon soll es dann Ausstellungen über das Bauwerk geben. Es ist nämlich weitgehend unbekannt, auch für eingefleischte Berliner wie mich. Ich wusste nichts davon, bis ich es im Bezirksamt damit zu tun bekommen habe.«

»Eigentlich klingt es aber ganz interessant«, sagte Davídsson, der sein schwarzes Saab 9-3 Cabriolet vor einem gepflegten Wohnblock abbremste.

Hier sahen alle Häuser gleich aus. Die Eingänge unterschieden sich nur noch durch die Hausnummern, die hinter mattem Glas leuchteten.

Am Horizont sah er die aufgereihten Hochhäuser der Aronstraße. Es gab vielleicht zwanzig von ihnen oder mehr. Sie sahen jetzt gegen den dunklen Himmel und am Rande der grünen Kleingartenanlage aus, als ob Riesen aus einer anderen Welt langsam wachsen würden. Beinahe so, als hätte man eine Bildfolge ihres trägen Erwachens nebeneinandergelegt. Er war vor einigen Wochen durch die Siedlung gefahren, in der Tausende Menschen leben mussten. Er war froh, nicht dort leben zu müssen.

»Wenn Sie mehr über den Schwerbelastungskörper wissen wollen, können Sie mich gerne im Büro anrufen. Ich kann Ihnen noch einiges dazu erzählen«, sagte Werner, der Davídssons Gedanken wieder an den Tatort zurückholte.

 

Ólafur Davídsson hätte noch tausend Fragen über den Betonklotz der Nazis gehabt, aber das musste warten. Die Ermittlungsmaschinerie lief gerade erst an.

Er selbst musste sich erst im Klaren darüber sein, wie seine Strategie bei diesem Fall aussah.

Er musste sich überlegen, ob er die Metaplantechnik nutzen sollte, die man bevorzugt anwandte, wenn mehrere Fallanalytiker an einem Fall arbeiteten, und die eine Art Brainstorming war, bei dem man die Fakten auf Pinnwänden zusammentrug. Oder sollte er nach der Mindmappingmethode vorgehen und alleine arbeiten? Das Bundeskriminalamt nutzte für diese Methode eine Analysesoftware namens Analyst’s Notebook, die er sehr nützlich fand.

Er würde alleine arbeiten, aber er entschied sich trotzdem für die Metaplantechnik.

 

Davídsson hatte sich beim Spiel nicht konzentrieren können. Er war auf dem Weg nach Hause und dachte nach. Es war dieses Mal weniger der Fall, mit dem er sich beschäftigte. Es war eher Engbers. Er würde mit ihm zusammenarbeiten müssen. Sie würden miteinander an dem Fall arbeiten müssen.

Das konnte unter normalen Umständen schon schwierig genug sein. Ein Kollege vom BKA war selten willkommen bei den eigenen Ermittlungen. Noch schwieriger wurde es, wenn es sich dabei um einen Psychologen handelte. Ein Kriminalanalytiker war dann der Gipfel. Die meisten Ermittler kannten sie nur aus dem Fernsehen und das vermittelte ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Es ging dabei nicht um irgendwelche neumodischen Spielchen oder darum, die Ermittler bloßzustellen. Es ging nur darum, ihnen bei den Ermittlungen zu helfen, den Ermittlern eine andere Sicht auf ihren Fall zu ermöglichen.

Engbers würde es ihm nicht leicht machen. Vielleicht auch schwieriger als andere.

Er lenkte den Wagen in die Tiefgarage. Der Himmel war jetzt klar. Man konnte die Sterne über der Stadt sehen, obwohl es über Berlin eine gewaltige Lichtverschmutzung gab. Überall Scheinwerfer und leuchtende Reklametafeln und natürlich die Lichtkanonen der Discos.

Seine Mannschaft hatte gerade so gewonnen. Er hatte die anklagenden Blicke von Marian Zajícek gesehen, die er ihm während des Spiels zugeworfen hatte. Aber Ólafur Davídsson war trotzdem nicht bei der Sache geblieben. Er hatte die Steine nicht so gut platziert und es war ihm kein einziger center guard gelungen. Beim Wischen hatte er einige Fehler wieder gutmachen können, aber er hätte das Spiel trotzdem beinahe verpatzt. Curling wurde wegen der taktischen Spielart und der notwendigen Präzision auch als das Schach auf dem Eis bezeichnet. Er hatte heute mindestens eine Dame geopfert. Deshalb war er früher nach Hause gefahren als die anderen. Es gab heute für ihn nur wenig Grund zum Feiern.

 

Ólafur Davídsson hatte einen Umweg auf dem Weg zur Arbeit gemacht. Er wohnte in Mitte und arbeitete in Treptow.

Er stand vor dem monströsen Klotz aus Beton und sah ihn an. Ein stummer Zeuge aus einer anderen Zeit, dachte er.

Davídsson stand mit dem Auto vor dem Eisentor. Er war nicht ausgestiegen. Die Musik war leiser gestellt. Nur noch ab und zu kamen Töne aus den Lautsprechern, wenn das Lied lauter wurde.

Er hatte das Bauschild am Vortag nicht wahrgenommen. Er hatte die zwei gelben Baucontainer gesehen, aber nicht das Schild daneben. Darauf standen die Firmen, die an der Sanierung des Schwerbelastungskörpers beteiligt waren. Er wusste noch zu wenig über diesen ungewöhnlichen Leichenfundort. Vielleicht war es überhaupt nicht notwendig, etwas über den runden Betonklotz zu erfahren, vielleicht war es aber auch besonders wichtig. Er wusste es noch nicht. Die Ermittlungen würden es zeigen. Aber das war jetzt Nebensache geworden. Er hatte jetzt ein eigenes Interesse an diesem Bauwerk, das er bis gestern nicht gekannt hatte und das die wenigsten Berliner zu kennen schienen.

Er las den Text der Baubeschreibung, der aber größtenteils die Informationen beinhaltete, die er schon von Werner bekommen hatte. Er las die Telefonnummer von Werners Büro auf dem Schild ab und wählte sie.

»Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg, Abteilung Bauwesen, Amt für Planen, Genehmigen und Denkmalschutz. Guten Tag«, meldete sich eine junge weibliche Stimme. Der Berliner Dialekt war unverkennbar.

Ólafur Davídsson lächelte stumm. Das war also der ganze Name der Abteilung, dachte er. Kein Wunder, dass sich Werner mit der Abkürzung zufriedengab.

»Davídsson, BKA. Ich hätte gerne Herrn Werner gesprochen.«

»Der ist gerade in einer Besprechung.«

»Hat er Ihnen gesagt, wann er wieder zurückkommt?«

»Die Besprechung ist außer Haus. Er hat gesagt, dass er zu einer Einsatzbesprechung beim LKA müsste.«

»Wo?«

»Ich habe ihm vor zehn Minuten einen Wagen zur Keithstraße bestellt. Er ist gerade aus der Tür raus.«

Davídsson startete den Motor. Engbers hatte ihn nicht angerufen. Er bedankte sich für die Auskunft und fuhr los.

 

Das Gebäude in der Keithstraße war alt. In jeder Ritze hatte sich der Staub der Jahre voller Bürokratismus niedergeschlagen. Er lag genauso in der Luft wie der ständige Geruch von Bohnerwachs, der sich von dem dunkelgrünen Boden aus im ganzen Haus verteilt hatte.

Nur in den Ecken, wo nie jemand lief, war er noch so grün und hell, wie er früher überall gewesen sein musste, bevor Hunderte von Zeugen, Gefangenen, Polizisten und Angehörigen darüber gelaufen waren, mit unterschiedlichen Gefühlen.

Er selbst verspürte im Augenblick Wut.

Ólafur Davídsson konnte nicht glauben, dass jemand, der imstande sein sollte, einen Mord aufzuklären, ein derart kindisches Verhalten an den Tag legen konnte, wie es Engbers offenbar tat. Vielleicht interpretierte er zu viel in das Verhalten von Engbers hinein, aber allem Anschein nach hatte dieser versucht, ihn zu umgehen, oder aus seiner Sicht eher zu übergehen.

Davídsson hatte sich die Raumnummer geben lassen, in der die Einsatzbesprechung stattfand.

Es war ein Raum im zweiten Stock des Gebäudes, der die angespannte Haushaltslage des Landes Berlin nicht besser hätte dokumentieren können.

Es gab nur zwei alte Holztische, die irgendwann einmal aneinander gestellt und vermutlich seither nie wieder bewegt worden waren. Um die Tische standen Holzstühle, die noch älter sein konnten, und sonst gab es nur noch eine einsame Neonröhre und einen Kleiderständer, den nie jemand benutzte.

Ólafur Davídsson setzte sich neben den Gerichtsmediziner, der gerade etwas gesagt hatte, als er den Raum betreten hatte. Engbers warf ihm einen nichtssagenden Blick zu, die anderen nickten kurz.

»Er kann sich also nicht selbst stranguliert haben?«, fragte Engbers, der einen Kugelschreiber in der Hand hielt, als sei er eine Zigarette.

»Die Oberfläche des Bademantelgürtels war dafür zu glatt. Bei einer Selbsttötung kann man den Strang nur so lange zuziehen, wie die eigenen Kräfte es zulassen. Wird man ohnmächtig, tritt eine Muskelerschlaffung ein, bei der auch der auf den Hals ausgeübte Druck aufgehoben wird. Die Folge ist, dass man nicht stirbt. In seltenen Fällen kann der Karotissinusreflex zwar trotzdem fatal wirken, aber das war hier nicht der Fall. Es erfordert außerdem schon eine sehr hohe Überwindungskraft, diese Art des Selbstmordes überhaupt in Betracht zu ziehen, oder?« Der Pathologe beugte sich zu Davídsson herüber und sah ihn dabei fragend an.

»Ich denke schon. Sich selbst zu ersticken erfordert sehr viel Selbstüberwindung. Es gibt andere Methoden, die endgültiger sind und bei denen man sich weniger überwinden muss.«

»Tz. Endgültiger«, Engbers grinste breit.

»Nur eine Schlinge, die auch dann geschlossen bleibt, wenn man das Bewusstsein verliert, ist für diese Art des Suizids geeignet. Eigentlich könnte das durchaus ein Bademantelgürtel sein, weil er kleine Widerhaken hat, die beim Zuziehen der Schlinge das unerwünschte Öffnen verhindern, aber in diesem Fall war das nicht so. Wir haben mehrere Tests gemacht, aber die Schlinge hat sich immer wieder von alleine geöffnet. Der Gürtel ist zu alt und die kleinen Textilschlaufen sind bereits zu sehr miteinander verklebt.«

»Also war es Mord.« Engbers lehnte sich auf dem Holzstuhl zurück und sah dabei aus dem Fenster.

Da draußen regnete es jetzt. Die Dächer der Häuser glänzten in der Sonne, die noch bis vor Kurzem über ihnen geschienen hatte und jetzt durch eine einzelne dunkle Wolke teilweise verdeckt wurde.

»Das ist aber nicht das Einzige.« Der Pathologe legte die dünne Akte auf den Tisch. »Der Tote hatte auffällige Verätzungen an verschiedenen Fingern der linken Hand. Vor allem am Pollex und am Index.«

»Deutsch bitte, Heinzelmann.«

»Daumen und Zeigefinger«, brummte der Gerichtsmediziner. »Ich habe Spuren von Zitronensäure gefunden, die das Gewebe zerstört haben muss.«

»Ist das wichtig?« Engbers sah wieder aus dem Fenster. Die Wolke war weitergezogen.

»Für diejenigen, die ordentliche Ermittlungsergebnisse verwerten können, vielleicht.« Der Gerichtsmediziner nahm die Akte, stand auf und verließ den Raum, ehe jemand etwas sagen konnte.

»Ganz toll«, sagte Davídsson, der Engbers am liebsten eine verpasst hätte.

»Rach, was haben Sie?«, fragte Engbers, ohne Davídsson eines Blickes zu würdigen.

»Einen Toten.« Rach versuchte die Stimmung durch einen platten Scherz aufzubessern, aber keiner lachte. »Das Opfer heißt Bernd Propstmeyer. Wir haben seine Brieftasche, ein Portemonnaie mit zweihundert Euros und ein paar Cents. Raubmord scheidet damit eigentlich schon aus. Dann haben wir eine Uhr, die aber nichts Besonderes ist, einen Ring am kleinen Finger mit einer Gravur und eine Eintrittskarte für die Berliner Philharmonie von gestern. Abgerissen.«

»Was für ein Ring ist das?«, fragte Davídsson.

»Auch hier nichts Besonderes. Es ist ein einfacher Ring mit 333er Goldanteil, wie er in vielen südländischen Urlaubsorten zu kaufen ist. Er hat eine Facette, in die man ziemlich unprofessionell die Initialen des Toten eingeritzt hat. Türken tragen die meistens, oder auch Engländer.«

»Sind schon Spuren von anderen Personen ausgewertet worden?«, fragte jetzt Engbers.

»Wir haben viele unterschiedliche Spuren am Tatort gefunden. Aber die Auswertung wird dauern.«

»Wie lange?«

»Mindestens zwei Wochen.«

»Haben wir irgendeinen anderen Anhaltspunkt?«

Werner hob die Hand. Er hatte die ganze Zeit über schweigend in der Ecke gesessen und beobachtet.

Sicher geht es bei ihm in der Abteilung zivilisierter zu, dachte Ólafur Davídsson.

»Wir können Ihnen vielleicht helfen. Sie brauchen doch Vergleichsspuren, um Mitarbeiter vom Bezirksamt ausschließen zu können?« Er sah Rach an, der stumm mit dem Kopf nickte. »Ich könnte die Kollegen fragen, ob sie bereit wären, ihre Fingerabdrücke bei Ihnen abzugeben, und vielleicht die Bauleute auch.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Rach.

»Die Einzige bis jetzt«, sagte Engbers. Er stand auf und verließ den Raum.

 

Die Luft in Engbers Büro roch abgestanden, aber nicht muffig. Davídsson war ihm dorthin gefolgt und es war ihm vorgekommen, als würde er dem Teufel in die Hölle folgen.

Engbers saß hinter seinem Schreibtisch aus den 60er-Jahren und hatte die Beine hochgelegt. Neben seinen Füßen surrte ein Computer, der die einzige Neuanschaffung innerhalb der letzten Jahre sein mochte. Davídsson konnte jedenfalls nichts anderes entdecken, was danach aussah.

»Was haben wir über Bernd Propstmeyer?«

»Sie haben beim BKA doch alle Datenbanken zur Verfügung, die wir auch haben. Sehen Sie also gefälligst selbst nach.«

»Hat er Verwandte?«

»Nein.«

»Was heißt das?« Davídssons Stimme wurde schärfer.

»Dass er keine Verwandten hat.« Engbers warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Haben wir Zugang zu seiner Wohnung?«

»Rach hat die Schlüssel. Wenden Sie sich an ihn, wenn Sie in die Wohnung müssen.«

Davídsson schwieg und Engbers ebenfalls.

»Ich weiß jetzt, was dieser Unsinn von gestern bedeutet. Die Geschichte mit den Münzen. Es hat etwas mit den alten Griechen zu tun.«

Engbers grinste zum ersten Mal.

»In der griechischen Mythologie gab es einen Fluss namens Styx, der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich darstellte. Die Seelen der Toten wurden von Charon, dem Fährmann, über den Styx geschifft, der das Totenreich neunmal umfloss. Damit Charon die Toten in das Reich von Pluto schiffte, wurde er mit einer Münze bezahlt, die man der Überlieferung nach unter die Zunge des Toten legte.«

Engbers sah Davídsson wieder an.

»Sie haben es falsch gemacht. Sie haben zwei Münzen verwendet und sie auf die Stirn gelegt. Ich weiß nicht, ob Charon damit einverstanden war.«

»Ich glaube, Sie müssten eine ganze Stange Zigaretten rauchen, um wieder normal zu werden«, sagte Ólafur Davídsson, bevor er den Raum verließ.

 

»Was haben Sie da eigentlich gemacht, in dem Schwerbelastungskörper?« Davídsson sah zu Werner hinüber, der direkt neben ihm saß. Er hatte ihm wieder angeboten, ihn ein Stück mitzunehmen. Aber dieses Mal ging es zur Arbeit, zum Bezirksamt.

»Ich wollte mir den Baufortschritt ansehen.«

»Und?«

»Es könnte besser laufen, aber das ist wohl bei jeder Baustelle so. Das heute ist aber bei euch nicht normal, oder?«

Davídsson lachte. »Ich hoffe nicht. Ich kenne Engbers aber auch erst seit gestern.«

»Mhm.«

»Warum hat man den Schwerbelastungskörper nicht einfach abgerissen?« Davídsson wollte das Thema wieder wechseln.

»Ja, das ist eine gute Frage. Eigentlich sollte der Schwerbelastungskörper überhaupt nur zwanzig Tage stehen. Deshalb auch der schlechte Beton im oberen Drittel, der fast nur noch aus Sand besteht. Aber damals wollte man im Rahmen der Stadtplanung von Germania das gesamte Straßenland um vierzehn Meter anheben, und damit wäre der Schwerbelastungskörper einfach darunter verschwunden.

---ENDE DER LESEPROBE---